Menschenkenntnis - Alfred Adler - E-Book

Menschenkenntnis E-Book

Alfred Adler

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Beschreibung

Die Individualpsychologie Adlers gehört mit der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds und der Analytischen Psychologie C. G. Jungs zum Fundament der modernen Psychologie. Kenntnisse und Einsichten, die Adler als praktischer Arzt in Wien erwarb, bildeten einen wichtigen Teil der Grundlagen seiner Psychologie, in der er das Gesetz der seelischen Entwicklung des Menschen zu erfassen suchte. Nach Adlers Überzeugung ist gerade dieses Gesetz der seelischen Entwicklung »der wichtigste Wegweiser für jeden, der nicht dunklen Regungen verfallen will, sondern bewußt sein Schicksal aufzubauen bestrebt ist. Wir treiben mit diesen Untersuchungen Menschenkenntnis, eine Wissenschaft, die kaum sonst irgendwie gepflegt wird, die uns aber als die wichtigste und für alle Schichten der Bevölkerung unerläßliche Beschäftigung erscheint.« Seine Einsicht, daß die Neurosen auf die Konflikte zwischen dem natürlichen Geltungsstreben des Menschen und seiner tatsächlichen sozialen Rolle zurückzuführen sind, hat in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts eine neue Bedeutung erhalten. Adlers grundlegendes Buch ›Menschenkenntnis‹ gilt auch im Ausland als Standardwerk der modernen Psychologie.

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Seitenzahl: 412

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Alfred Adler

Menschenkenntnis

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Inhalt

EinleitungVorwortAllgemeiner TeilEinleitung1. Kapitel Die Seele des Menschen2. Kapitel Soziale Beschaffenheit des Seelenlebens3. Kapitel Kind und Gesellschaft4. Kapitel Eindrücke der Außenwelt5. Kapitel Minderwertigkeitsgefühl und Geltungsstreben6. Kapitel Die Vorbereitung auf das Leben7. Kapitel Das Verhältnis der Geschlechter8. Kapitel GeschwisterDie Charakterlehre1. Kapitel Allgemeines2. Kapitel Charakterzüge aggressiver Natur3. Kapitel Charakterzüge nicht aggressiver Natur4. Kapitel Sonstige Ausdrucksformen des Charakters5. Kapitel Die AffekteA. Trennende AffekteB. Verbindende AffekteAnhangAllgemeine Bemerkungen zur ErziehungSchlußwortNamen- und Sachregister

Einleitung

Am Morgen des 28. Mai 1937 brach auf einer Straße der schottischen Universitätsstadt ein rundlicher, älterer Mann zusammen – kurz danach verschied er an einem Herzanfall. Eine zahlreiche Hörergemeinde, die zu einem Sommerkurs über ›Individualpsychologie‹ zusammengekommen war, wartete an jenem Tag umsonst auf ihren Lehrer: Alfred Adler war nicht mehr. Mit 67 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Erfolges in Amerika, wo er seit 1930 gelebt hatte, schied Adler als erster der drei großen Begründer moderner Tiefenpsychologie aus dem Leben. Zweieinhalb Jahre später sollte ihm der Begründer der Psychoanalyse, Sigmund Freud, in den Tod folgen (1939). C. G. Jung überlebte beide bis 1961.

War Alfred Adler eigentlich ein ›Tiefenpsychologe‹? Seine jetzt wieder in der ganzen Welt zunehmende Gemeinde ist sich darüber nicht einig und die Frage wurde zum Generalthema der 1966 in Holland stattfindenden Tagung des ›Internationalen Vereins für Individualpsychologie‹ gewählt.

»Mensch sein heißt, sich minderwertig zu fühlen und nach Überlegenheit zu trachten.« »Es gibt keine absolute Wahrheit, was aber einer solchen noch am nächsten kommt, ist die Gemeinschaft.« »Sexualität ist keine Privatsache.« »Gefühle sind keine Argumente.« »Neurose ist eine Fiktion; der Neurotiker läuft ständig seinen Ohrfeigen nach.«: All diese typischen Aussprüche Adlers scheinen aus einer ganz anderen Gedankenwelt zu stammen, als die Lehre von der Libido, vom Unbewußten, von der Verdrängung und dem Widerstand, oder von den Archetypen und von Extra- und Introversion, wie wir sie bei Freud und C. G. Jung kennen. Und trotzdem sind im Grunde genommen Psychoanalyse (Freud), analytische bzw. komplexe Psychologie (Jung) und vergleichende Individual- und Gemeinschaftspsychologie (Adler) doch eines Geistes Kind. Auch historisch gesehen gehören sie zusammen, obwohl die Weltanschauungen ihrer jeweiligen Begründer fächerartig auseinanderlaufen. Es wurde vielfach versucht, ihre Andersartigkeit auf Kurzformeln zu bringen. So wurde gesagt, Freuds Psychoanalyse eigne dem Menschen der Großstadt, Jungs analytische Psychologie dem der Natur noch verwachsenen Dorfmenschen und dem Primitiven, Adlers Individualpsychologie, eine »Psychologie für Oberlehrer«, aber dem Einwohner mittlerer und kleinerer Städte. Oder: Freud hat die Psychologie des Kleinkindes, Jung jene der ›zweiten Lebenshälfte‹ über 40 Jahre, Adler hingegen die des Jugendlichen durchleuchtet, wobei sich die drei Systeme gegenseitig ergänzen. Die französische katholische Psychoanalytikerin Maryse Choisy will sogar in den Namen Freud, Jung und Adler archetypische Symbolik entdecken: Freud war ein Prophet der Sexualtriebe und damit der Lebensfreude; Adler, mit dem Namen des königlichen Vogels der Deuter des Geltungsstrebens und des Überlegenheitsgefühls; Jung hat die Menschheit zum Jung- brunnen des kollektiven Unbewußten zurückgeführt! Wie Karikaturen, so haben auch solche Deuteleien immer irgendeinen typischen Zug, den sie aber gänzlich übertreiben und vereinfachen. Jung war ein Alchimist der Psyche, ein »ahistorischer Panpsychist«, mit einem Hang zur Parapsychologie; Freud, im Grunde genommen Naturwissenschaftler, erwartete die Lösung aller Probleme der Psychologie von einer »vollkommeneren Physiologie«. Adler dagegen war kein Theoretiker, sondern ein Realist, ein Pragmatiker, ein praktischer Arzt und Helfer. Bei weitem weniger auf ›Wisschenschaftlichkeit‹ bedacht, wollte er ein praktischer Menschenkenner und -helfer sein und bleiben, und gerade von diesem seinem Hang legt das vorliegende Buch das schönste Zeugnis ab. Er schrieb nicht gern und achtete wenig auf Stil.

Der hier vorliegende Text gibt eine Reihe von Vorträgen wieder, die er in Wien 1926 gehalten hatte und die einer seiner Hörer (namens Broser) mitstenographierte und somit für die Nachwelt retten konnte.

Wer war nun Alfred Adler, dessen Werke heute in Amerika wieder großes Interesse finden, den ein Max Scheler und ein Keyserling noch als einen ›Quellengeist‹ unserer Zeit betrachteten, der aber in deutschen Landen zu den großen Vergessenen gehört?

Am 7. 2. 1870 in Wien als zweiter Sohn eines kleinbürgerlichen Getreidehändlers geboren, der aus dem ungarischen Burgenland eingewandert war, hatte er noch vier männliche und zwei weibliche Geschwister. Erst später erwarb er die österreichische Staatsbürgerschaft, wie er auch mit seiner russischen Frau Raissa zum evangelischen Glauben übertrat, noch vor der Geburt seiner vier Kinder. (Einer seiner Brüder wirkt noch heute als Bibliothekar am Vatikan.) Bereits mit vier Jahren erklärte er, er wolle Arzt werden; der frühe Entschluß entsprang aus dem Eindruck des Todes seines Bruders, der neben ihm in seinem Bett starb, aber auch aus dem Wunsch, seine kränkelnde Mutter zu ›heilen‹, wie auch aus der Tatsache, daß er selbst ein schwächliches, vielleicht sogar ein rachitisches Kind war. All diese Umstände sind für das Verständnis seiner Lehre nicht minder wichtig als seine Kindheit auf offener Straße in Penzing (heute XIII. Bezirk Wiens). Er selbst pflegte immer wieder, und nicht nur im Scherz, zu behaupten, seine »Menschenkenntnis« verdanke er eigentlich nur seiner »Straßenjungenkarriere«. Als sich seine Praxis als junger Augenspezialist in der jüdisch-kleinbürgerlichen Praterstraße nicht rentierte, wurde er ein beliebter praktischer Arzt, nach dem Muster des gemütlichen, gutmütigen Hausarztes, ganz seinem pyknischen Körperbau und zyklothymen Temperament entsprechend. Er heiratete 1897; 1898 wurde seine Tochter Valentine geboren, auf die 1901 Alexandra – heute bekannte Neuropsychiater in der New Yorker Park Avenue –, 1905 Kurt (ebenfalls New Yorker Psychiater) und 1909 Nelly folgten. Die älteste Tochter ist mit ihrem Mann in den dreißiger Jahren in das Heimatland ihrer Mutter ausgewandert, wo beide offensichtlich einer ›Säuberung‹ zum Opfer fielen. Als er einmal für den damals in Wiener Ärztekreisen noch verlachten Freud Stellung nahm, erhielt er von diesem eine heute bereits legendär gewordene Postkarte mit der Einladung, seiner Studiengruppe, die sich mittwochs in seiner Wohnung in der Berggasse versammelte, beizutreten. 1907 veröffentlichte Adler seine »Studie über Minderwertigkeit von Organen«, den ersten Wurf zu seiner späteren Lehre vom »Organdialekt« oder der »Organsprache«, die zusammen mit dem »Sexualjargon« – das geschlechtliche Verhalten als Ausdrucksbewegung gedeutet! – den Anstoß zu den ersten systematischen Entwürfen einer psychosomatischen Medizin geben sollten.[1]

Die geradezu revolutionäre Bedeutung der »Studie« wird nur vor dem Hintergrund der damals vorherrschenden Darwinschen Lehre vom ›Überleben der Tüchtigen‹ und der Entartungslehre Lombrosos ersichtlich, nämlich als eine Reaktion auf beide. Im Mittelpunkt der Beobachtungen Adlers als Augenarzt stand die Feststellung, daß schwächere Organe, deren Schwäche sich häufig vererbt, sich oft nicht nur kompensieren, also zu einem funktionalen Ausgleich gelangen, sondern sogar auch überkompensieren zu einer höheren, manchmal genialen funktionalen Überlegenheit. War es nicht eigentümlich, daß der Stotterer Demosthenes zum großen Redner, der kurzsichtige Menzel zum bedeutenden Maler, der ebenfalls kurzsichtige Gustav Freytag zu einem peinlich genau beschreibenden Schriftsteller wurden? Schielt nicht Dürer auf seinem Selbstbildnis, war El Greco aller Wahrscheinlichkeit nach nicht astigmatisch? Viele Musiker litten an Minderwertigkeiten des Gehörs und ertaubten, wie Beethoven, Smetana und Clara Schumann; an Bruckners Ohr war ein Naevus zu merken, Mozarts Außenohr war degenerativ verformt. Waren es in diesen Fällen nicht gerade solche ›Organminderwertigkeiten‹, die zu einer erhöhten Leistung der betroffenen Organe den Ansporn gaben? Damit war die paradoxe Frage Lombrosos, wieso das ›Genie‹ oft als ein »dégénéré supérieur« erschien, eigentlich gelöst, wie auch das Überleben der biologisch ›Minderwertigen‹: die rätselhafte Erscheinung des ›Genies‹, die damals zu einer wahrhaften ›Genie-Religion‹ geführt hatte, wurde auf einmal naturwissenschaftlich erklärbar: Genie war tatsächlich ›vielleicht nur Fleiß‹, wie bereits Buffon, Lessing und Goethe[2]lehrten: nämlich das Ergebnis eines früh, durch die biologisch bedingte, ursprünglich minderwertige Funktion eines Organs einsetzenden Trainings. Wenn nun Adler zunächst annahm, das betroffene Organ kompensiere sich wie von selbst, und allmählich dazu kam, im Gehirn ›das‹ allgemeine Kompensationsorgan zu sehen, so mußte er dann entdecken, daß die Tatsache, ob überhaupt ›kompensiert‹ oder gar überkompensiert, andererseits aber in vielen Fällen nicht kompensiert (dekompensiert) wurde, gar nicht vom Organ, auch nicht vom zentralen Nervensystem, sondern immer nur von dem Willen des betroffenen Menschen, von seinem »psychischen Überbau« und nicht vom biologischen Unterbau abhing. So ging er immer mehr von seiner biologistischen Betrachtung der organischen Minderwertigkeit zur Entdeckung der Wichtigkeit des rein subjektiven, wenn auch oft ungewußten ›Gefühls‹ der Minderwertigkeit über. Diese Minderwertigkeit war oft sachlich gar nicht vorhanden, sondern nur eingebildet, oder aber durch bloß soziale negative Bewertung bedingt, wie etwa bei Linkshändigkeit oder Rothaarigkeit. Mythologie und Dichtung waren ja voll von Gestalten, die an Körperfehlern litten: Schicksalsgöttinnen, Seher und Dichter waren blind, Kunstschmiede und Götter wie Hephaistos oder Wieland hinkten, und Richard III., wegen seiner Mißgestalt verspottet, war »gewillt, ein Bösewicht zu werden«.

Das ›Gefühl der Minderwertigkeit‹ ist also wichtiger als die Minderwertigkeit selber, und das Minderwertigkeitsgefühl entsteht immer auf einem sozialen Hintergrund. Bei den einen löst nun dieses quälende Minderwertigkeitsgefühl ein zielstrebiges Training zur Überwindung aus, bei den anderen eine asoziale oder gar antisoziale Haltung: eine Betätigung auf sozial unnützem Gebiet, ein krankhaftes Streben nach realer oder eingebildeter Macht und Überlegenheit, ein »Als ob«, eine »Fiktion« – Redewendungen, die Adler aus H. Vaihingers damals modischer »Philosophie des Als ob« zur Erklärung des »Nervösen Charakters« (1912) und dann der ›Neurose‹ überhaupt übernahm.

Je stärker man auf eine Feder drückt, um so höher wird sie schnellen, wenn sie nicht unter dem Druck zerbricht. Je stärker das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit auf einem Menschen, aber auch auf einer Gruppe lastet, um so höher will sie dann hinaus. Der Mensch ist als einzelner minderwertig: er kann nur in der Gruppe, in der Gemeinschaft überleben: ›Gemeinschaft‹ ist die einzige absolute Wahrheit, wenn es überhaupt eine absolute Wahrheit geben mag. Minderwertigkeitsgefühl führt aus der Gemeinschaft hinaus, aber Rudimente eines angeborenen Gemeinschaftsgefühls können neu belebt werden, der Mensch kann in die Gemeinschaft zurückgeführt werden. Er ist nicht ›böse‹, sondern immer nur entmutigt; Ermutigung macht aus ihm wieder ein nützliches Mitglied der Gemeinschaft. Aus dem Konflikt zwischen Gemeinschaftsgefühl und Minderwertigkeitsgefühl entsteht das ›Bewegungsgesetz‹ des Menschen, denn Leben ist Bewegung. Ein jeder entwirft sich seit der frühen Kindheit seinen ›Lebensplan‹, der auf ein ›fiktives Lebensziel‹ hinweist: er bewegt sich als ein Ganzes durch diesen geheimen Lebensplan, auf bedingten ›Leitlinien‹ diesem Lebensziel entgegen. Ist nun sein Lebensziel im Einklang mit den Zielen und dem Lebensplan, entspricht der persönliche Lebensstil dem Lebensstil seiner Gemeinschaft, dann wird er auch sein Ziel erreichen können.

Vor dem Hintergrund dieser Theorie werden nun alle die großen Themen der Individualpsychologie verständlich: das Geltungsstreben als Überwindungsversuch der Unsicherheits- und Minderwertigkeitsgefühle des Menschen; die Neurose als mißlungener Sicherungsversuch; der Aufstand der Frau gegen ihre Unterdrückung, in einem gewaltigen ›männlichen Protest‹; die überängstliche Mutter und ihr verzärteltes Kind; die ›Entthronung des Erstgeborenen‹ und der ›Kampf der Geschwister‹ in der Familie, indem ihre jeweilige Stellung in der Geschwisterreihe ihren Lebensstil prägt; jede Abweichung von den Verhaltensnormen der Gesellschaft als Abwehrmechanismen des unsicher gewordenen Ich und als Aggressionsformen gegen die Mitmenschen, von der Neurose und der Psychose bis zur Kriminose und zu den sexuellen Perversionen, von der Schlaflosigkeit bis zum Selbstmord. Sogar die in den Selbstmord führende Melancholie ist und bleibt noch immer eine ›direkte Aggression‹ gegen andere.

Somit wurde die ›vergleichende Individualpsychologie‹ eigentlich zu einer vergleichenden Sozialpsychologie: zum ersten Brückenschlag von einer Ich-Psychologie zu einer sozialen Tiefenpsychologie, wie ihn Karl Mannheim gefordert hatte und wie ihn etwa Talcott Parsons in seiner ›action theory‹ zu verwirklichen sucht. Die von Adler aufgezeigten »drei großen Lebensprobleme« sind Probleme der Gemeinschaftlichkeit: in der von außen gelenkten Gesellschaft David Riesmans ist seine Forderung der »other-centeredness« die Hauptforderung der psychischen Hygiene. Damit erübrigt sich eigentlich die Frage, die im heutigen Amerika gestellt wird: »Is Alfred Adler Alive Today?«[3] Sie soll hier trotzdem zusammenfassend noch einmal beantwortet werden.

Alfred Adlers Bedeutung für die Humanwissenschaften steht noch immer im Kreuzfeuer der Meinungen. Für manche ist er eine zweitrangige Figur neben Freud, in der Art eines Christian Wolf neben Leibniz. Eine Gruppe seiner Schüler sieht in ihm überhaupt keinen ›Tiefenpsychologen‹ (wie er selbst sich auch nie bezeichnete!); für andere, sogar Nicht-Schüler, ist er der eigentliche Tiefenpsychologe im Dreigestirn Freud-Adler-Jung. Ihn als den ersten eigentlichen Existenzialpsychologen hinzustellen (Ferd. Birnbaum) ist schon deswegen nicht abwegig, weil einerseits die »Existenzialanalyse« V. E. Frankls nur eine konsequente Fortsetzung seiner Lehre darstellt, und andererseits das Menschenbild J. P. Sartres, seines eifrigen Lesers, nichts anderes ist, als Adlers »nervöser Charakter«, nur diesmal zum Bild ›des‹ Menschen überhaupt erweitert. Und wenn Ortega y Gasset das Leben als einen ›Plan‹ auffaßt – vida es proyecto – so übersetzt er Adler ebenso nur ins Spanische wie mit seinem Satz: la vida no nos está impuesta, sino propuesta, eine aktrobatisch-geniale Wiedergabe von Adlers Grundgedanken: das Leben ist uns nicht gegeben, sondern aufgegeben (wobei aber bei Ortega die These: Leben ist Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft, ganz unter den Tisch gefallen ist). Adler hatte einmal Maximilian von Rogister gefragt, was nach dessen Meinung von seiner Lehre nach seinem Tode bleiben würde. »Alles«, so lautete die Antwort, »nur nicht alles unter Ihrem Namen!« »Kein abendländischer Autor wird so sehr plagiiert wie Adler«, fügt von Rogister hinzu, »und das hat immerhin das Gute, daß es mithilft, die Verwirrung zu lindern, die Freuds und Jungs Lehren in den Köpfen der Menschen ausrichten« – eine Meinung, die heutzutage wohl nur noch wenige teilen. Aber auch der angesehenste deutsche Psychologe von heute, Wolfgang Metzger, fragt: »Woran leidet eigentlich die heutige Menschheit: an der Freudschen Krankheit (gemeint sind die Sexualneurosen!), oder an der Adlerschen Krankheit?« (wobei das ›Geltungsstreben‹ gemeint ist, das Adler als erster beschrieb).

In Amerika wird Adler heute als der erste große Vorläufer der ›Ego-Psychology‹ gefeiert. Henri de Man versuchte hingegen, seinen Neosozialismus auf Adler aufzubauen, als er entdeckte, daß die Arbeiterschaft seiner Zeit gar nicht so sehr um eine materielle Besserstellung als vielmehr gegen ein kollektives Minderwertigkeitsgefühl kämpfte: also für das, was die Amerikaner das Gefühl der ›self-importance‹ nennen. Auch Dale Carnegie hat von Adler den Begriff des Geltungsstrebens entlehnt, jedoch nicht etwa um seine Auswüchse zu bekämpfen, wie der Wiener Arzt, Psychologe und Pädagoge, sondern umgekehrt: um es zur Ausnützung der Menschen im Dienste eigener egoistischer Ziele zu benutzen! Und da heute das gute alte Adlersche Postulat der Gemeinschaft als einziger ›absoluter Wahrheit‹ in Amerika unter dem Namen ›community‹ wiederkehrt, obwohl die ›offizielle‹ Übersetzung der dort zahlreiche Adepten zählenden Adler-Bewegung ›social interest‹ für das unübersetzbare ›Gemeinschaftsgefühl‹ bei Adler lautet, so können wir doch darauf gefaßt sein, daß im Laufe der Jahre noch eine ganze Reihe von verschiedenen, neuen Deutungen Adlers aufkommen werden, um das Buch von Louis Way, »Adler’s Place in Modern Psychology« von den verschiedensten Gesichtspunkten aus zu ergänzen. In Amerika erscheinen nicht nur fortlaufend Neudrucke von Adlers Büchern, sondern auch Systematisierungsversuche und Anthologien, wie die beiden großangelegten Werke von Prof. Heinz und Rowena Ansbacher. In Deutschland, wo (zumindest nach Th. W. Adornos Meinung, die Freudsche Psychoanalyse noch immer suspekt ist, findet sich heute noch niemand, der es wagte, Adlers Einfluß auf Freud nachzuweisen, wie dies der Harvard-Professor Robert W. White tut: Freud lehnte 1911 Adlers Begriff der »Sicherungstendenzen« noch ab, um ihn 1921 als »Abwehrmechanismen« anzunehmen; Adlers »Umkehrung des Triebes in sein Gegenteil« (1908) wurde zu Freuds »Reaktionsbildung« 1915; Adlers »Leitbild« (1912) zu Freuds »Ich-Ideal« (1914); Adlers »Aggressionstrieb« (1908) zu Freuds »Todestrieb« (1920). Die Schlichtheit von Adlers System muß zur selben Zeit als Vorteil und Nachteil vermerkt werden, meint White; seine eigene Frage aber, »Is Alfred Adler Alive Today?« beantwortet er positiv: »Adler is very much alive today and we should know our indebtedness to him.« Adlers Gedankengut ist bereits in den Fluß heutigen Denkens eingegangen »and have become the accepted clinical common sense of our time«. Ein Satz, dem nichts mehr hinzuzufügen ist.

 

Münster 1965

Oliver Brachfeld

Vorwort

Dieses Buch versucht dem breitesten Leserkreis die unerschütterlichen Grundlagen der Individualpsychologie und ihren Wert für die Menschenkenntnis, zugleich auch ihre Bedeutung für den Umgang mit Menschen und für die Organisation des eigenen Lebens zu zeigen. Es ist aus Jahresvorlesungen hervorgegangen, die im Volksheim in Wien vor einem vielhundertköpfigen Publikum gehalten wurden. Die Hauptaufgabe dieses Buches wird demnach darin zu suchen sein, die Mängel unseres Wirkens und Schaffens in der Gesellschaft aus dem fehlerhaften Verhalten des Einzelnen zu verstehen, seine Irrtümer zu erkennen und eine bessere Einfügung in den gesellschaftlichen Zusammenhang zu bewerkstelligen.

Irrtümer im Erwerb, in den Wissenschaften sind gewiß bedauerlich und schädlich. Irrtümer in der Menschenkenntnis sind meist lebensgefährlich. Die fleißigen Mitarbeiter an unserer Wissenschaft werden, so hoffe ich, weit über unseren Kreis hinaus die vorliegenden Feststellungen und Erfahrungen ebensowenig übersehen wollen wie unsere früheren.

Ich fühle mich gedrängt, an dieser Stelle Herrn Dr. jur. Broser meinen innigsten Dank auszusprechen. Er hat aus meinen Vorlesungen nahezu alles in emsiger Arbeit festgehalten, geordnet und gesichtet. Ich sage nicht zu viel, wenn ich feststelle, daß ohne seine Hilfe dieses Buch kaum zustande gekommen wäre.

Ebenso danke ich meiner Tochter, Dr. med. Ali Adler, für die Durchsicht der Korrekturen und für den Abschluß des Buches in einer Zeit, in der ich bestrebt war in England und Amerika der Individualpsychologie neue Freunde zu gewinnen.

Der Verlag S. Hirzel hat in vorbildlicher Art das Erscheinen des Buches gefördert und in umsichtiger Weise die Öffentlichkeit vorbereitet. Die Individualpsychologie ist ihm hierfür zu besonderem Dank verpflichtet.

Diese Vorträge und dieses Buch sollen dem Zwecke dienen, den Weg der Menschheit zu beleuchten.

 

London, am 24. November 1926

Dr. Alfred Adler

Allgemeiner Teil

Einleitung

Des Menschen Gemüt ist sein Geschick.

(Herodot)

Die Grundlagen der Menschenkenntnis sind derart, daß sie allzuviel Überhebung und Stolz nicht zulassen. Im Gegenteil, wahre Menschenkenntnis muß geeignet sein, eine gewisse Selbstbescheidung eintreten zu lassen, indem sie uns lehrt, daß hier eine ungeheure Aufgabe vorliegt, an der die Menschheit seit den Uranfängen ihrer Kultur arbeitet, ein Werk, das sie bloß nicht zielbewußt und systematisch angegangen hat, so daß man immer nur einzelne große Menschen auftauchen sieht, die über mehr Menschenkenntnis verfügten als der Durchschnitt. Damit berühren wir einen wunden Punkt. Wenn man nämlich die Menschen unvoreingenommen auf ihre Menschenkenntnis hin prüft, so findet man, daß sie meistens versagen. Wir besitzen alle nicht viel Menschenkenntnis. Das hängt mit unserem isolierten Leben zusammen. Nie dürften die Menschen so isoliert gelebt haben wie heutzutage. Schon von Kindheit an haben wir wenig Zusammenhänge. Die Familie isoliert uns. Auch unsere ganze Art des Lebens gestattet uns keinen so intimen Kontakt mit unseren Mitmenschen, wie er zur Entfaltung einer Kunst, wie es Menschenkenntnis ist, unumgänglich notwendig ist. Das sind zwei Momente, die voneinander abhängig sind. Denn wir können wieder den Kontakt mit den anderen Menschen nicht finden, weil sie uns mangels eines besseren Verständnisses allzulange fremd anmuten.

Die schwerwiegendste Folge dieses Mangels ist die, daß wir in der Behandlung unserer Mitmenschen und im Zusammenleben mit ihnen meist versagen. Es ist eine oft hervorgehobene und empfindliche Tatsache, daß die Menschen aneinander vorübergehen und vorüberreden, den Zusammenschluß nicht finden können, weil sie sich fremd gegenüberstehen, nicht nur im weiteren Rahmen einer Gesellschaft, sondern sogar im engsten Kreis der Familie. Nichts tritt uns öfter entgegen, als Klagen von Eltern, die ihre Kinder nicht verstehen, und von Kindern, daß sie von den Eltern nicht verstanden würden. Und doch liegt in den Grundbedingungen des menschlichen Zusammenlebens so viel Zwang, einander zu verstehen, weil unsere gesamte Haltung zum Nebenmenschen davon abhängt. Die Menschen würden viel besser zusammenleben, wenn die Menschenkenntnis größer wäre, weil gewisse störende Formen des Zusammenlebens wegfielen, die heute nur deshalb möglich sind, weil wir einander nicht kennen und so der Gefahr ausgesetzt sind, uns durch Äußerlichkeiten täuschen zu lassen und auf Verstellungen anderer hineinzufallen.

Wir wollen nun erklären, wieso gerade von seiten der Medizin die Versuche ausgehen, in diesem ungeheuren Gebiet eine Disziplin festzulegen, die sich Menschenkenntnis nennt, und welche Voraussetzungen diese Wissenschaft hat, welche Aufgaben ihr zufallen und welche Ereignisse von ihr erwartet werden können.

Vor allem ist die Nervenheilkunde selbst schon eine Disziplin, welche Menschenkenntnis in dringendster Weise erfordert. Der Nervenarzt ist genötigt, sich so rasch wie möglich einen Einblick in das Seelenleben nervös erkrankter Menschen zu verschaffen. Auf diesem Gebiet der Medizin kann man sich nur dann ein brauchbares Urteil bilden, man ist nur dann imstande, Eingriffe und Kuren vorzunehmen oder vorzuschlagen, wenn man sich darüber klar ist, was in der Seele des Patienten vorgeht. Hier gibt es keine Oberflächlichkeit, hier folgt auf den Irrtum sofort die Strafe und auf das richtige Erfassen zumeist auch der Erfolg. Hier wird also ziemlich strenge und sofortige Prüfung abgehalten. Im gesellschaftlichen Leben darf man sich in der Beurteilung eines Menschen schon eher irren. Auch hier folgt zwar jedesmal die Strafe, doch kann die Reaktion darauf so spät erfolgen, daß wir meist nicht mehr in der Lage sind, die Zusammenhänge zu erfassen und staunend davor stehen, wie ein Irrtum in der Beurteilung eines Menschen vielleicht Jahrzehnte später zu schweren Mißerfolgen und Schicksalen geführt hat. Solche Umstände belehren uns immer wieder über die Notwendigkeit und die Pflicht der Gesamtheit Menschenkenntnis zu erwerben und zu vertiefen.

Bei unseren Untersuchungen erkannten wir bald, daß jene seelischen Anomalien, Verwicklungen und Fehlschläge, die man in Krankheitsfällen so oft wahrnimmt, im Grunde genommen, ihrer Struktur nach nichts enthalten, was dem Seelenleben der sog. normalen Menschen fremd wäre. Es sind dieselben Elemente und Voraussetzungen, nur tritt alles krasser und deutlicher hervor und ist leichter erkennbar. Und so gestattet uns der Vorteil dieser Erkenntnisse hier zu lernen und durch Vergleich mit dem normalen Seelenleben Erfahrungen zu sammeln, die uns schließlich ermöglichen auch für normale Verhältnisse ein geschärftes Auge zu bekommen. Es war nicht mehr als Übung, verbunden mit jener Hingabe und Geduld, die jeder Beruf von uns verlangt.

Die erste Erkenntnis, die sich uns bot, war die, daß die stärksten Anregungen für den Ausbau des menschlichen Seelenlebens aus der frühesten Kindheit stammen. An sich war das wohl keine besonders verwegene Entdeckung, denn ähnliche Erörterungen finden sich bei Forschern aller Zeiten vor. Das Neue hierbei war aber der Umstand, daß wir die kindlichen Erlebnisse, Eindrücke und Stellungsnahmen, soweit sie noch nachweisbar waren, mit späteren Erscheinungen des Seelenlebens dadurch in einen bindenden Zusammenhang zu bringen suchten, daß wir Erlebnisse der frühesten Kindheit mit späteren Situationen und mit der Haltung des Individuums in seiner späteren Zeit in Vergleich zogen. Und da erwies sich nun als besonders wichtig, daß man Einzelerscheinungen im Seelenleben nie als ein für sich abgeschlossenes Ganzes betrachten dürfe, sondern nur dann für sie ein Verständnis gewinnen konnte, wenn man alle Erscheinungen eines Seelenlebens als Teile eines untrennbaren Ganzen versteht und sodann versucht die Bewegungslinie, die Lebensschablone, den Lebensstil eines Menschen aufzudecken und sich klar zu machen, daß das geheime Ziel der kindlichen Haltung mit dem der Haltung eines Menschen in späteren Jahren identisch ist. Kurz, es zeigte sich in überraschender Klarheit, daß vom Standpunkt der seelischen Bewegung aus keine Veränderungen vor sich gegangen waren, daß sich wohl die äußere Form, die Konkretisierung, die Verbalisierung der seelischen Erscheinungen, das Phänomenale ändern konnte, daß aber die Grundlagen, das Ziel und die Dynamik, alles, was das Seelenleben in der Richtung auf das Ziel hin bewegt, unverändert blieb. Wenn z.B. ein Patient einen ängstlichen Charakter aufwies, immer von Mißtrauen erfüllt und bestrebt, sich von den andern abzusondern, so war leicht nachzuweisen, daß ihm dieselben Bewegungen schon im dritten oder vierten Lebensjahre angehaftet hatten, nur in kindlicher Einfachheit und leichter zu durchschauen. Wir haben uns daher zur Regel gemacht das Schwergewicht unserer Aufmerksamkeit immer zuerst in die Kindheit des Patienten zu verlegen. Wir kamen so weit bei einem Menschen vieles aus seiner Kindheit voraussetzen zu können, es zu wissen, ohne daß es uns jemand gesagt hätte. Wir betrachteten das, was wir an ihm sahen, als die Abdrücke seiner ersten Kindheitserlebnisse, die ihm bis in das hohe Alter anhaften. – Und wenn wir andererseits von einem Menschen hören, an welche Begebenheiten aus seiner Kindheit er sich erinnert, so gibt uns das, richtig verstanden, ein Bild davon, was für eine Art Mensch wir vor uns haben. Hierbei benutzen wir auch die weitere Erkenntnis, daß die Menschen so schwer von der Schablone, in die sie in den ersten Lebensjahren hineingewachsen sind, loskommen. Es gibt nur wenig Menschen, die sie abzustreifen vermocht haben, wenn auch das Seelenleben im erwachsenen Alter in anderen Situationen anders in Erscheinung tritt und dadurch einen anderen Eindruck vermittelt. Dies ist aber nicht gleichbedeutend mit einer Änderung der Lebensschablone; das Seelenleben ruht noch immer auf demselben Fundament, der Mensch zeigt die gleiche Bewegungslinie und läßt uns in beiden Altersstufen, in der Kindheit wie im Alter, das gleiche Ziel erraten. Auch deshalb mußte das Schwergewicht unserer Aufmerksamkeit in die Kindheit fallen, weil wir erkannten, daß es, wenn wir eine Änderung planen, doch nicht angehe, gleichsam von oben her, all die unzähligen Erlebnisse und Eindrücke eines Menschen abtragen zu wollen, sondern daß wir zuerst seine Schablone finden und aufdecken müßten, aus der uns das Verständnis für seine Eigenart und damit zugleich für seine auffallenden Krankheitserscheinungen erwuchs.

So wurde für uns die Betrachtung des kindlichen Seelenlebens der Angelpunkt unserer Wissenschaft, und das war Erquickung und Belehrung genug. Eine Fülle von Arbeiten war dem Studium dieser ersten Lebensjahre gewidmet. Hier ist ein so ungeheures, noch nicht durchgearbeitetes Material angehäuft, daß noch für lange Zeiten vorgesorgt und jeder in der Lage ist, Neues, Wichtiges und Interessantes zu finden.

Diese Wissenschaft ist uns gleichzeitig ein Mittel Fehlern vorzubeugen; denn eine Wissenschaft, die nur um ihrer selbst willen da wäre, ist die Menschenkenntnis nicht. Auf Grund unserer Erkenntnisse kamen wir ganz von selbst in die Erziehungsarbeit hinein, der wir nun seit Jahren dienen. Erziehungsarbeit ist aber eine Fundgrube für jeden, der Menschenkenntnis als eine wichtige Wissenschaft erkannt hat, der sie erleben und sich erarbeiten will; denn sie ist keine Buchweisheit, sondern will praktisch gelernt sein. Man muß jede Erscheinung im Seelenleben sozusagen miterlebt und in sich aufgenommen, den Menschen durch seine Freuden und Ängste begleitet haben, wie etwa ein guter Maler in die Züge eines Menschen, den er porträtieren will, nur das hineinlegen kann, was er von ihm erfühlt. So ist Menschenkenntnis zu denken als eine Kunst, für die genügend Werkzeuge zur Verfügung stehen, aber auch als eine Kunst, die sich allen andern Künsten in gleichem Rang anreiht und von der eine bestimmte Klasse von Menschen, die Dichter, einen sehr wertvollen Gebrauch gemacht haben. Sie soll uns in erster Linie dazu dienen unsere Kenntnisse zu vermehren, was auf nichts weniger abzielt, als uns allen die Möglichkeit einer besseren und reiferen seelischen Entwicklung zu verschaffen.

Eine Schwierigkeit, die man bei dieser Arbeit häufig vorfindet, besteht darin, daß wir Menschen in diesem Punkt außerordentlich empfindlich sind. Es gibt wenig Menschen, die sich, obwohl sie keine Studien angestellt haben, nicht für Menschenkenner hielten, und noch weniger solche, die nicht im ersten Augenblick ein Gefühl der Verletztheit hätten, wenn man sie etwa in ihrer Menschenkenntnis fördern wollte. Unter allen diesen sind die wirklich Wollenden nur jene, die den Wert der Menschen durch das Erleben eigener oder durch Mitempfinden fremder seelischer Not schon irgendwie erkannt haben. Aus diesem Umstand erwächst uns bei unserer Beschäftigung auch die Notwendigkeit einer bestimmten Taktik. Denn nichts wird gehässiger und mit kritischerem Blick betrachtet, als wenn man einem Menschen die von seinem Seelenleben gewonnenen Erkenntnisse brüsk vor Augen führt. Wer sich nicht gern unbeliebt machen will, dem ist zu raten, in dieser Beziehung vorsichtig zu sein. Es ist das beste Mittel, um sich in schlechten Ruf zu bringen, wenn man mit dieser Wissenschaft unvorsichtig umgeht und sie mißbraucht, etwa bei einer Tischgesellschaft zeigen wollte, wieviel man von dem Seelenleben seiner Nachbarn verstehe oder errate. Ebenso gefährlich ist es, wenn man Grundanschauungen dieser Lehre einem Fremden als fertiges Produkt entgegenhält. Selbst jene, die schon etwas davon wissen, würden sich dadurch mit Recht verletzt fühlen. Damit wiederholen wir, was anfangs gesagt wurde, daß diese Wissenschaft zur Selbstbescheidung zwingt, indem sie nicht gestattet, voreilig oder überflüssigerweise Erkenntnisse vorzutragen, was übrigens nur dem alten Stolz der Kindheit entsprechen würde, zu prahlen und zu zeigen, was man schon alles kann. Für Erwachsene ist das viel bedenklicher. Deshalb wollen wir hiermit vorschlagen zu warten, sich selbst zu prüfen und niemand mit Erkenntnissen in den Weg zu treten, die man irgendwo im Dienste der Menschenkenntnis erworben hat. Wir würden für die werdende Wissenschaft und ihren Zweck nur neue Schwierigkeiten schaffen, weil wir dadurch genötigt wären Fehler auf uns zu nehmen, die nur dem Unbedacht des – allerdings enthusiastischen – Jüngers entsprungen sind. Es ist besser vorsichtig zu bleiben und dessen eingedenk, daß wir zuerst wenigstens ein abgerundetes Ganzes vor uns haben müssen, bevor wir ein Urteil fällen, und daß wir das nur dann tun sollen, wenn wir sicher sind, daß wir jemand damit einen Vorteil verschaffen. Denn man kann dadurch, daß man ein, wenn auch richtiges Urteil in schlechter Weise und an unrichtiger Stelle ausspricht, viel Schaden stiften.

Bevor wir diese Betrachtungen fortsetzen, müssen wir einem Einwand begegnen, der sich sicherlich schon manchem aufgedrängt hat. Die obige Behauptung nämlich, daß die Lebenslinie eines Menschen unverändert bleibt, wird manchem unverständlich erscheinen, weil doch der Mensch so viel Erfahrungen im Leben mache, die eine Änderung seiner Haltung bewirken. Man bedenke aber, daß eine Erfahrung vieldeutig ist. Man wird finden, daß es kaum zwei Menschen gibt, die aus einer und derselben Erfahrung die gleiche Nutzanwendung ziehen. Man wird somit aus seinen Erfahrungen nicht immer klug. Man lernt wohl gewisse Schwierigkeiten zu vermeiden, man bekommt ihnen gegenüber eine gewisse Haltung. Aber die Linie, auf der sich einer bewegt, wird dadurch nicht geändert. Wir werden im Verlauf unserer Erörterungen sehen, daß der Mensch aus der Fülle seiner Erfahrungen immer nur ganz bestimmte Nutzanwendungen macht, die sich bei näherer Untersuchung stets als solche nachweisen lassen, die irgendwie zu seiner Lebenslinie passen, ihn in seiner Lebensschablone bestärken. Die Sprache sagt mit dem ihr eigenen Gefühl, daß man seine Erfahrungen macht, womit sie andeutet, daß jeder darüber Herr ist, wie er seine Erfahrungen verwertet. Man kann in der Tat täglich beobachten, wie die Menschen die verschiedensten Folgerungen aus ihren Erfahrungen ziehen. Man stößt z.B. auf einen Menschen, der gewohnheitsmäßig irgendeinen Fehler begeht. Auch wenn es gelingt, ihn seines Fehlers zu überführen, wird man verschiedene Resultate finden. So kann er folgern, daß es eigentlich schon Zeit wäre, den Fehler abzulegen. Diese Folgerung ist selten. Ein anderer wird erwidern, er habe das schon so lange gemacht, jetzt werde er es sich nicht mehr abgewöhnen. Ein dritter beschuldigt für seine Fehler die Eltern oder allgemein die Erziehung, er habe niemand gehabt, der sich um ihn gekümmert hätte, oder er sei verzärtelt oder zu streng behandelt worden – und bleibt bei seinem Irrtum. Dadurch aber verraten letztere nur, daß sie eigentlich gedeckt dastehen wollen. Sie können sich auf diese Weise immer vorsichtig und mit scheinbarer Berechtigung einer Selbstkritik entziehen. Selbst schuldig sind sie nie, immer liegt die Schuld für alles, was sie nicht erreicht haben, bei anderen. Dabei übersehen sie, daß sie selbst recht wenig Anstrengungen machen, ihre Fehler zu bekämpfen, vielmehr mit einer gewissen Inbrunst dabei verharren, während die schlechte Erziehung doch nur solange schuldig ist, als sie es wollen. Die Vieldeutigkeit der Erfahrungen, die Möglichkeit, verschiedene Konsequenzen daraus zu ziehen, läßt uns nun verstehen, warum ein Mensch seine Gangart nicht ändert, sondern seine Erlebnisse solange dreht und wendet, bis er sie wieder seiner Gangart angepaßt hat. Es scheint das Schwerste für die Menschen zu sein, sich selbst zu erkennen und zu ändern.

Wollte aber jemand es unternehmen, hier einzugreifen und zu versuchen, bessere Menschen zu erziehen, so wäre er in großer Verlegenheit, wenn ihm nicht die Erfahrungen und Befunde der Menschenkenntnis zur Verfügung stünden. Er würde vielleicht, wie bisher, an der Oberfläche operieren und, weil die Sache ein neues Aussehen, eine andere Nuance gewonnen hätte, meinen, er habe schon etwas geändert. Wir werden uns an praktischen Fällen überzeugen können, wie wenig durch solche Eingriffe an einem Menschen geändert wird, wie das alles nur Schein ist, der wieder verfliegt, solange nicht die Bewegungslinie selbst anders verläuft. Der Prozeß, einen Menschen zu ändern, ist also nicht allzu leicht, dazu gehört eine gewisse Besonnenheit und Geduld, vor allem Beseitigung jeder persönlichen Eitelkeit, da der andere nicht verpflichtet ist, als Objekt für unsere Eitelkeit zu dienen. Außerdem muß dieser Prozeß so geleitet werden, daß er für den andern mundgerecht wird. Denn es ist verständlich, daß jemand eine Speise, die ihm sonst immer schmecken würde, deshalb abweist, weil sie ihm nicht in der richtigen Weise geboten wurde.

Die Menschenkenntnis hat aber noch eine andere, ebenso wichtige Seite, die sozusagen ihr soziales Gesicht ist. Es ist zweifellos, daß sich die Menschen viel besser vertragen, daß sie viel mehr aneinander heranrücken würden, wenn sie sich besser verstünden. Denn dann wäre es unmöglich, daß sie einander täuschten. In dieser Täuschungsmöglichkeit liegt eine ungeheure Gefahr für die Gesellschaft. Diese Gefahr müssen wir unseren Mitarbeitern, die wir ins Leben hineinführen, zeigen. Sie müssen fähig sein, all das Unbewußte im Leben, alle Verheimlichungen, Verstellungen, Masken, Listen und Tücken zu erkennen, um jene, auf die sie einwirken sollen, darauf aufmerksam zu machen und ihnen zu helfen. Dazu verhilft uns nur Menschenkenntnis, in bewußter Absicht betrieben.

Es dürfte auch die Frage interessieren, wer eigentlich am besten in der Lage ist, Menschenkenntnis zu sammeln und zu betreiben. Es wurde bereits erwähnt, daß es nicht möglich ist, diese Wissenschaft nur theoretisch zu betreiben. Der bloße Besitz aller Regeln genügt noch nicht, es ist auch notwendig, ihn aus dem Studium in die Praxis und in ein höheres Studium des Zusammenfassens und Verstehens hinüberzuleiten, damit das Auge schärfer und tiefer blicken lernt, als es die eigene bisherige Erfahrung gestattete. Dies ist der bewegende Grund, warum wir theoretisch Menschenkenntnis betreiben. Lebendigmachen können wir aber diese Wissenschaft erst dadurch, daß wir ins Leben hinaustreten und hier die gewonnenen Grundsätze prüfen und anwenden. Die obige Frage nun drängt sich uns deshalb auf, weil wir aus dem, was uns während der Erziehung geboten wird, viel zu wenig, vielfach auch unrichtige Menschenkenntnis schöpfen, weil somit unsere Erziehung gegenwärtig noch ungeeignet ist, brauchbare Menschenkenntnis zu vermitteln. Es ist jedem Kind allein überlassen, wieweit es sich entwickeln und aus seiner Lektüre, wie aus seinen Erlebnissen Nutzanwendungen ziehen will. Auch gibt es für die Pflege der Menschenkenntnis keine Tradition. Es gibt noch keine Lehre über sie, sie befindet sich noch in demselben Zustand wie etwa die Chemie, als sie noch Alchimie war.

Halten wir nun unter jenen Menschen, die in diesem Durcheinander unseres Erzogenwerdens die günstigste Gelegenheit haben, Menschenkenntnis zu erwerben, Umschau, so sind es jene, die noch nicht aus dem Zusammenhang gerissen sind, die noch in irgendeiner Weise den Kontakt mit den Mitmenschen und dem Leben bewahrt haben, also jene, die noch Optimisten sind oder wenigstens kämpfende Pessimisten, solche, die der Pessimismus noch nicht zur Resignation getrieben hat. Außer dem Kontakt aber muß noch das Erleben da sein. Und so gelangen wir zu dem Schluß: Wirkliche Menschenkenntnis wird bei unserer mangelhaften Erziehung heute eigentlich nur einem Typus von Menschen zukommen, das ist der »reuige Sünder«, derjenige, der entweder drinnen war in all den Verfehlungen des menschlichen Seelenlebens und sich daraus gerettet hat, oder der wenigstens nahe daran vorbeigekommen ist. Selbstverständlich kann das auch jemand anderer sein, insbesondere jener, dem man es demonstrieren konnte, oder dem die Gabe der Einfühlung ganz besonders gegeben ist. Der beste Menschenkenner wird aber sicher der sein, der alle diese Leidenschaften selbst durchgemacht hat. Der reuige Sünder scheint nicht nur für unsere Zeit, sondern auch für die Zeit der Entwicklung aller Religionen jener Typus zu sein, dem der höchste Wert zugebilligt wird, der viel höher steht als tausend Gerechte. Fragen wir uns, wieso das kommt, dann müssen wir zugeben, daß ein Mensch, der sich aus den Schwierigkeiten des Lebens erhoben, sich aus dem Sumpf emporgearbeitet hat, der die Kraft gefunden hat, alles das hinter sich zu werfen und sich daraus zu erheben, die guten und schlechten Seiten des Lebens am besten kennen muß. Ihm kommt darin kein anderer gleich, vor allem nicht der Gerechte.

Aus der Kenntnis der menschlichen Seele erwächst uns ganz von selbst eine Pflicht, eine Aufgabe, die, kurz gesagt, darin besteht, die Schablone eines Menschen, sofern sie sich als für das Leben ungeeignet erweist, zu zerstören, ihm die falsche Perspektive zu nehmen, mit der er im Leben umherirrt, und ihm eine solche Perspektive nahezulegen, die für das Zusammenleben und für die Glücksmöglichkeiten dieses Daseins besser geeignet ist, eine Denkökonomie, oder sagen wir, um nicht unbescheiden zu sein, auch wieder eine Schablone, in der aber das Gemeinschaftsgefühl die hervorragende Rolle spielt. Wir haben gar nicht die Absicht, zu einer Idealgestaltung einer seelischen Entwicklung zu gelangen. Man wird aber finden, daß oft schon der Standpunkt allein dem Irrenden und Fehlenden eine enorme Hilfe im Leben ist, weil er bei seinen Irrtümern die sichere Empfindung hat, in welcher Richtung er fehlgegangen ist. Die strengen Deterministen, die alles menschliche Geschehen von der Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung abhängig machen, kommen bei dieser Betrachtung durchaus nicht zu kurz. Denn es ist sicher, daß die Kausalität eine ganz andere wird, daß die Auswirkungen eines Erlebnisses völlig andere werden, wenn im Menschen noch eine Kraft, noch ein Motiv lebendig wird, die Selbsterkenntnis, das gesteigerte Verständnis dessen, was in ihm vorgeht und aus welchen Quellen es stammt. Er ist ein anderer geworden und kann sich dessen wohl niemals mehr entschlagen.

1. KapitelDie Seele des Menschen

1. BEGRIFF UND VORAUSSETZUNG DES SEELENLEBENS. Beseelung schreiben wir eigentlich nur beweglichen, lebenden Organismen zu. Die Seele steht in innigster Beziehung zur freien Bewegung. Bei Organismen, die festwurzeln, gibt es kaum ein Seelenleben, es wäre für sie auch ganz überflüssig. Man muß nur die Ungeheuerlichkeit bedenken, einer festwurzelnden Pflanze Gefühle und Gedanken zuzumuten, die, während sie über Bewegung in keiner Weise verfügen könnte, etwa Schmerz erwarten sollte, die sie voraussähe, vor denen sie sich aber nicht hüten könnte, oder wenn man annehmen wollte, daß eine Pflanze der Vernunft, des freien Willens teilhaftig wäre, während es von vornherein ausgeschlossen ist, daß sie diesen Willen je gebrauchen könnte. Ihr Wille, ihre Vernunft bliebe ewig unfruchtbar.

So sehen wir, wie scharf in dieser Beziehung durch den Mangel eines Seelenlebens die Pflanze vom Tier zu unterscheiden ist und merken auf einmal die ungeheure Bedeutung, die im Zusammenhang von Bewegung und Seelenleben gelegen ist. Dieser Gedankengang legt uns auch nahe, daß in der Entwicklung des Seelenlebens alles erfaßt werden muß, was mit der Bewegung zusammenhängt, daß an alle Schwierigkeiten einer Ortsveränderung bereits angeknüpft werden kann, daß dieses Seelenleben berufen ist, vorauszusehen, Erfahrungen zu sammeln, ein Gedächtnis zu entwickeln, um es für die bewegliche Praxis des Lebens brauchbar zu machen.

Wir können also zuerst feststellen, daß die Entwicklung des Seelenlebens an die Bewegung gebunden ist, und daß der Fortschritt alles dessen, was die Seele erfüllt, durch diese freie Beweglichkeit des Organismus bedingt ist. Denn diese Beweglichkeit reizt, sie fördert und verlangt eine immer stärkere Intensivierung des Seelenlebens. Stellen wir uns jemand vor, dem wir jede Bewegung untersagt hätten; sein gesamtes Seelenleben wäre zum Stillstand verdammt. »Nur die Freiheit brütet Kolosse aus, während der Zwang tötet und verdirbt.«

2. FUNKTION DES SEELISCHEN ORGANS. Wenn wir von diesem Gesichtspunkt aus die Funktion des Seelenlebens überblicken, so wird uns klar, daß hier die Entwicklung einer angeborenen Fähigkeit vor uns liegt, die ausersehen ist, ein Angriffs-, Abwehr- oder Sicherungs-, ein Schutzorgan vorzustellen, je nachdem, ob die Situation eines Lebensorganismus den Angriff oder die Sicherung verlangt. Wir können also ein Seelenleben nur betrachten als einen Komplex von Angriffs- und Sicherungsvorkehrungen, die auf die Welt rückzuwirken haben, um den Bestand des menschlichen Organismus zu gewährleisten und seine Entwicklung sicherzustellen. Ist diese Bedingung einmal festgehalten, dann ergeben sich weitere Bedingungen, die für die Erfassung dessen, was wir als Seele betrachten wollen, wichtig sind. Wir können uns ein Seelenleben, das isoliert ist, nicht vorstellen, sondern nur ein Seelenleben, das mit allem, von dem es umgeben ist, verknüpft ist, das Anregungen von außen aufnimmt und irgendwie beantwortet, das über Möglichkeiten und Kräfte verfügt, die nötig sind, um den Organismus gegenüber der Umwelt oder im Bunde mit ihr zu sichern und sein Leben zu gewährleisten.

Die Zusammenhänge, die sich nun unserem Auge erschließen, sind mannigfach. Sie betreffen zuerst den Organismus selbst, die Eigenart des Menschen, seine Körperlichkeit, Vorzüge und Nachteile. Das sind aber nur ganz relative Begriffe. Denn es ist durchaus verschieden, ob irgendeine Kraft, irgendein Organ einen Vorzug oder einen Nachteil bedeutet. Beides wird sich aus der Situation ergeben, in der sich das Individuum befindet. So stellt bekanntlich der Fuß des Menschen in gewissem Sinne eine verkümmerte Hand vor. Diese wäre z.B. für ein Klettertier ein ungeheurer Nachteil, ist aber bei einem Menschen, der sich auf dem Boden bewegt, ein solcher Vorteil, daß keiner wünschen würde, statt des Fußes etwa eine normale Hand zu haben. Überhaupt finden wir im persönlichen Leben, wie im Leben aller Völker, daß Minderwertigkeiten nicht etwa so aufzufassen sind, als ob sie immer die ganze Last der Nachteile in sich bergen würden, sondern es kommt auf die Situation an, in der dies entschieden wird. Wir ahnen, ein wie ungeheuer weites Feld der Betrachtung sich auch hinsichtlich der Beziehungen ergibt, in denen das menschliche Seelenleben zu allen Forderungen kosmischer Natur steht, wie zu Wandel von Tag und Nacht, zur Herrschaft der Sonne, zur Bewegtheit der Atome usw. Auch diese Einflüsse stehen in innigem Zusammenhang mit der Eigenart unseres Seelenlebens.

3. ZIELSTREBIGKEIT IM SEELENLEBEN. Was wir aus den seelischen Regungen zuerst erfassen können, ist selbst wieder Bewegung, die auf ein Ziel gerichtet ist. Deshalb müssen wir feststellen, daß es ein Trugschluß wäre, sich die menschliche Seele so vorzustellen, als ob sie ein ruhendes Ganzes wäre, sondern wir können sie uns nur vorstellen in der Form von sich bewegenden Kräften, die allerdings aus einem einheitlichen Grund hervorgegangen sind und einem einheitlichen Ziel zustreben. Schon im Begriff der Anpassung liegt dieses Zielstrebige. Wir können uns ein Seelenleben nicht vorstellen ohne ein Ziel, zu dem hin die Bewegung, die Dynamik, die im Seelenleben enthalten ist, abrollt.

Das menschliche Seelenleben ist also durch ein Ziel bestimmt. Kein Mensch kann denken, fühlen, wollen, sogar träumen, ohne daß all dies bestimmt, bedingt, eingeschränkt, gerichtet wäre durch ein ihm vorschwebendes Ziel. Dies ergibt sich fast von selbst im Zusammenhang mit den Forderungen des Organismus und der Außenwelt und mit der Antwort, die der Organismus darauf zu geben genötigt ist. Die körperlichen und seelischen Erscheinungen des Menschen entsprechen diesen aufgestellten Grundanschauungen. Eine seelische Entwicklung ist nicht anders denkbar, als in diesem eben geschilderten Rahmen, als auf ein irgendwie vorschwebendes Ziel gerichtet, das sich von selbst aus den geschilderten Kraftwirkungen ergibt. Das Ziel kann veränderlich oder starr gefaßt werden.

Man kann also alle seelischen Erscheinungen in dem Sinne auffassen, als ob sie eine Vorbereitung auf etwas Kommendes wären. Es scheint, daß das seelische Organ gar nicht anders betrachtet werden kann, als daß es ein Ziel vor sich habe, und die Individualpsychologie nimmt alle Erscheinungen der menschlichen Seele so auf, als ob sie auf ein Ziel gerichtet wären.

Wenn man das Ziel eines Menschen kennt und auch sonst in der Welt halbwegs informiert ist, dann weiß man auch, was seine Ausdrucksbewegungen bedeuten können und kann deren Sinn als eine Vorbereitung für dieses Ziel erfassen. Dann weiß man auch, was für Bewegungen dieser Mensch machen muß, um es zu erreichen, etwa so, wie man den Weg kennt, den ein Stein nehmen muß, wenn man ihn zur Erde fallen läßt. Nur, daß die Seele kein Naturgesetz kennt, denn das vorschwebende Ziel ist nicht feststehend, sondern abänderbar. Wenn jemandem jedoch ein Ziel vorschwebt, dann verläuft die seelische Regung so zwangsmäßig, als ob hier ein Naturgesetz walten würde, nach dem man zu handeln genötigt ist. Das besagt aber, daß es im Seelenleben kein Naturgesetz gibt, sondern daß sich der Mensch auf diesem Gebiet seine Gesetze selbst macht. Wenn sie ihm dann wie ein Naturgesetz erscheinen, so ist das ein Trug seiner Erkenntnis, denn er hat ja, wenn er ihre Unabänderlichkeit, ihre Determination festzustellen glaubt und sie beweisen will, die Hand dabei im Spiel. Wenn einer z.B. ein Bild malen will, so wird man an ihm alle Haltungen wahrnehmen können, die zu einem Menschen gehören, der ein solches Ziel vor Augen hat. Er wird alle dazugehörigen Schritte mit unbedingter Konsequenz machen, wie wenn ein Naturgesetz vorläge. Muß er aber dieses Bild malen?

Es ist also ein Unterschied zwischen den Bewegungen der Natur und jenen im menschlichen Seelenleben. Hier knüpfen die Streitfragen über die Freiheit des menschlichen Willens an, die heute dahin geklärt zu sein scheinen, als ob der menschliche Wille unfrei wäre. Richtig ist, daß er unfrei wird, sobald er sich an ein Ziel bindet. Und da dieses so oft aus seiner kosmischen, animalischen und gesellschaftlichen Bedingtheit erwächst, so muß uns natürlich das Seelenleben so erscheinen, als ob es unter unabänderlichen Gesetzen stünde. Wenn man aber beispielsweise seinen Zusammenhang mit der Gemeinschaft leugnet und bekämpft, sich nicht den Tatsachen anpassen will, dann sind alle diese scheinbaren Gesetzmäßigkeiten des Seelenlebens aufgehoben und es tritt eine neue Gesetzmäßigkeit ein, die eben durch das neue Ziel bedingt ist. Ebenso wirkt für einen Menschen, der am Leben verzweifelt und seine Mitmenschlichkeit auszutilgen sucht, das Gesetz der Gemeinschaft nicht mehr bindend. Wir müssen also festhalten, daß erst durch die Aufstellung eines Zieles eine Bewegung im Seelenleben mit Notwendigkeit erfolgen muß.

Umgekehrt ist es möglich, aus den Bewegungen eines Menschen auf das ihm vorschwebende Ziel zu schließen. Eigentlich wäre dies das Wichtigere, weil manche Menschen sich über ihr Ziel oft nicht im klaren sind. In der Tat ist das der regelmäßige Weg, den wir zum Zweck der Pflege unserer Menschenkenntnis gehen müssen. Er ist nicht so einfach wie der erstere, weil die Bewegungen vieldeutig sind. Wir können aber mehrere Bewegungen eines Menschen hernehmen, vergleichen, Linien ziehen. Man kann zum Verständnis eines Menschen dadurch gelangen, daß man die Haltungen, die Ausdrucksformen zweier zeitlich voneinander verschiedener Punkte seines Lebens durch eine Linie miteinander zu verbinden sucht. Dadurch bekommt man ein System in die Hand, bei dessen Anwendung man den Eindruck einer einheitlichen Richtung erhält. Hierbei kann man entdecken, wie eine kindliche Schablone in einer manchmal überraschenden Weise bis in die späten Lebenstage hinein wiederzufinden ist. Ein Beispiel mag dies erläutern:

Ein 30jähriger, außerordentlich strebsamer Mann hatte es trotz Schwierigkeiten in seiner Entwicklung zu Ansehen und guten Erfolgen gebracht. Er erscheint beim Arzt in einem Zustand äußerster Depression und beklagt sich über Arbeits- und Lebensunlust. Er erzählt, daß er vor einer Verlobung stehe, jedoch der Zukunft mit großem Mißtrauen entgegensehe. Er sei von heftiger Eifersucht geplagt und es bestehe die Gefahr, daß die Verlobung bald wieder auseinandergehen werde. Die Tatsachen, die er hierzu anführt, sind nicht gerade überzeugend; dem Mädchen kann kein Vorwurf gemacht werden. Das auffallende Mißtrauen, das er an den Tag legt, läßt den Verdacht rege werden, daß er einer von den vielen Menschen sei, die einem andern gegenübertreten, sich von ihm angezogen fühlen, aber gleichzeitig eine Angriffsstellung einnehmen und nun voller Mißtrauen das zerstören, was sie aufbauen wollen. Um nun die obenerwähnte Linie ziehen zu können, wollen wir ein Ereignis aus seinem Leben herausgreifen und versuchen, es mit seiner jetzigen Stellungnahme zu vergleichen. Unserer Erfahrung zufolge greifen wir immer auf die ersten Kindheitseindrücke zurück, obwohl wir wissen, daß das, was wir zu hören bekommen, einer objektiven Prüfung nicht immer standhalten muß. Seine erste Kindheitserinnerung war folgende: Er war mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder auf dem Markt. Wegen des herrschenden Gedränges nahm die Mutter ihn, den älteren, auf den Arm. Als sie ihren Irrtum bemerkte, stellte sie ihn wieder auf die Erde und nahm den andern auf, während er selbst nun betrübt neben ihr einherlief. Er war damals vier Jahre alt. Wie wir bemerken können, klingen bei der Wiedergabe dieser Erinnerung ähnliche Saiten wieder, wie wir sie soeben bei der Schilderung seines Leidens vernommen haben: er ist nicht sicher, der Vorgezogene zu sein und kann es nicht ertragen, daran denken zu müssen, daß ihm etwa ein anderer vorgezogen werden könnte. – Auf diesen Umstand aufmerksam gemacht, ist er sehr erstaunt und erkennt den Zusammenhang sofort.

Das Ziel, auf das hin wir uns alle Ausdrucksbewegungen eines Menschen gerichtet denken müssen, kommt unter dem Einfluß der Eindrücke zustande, die dem Kind durch die Außenwelt vermittelt werden. Das Ideal, das Ziel eines Menschen, bildet sich schon in den ersten Monaten seines Lebens. Denn dort werden schon jene Empfindungen eine Rolle spielen, auf die das Kind mit Freude oder mit Mißbehagen antwortet. Dort werden bereits die ersten Spuren eines Weltbildes auftauchen, wenn auch nur in der primitivsten Art. Damit ist gesagt, daß die Grundlagen für die uns zugänglichen Faktoren des Seelenlebens bereits in der Säuglingszeit gelegt werden. Dieselben werden immer weiter ausgebaut, sie sind wandelbar, beeinflußbar. Die mannigfachsten Einwirkungen finden statt, die das Kind zwingen, mit irgendeiner Stellungsnahme auf die Anforderungen des Lebens zu antworten.

So können wir jenen Forschern nicht unrecht geben, die hervorheben, daß Charakterzüge eines Menschen schon in seiner Säuglingszeit bemerkbar waren, weshalb viele behaupten, der Charakter sei angeboren. Man kann aber feststellen, daß die Auffassung, daß der Charakter des Menschen von seinen Eltern ererbt sei, gemeinschädlich ist, denn sie hindert ja den Erzieher, sich mit Vertrauen an seine Aufgabe zu machen. Eine Bekräftigung dieser Annahme liegt in dem Umstand, daß die Auffassung von der Angeborenheit des Charakters meist dazu verwendet wird, um jenen, der sich ihrer bediente, freizusprechen, seine Verantwortlichkeit auszuschalten, was natürlich den Aufgaben der Erziehung widerspricht.

Eine wichtige Bedingung, die bei der Aufrichtung des Zieles mitwirkt, ist durch den Einfluß der Kultur