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ER WILL MEHR ALS NUR EINE NACHT, DOCH SIE KANN SICH KEINE GEFÜHLE ERLAUBEN ...
Owen kennt die Regel Nummer eins, wenn es um einen One-Night-Stand geht: verlieben verboten. Doch als er nach einer langen Dating-Durststrecke auf Devyn trifft, ändert sich alles. Sie verbringen eine leidenschaftliche Nacht miteinander, und Owen kann es nicht fassen, als er am nächsten Morgen allein aufwacht. Von Devyn gibt es keine Spur, und ohne ihre Telefonnummer scheint es unmöglich, dass er die junge Frau jemals wiedersehen wird. Bis er ihr eines Tages plötzlich erneut gegenübersteht - und das ausgerechnet als ihr Vermieter, der sie abmahnen und ihr mit Kündigung drohen muss!
»Penelope Ward und Vi Keeland schaffen es immer wieder, mich mit ihren Geschichten zu begeistern!« THE ROMANCE BIBLIOPHILE
Band 3 der neuen Reihe des Bestseller-Duos Vi Keeland & Penelope Ward
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Seitenzahl: 465
Inhalt
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorinnen
Die Romane von Vi Keeland und Penelope Ward bei LYX
Impressum
VI KEELAND / PENELOPE WARD
Men of Manhattan
MORE THAN ONE NIGHT
Roman
Ins Deutsche übertragen von Antje Görnig
Owen weiß, dass ein One-Night-Stand eine einmalige Sache ist. Als er nach einer langen Dating-Durststrecke jedoch auf Devyn trifft, ändert sich alles. Sie verbringen eine leidenschaftliche und unvergessliche Nacht miteinander, und Owen kann es nicht fassen, als er am nächsten Morgen allein aufwacht. Von Devyn gibt es keine Spur, und ohne ihre Telefonnummer scheint es unmöglich, dass er die junge Frau jemals wiedersehen wird. Bis er ihr eines Tages plötzlich erneut gegenübersteht – und das ausgerechnet als ihr Vermieter, der sie wegen Lärmbelästigung abmahnen und ihr mit Kündigung drohen muss. Doch als er mitbekommt, dass Devyn für ihre abwesende Mutter einspringt und versucht, ihre zwei unruhestiftenden Teenie-Geschwister im Zaum zu halten, schwört sich Owen, der jungen Casting-Agentin zu helfen – und bricht dabei die Regel Nummer eins, wenn es um einen One-Night-Stand geht: verlieben verboten.
Liebe Leser*innen,
Men of Manhattan – More Than One Night enthält Elemente, die triggern können.
Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
»Erde an Owen!«
Billie, die Frau meines Kumpels, wedelte mit der Hand vor meinem Gesicht herum.
Ich blinzelte. »Entschuldige, was hast du gesagt?«
»Ich habe nichts gesagt.« Sie zeigte auf mein Handy. »Aber du bist schon seit einer halben Stunde mit diesem verdammten Ding beschäftigt. Wir sind zur Happy Hour in einer Bar, und du hast nicht mal die Frau bemerkt, die sich neben dich gesetzt hat, um deine Aufmerksamkeit zu gewinnen.«
Ich schaute nach links. Der Platz war leer.
Billie schüttelte den Kopf. »Sie ist längst wieder weg. Aber was hast du denn so Wichtiges zu tun?«
»Eigentlich nichts. Ich beantworte nur meine E-Mails.«
»Weißt du, was du brauchst?«
»Was?«
»Ein Tattoo, ein Nippel-Piercing und ein paar Tequilas.«
Ich schmunzelte. »Also, erst einmal ist das die falsche Reihenfolge. Ich würde den Tequila brauchen, um die anderen beiden überhaupt in Erwägung zu ziehen, und zweitens müssten es mehr als ein paar Tequilas sein, damit ich mir ein Brustwarzenpiercing machen lasse. Ich konnte den Reiz an der Sache nie nachvollziehen.«
Billie zuckte die Achseln. »Es ist sexy.«
»Was ist sexy?« Mein Kumpel Colby kehrte von der Toilette zurück und legte seinen Arm auf die Schultern seiner Frau. »Ich hoffe, ihr redet über mich.«
»Nein, über Brustwarzenpiercings.«
Colby verzog das Gesicht. »Das tut verdammt weh, Mann.«
Ich machte große Augen. »Du Spießer hast eins?«
»Der Frau gefällt’s. Warum also nicht?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal erlebe, Mann.«
Colby trank sein Bier aus. »Wie seid ihr eigentlich auf das Thema gekommen?«
»Owen soll die Finger von seinem Handy lassen.« Billie wies mit dem Daumen hinter sich. »Der Laden ist voller heißer Frauen, und er sitzt hier und beantwortet E-Mails.«
Billie hatte zwar recht, aber heute war ich einfach nicht in der Stimmung, um mit Frauen zu quatschen. Im Grunde hatte ich in letzter Zeit nur selten Lust dazu. Es weckte einfach keine mein Interesse. Und so hatte ich mich in den vergangenen Monaten noch tiefer als sonst in der Arbeit vergraben.
»Weißt du, was du brauchst?«, fragte Colby.
»Lass mich raten … Ein Tattoo, ein Brustwarzenpiercing und ein paar Tequilas?«
Colby grinste. »Nein, du brauchst jetzt dein Portemonnaie, um unsere Zeche zu bezahlen. Weil unser Babysitter nur noch eine halbe Stunde zur Verfügung steht und wir dich jetzt hier sitzen lassen, damit ich draußen in einer Ecke noch ein bisschen mit meiner hübschen Angetrauten herumknutschen kann, bevor wir nach Hause müssen.«
Ich lächelte. »Alles klar, Mann. Vergnügt euch nur. Wir sprechen uns später.«
Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, versuchte ich, dem Barkeeper ein Zeichen zu geben, um zu bezahlen, aber er hatte alle Hände voll zu tun. Also ging ich erst mal zur Toilette, um den Tequila Soda loszuwerden, den ich getrunken hatte. Im Flur standen die Frauen Schlange, doch die Männertoilette war praktisch leer. Als ich mich erleichterte, klingelte mein Telefon. Ich zog es aus der Tasche, nur um festzustellen, dass es keinen Ton von sich gab. Der einzige andere Toilettenbesucher war gerade gegangen, und so machte ich meine Hose zu und versuchte herauszufinden, woher das Klingeln kam. Ich fand das Handy in der zweiten Kabine auf dem Toilettenpapierhalter.
Weil Smartphones heutzutage ein teurer Spaß waren, hielt ich es für sicherer, es beim Barkeeper abzugeben, damit es nicht irgendein Betrunkener einsteckte. Aber bevor ich die Theke erreichte, begann es erneut zu klingeln. Ich vermutete, dass der Besitzer sein Telefon vielleicht angewählt hatte, um es zu finden, und nahm das Gespräch an.
»Hallo?«
»Äh … Wer ist da?«, fragte eine Frau.
»Hier ist Owen.«
»Owen, warum hast du Devyns Handy?«
»Ich habe dieses Handy gerade auf der Männertoilette gefunden.«
»Und wo ist diese Toilette?«
»In einer Bar – Polo Place auf der Einundzwanzigsten.«
»Mist. Das habe ich befürchtet. Devyn hatte einen schlechten Tag, genau genommen eine schlechte Woche.«
»Verträgt er keinen Alkohol oder was?«
»Er ist eine Sie, und nein, sie verträgt gar nichts. Für einen Schnaps braucht sie mindestens drei Schlucke, und bis sie eine Frozen Margarita halb geleert hat, ist das Eis geschmolzen.«
»Devyn ist eine Frau? Aber ich habe ihr Telefon auf der Herrentoilette gefunden.«
»Gab es eine lange Schlange vor der Damentoilette?«
»Allerdings.«
»Dann hat sie die Männertoilette benutzt. Devyn hasst öffentliche Toiletten. Deshalb wartet sie immer bis zur letzten Sekunde, weil sie denkt, sie kann einhalten, bis sie zu Hause ist. Aber irgendwann steht ihr gewissermaßen das Wasser bis zum Hals, und sie kann nicht mehr warten. Dann ist die Männertoilette oft ihre Rettung.«
»Warum hasst sie öffentliche Toiletten? Hat sie Angst vor Bakterien oder so?«
»Nein, sie hat zwei schlechte Erfahrungen gemacht. Die erste, als sie als Teenager in einem Diner war. Die Kabine ließ sich nicht abschließen, und sie hat die Tür zugehalten, so gut es ging. Aber dann ist eine betrunkene Frau reingestürzt und hat ihr auf den Schoß gekotzt.«
»Das ist ein Scherz, oder?«
»Nein, ich wünschte, es wäre einer. Sie sprang auf, aber es war zu spät. Sie war voll mit Kotze und hat sich noch dazu beim Aufspringen die Hose bepinkelt.«
»Ich traue mich fast nicht zu fragen, aber was war die andere schlechte Erfahrung?«
»Oh, ein andermal hatte sie ein Blind Date in einem Restaurant und musste zur Toilette. Die Frau neben ihr hatte ihren Sohn mit in die Kabine genommen. Der kleine Junge schaute unter der Trennwand durch und hat sie beim Pinkeln beobachtet, und als er sie später im Lokal sah, hat er auf sie gezeigt und lauthals gefragt, warum sie keine Haare da unten hat.«
Ich schmunzelte. »Das ist ziemlich witzig.«
»Für uns ja. Für sie weniger. Aber es zeigt, was für ein Pechvogel Devyn ist. Und in letzter Zeit ist es noch schlimmer geworden.«
Ich hatte keine Ahnung warum, aber ich war neugierig. »Was ist passiert?«
»Sie hat eine beschissene Mutter, die ihre Probleme auf sie abwälzt. Und dann gibt es noch diesen Typen, in den sie schon jahrelang verliebt ist, der sie aber im Prinzip hinhält. Und von ihren höllischen Geschwistern, die in ihren Augen Engel sind, will ich gar nicht erst anfangen. Für mich sind sie Ausgeburten des Teufels.«
»Das tut mir leid.«
»Wirklich?«, fragte die Frau.
Ich dachte darüber nach. »Ja, wirklich. Es ist Mist, beschissene Eltern zu haben und hingehalten zu werden.«
»Du scheinst ein netter Kerl zu sein. Wie heißt du noch mal?«
»Owen. Und du?«
»Mia.« Sie hielt kurz inne. »Hör mal, wo wir jetzt Freunde sind, würdest du dich vielleicht in der Bar nach meiner Freundin umsehen? Dann könntest du ihr das Telefon geben, und ich könnte mich vergewissern, dass sie okay ist.«
»Klar, kann ich machen. Aber hier ist es ziemlich voll. Kannst du sie mir beschreiben?«
»Lange, wellige kastanienbraune Haare. Helle Haut, strahlend grüne Augen. Sie ist klein, aber oho. Sie sieht aus wie aus den Siebzigern, mit einem Boho-Stil wie Stevie Nicks seinerzeit, nur noch heißer.«
Ich schaute mich in der Bar um, fand aber niemanden, auf den die Beschreibung passte. »Tut mir leid, ich sehe so jemanden nirgends.«
Mia seufzte. »Ich schicke dir ein Foto. Wenn es in der Bar zu dunkel ist, kannst du möglicherweise nicht sehen, dass ihre Haare kastanienbraun sind. Warte, ich sende es an ihr Handy. Ich schimpfe immer, weil sie kein Passwort hat, aber jetzt ist das unser Glück.«
Ein paar Sekunden später klingelte das Telefon in meiner Hand. Ich öffnete die Nachricht, und ein Foto erschien auf dem Display. Auch auf die Gefahr hin, wie ein totales Weichei zu klingen, muss ich zugeben, dass mein Herz einen Sprung machte. Die Frau war hinreißend, aber das war nicht alles. Sie hatte lachend den Kopf in den Nacken gelegt, und … verrückterweise hätte ich zu gern gewusst, wie ihr Lachen klang.
»Wow«, sagte ich und starrte das Foto an, statt mir das Handy wieder ans Ohr zu halten. Ich hatte völlig vergessen, dass ich mit jemandem telefonierte. Dann jedoch hörte ich leise Mias Stimme.
»Hallo? Owen, bist du noch da?«
»Scheiße.« Ich nahm das Telefon an mein Ohr. »Entschuldige. Es hat einen Moment gedauert, bis sich das Foto geöffnet hat.«
»Oh, okay. Ich dachte, du schmachtest sie an. Das tun nämlich die meisten Männer, wenn sie Devyn sehen.«
Ich runzelte die Stirn. Großartig.
Schnell verbannte ich die albernen eifersüchtigen Gedanken aus meinem Kopf und sah mich erneut um. »Ich drehe mal eine Runde durch die Bar.«
Ich drängte mich zwischen den Leuten hindurch, die von der Happy Hour übrig geblieben und inzwischen richtig happy waren. Als ich schon aufgeben und Mia sagen wollte, dass ich das Telefon beim Barkeeper abgeben würde, entdeckte ich plötzlich die Frau von dem Foto.
Und da passierte es noch einmal. Mein Herz tat wieder einen Sprung. Allerdings fiel mir im gleichen Moment ein, dass ich wahrscheinlich nur zu viel Kaffee getrunken hatte. Kaffee konnte Herzflattern verursachen. Mein Herz hüpfte doch nicht allein beim Anblick irgendeiner Frau. In letzter Zeit passierte es nicht mal, wenn mich eine zu sich nach Hause einlud.
Ich bahnte mir einen Weg durch eine Gruppe Hipster, die Moscow Mules aus Kupferbechern tranken, um mir den Kerl aus der Nähe anzusehen, mit dem die Frau redete.
Scheiße. Evan Cooper– in meinem Freundeskreis auch bekannt als McLoser. Der Typ war ein absoluter Vollidiot.
»Und?«, fragte Mia.
»Ja, ich glaube, ich habe sie gefunden.«
»Oh, das ist super!«
»Aber … sie quatscht mit einem Kerl, den ich nicht leiden kann.«
»Oh nein. Lass mich raten. Er sieht gut aus, ist aber ein Aufreißer. Wahrscheinlich sieht er wie ein berühmter Schauspieler oder ein Rockstar oder so aus?«
»Woher weißt du das?«
»Meine Freundin ist wirklich großartig, aber in puncto Männer hat sie einen beschissenen Geschmack.«
»Der Typ sieht gut aus, das muss ich zugeben. Er ginge glatt als Bruder von Jared Leto durch. Aber er labert nur Mist. Er erzählt den Frauen, er wäre Besitzer einer Fast-Food-Kette, dabei arbeitet er bloß bei McDonald’s.«
Mia seufzte. »Ja, das passt.«
»Möchtest du dranbleiben, während ich ihr das Telefon bringe?«
»Das wäre klasse. Vielen Dank, Owen.«
»Okay, dann warte kurz.«
Ich ging auf die beiden zu, blieb jedoch abrupt stehen, als Devyn ihrem Gegenüber einen Drink ins Gesicht schüttete. McLoser fasste sie an der Schulter und gab ihr einen Schubs, und ich beeilte mich, zu ihnen durchzukommen.
»Was zum Teufel ist hier los?«, brüllte ich ihn an.
McLoser hob die Hände. »Das Biest hat mir einen Drink übergekippt!«
»Ja, und ich habe gesehen, wie du sie geschubst hast. So fasst man eine Frau nicht an – selbst wenn sie dir ins Gesicht gespuckt hätte.«
»Was geht dich das überhaupt an? Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.«
Ich machte einen Schritt auf ihn zu, straffte die Schultern und sah auf ihn herab. McLoser war schlaksig und fünfzehn Zentimeter kleiner als ich mit meinen eins achtundachtzig; mit ihm wurde ich spielend fertig. »Ich mache es zu meiner Angelegenheit. Und jetzt entschuldige dich bei ihr und verschwinde.«
»Ich entschuldige mich nicht.«
Ich trat mit einem weiteren Schritt noch näher an ihn heran. »Dann bleibt dir noch weniger Zeit zum Abhauen.«
McLoser murrte, drehte sich aber um und ging davon. Einen musste ich ihm trotzdem noch mitgeben. »Und komm nicht ohne eine Zehnerpackung Chicken Nuggets für mich zurück!«
Ich sah ihm nach, als er abzog, und grinste über meinen eigenen Spruch. Die Frau war jedoch nicht so amüsiert.
»Hältst du das für witzig? Ein Kerl fasst mich an, und du grinst nur?«
»Moment. Was er getan hat, war überhaupt nicht witzig. Das hast du falsch verstanden.«
»Verschwinde! Mehr Arschlöcher, die mich anmachen, kann ich heute wirklich nicht gebrauchen.«
Ich stutzte. »Arschlöcher?«
»Genau. Ihr seid doch alle gleich. Ihr wollt alle nur das Eine.«
Ich schüttelte den Kopf. Ich hatte ihr helfen wollen, und die Frau beschimpfte mich. »Keine Sorge, Süße, ich will nichts von dir. Du bist nicht mein Typ.«
Ich wandte mich zum Gehen, merkte aber, dass ich ihr Telefon noch in der Hand hielt. Ich wusste zwar nicht, ob ihre Freundin noch dran war oder inzwischen aufgelegt hatte, doch ich knallte es auf die Theke. »Oh, und du brauchst dich nicht dafür bedanken, dass ich dir den Arsch gerettet und dein Telefon zurückgebracht habe. Schönen Abend noch.«
In meiner Brust holperte mein Herz nun nicht mehr, als ich ans andere Ende der Theke zurückkehrte. Ich war sauer. Ich wäre geradewegs zur Tür hinausmarschiert, aber ich musste ja noch bezahlen. Ich ging an den Platz, wo ich mit meinen Freunden gestanden hatte, und kochte innerlich, während ich auf den Barkeeper wartete. Wenigstens musste ich nicht lange warten.
»Hey, ich würde gerne bezahlen«, bat ich, als er schließlich herüberkam.
»Na klar.«
»Ach … Kann ich vorher noch einen Tequila bekommen? Ich wurde gerade zur Schnecke gemacht, weil ich versucht habe, jemandem zu helfen.«
Der Barkeeper lächelte und holte eine Flasche Tequila und ein kleines Glas. »Kein Problem.« Er schenkte ein und stellte es mir hin. »Der geht auf mich. Bin gleich wieder da mit der Rechnung.«
Ich griff zu meinem Tequila und schaute ans andere Ende der Theke. Die Frau telefonierte gerade und sah in meine Richtung. Ich kippte kopfschüttelnd den Tequila hinunter. Ein paar Minuten später, als ich den Kassenbeleg unterschrieb, trat jemand an meine Seite.
»Was ist denn dein Typ?«, fragte eine heitere, freundliche Stimme.
Als ich aufsah, erblickte ich die Person, von der ich zu allerletzt nette Worte erwartet hätte – Devyn, die Frau, die mich eben erst zusammengestaucht hatte. Ich nahm meine Kreditkarte, steckte sie wieder in meine Brieftasche und würdigte sie keines weiteren Blickes, während ich antwortete: »Mein Typ? Zum Beispiel Frauen, die mich nicht als Arschloch bezeichnen, wenn ich zu helfen versuche.«
»Ich wollte dir sagen, dass mir wirklich leidtut, was da gerade passiert ist. Ich war voller Adrenalin, und ich war diese Woche so wütend auf die ganze Welt. Ich hätte es nicht an dir auslassen dürfen.«
Sie klang aufrichtig, also riskierte ich einen Blick in ihre Richtung, und … mein Herz tat wieder einen Sprung.
Verdammt. Was zur Hölle …?
Obwohl es vorhin schon mal passiert war, brachte es mich erneut aus dem Konzept. Ich starrte sie an und versuchte herauszufinden, was das zu bedeuten hatte. Doch sie schloss offenbar aus meinem Schweigen, dass ich ihre Entschuldigung nicht annehmen wollte.
»Kann ich dir wenigstens einen Drink spendieren?«, fragte sie. »Ich fühle mich schrecklich. Meine Freundin Mia hat mir erzählt, wie du dich bemüht hast, mich zu finden, um mir mein Telefon zu geben. Sie meinte, du bist ein netter Kerl. Ich habe es total verbockt.«
Ich zögerte. Drama war echt nicht mein Ding. Aber die Augen dieser Frau waren faszinierend, und ich hatte seit Ewigkeiten keine solche Anziehung mehr empfunden. Trotzdem, eine rote Fahne war eine rote Fahne …
Doch dann lächelte sie. Und ihr Lächeln war regelrecht blendend. Strahlend. Umwerfend. Überwältigend.
Und auf einmal bin ich der König der Adjektive, verdammt.
Sie klimperte mit den Wimpern. »Nur einen Drink?«
Ich nickte. »Okay. Nur einen.«
Berühmte letzte Worte …
Diese Woche war mein Kopf nicht zu gebrauchen.
Ich hatte zum ersten Mal in meiner Laufbahn jemanden zu der falschen Immobilie gebracht. Außerdem hatte ich einen Kunden an einen Mitbewerber verloren. Und ich war mehrmals zu Kundenterminen zu spät gekommen. Auf die Tour war ich verdammt noch mal nicht zu einem der besten Luxusmakler der Stadt geworden.
Aber ich wusste genau, woran es lag. In den vergangenen Tagen waren meine Gedanken völlig fixiert gewesen auf einen der besten und zugleich schlechtesten Abende meines Lebens – auf den Abend, an dem ich diese faszinierende Frau mit den kastanienbraunen Haaren und dem Boho-Stil kennengelernt hatte. Und an dem sie mich … sitzen gelassen hatte. Es gibt für alles ein erstes Mal, nicht wahr?
Wie hatte ich sie nur gehen lassen können? Aber was hätte ich tun sollen? Ihr hinterherlaufen? Das war nicht meine Art. Owen Dawson jagte Frauen nicht nach. Die Frauen jagten mir nach, und in der Regel hatte ich nicht das geringste Interesse an ihnen. Doch seit der Nacht mit Devyn waren drei Tage vergangen, und ich dachte immer noch an sie. Es war schon ironisch, dass die erste Frau, die etwas in mir entfacht hatte nach so vielen Monaten – besser gesagt Jahren – der Empfindungslosigkeit, gleich danach spurlos verschwunden war.
Es ergab einfach keinen Sinn. Devyn und ich hatten uns angeregt unterhalten und viel gelacht, und als wir gemeinsam die Bar verlassen hatten, war ich sicher gewesen, dass dies der Beginn einer potenziell gigantischen Geschichte war. Wir waren ins nächstbeste Hotel gegangen, nur ein paar Häuser weiter, denn die Chemie zwischen uns war so explosiv gewesen, dass wir es verdammt eilig gehabt hatten. Und was dann geschehen war, sobald wir die Tür hinter uns geschlossen hatten, ließ sich nur als euphorischer Rausch beschreiben.
Trotzdem stand ich nun allein da, nur mit ihrem Vornamen und der Erinnerung an ihren Geschmack und Geruch und daran, wie gut es sich angefühlt hatte, tief in ihr zu sein.
Ich hatte früher schon One-Night-Stands gehabt, aber noch nie hatte ich mir dabei gewünscht, die Zeit verlangsamen zu können, um keinen einzigen Moment zu verpassen. Exakt so hatte ich mich mit ihr gefühlt – auch schon vor dem Sex. Die Sache war nämlich die: Es war nicht nur der Sex. Es war alles. Und ich wollte mehr als einen Abend. Mir war nicht ein einziges Mal in den Sinn gekommen, dass sie davonlaufen könnte, ohne mir ihre Telefonnummer zu geben. Devyn war wie Aschenputtel, nur dass sie keinen Schuh oder irgendeinen anderen Hinweis zurückgelassen hatte. Nichts außer ihrem Vornamen.
»Tut mir leid.«
Das war alles, was sie gesagt hatte, bevor sie mich allein in dem Hotelzimmer zurückgelassen hatte – sprachlos, immer noch hart und erregt.
Ich fragte mich, was ihr leidgetan hatte. Es war verdammt noch mal der beste Sex meines Lebens gewesen, und selbst wenn ich sie niemals wiedersah, war ich froh, dass es dazu gekommen war. Ich hätte es nicht missen wollen. Es gab also nichts, was mir leidtat. Der Abend hatte mich aus einem langen Tief herausgeholt. Ich hatte schon befürchtet, mit mir wäre etwas nicht in Ordnung, weil mich seit einer gefühlten Ewigkeit nichts mehr gereizt hatte, auch keine Frau.
Vielleicht würde ich den Jungs die Geschichte eines Tages erzählen, aber ich musste zuerst darüber hinwegkommen. Allerdings war ich sicher, dass mir mindestens einer von ihnen ansehen würde, dass etwas nicht stimmte.
Meine drei besten Freunde und ich waren Besitzer eines New Yorker Mietshauses mit vierzig Parteien, in dem wir auch alle selbst wohnten. Colby war der Älteste der Truppe. Und er war jahrelang der größte Playboy von uns gewesen, bis er schließlich Billie begegnet war, der Liebe seines Lebens. Holden war Schlagzeuger in einer Band und war ebenfalls ein ziemlicher Frauenheld gewesen, bis er mit Lala zusammengekommen war, die Schwester unseres Freunds Ryan. Brayden war derjenige, der mir wahrscheinlich am nächsten stand. Er und ich, wir waren jetzt die einzigen Singles. Wir vier wussten alles übereinander, wie Brüder, und erzählten uns alles. Wirklich, wenn einer von uns einen Furz ließ, wusste es der Rest von uns kurze Zeit später.
Doch wenn die anderen das wüssten, würden sie mich garantiert fertigmachen. Allerdings war ich nicht sicher, ob sie mir noch heftigere Vorwürfe machen konnten, als ich es ohnehin selbst tat.
Ein Klopfen an der Wohnungstür riss mich aus meinen Gedanken.
Ich ging hin und öffnete.
Brayden kam in einer Wolke seines Lieblingscologne – Polo von Ralph Lauren – hereingeschlendert. »Wir fahren alle zum Krankenhaus, um das Baby zu begrüßen. Kommst du mit?«
Holden und Lala hatten gerade ihr erstes Kind bekommen. Das fünfte Mitglied unserer Bande – Lalas großer Bruder Ryan – war an Leukämie gestorben, als wir Anfang zwanzig gewesen waren. Wir hatten seine Hinterlassenschaft dazu benutzt, das Mietshaus zu kaufen. Er war zwar physisch nicht mehr da, aber auf die Art hatte sein Geist uns nicht verlassen.
Ich war so mit mir beschäftigt gewesen, dass ich den Besuch bei der kleinen Hope fast vergessen hatte.
»Ich komme auch«, sagte ich. »Aber wir treffen uns da. Ich muss zuerst noch etwas erledigen.«
Brayden sah mich skeptisch an. »Was denn?«
»Holden hat mir eine Liste von Aufgaben gegeben, um die ich mich in seiner Abwesenheit kümmern sollte, und eine Sache habe ich immer wieder hinausgeschoben. Ich möchte ihm aber sagen können, dass alles okay ist und ich alle Punkte abgehakt habe. Deshalb mache ich das jetzt schnell, bevor ich ins Krankenhaus fahre.«
»Worum geht es denn?«
»Um die Familie in der 410, diese Vera mit ihren zwei wilden Teenys, die wir Frick und Frack nennen. In letzter Zeit gab es weitere Beschwerden wegen Lärmbelästigung. Wir müssen sie ein letztes Mal abmahnen, dass wir ihnen kündigen müssen, wenn das nicht aufhört.«
»Autsch. Klingt nach einer Menge Spaß.«
»Genau.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Deshalb habe ich es ja hinausgeschoben. Willst du mir den Job vielleicht abnehmen?«
»Nein, in solchen Sachen bist du besser. Du bist der Fiese von uns.«
Damit hatte er wahrscheinlich recht. »Danke.«
»Keine Ursache.« Er grinste, dann sah er mich prüfend an und legte den Kopf schräg. »Alles okay?«
Mein Mundwinkel zuckte. »Ja. Warum?«
»Ich weiß nicht. Du machst einen … nachdenklichen Eindruck.«
»Nein«, log ich. »Alles in Ordnung.«
Er kniff die Augen zusammen. »Okay. Wenn du es sagst.«
Als er gegangen war, machte ich mich auf den Weg nach oben. Ich war unsicher, wie ich die Sache angehen sollte. Über die Frau, die dort wohnte, wusste ich lediglich, dass sie alleinerziehend war. In dieser Hinsicht besaß sie mein vollstes Mitgefühl. Es war bestimmt nicht leicht, mit diesen Kindern klarzukommen. Aber sie hatte nicht ein einziges Mal auf all die Abmahnungen reagiert, die sie in den vergangenen Monaten von uns bekommen hatte. Mir war klar, dass es nicht immer möglich war, Teenager zu bändigen, aber die anderen Mieter waren allmählich mit ihrer Geduld am Ende.
Ich atmete tief durch, bevor ich anklopfte.
Die Tür ging auf. »Endlich. Wurde aber auch …« Sie hielt inne.
Oh?
Mir stockte der Atem, und ich dachte, ich halluziniere, denn die Frau, die vor mir stand, war nicht die eben erwähnte Mutter, die mit ihren Kids in dieser Wohnung lebte.
Ganz und gar nicht.
Aber ich kannte die Frau.
Ich kannte diese unkonventionelle Schönheit ganz genau. Ich hatte nur nicht geglaubt, sie jemals wiederzusehen.
Was zur Hölle macht sie hier?
»Devyn?«, stieß ich fassungslos hervor.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Tut mir leid.«
Dann fiel die Tür krachend ins Schloss.
Tut mir leid – das hatte sie bereits gesagt, als sie mich in dem Hotelzimmer zurückgelassen hatte, und nun schon wieder.
Denk nach.
Denk nach.
Was mache ich denn jetzt?
Mein Stolz setzte sich durch. Ich beschloss, nicht noch einmal zu klopfen. Scheiß drauf. Kriechen oder Drängen war nicht meine Art. Ich wusste nicht, ob ich sauer oder verwirrt sein sollte.
Sie wollte mich eindeutig nicht sehen. Aber ich hatte eine Aufgabe zu erledigen, und sie war nicht mal diejenige, mit der ich sprechen musste. Ob sie die Nanny ist? So musste es sein.
Ich brauchte etwas Zeit, um mir eine Strategie zu überlegen.
War das gerade wirklich passiert, oder war ich mitten in einem beschissenen Traum?
Nach dem Besuch im Krankenhaus ging ich zu Fuß nach Hause, um einen klaren Kopf zu bekommen.
Ich hatte nicht vorgehabt, Holden zu erzählen, was passiert war, doch als er mich auf meinen Gesichtsausdruck angesprochen hatte, war alles aus mir herausgesprudelt. Brayden hatte einen Teil des Gesprächs mitbekommen – den mit der geheimnisvollen Frau im Haus und nicht, dass ich einen One-Night-Stand mit ihr gehabt hatte.
Er hatte erklärt, dass er diese Frau in den vergangenen Tagen öfter im Gebäude gesehen habe, aber nicht wüsste, wer sie war und ob sie in der 410 wohne.
Wie war es möglich, dass sie mir nicht aufgefallen war? Und wichtiger noch, wer war Devyn? Warum lebte sie ausgerechnet in der Wohnung, die uns so viele Probleme machte? War sie tatsächlich die Nanny? Die beiden Tyrannen waren zu alt für einen Babysitter, oder? Obwohl sie eigentlich einen Aufpasser haben müssten, wenn man bedachte, wie viel Unheil sie anrichteten.
Zu Hause nahm ich ein Bier aus dem Kühlschrank, um mich zu beruhigen. Ich trank es zur Hälfte aus, bevor ich es auf der Küchentheke abstellte, mir selbst einen Tritt in den Hintern verpasste und mich erneut auf den Weg zur 410 machte.
Adrenalin rauschte durch meine Adern, als ich mit dem Aufzug nach oben fuhr. Womöglich war Devyn gar nicht mehr da. Vielleicht war ihre Schicht vorbei, und sie war nach Hause gegangen. Aber ich hatte die Abmahnung noch nicht ausgesprochen und musste es tun, ob sie nun da war oder nicht.
Das war zumindest der Vorwand, den ich mir zurechtlegte.
Vor der Tür angekommen hielt ich einige Sekunden inne und bereitete mich mental auf meine Aufgabe vor. Dann zwang ich mich anzuklopfen.
Klopf.
Klopf.
Klopf.
Mehrere Minuten verstrichen, ohne dass sich etwas rührte. Vielleicht war niemand zu Hause? Aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass mich eine gewisse Frau mit rotbraunem Haar absichtlich vor der Tür stehen ließ. Ich war schon im Begriff zu gehen, als sie schließlich doch aufmachte.
Devyns wunderschöne Augen sahen müde aus. Von der Unbeschwertheit, die sie am Abend unseres Kennenlernens ausgestrahlt hatte, fehlte jede Spur. Unsere kurze Begegnung zuvor hatte sie vermutlich ebenso verwirrt wie mich, und nun war sie allem Anschein nach auch genauso sprachlos wie ich.
Wir standen eine ganze Weile voreinander und sahen uns nur an. Doch mit jeder Sekunde, die verstrich, ohne dass sie mir die Tür vor der Nase zuknallte, fiel ein bisschen Anspannung von mir ab.
Das war ein Erfolg.
»Was willst du hier?«, fragte sie schließlich.
Devyn wirkte zwar gestresst, sah aber trotzdem wunderschön aus. Ich hätte gern die Hände um ihr Gesicht gelegt und sie geküsst, aber ich rief mir in Erinnerung, dass sie allem Anschein nach nichts mehr mit mir zu tun haben wollte.
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Sag mir zuerst, warum du vorhin die Tür zugeknallt hast.«
»Wie hast du mich überhaupt gefunden?«
»Gefunden?«
Oh Mann.
Vielleicht lag es daran, dass ich den Kopf tagelang im Arsch gehabt hatte, aber ich war wahrhaftig nicht auf die Idee gekommen, dass sie denken könnte, ich würde sie stalken. Um ehrlich zu sein, war ich etwas beleidigt.
»Ich habe dich nicht gesucht, Devyn. Als du neulich das Hotelzimmer verlassen hast, habe ich deine Botschaft klar und deutlich verstanden. Ich bin kein Stalker, das kannst du mir glauben.«
»Was machst du dann hier?«
»Das Haus gehört mir.«
Ihre Augen weiteten sich. »Du bist der Eigentümer?«
»Ja. Ich komme wegen einer Lärmbeschwerde und muss mit der Frau sprechen, die hier wohnt.«
Devyns Gesichtszüge wurden weicher. »Du wusstest nicht, dass ich hier bin?«
Ich sah ihr tief in ihre atemberaubenden grünen Augen. »Nein.«
»Tut …« Sie schüttelte den Kopf und schaute zu Boden. »Oh Mann, tut mir leid.«
»Das sagst du ziemlich oft.«
Devyn sah auf. »Was?«
»Dass es dir leidtut.«
»Tut …« Sie hielt inne. »Gott, jetzt hätte ich es fast wieder gesagt.« Sie schluckte. »Ich bin nervös.«
Sie war nervös?
»Das musst du nicht sein«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Dazu gibt es keinen Grund. Ich versuche ja selbst auch, Stück für Stück aus der Situation schlau zu werden – genau wie du. Als du vorhin an die Tür gekommen bist, war ich geschockt. Du schienst ziemlich aufgewühlt zu sein, daher habe ich nicht noch mal geklopft, nachdem du mir die Tür vor der Nase zugeschlagen hast. Aber ich wusste, dass ich wiederkommen muss. Es ist eine geschäftliche Angelegenheit, die ich nicht einfach auf sich beruhen lassen kann.« Ich seufzte. »Darf ich kurz reinkommen?«
Sie nickte und trat zur Seite. In der Wohnung herrschte ein einziges Chaos: Auf der Couch türmten sich Unmengen von ungefalteter Wäsche, und auf dem Boden stapelten sich Bücher. Als wir uns im Wohnzimmer gegenüberstanden, knisterte es spürbar zwischen uns. Die besondere Chemie zwischen uns war trotz der veränderten Umstände nicht verschwunden – zumindest empfand ich es so. Ich hätte ihr gern gesagt, wie sehr ich die Zeit mit ihr genossen hatte und wie sehr ich mich freute, sie wiederzusehen. Doch ich brachte kein Wort heraus. Ich behielt es für mich, weil mir ihre Körpersprache verriet, dass sie nicht offen war dafür. Ihre Haltung war angespannt, ihr Atem schwer. Die Frau war auf der Hut – verborgen hinter einem dicken unsichtbaren Panzer.
»Wie gesagt …« Ich räusperte mich. »Ich bin hergekommen, weil wir schon wieder eine Lärmbeschwerde in Bezug auf diese Wohnung bekommen haben. Die zwei Teenager, die hier wohnen, stiften schon seit einer ganzen Weile Unruhe im Gebäude. Aber inzwischen ist das Maß überschritten, und wir müssen etwas unternehmen. Wo ist die Frau, die hier wohnt … Vera Marks?«
»Sie ist nicht da.«
»Wo ist sie?«
»Das weiß ich nicht«, murmelte Devyn. »Sie ist abgehauen.«
»Und du passt auf die Kids auf? Wie viel zahlt sie dir dafür? Hoffentlich einen ordentlichen Batzen.«
»Sie bezahlt mich nicht.«
»Nein?« Ich runzelte die Stirn. »Wie ist das möglich?«
Devyn starrte einen Moment ins Leere. »Heath und Hannah sind meine Geschwister.«
Ich riss die Augen auf. »Vera Marks ist deine Mutter?«
»Wenn man es so nennen will …« Sie verdrehte die Augen. »Sie hat mich geboren, okay, aber das ist auch schon alles.«
Ich erinnerte mich daran, dass ihre Freundin Mia von einer »beschissenen Mutter« gesprochen hatte. Es gab also offensichtlich Probleme zwischen ihnen – wahrscheinlich eine lange Geschichte, die ich heute nicht hören würde und womöglich sogar nie. Ich wollte sie nicht mit Fragen bombardieren, während sie sich noch von dem Schock erholen musste, dass ich aus heiterem Himmel vor ihrer Tür aufgetaucht war. Allerdings war meine Neugier riesig.
Was hatte sie neulich in diese Bar geführt?
Warum war sie aus dem Hotel abgehauen?
Was hatte ihre Mutter ihr angetan?
Lebte sie hier in New York?
Wie lange hielt sie sich schon in dieser Wohnung auf?
Bevor ich reagieren konnte, flog die Tür auf, und Frick und Frack kamen herein. Der Junge wirkte etwas älter als das Mädchen. Er war vielleicht fünfzehn. Ich konnte nicht fassen, dass diese Quälgeister, deren Namen ich nun kannte, Devyns Geschwister waren.
»Da ist so eine komische Frau im Aufzug. Die hat uns gerade belästigt«, sagte Heath. Er hatte langes, zotteliges braunes Haar, das ihm über die Augen reichte, und trug ein Def-Leppard-Shirt.
»Sie war irgendwie unheimlich und hat uns um Geld angepumpt«, fügte seine Schwester hinzu. »Wir glauben nicht, dass sie hier im Haus wohnt. Vorher haben wir sie noch nie gesehen.«
Heath zeigte in den Flur. »Vielleicht schauen Sie mal nach.«
Ich lief den Flur hinunter zum Aufzug. Als die Türen aufgingen, erschrak ich, denn eine Frau mit langem blondem Haar lag regungslos am Boden.
Mein Herz raste. Verdammt!
Als ich mich bückte und ihren Arm anfasste, merkte ich, dass sie aus Plastik bestand und die Frisur verrutscht war.
Es ist eine Schaufensterpuppe.
Eine verdammte Schaufensterpuppe.
Ich zerrte sie mit zusammengebissenen Zähnen aus dem Aufzug und lehnte sie im Flur gegen die Wand.
Als ich mich umdrehte und zur Wohnung zurückgehen wollte, stieß ich fast mit den beiden Teenies zusammen, die mit gezückten Handys dastanden und den ganzen Streich offenbar gefilmt hatten. Und da ihr Geheimnis nun gelüftet war, lachten sie mich unverhohlen aus.
Am liebsten hätte ich ihnen den Arsch aufgerissen, aber dann fiel mein Blick auf Devyn, die hinter ihnen stand und nicht mal im Ansatz lächelte. Sie war eindeutig überfordert und hatte keinerlei Kontrolle über die beiden.
Ich wollte nicht wie ein Idiot rüberkommen, also zwang ich mich zu lachen, statt Frick und Frack anzuschreien, obwohl es wirklich nichts zu lachen gab.
Devyn schimpfte mit den beiden. »Wo zur Hölle habt ihr diese Puppe her?«
»Wir haben sie bei Macy’s geklaut«, sagte das Mädchen. »Wir sind einfach so damit rausspaziert.«
Devyn wies mit dem Daumen hinter sich. »Abmarsch ins Badezimmer und wascht euch. Alle beide!«
Sie trollten sich und ließen Devyn und mich im Flur allein. Ich stand schwer atmend im Flur, hin- und hergerissen zwischen meiner Wut und dem Gefühl, völlig gebannt zu sein von dieser schönen Frau. Ich hätte sie so gern in die Arme geschlossen und ihr versichert, dass alles gut werden würde, was auch immer sie gerade durchmachte.
»Ich muss jetzt los«, sagte sie schließlich und wandte sich zum Gehen.
Ich folgte ihr. »Warte, Devyn. Wir sollten reden.«
Sie drehte sich um und schüttelte mit bedauerndem Blick den Kopf. »Ich kann wirklich nicht.«
»Ich verstehe, dass du viel um die Ohren hast. Es muss ja nicht heute sein.«
»Ich glaube nicht, Owen.« Sie ging rückwärts weiter. »Tut mir leid.«
Wenn ich für jedes Mal, dass sich diese Frau bei mir entschuldigt, einen Cent bekäme …
Devyn ging zurück in die Wohnung – und ließ mich vor der Tür stehen.
Schon wieder.
»Was ist hier los? Ist etwas passiert?« Als ich zwei Tage später von der Arbeit nach Hause kam, war der Eingangsflur voller Polizisten.
»Wohnen Sie hier?«, fragte der Größte von ihnen.
Ich nickte. »Oben im zweiten Stock. Außerdem bin ich einer der Besitzer.«
»Ich bin Officer Wells.« Er zeigte auf einen anderen Polizisten, der zu uns herüberkam. »Das ist mein Kollege Officer Tambour. Eine der Mieterinnen, Mrs Unger, hat einen Einbrecher überrascht, als sie nach Hause kam.«
»Scheiße. Ist sie okay?«
Der Polizist nickte. »Es geht ihr gut. Der Täter war ein Jugendlicher. Wir haben den Jungen auf dem Dach gefunden. Das Einzige, was er mitgenommen hatte, war eine ihrer Katzen. Offenbar eine kostbare Perserkatze. Das Tier wurde beschädigt.«
Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Die Katze wurde beschädigt?«
»Ja. Sie war weiß, und jetzt ist sie orange und schwarz eingefärbt. Mit den Streifen sieht sie aus wie ein Tiger.«
Ich schloss die Augen. Ein Teenager, der eine Katze klaut, um sie zu färben? Nun konnte ich mir ziemlich genau vorstellen, wer der Täter war.
»Wissen Sie den Namen des Jungen?«
Der Polizist schüttelte den Kopf. »Er spricht kein Wort. Abgesehen davon, dass er meinen Kollegen als Schwein bezeichnet hat.«
Herrgott noch mal! »Wo ist er?«
»Er ist schon unterwegs zur Wache.«
Scheiße. »Verstehe. Kann ich nach oben in meine Wohnung?«
»Natürlich. Wir sind in ein paar Minuten weg.«
Statt den Knopf für den zweiten Stock zu drücken, fuhr ich mit dem Aufzug direkt in die vierte Etage. Ich wusste nicht, ob Devyn da war – Heath war es sicherlich nicht, denn er war bereits auf halbem Weg ins Gefängnis.
Ich klopfte an die Tür von Wohnung 410 und wartete, aber niemand öffnete. Ich wollte gerade wieder gehen, als ich drinnen jemanden niesen hörte. Also klopfte ich noch einmal lauter. »Devyn? Bist du da? Es ist wichtig.«
Doch es war nicht Devyn, die aufmachte, sondern Hannah – die Jüngere des halbwüchsigen Bonnie-und-Clyde-Duos.
Ich stemmte die Hände in die Hüften. »Hast du mein Klopfen beim ersten Mal nicht gehört?«
»Ich dachte, Sie wären jemand anders.«
»Wer denn? Die Polizei vielleicht?«
Hannah streckte den Kopf aus der Tür und schaute nach links und rechts. »Sind die hier?«
»Auf dieser Etage nicht, aber unten.«
»Haben sie Heath erwischt?«
Ich seufzte. »Was zur Hölle hat er sich dabei gedacht, bei Mrs Unger einzubrechen?«
»Wir sind nicht eingebrochen. Sie hat die Tür aufgelassen. Das macht sie ständig.«
»Wir? Dann warst du also auch beteiligt?«
Hannah presste die Lippen aufeinander.
Ich schüttelte den Kopf. »Ist deine Schwester zu Hause?«
»Nein.«
»Wo ist sie?«
»Woher soll ich das wissen?«
Gott, diese Kinder waren wirklich nicht einfach. »Du musst sie anrufen und ihr sagen, was los ist.«
Hannah verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich bin doch keine Petze.«
»Dein Bruder kommt ins Gefängnis, Hannah. Er braucht Hilfe.«
Sie machte große Augen. »Ins Gefängnis? Nur weil er eine Katze mit Farbe besprüht hat? Es ist nicht mal dauerhaft. Das Zeug, das wieder weggeht, war billiger.«
Ich zeigte auf das Telefon in ihrer Hand. »Ruf deine Schwester an.«
»Habe ich schon gemacht. Sie ist nicht drangegangen.«
Ich schüttelte den Kopf. Warum zur Hölle machte sie es mir so schwer, wenn sie schon angerufen hatte? »Hast du ihr eine Nachricht hinterlassen?«
»Ja, aber sie hat nicht zurückgerufen.«
Ich seufzte. »Okay, erzähl mir genau, was passiert ist, und ich werde sehen, was ich tun kann.«
»Wir sind in den dritten Stock gegangen, um Klingelmännchen zu spielen, aber als wir aus dem Aufzug kamen, haben wir gesehen, dass bei der alten Frau am Ende des Flurs die Tür offen stand. Und ihre Katze kam gerade herausspaziert. Also haben wir sie uns geborgt.«
Geborgt. »Okay, und dann?«
»Ich habe gesagt, sie läuft wie ein Tiger. Und Heath meinte, dann sorgen wir dafür, dass sie auch so aussieht. Wir haben sie bei uns eingesperrt und in der Drogerie orange und schwarze Haarfarbe gekauft. Als wir fertig waren, stand die Tür der alten Frau immer noch offen. Sie hat nicht mal mitbekommen, dass ihre angeblich so kostbare Katze weg war. Heath wollte ihre Reaktion filmen, wenn sie die Farbe sieht, und hat sich mit der Katze in ihre Wohnung geschlichen. Dass er erwischt wird, war nicht geplant.«
»Die Gefängnisse sind garantiert voll von Leuten, die nicht geplant hatten, erwischt zu werden.«
»Können Sie Heath helfen? Es war doch nur ein Streich.«
Da Mrs Unger tatsächlich häufig ihre Tür aufließ, damit ihre Katzen ein und aus gehen und im Flur herumlaufen konnten, klang die Geschichte plausibel. Ich wusste nicht, ob ich etwas tun konnte, aber ich wollte es zumindest versuchen.
Ich deutete mit dem Zeigefinger auf Hannah. »Du bleibst hier. Du gehst nicht raus und machst keinen Ärger mehr.«
Das Mädchen verdrehte die Augen. »Meinetwegen.«
»Ja, nichts zu danken.«
Ich ging die Treppe hinunter in den dritten Stock, um mit Mrs Unger zu reden. Ich hatte keine Ahnung, warum zum Teufel ich mich in dieses Desaster einmischte, aber ich klopfte trotzdem.
Sie öffnete mit ihrer beschädigten Katze auf dem Arm die Tür. Ich hütete mich, es zu sagen, aber die Streifen waren ziemlich gut gelungen. Das Tier sah wirklich wie ein kleiner Tiger aus.
»Hallo, Mrs Unger. Wie geht es Ihnen?«
»Ging schon mal besser.« Sie runzelte die Stirn. »Irgendwelche Ganoven haben meinen kleinen Schneeball hier verunstaltet.«
»Davon habe ich gehört. Ich würde gern mit Ihnen darüber reden.«
»Wir könnten bessere Schlösser für die Türen gebrauchen.«
Ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, als zu sagen, dass sie ihre Tür auch schließen musste, damit das Schloss seine Wirkung tat.
»Das ist eine gute Idee. Ich kümmere mich darum. Aber ich habe gehofft, wir könnten über den Jungen sprechen, der Schneeballs Fell gefärbt hat.«
»Was ist mit ihm?«
»Nun, besteht vielleicht die Möglichkeit, dass ich Sie davon abbringen kann, Anzeige gegen ihn zu erstatten? Ich kenne die Familie. Er ist wirklich kein schlechter Junge.«
Mrs Unger machte keinen besonders verständnisvollen Eindruck, also trug ich noch ein bisschen dicker auf.
»Seine Mutter ist abgehauen. Sie hat ihn und seine kleine Schwester sich selbst überlassen. Sie haben ein paar Dummheiten angestellt und Videos gemacht, um irgendwoher die Aufmerksamkeit zu bekommen, die ihnen zu Hause fehlt.«
Ihre Miene wurde weicher.
Wer weiß, vielleicht lag sogar ein Funken Wahrheit in dem, was ich mir aus den Fingern saugte. Und weil Mrs Unger es mir scheinbar abkaufte, fuhr ich fort.
»Der Junge mag Katzen eigentlich sehr gern. Er hat extra auswaschbare Farbe benutzt. Er hat sich wirklich nichts Böses dabei gedacht. Es war nur ein dummer Versuch, Aufmerksamkeit zu gewinnen.«
»Ich weiß nicht …«
Nach einer weiteren Viertelstunde und meinem Versprechen, die Farbe später aus Schneeballs Fell zu waschen, erklärte sich Mrs Unger schließlich bereit, auf eine Anzeige zu verzichten. Ich wusste zwar, dass die Polizei den Fall auch ohne sie weiter verfolgen konnte, aber in der Regel wurde die Anklage fallen gelassen, wenn keine Anzeige erstattet wurde – es sei denn, man wollte ein Exempel an jemandem statuieren. Scheiße. Zum Beispiel an einem respektlosen Rotzbengel, der einen Polizisten als Schwein beschimpft hatte und einen Denkzettel bekommen musste.
Weil es gut möglich war, dass Heath sich gerade sein eigenes Grab schaufelte, beschloss ich, zur Polizeiwache zu gehen. Unterwegs rief ich meinen Vater an. Er war inzwischen pensioniert, war aber dreißig Jahre lang in Philadelphia Polizist gewesen, die letzten fünfzehn Polizeikommissar. Ich bat ihn um einen Rat, doch er bot mir etwas noch viel Besseres an: Er wollte auf dem Revier anrufen und sehen, was er tun konnte. Nach der langen Zeit in gemeinsamen Einsatzverbänden hatte er noch viele Freunde bei der New Yorker Polizei.
In der Wache ging ich schnurstracks zum Empfangsschalter. »Hallo, ich komme wegen Heath …«
Scheiße. Hat er denselben Nachnamen wie Vera?
»Äh … Er ist ungefähr fünfzehn und wurde vor einer Stunde hergebracht.«
Der Mann nickte. »Sind Sie der Sohn von Frank Dawson?«
Ich lächelte. »Der bin ich.«
»Kluger Schachzug, dass Sie Ihren Vater angerufen haben. Dieser Junge ist schrecklich. Sie haben Glück, dass ich Gefälligkeiten gern sammle.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe die Geschädigte angerufen. Sie will die Sache nicht weiter verfolgen. Also lassen wir ihn gehen … Diesmal noch. Aber glauben Sie mir, der Junge ist schnell wieder hier, wenn sich bei ihm nichts ändert.«
»Vielen Dank, Officer.«
»Ich rufe an und lasse ihn bringen. Kann ein paar Minuten dauern.«
»Großartig. Tausend Dank nochmals.«
Aus ein paar Minuten wurde fast eine Stunde. Wahrscheinlich hatten sie Heath nicht gesagt, wer gekommen war, um ihn herauszuhauen, denn er war sichtlich geschockt, als er mich sah.
»Was machen Sie …?«
Ich hob die Hand und unterbrach ihn. »Wir reden draußen. Und damit meine ich, dass ich reden werde und du zuhörst.«
Heath runzelte zwar die Stirn, nickte aber.
Der Polizist am Schalter hob kurz das Kinn. »Viel Glück.«
Nachdem wir die Wache verlassen hatten, ging ich mit Heath ein Stück den Block hinunter. Dann wandte ich mich ihm zu. »Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«
»Ich dachte, ich bekomme viele Aufrufe.«
»Jetzt gibst du mir zuerst mal dein Handy.« Ich streckte die Hand aus.
»Warum?«
»Ich werde das Video löschen, das du aufgenommen hast. Und wenn du mich nervst, bringe ich dich direkt zurück zur Polizei. Ich habe Mrs Unger überredet, dass sie keine Anzeige erstattet. Und ich habe meinen Vater bemüht. Er ist pensionierter Polizist und hat die Kollegen um einen Gefallen gebeten.«
Heath gab mir sein Telefon, und ich löschte das Video und gab es ihm zurück.
»Erzählen Sie es meiner Schwester?«, fragte er.
»Natürlich sage ich es Devyn. Sie ist für dich verantwortlich.«
Der Junge zog die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts.
Ich wies mit dem Kopf in Richtung U-Bahn-Station. »Komm mit.«
»Aber die Linie fährt in die Innenstadt.«
»Wir machen einen kleinen Ausflug.«
»Wohin?«
»Du wirst schon sehen.«
Es war zwar nicht das Angelo’s in Philadelphia, aber trotzdem verdammt gut. Ich war mit Heath zu Joe’s Pizza in Greenwich Village gefahren, um einen Happen mit ihm zu essen, wie es mein Vater immer gemacht hatte, wenn er mit mir reden wollte. Es hatte in der Regel bedeutet, dass ich in Schwierigkeiten steckte, aber im Laufe der Jahre hatte ich es zu schätzen gelernt, dass mein Vater mich nicht bloß anschrie und mir einen Monat Hausarrest erteilte wie die meisten anderen Väter. Er redete beim Essen mit mir von Mann zu Mann, was es mir praktisch unmöglich machte, auf Durchzug zu schalten. Versteht mich nicht falsch, den Hausarrest bekam ich trotzdem – aber Dad sorgte dafür, dass ich ihm zuerst zuhörte.
Ich wartete, bis Heath sich sein zweites Stück Pizza nahm, dann begann ich das Gespräch.
»Gut, lass uns reden. Warum macht ihr zwei ständig Ärger?«
Heath zuckte die Achseln. »Total öde hier. Es gibt nichts zu tun.«
»Du lebst in New York! Diese Stadt ist einiges, aber öde ganz bestimmt nicht.«
Er zuckte abermals mit den Schultern. »Was kann ich denn machen?«
»Hausaufgaben, lernen, deiner großen Schwester zu Hause helfen.«
»Wie gesagt, öde.«
»Was findest du denn nicht öde?«
»Keine Ahnung.«
»Hast du irgendwelche Hobbys? Treibst du Sport?«
»Eigentlich nicht.«
Ich kratzte mich am Kinn. »Du machst viele Videos. Hast du Spaß daran?«
»Ja.«
»Gibt es vielleicht eine Film- oder Foto-AG in der Schule, wo du mitmachen könntest?«
»Weiß ich nicht.«
»Na, dann finde es doch heraus.«
»Ja, vielleicht.«
»Die Sache ist die: Du kannst nicht weiter Mist bauen wie in den letzten Monaten. Jetzt ist Schluss damit, Sachen vom Dach zu werfen, Schaufensterpuppen zu klauen und Katzen zu färben. Wenn du dich langweilst, musst du dir eine Beschäftigung suchen, mit der du dir keinen Ärger einhandelst. Aber ich glaube, dass du nicht nur aus Langeweile in Schwierigkeiten gerätst. Willst du wissen, was ich denke?«
Heath verzog das Gesicht. »Eher nicht.«
Ich grinste. »Gut, dass du fragst. Ich denke, du willst Aufmerksamkeit. Deine Mutter ist nicht da, und wenn sie da ist, kümmert sie sich nicht um euch. Es ist keine Seltenheit, dass Teenager und manchmal auch Erwachsene es darauf anlegen, unangenehm aufzufallen – denn wenn einem jemand einen Anschiss verpasst, ist man demjenigen wenigstens nicht egal, stimmt’s?«
»Ich bin nicht auf Aufmerksamkeit aus.«
»Nein? Warum postest du deine Videos dann in den sozialen Medien?«
Darauf hatte er natürlich keine Antwort.
Ich seufzte. »Es steht mir nicht zu, dir eine Strafpredigt zu halten. Und ich weiß nicht mal, ob das, was ich sage, überhaupt richtig ist. Aber aus irgendeinem verrückten Grund habe ich beschlossen, mich einzumischen. Und ich mache keine halben Sachen. Deshalb würde ich gern versuchen zu helfen.«
Heath stopfte sich ein Stück Pizza in den Mund und blieb mehrere Minuten lang still. Ich war überrascht, als er schließlich zu reden begann.
»Ich hatte mal eine Videokamera. Es hat mir Spaß gemacht, Filme zu machen und so.«
»Ja? Was ist damit passiert?«
»Wir haben sie beim Pfandleiher verkauft.«
»Warum habt ihr das gemacht, wenn du so gern gefilmt hast?«
»Weil nichts mehr von Moms billigem Schmuck zum Verkaufen da war, als sie verschwunden ist, und wir hatten auch keinen Dosenfraß mehr.«
Mein Herz zog sich zusammen. »Tut mir leid, Mann.«
Er zuckte mit den Achseln. Aber da er die Tür geöffnet hatte, beschloss ich, ein bisschen mehr aus ihm herauszukitzeln.
»Wie oft kommt das vor? Dass deine Mutter verschwindet, meine ich.«
»Sehr oft.«
»Wisst ihr, wo sie ist, wenn sie weg ist?«
»Sie sagt, sie braucht ihren Freiraum.« Heath verdrehte die Augen. »Das bedeutet meistens, dass sie einen Typen kennengelernt hat, der keinen Bock auf Kinder hat. Dann verschwinden sie für eine Weile.«
»Tut mir leid.«
»Das muss es nicht«, entgegnete er. »Ich brauche kein Mitleid.«
Verdammt, der Junge hatte für sein Alter schon eine Menge emotionalen Ballast. »Kommt deine Schwester jedes Mal zu euch, wenn eure Mutter weg ist?«
Heath schüttelte den Kopf. »Wir rufen sie eigentlich nicht an, weil sie dann sofort bei uns auftaucht. Aber wir hatten kein Geld mehr für Essen. Wir wollen ihr nicht auf die Nerven gehen.«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und nickte nur. Dann aßen wir schweigend unsere Pizza auf.
Heath wischte sich den Mund ab. »Können wir jetzt gehen?«
»Natürlich.«
Wir stiegen in die U-Bahn, und eine Viertelstunde später waren wir zu Hause. Ich dachte mir, dass ich es wahrscheinlich bereuen würde, aber der Junge brauchte dringend jemanden, auf den er sich verlassen konnte. Daher drückte ich nicht direkt auf den Knopf für den vierten Stock, als wir im Aufzug standen.
»Hör mal, wenn du Lust auf Pizza hast, komm ruhig zu mir runter. Wir können reden oder einfach nur essen. Wie du willst.«
Heath zuckte wieder einmal nur die Achseln. »Danke.«
Ich fuhr mit ihm nach oben, weil ich es für angebracht hielt, mit seiner Schwester über die ganze Geschichte zu reden. Er hatte seinen Schlüssel nicht dabei und klopfte an.
Devyn öffnete die Tür und zog die Augenbrauen zusammen. »Owen? Warum bist du bei Heath?«
»Hat Hannah es dir nicht erzählt?«
»Was denn?«
Mist. Nun musste ich die schlechte Nachricht überbringen. Heath versuchte unterdessen, sich in die Wohnung zu schleichen und dem Gespräch zu entkommen. Ich hielt ihn am Kragen fest.
»Nicht so schnell, mein Freund.«
Devyn kniff die Augen zusammen. »Was ist los? Ist bei deinem Date etwas passiert, Heath?«
»Date?«, fragte ich.
Devyn zeigte mit dem Daumen über die Schulter. »Hannah hat gesagt, Heath hätte ein Date.«
»Wenn damit nicht das Date mit Officer Wells gemeint war, hat sie dir Blödsinn erzählt.«
»Polizei? Was ist vorgefallen, Heath?«
»Wir haben uns die Katze von der alten Frau im dritten Stock geborgt und ihr einen coolen Look verpasst. Das hat ihr aber nicht so gut gefallen.«
Devyn sah mich an. »Kannst du mir das bitte übersetzen?«
Ich nickte. »Sie haben die Perserkatze von Mrs Unger genommen und ihr schwarze und orange Streifen ins Fell gefärbt. Dann ist Heath in ihre Wohnung geschlichen, um ihre Reaktion beim Anblick der Katze filmen zu können. Sie hat die Polizei gerufen, und die Beamten haben Heath oben auf dem Dach gefunden und wegen versuchten Einbruchs und Vandalismus auf die Wache mitgenommen.«
Devyn war völlig entgeistert. Sie sah ihren Bruder an. »Hast du den Verstand verloren?«
»Das war doch alles nur ein Witz.«
»Du bist also festgenommen worden und hattest gar kein Date?«
»Sie haben mich gehen lassen, weil Mrs Unger dann doch keine Anzeige erstattet hat.«
Devyn nahm mich ins Visier. »Und was hast du mit alldem zu tun?«
»Ich habe mit Mrs Unger geredet und bin zur Wache gefahren, um ihn abzuholen.«
Sie wurde lauter. »Ohne mich anzurufen?«
»Hannah meinte, sie hätte dich schon angerufen und dir eine Nachricht hinterlassen. Da habe ich gedacht, sie erzählt dir alles.«
Devyn zeigte auf Heath. »Du gehst jetzt sofort rein. Dusch dich, und setz dich auf die Couch. Wir unterhalten uns gleich.«
Der Junge war so schlau, den Mund zu halten und zu spuren. Als wir allein waren, zog Devyn die Tür hinter sich zu. Ich dachte, sie wollte sich darüber beschweren, wie schwierig es war, die Kinder in Schach zu halten, oder mir vielleicht für meine Hilfe danken. Aber da irrte ich mich gewaltig …
Sie stemmte die Hände in die Hüften. »Warum hast du das alles gemacht?«
»Was denn?«
»Warum hast du dich eingemischt und bist zur Polizei gegangen?«
War das ihr Ernst? »Ich dachte, das ist ziemlich offensichtlich. Ich wollte helfen.«
»Warum?«
»Wie? Warum?«
»Ich schlafe nicht noch mal mit dir als Belohnung, wenn du das denkst.«
Ich schüttelte den Kopf und spürte, wie mir die Hitze ins Gesicht stieg. »Weißt du, manchmal helfen Leute einfach, weil sie gute Menschen sind.«
»Meiner Erfahrung nach nicht. Wenn mir jemand helfen will, erwartet er normalerweise eine Gegenleistung.«
»Weißt du was? Diesen Unsinn höre ich mir nicht an. Du kennst mich gar nicht gut genug, um so schlecht von mir zu denken.« Ich beugte mich vor und sah ihr in die Augen. »Nichts zu danken!«
Dann machte ich auf dem Absatz kehrt und stürmte davon.
Ein paar Stunden später kochte ich immer noch vor Ärger. Ich hatte eine gewaltige Verspannung im Nacken, ganz zu schweigen von den grässlichen Kopfschmerzen oberhalb der Augenbrauen. Und mein Hundert-Dollar-Anzughemd war mit orangen und schwarzen Farbflecken versaut. Vor lauter Wut hatte ich nicht klar denken können und vergessen, es auszuziehen, bevor ich die verdammte Katze von Mrs Unger gewaschen hatte. Ich wollte mir gerade ein Glas Whiskey zur Beruhigung einschenken, als es klopfte.
Devyn war die Letzte, die ich vor meiner Tür erwartet hatte. Sie hielt mir ein Glas mit einer klaren Flüssigkeit hin.
»Ich kann nicht backen. Aber ich wollte mich bei dir für vorhin entschuldigen. Und ich dachte, du könntest nach dem Theater mit meinem kleinen Bruder einen Drink gebrauchen. Es ist ein Tequila Soda. Den hast du an dem Abend getrunken, als wir uns kennengelernt haben.«
Es gefiel mir nicht, dass ich so schnell weich wurde. Immerhin war ich stundenlang sauer gewesen.
»Ich habe nicht geholfen, weil ich etwas dafür haben wollte«, erklärte ich.
»Ich weiß. Es war eine Kurzschlussreaktion von mir und völlig unangebracht.« Sie lächelte. »Ich verfalle aus Gewohnheit sofort in eine Verteidigungshaltung. Nette Männer bin ich offenbar nicht gewohnt. Kannst du mir verzeihen?«
Ich machte die Tür weiter auf. »Möchtest du reinkommen? Wir könnten uns den Drink teilen. Du kannst ihn bestimmt auch gebrauchen.«
»Danke für das Angebot, aber das sollte ich wirklich nicht tun.«
Ich sah sie prüfend an. »Solltest du nicht oder willst du nicht?«
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich sollte nicht.«
Ich streckte die Hand aus, und sie gab mir den Drink. »Entschuldigung angenommen.«
»Danke. Und danke für alles, was du für Heath getan hast.«
Ich nickte. »Keine Ursache.«
»Gute Nacht.«
»Dir auch.«
Ich blieb an der Tür stehen, während Devyn zum Aufzug ging. Als sich die Tür öffnete, rief ich ihr nach. »Hey!«
Devyn drehte sich um.
»Bist du nicht reingekommen, weil das dynamische Duo oben unbeaufsichtigt ist oder weil du dir selbst nicht traust, wenn du auf einen Drink allein mit mir in meiner Wohnung bist?«
Der Anflug eines Lächelns spielte um ihre Lippen, als sie in den Aufzug stieg. »Die beiden schlafen. Die machen heute keinen Ärger mehr.«
Sieh an, sieh an … Vielleicht besteht ja doch noch Hoffnung.
Knurps.
Knurps.
Knurps.
Die Geräusche, die Heath beim Kauen seines Knuspermüslis machte, gingen mir auf die Nerven. Ich hatte immer gedacht, ich könnte Essgeräusche generell nicht ausstehen, aber dieses Geknurpse war am schlimmsten. Doch vielleicht war ich in letzter Zeit auch nur extrem reizbar und empfand alles, was mir normalerweise auf den Keks ging, noch viel heftiger.
Er schlürfte die Milch.
Schlürf.
Schlürf.
Schlürf.
Das war sogar noch schlimmer als das Knurpsen.
Heath wischte sich den Mund mit dem Ärmel ab. »Dieser Owen ist in Ordnung.«
Die bloße Erwähnung seines Namens jagte meinen Puls in die Höhe. Eine flüchtige Erinnerung daran, wie sich meine Nägel in Owens Rücken gruben, tauchte vor meinem geistigen Auge auf. Ich verdrängte sie und wünschte plötzlich, wir könnten zum Knurpsen und Schlürfen zurückkehren.
Ich stützte die Arme auf den Tisch. »Wieso hast du gerade an ihn gedacht?«
»Wir haben neulich geredet, als wir Pizza essen waren.«
»Und worüber habt ihr geredet?«
Heath trank den Rest der Milch direkt aus der Schüssel. »Über Sachen halt.«
»Was für Sachen?«
Er zögerte. »Ich habe ihm von Mom erzählt.«
Oh nein! Ein weiterer Grund für Owen, uns zu bemitleiden.
»Du solltest nicht mit anderen über Mom reden.«
»Warum nicht?«
»Das versteht eh keiner, und es geht auch niemanden etwas an.«