Mentales Stressmanagement - Tanja Madsen - E-Book

Mentales Stressmanagement E-Book

Tanja Madsen

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Beschreibung

Verspüren Sie auch manchmal Stress und Ärger, wenn Sie an bestimmte Kollegen denken oder an Ihren Chef? Oder wenn Sie im Stau stehen oder gegen sich selbst zu Gericht ziehen? Gibt es Menschen oder Situationen in Ihrem Leben, die unweigerlich „Ihre Knöpfe“ drücken? Auch wenn es anders scheint, Auslöser sind nicht die anderen, sondern unsere stressbeladenen Gedanken über andere Menschen. Die Autorin zeigt auf, wie machtvoll und einflussreich unsere Gedanken sind und wie sie mit persönlichem Stresserleben und Lebensunzufriedenheit im direkten Zusammenhang stehen. Die einfache wie kraftvolle Methode The Work nach Byron Katie ist ein Universalinstrument für mentales Stressmanagement. Das Buch versteht sich als Leitfaden und zeigt anhand vieler praktischer Beispiele und Übungen, wie Sie Ihre stressvollen Gedanken mithilfe von The Work wahrnehmen und hinterfragen können.

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Seitenzahl: 408

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Tanja MadsenMentales StressmanagementYoga für den Verstand – mit The Work von Byron Katie

Urheberin der in diesem Buch dargestellten Selbstbefragungsmethode The Work ist Byron Katie (http://www.thework.com).  Viele der Ideen und Übungen stammen von ihr. Die Beschreibung von The Work erfolgt nach bestem Wissen im Sinne der Urheberin.

Copyright: © Junfermannsche Verlagsbuchhandlung, Paderborn 2012

Coverfoto: © Evgeny Kuklev – iStockphoto.com Coverentwurf / Reihengestaltung: Christian Tschepp

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2012

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-863-1

ISBN dieses E-Books: 978-3-87387-878-5 (EPUB), 978-3-95571-291-4 (PDF), 978-3-95571-290-7 (MOBI).

Einleitung

„Der wahre Zweck eines Buches ist es, den Geist hinterrücks zum eigenen Denken zu verleiten.“

Christopher Morley

Warum ich dieses Buch geschrieben habe

In diesem Buch stelle ich eine Methode vor, die uns hilft, mit Stress anders und besser umzugehen – The Work[1] von Byron Katie. Vielleicht sind Sie neugierig zu erfahren, was sich hinter der Methode verbirgt und wie Sie davon in Ihrem Leben profitieren können? Vielleicht beschleicht Sie aber auch der Gedanke, schon wieder eines dieser Selbstoptimierungsbücher, das ein Patentrezept für ein leichteres Leben verspricht? Ich möchte Sie nicht mit einer schnellen Lösung für alle Probleme ködern. Ich zeige Ihnen einen einfachen Weg zu mehr Gelassenheit und Gleichmut, aber, um es gleich vorwegzunehmen, es ist kein bequemer Weg. Er verlangt von Ihnen, dass Sie sich auf vielleicht fremde, ungewohnte Ideen und Denkweisen einlassen. Wenn wir beim Umgang mit Stress mehr Stress produzieren und weiterhin auf gewohnte Strategien setzen, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn wir keine nennenswerte Veränderung erreichen. Wollen wir andere Ergebnisse, braucht es neue Strategien. Vielleicht haben Sie schon einiges ausprobiert, um gelassener zu werden, mehr Frieden mit sich und der Welt zu finden und ein glückliches Leben zu leben? Hat es gut funktioniert? War es nachhaltig? Wenn ja, wunderbar, behalten Sie Ihre Strategien unbedingt bei. Wenn nicht, könnte The Work etwas für Sie sein.

Was unterscheidet The Work von den unzähligen anderen „Ich mach Dich glücklich und zufrieden“-Methoden? Viele Wege führen dahin, weniger Stress und mehr Lebenszufriedenheit, Gelassenheit und Glück zu empfinden. Das Besondere an The Work: sie ist leicht zu verstehen und zu erlernen und sie ist tiefgreifend und nachhaltig in ihrer Wirkung. Sie ist eine einfache Gebrauchsanweisung, um mit stressvollen Gedanken besser umzugehen. Die Methode ist eingängig und für alle Lebensthemen und Gedanken universal einsetzbar. Und meine Empfehlung lautet gleich: Glauben Sie mir bitte erst einmal nichts! Alles, was ich hier beschreibe, basiert auf meinen ganz subjektiven Erfahrungen und den Rückmeldungen von Klienten und Menschen, die The Work erlebt haben und für sich nutzen. Das muss mit Ihnen überhaupt nichts zu tun haben. Testen Sie es für sich selbst. Probieren Sie The Work aus und erleben Sie die Wirkung. Wenn Sie davon überzeugt sind, haben Sie ein hilfreiches Instrument für sich entdeckt, um zukünftig ihre belastenden und einschränkenden Gedanken zu hinterfragen. Wenn es nicht für Sie funktioniert, haben Sie durch dieses Buch zumindest mehr darüber erfahren, wie Ihr Verstand funktioniert, wie Gedanken und Gefühle entstehen und welchen Einfluss sie auf Ihr Stressempfinden haben können.

An wen sich das Buch richtet

Das Buch richtet sich an Menschen, die nach Wegen suchen, anders mit Stress umzugehen. Menschen, die mehr Bewusstsein für das bekommen wollen, was sich zwischen ihren beiden Ohren abspielt – in ihrem Gehirn und ihrem Verstand[2]. Das Buch ist dabei sowohl für Leser geschrieben, die mit The Work noch gar nicht vertraut sind, als auch für Work-Infizierte, die schon Erfahrungen damit gemacht haben. Ich würde mich freuen, wenn Sie von dem Buch so profitieren, dass Sie dadurch eigene handfeste Erfahrungen machen. Dass Sie selbst die Auswirkung von stressvollen Gedanken auf Ihren Körper und Ihr Wohlbefinden nachvollziehen können und die befreiende Nachwirkung von The Work erleben. The Work ist keine graue Theorie, sie ist eine Erfahrung, die auf persönlichen Erkenntnissen beruht. Was würde es Ihnen nutzen, Ihren Verstand mit noch mehr Fakten, Theorien und Ansichten zu füllen, wenn es doch eigentlich um so etwas Handfestes wie Stressmanagement geht? Sie erhalten hier eine praktisch anwendbare Anleitung und ich lade Sie ein, damit zu experimentieren. Deshalb ist „Mentales Stressmanagement“ auch als Ihr persönliches Übungsbuch gedacht, das Sie einlädt, alles direkt selbst für sich zu prüfen. Ein Yogabuch macht einen auch nicht gelenkiger, wenn man es nur liest, sich die netten Bilder von Yogis in irgendwelchen verrenkten Positionen anschaut und das Buch dann wieder ins Regal stellt. Mit dem mentalen Yoga ist das nicht anders, es entfaltet seine Wirkung mit dem Machen. Das Leben wird Ihnen auch nach dem Lesen dieses Buches und dem Beherzigen aller Empfehlungen Knüppel zwischen die Beine werfen. Der Unterschied wird sein: Wenn Sie sich bewusster über Ihre Gedanken sind und sie mit The Work befragen, werden Sie wahrscheinlich anders damit umgehen. Vielleicht können Sie sogar annehmen, was ist, ohne Groll oder Drama. Es kann gut sein, dass Sie sich dann über Dinge im Außen, die Sie nicht ändern können, nicht mehr so aufregen. Mit der Befragung von The Work haben Sie eine Art „Gelassenheitsformel“, um Ihren sorgenvollen Gedanken zu begegnen. Das Resultat: Ihre Lebensqualität steigt noch mehr und Sie werden klarer und aufgeräumter in Ihrem Verstand und das wirkt sich positiv auf ihr Handeln aus.

Aufbau des Buches

Das Buch lädt Sie ein zu einer Reise in Ihren Verstand. Wir beginnen im Kopf, da wo Gedanken entstehen, und schauen uns an, welche Wirkung sie auf uns haben. Gedanken sind der rote Faden, der sich durch alle Kapitel des Buches webt und sie miteinander verbindet. Die Reise gliedert sich in 7 Stationen: Zuerst schauen wir den Neurowissenschaftlern, den Philosophen und den Psychologen über die Schulter und vergegenwärtigen uns ihre Erkenntnisse aus den letzten 2000 Jahren über Denken, Fühlen und Handeln. Das Denken ist dabei der Ausgangspunkt für alle weiteren Kapitel, genauer gesagt, dass stressvolle Denken. Im 2. Kapitel mache ich Sie mit der Methode The Work bekannt, so dass Sie sie auch für sich selbst anwenden können. Im 3. Kapitel geht es um einen vertiefenden Einblick in die Methode. Sie erfahren, wie Sie Ihren Urteilen über andere auf die Spur kommen und ihnen mit The Work begegnen können. Da The Work universal einsetzbar ist, schauen wir uns in den darauffolgenden Kapiteln verschiedene „Lebensthemen“ an, die Sie untersuchen können: In der 4. Station räumen wir das Feld von hinten auf, indem wir uns mit der schmerzlich erinnerten Vergangenheit beschäftigen und einen Blick in die ungewisse Zukunft riskieren. Kapitel 5 steht im Zeichen von Kritik. Häufig eine lästige, unangenehme Sache. The Work hilft uns, Kritik nicht als Angriff, sondern vielmehr als Geschenk zu sehen, in dem Wachstumspotential steckt. Station 6 lädt zum Wehgesang ein: „I’m a loser baby, so why don’t you kill me.“ Ich zeige Ihnen, wie wir von Selbstanklage und harscher Kritik an uns zu mehr Selbstannahme und Begeisterung für uns selbst kommen. Auf der letzten Station gehen wir der Frage nach, ob das Universum freundlich ist. Außerdem prüfen wir, welche Wirkung mentales Training wie The Work auf unser Gehirn haben kann. Abschließend fügen sich die noch offenen Enden zusammen und wir knoten ein Netz aus weiteren Ergänzungen, Anregungen und hilfreichen Tipps, das Sie auf Ihrer weiteren Reise mit The Work gut halten wird.

1. Warum es sinnvoll ist, sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen

Was Sie in diesem Kapitel erwartet

Wie viele Gedanken haben wir schätzungsweise am Tag? Diese und weitere Fragen rund um unser Denken betrachten wir im 1. Kapitel. Ich möchte Sie für Ihre Wahrnehmung und Ihr Denken sensibilisieren und Ihnen verdeutlichen, wie einflussreich Gedanken sind. Sie werden sehen, wie wir unsere ganz subjektive Welt kreieren und dabei viele Informationen ausblenden, regelrecht blind dafür sind. Dies führt zu verzerrten kurzsichtigen Urteilen über die Welt und uns selbst. Durch das ABC der Gefühle werden Sie erkennen, dass es beim Stressmanagement sinnvoll ist, bei diesen Urteilen anzusetzen. Genau das geschieht mit The Work, wir hinterfragen unsere stressvollen Gedanken. Dank dieses kraftvollen Werkzeugs können wir unseren Wahrnehmungshorizont erweitern. Die stoische Philosophie und auch die Kognitive Verhaltenstherapie haben vieles mit The Work gemeinsam. Sie halten wertvolle Erkenntnisse für uns bereit, die ich Ihnen aufzeigen möchte.

1.1 Mentale Komfortzone vs. Yoga für den Verstand

„Die größte Entscheidung deines Lebens liegt darin, dass du dein Leben ändern kannst, indem du deine Geisteshaltung änderst.“

Albert Schweitzer

Vor einigen Jahren brachte mich mein Trainer und heute sehr geschätzter Freund und Kollege Ralf Giesen in Kontakt mit The Work. Er hatte die Begründerin Byron Katie live erlebt und war begeistert von der positiven und nachhaltigen Auswirkung dieser Methode auf stressvolle Glaubenssätze. Als Psychologin hatte ich schon viele verheißungsvolle Methoden zum Thema „Stressmanagement“ studiert und ausprobiert und war nun skeptisch, wie denn vier einfache Fragen dazu beitragen sollten, weniger Stress mit täglichen Herausforderungen zu haben und glücklicher und gelassener zu werden. Das war mir nämlich trotz der vielen Selbsthilfebücher, die ich gelesen hatte und der Selbstoptimierungs-Workshops, die ich hoffnungsvoll aufgesucht hatte, nie wirklich dauerhaft gelungen.

Das Buch trägt nicht umsonst den Untertitel Yoga für den Verstand, The Work ist nämlich nicht unbedingt etwas für mentale Couchpotatoes. Die Methode ist übersichtlich, schließlich handelt es sich ja „nur“ um ein paar Fragen und Gedankenstretchings, aber dabei fordert sie uns heraus, unser gewohntes Denken infrage zu stellen. Für die Befragung, wie The Work auch genannt wird, müssen wir unsere mentale Komfortzone verlassen und uns in die Stretchingzone begeben. Wie der Name schon sagt, erfordert dieser Bereich ein „Dehnen“, das vielleicht ungewohnt, beanspruchend oder herausfordernd ist. Aber wir gewinnen auch etwas, wenn wir unser vertrautes, eingeschränktes Denken befragen, nämlich mentale Flexibilität, mehr Gelassenheit und inneren Frieden.

So bin ich dann doch noch zum großen Fan von The Work geworden, da ich merke, dass ich anders mit herausfordernden und stressvollen Momenten umgehe, seitdem ich sensibilisiert bin für meine stressvollen Gedanken, sie wahrnehme und konsequent hinterfrage. Themen oder Ereignisse, die mich früher garantiert gestresst oder sogar aus der Bahn geworfen hätten, kann ich heute mit mehr Gleichmut und Klarheit begegnen. Ich bin zwar noch immer nicht erleuchtet im esoterischen Sinne, das strebe ich jedoch auch gar nicht an. Ich habe etwas viel Kostbareres gewonnen: Die Sicherheit – egal welche Dinge mir noch widerfahren, ich bin gut gewappnet, ich habe die vier Fragen und die Anleitung zu den Umkehrungen, die mich durch das Dickicht meiner stressvollen Gedanken navigieren werden.

1.2 Die vier Fragen von The Work

Vielleicht sind Sie ja schon ganz ungeduldig, wie denn jetzt diese vier „Superfragen“ von Byron Katie lauten? Hier sind sie:

Ist das wahr? (Ist die Antwort „nein“, gehen Sie zu Frage 3.)Können Sie mit absoluter Sicherheit wissen, dass das wahr ist?Wie reagieren Sie, was passiert, wenn Sie diesen Gedanken glauben?Wer wären Sie ohne diesen Gedanken?

© 2012 Byron Katie International, Inc.

Sie finden die Fragen und die Anleitung zu den Umkehrungen auch auf einer Karte zum Herausnehmen in diesem Buch, quasi „The Work to go“. So können Sie The Work immer bei sich tragen und sich selbst befragen oder jemand anderen bitten, Ihnen die Fragen vorzulesen. Mir gefällt an der Methode, dass alles, was sie ausmacht, auf eine kleine Karte passt. Ich muss keine langen theoretischen Abhandlungen lesen, ich brauche keine Gerätschaften, ich kann einfach diese vier Fragen und Umkehrungen anwenden. Im Anschluss an die Fragen wird mit dem Ursprungsgedanken „gespielt“ und er wird in verschiedene Richtungen umgekehrt. Im zweiten Kapitel leite ich Sie Stück für Stück durch The Work und Sie haben anschließend die Gelegenheit, es direkt selbst auszuprobieren. Bevor wir aber mit der Befragung starten, möchte ich Sie erst einmal mit unserem Verstand vertraut machen, „jenem „Ding“, das vermutlich irgendwo in unserem Gehirn entsteht und uns ermöglicht, ein ganzes Universum entstehen zu lassen und uns gleichzeitig die Hölle auf Erden bescheren kann. Bühne frei für den Verstand.

1.3 Der Stress entsteht im Kopf

„Der Mensch bringt täglich sein Haar in Ordnung, warum nicht auch seine Gedanken?“

Indische Weisheit

In meiner täglichen Praxis als Coach begegnen mir viele verschiedene Menschen: Studenten, Menschen im Ruhestand, Arbeitssuchende, Hausfrauen, Überflieger, Depressive, Ausgebrannte, Workaholics. Auf den ersten Blick wenden sie sich mit den unterschiedlichsten Anliegen an mich. So erleben einige einen Burnout und wollen da schnellstmöglich wieder raus, andere greifen nach den Sternen und wünschen sich Unterstützung bei der Erreichung ihrer Ziele. Manche wollen ihre Konflikte mit anderen lösen oder einen liebevolleren Umgang mit sich selbst erlernen. Egal wie das Anliegen auch gelagert ist, allen gemein ist letztlich ein mentales Phänomen: stressvolle Gedanken über sich, andere und die Welt.

Ein Klient z. B. suchte mich auf, weil ihm gekündigt wurde. Er fand seit fast einem Jahr keine neue Arbeit, obwohl er beruflich eine Eins-a-Vita und exzellente Referenzen vorweisen kann. Sein alter Arbeitgeber hatte ihn entlassen und an dieser für ihn bitteren Erfahrung kaute er noch Monate später. Er hegte großen Groll auf den Arbeitgeber und auf das System und zweifelte zu allem Übel auch noch an sich selbst und seinen Fähigkeiten.

Im Coaching verdeutlichte ich dem arbeitssuchenden Klienten seine hinderlichen und stressvollen Konzepte über den alten Arbeitgeber, den Arbeitsmarkt und vor allem über sich selbst. Mit The Work konnte er Glaubenssätze über sich hinterfragen, die ihn zum Teil seit seiner Grundschulzeit beschwert hatten. Als er erkannte, dass viele seiner stressvollen Gedanken der Befragung durch The Work nicht standhielten, fiel die „Verschwörungstheorie“, der er seit seiner Kündigung anhaftete, wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Es wurde ihm möglich, sein Bild über sich zu verändern und gestärkter und positiv überzeugt von sich in Verhandlungen mit potenziellen Arbeitgebern zu gehen. Am Ende fand er einen sehr guten Job, obwohl sich im Außen nichts verändert hatte, sein Ex-Arbeitgeber war derselbe und seine Vita war ebenfalls nach wie vor die gleiche. Das, was sich geändert hatte, waren die Bewertungen der Situation und der eigenen Fähigkeiten. Das war der Katalysator für Veränderung – wenn wir hinderliche Gedanken entzaubern, wird der Weg frei für kraftvolles Handeln.

Stop it!

Jetzt kann man erwidern, ja gut, dann ignoriere ich halt einfach meine stressigen oder nervigen Gedanken oder ich übertünche sie mit positiveren. Das hat meines Wissens nach noch nie befriedigend und dauerhaft funktioniert. Je mehr wir lästige Gedanken loswerden wollen, desto penetranter bleiben sie uns auf den Fersen. Es ist wie bei einem Bumerang, ich werfe ihn von mir weg und er kommt genau zu mir zurück und je heftiger ich werfe, desto schneller und schwungvoller kommt er zurück. Ein Klient sagte zu mir, er habe Angst vor Höhe, da er befürchte, sich dann runterzustürzen und deshalb meide er generell alle hohen Gebäude. Würde ich ihm sagen, ja Mensch, Sie sehen ja selber ein, dass die Befürchtung unrealistisch ist, geben Sie doch einfach dem Gedanken keinen Raum in ihrem Leben, würde ich wahrscheinlich nur ein müdes Lächeln ernten. Wenn es so leicht wäre, Gedanken einfach zu ignorieren, wären wir Coaches und Therapeuten wohl bald arbeitslos. Sehr amüsant wird übrigens diese Art der Methode in einem Sketch von Mad-TV[3] vorgeführt:

Eine Klientin kommt zum Psychotherapeuten mit der Angst, sie könne lebendig begraben werden. Der Therapeut interessiert sich herzlich wenig für die Beweggründe der Frau, ihre Lebensgeschichte oder ihr Verhältnis zu ihrer Mutter. Seine Intervention besteht lediglich aus der Botschaft: „Stop it!“ Weiterhin sagt er ihr, wie unrealistisch das ist und dass sie doch kein kleines Mädchen mehr sei. Die Klientin reagiert sehr irritiert auf diese Intervention und da sie den Vorschlag ihres Therapeuten noch nicht annehmen kann, wird seine Botschaft noch drastischer und er sagt: „Stop it or I’ll bury you alive.“ (Hören Sie auf damit oder ich begrabe Sie lebendig!) Auch diese Drohung wird den stressvollen Gedanken wenig einschüchtern, er wird sicher weiter sein Eigenleben im Verstand der Klientin führen.

Also was tun?

Die Gedanken willentlich zu beeinflussen oder zu unterdrücken funktioniert nicht. Na dann vielleicht die Gedanken ignorieren, ihnen einfach keinen Raum geben. Sie ahnen wahrscheinlich, worauf das hinausläuft. Bitte denken Sie jetzt mal nicht an einen rosaroten Elefanten, der Pfeife rauchend in einem Schaukelstuhl sitzt.

Es geht nicht. Unser Gehirn versteht das Wort ,nicht‘ nicht. Erst einmal müssen wir uns das gedanklich repräsentieren, was wir nicht denken wollen. Wir holen es dadurch zuerst in den Fokus der Aufmerksamkeit, geben ihm besonders viel Energie, um es dann zu negieren. Was bleibt uns dann übrig? Den Gedanken mit Verständnis begegnen und sie auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu hinterfragen. Das, was dann passiert ist, dass uns die Gedanken loslassen und nicht wir sie. Wie das gelingen kann, davon handelt dieses Buch.

1.4 Die Realität sollte anders sein

„Verlange nicht, daß die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahin fließen.“

Epiktet

Ich sitze am Köln-Bonner Flughafen fest. Der Abflug verzögert sich wegen Schnee und Eis schon um Stunden. Meine Coachingtermine mit Klienten in Berlin werde ich nicht halten können, und mein Terminkalender ist kurz vor Ende des Jahres übervoll, ich weiß nicht, wann ich jetzt noch Ausweichtermine anbieten soll. Ein Berg voll Papierkram wartet ebenfalls auf mich, an dem ich hier vom Flughafen aus aber leider auch nichts machen kann. Vergeudete Zeit? Solche Situationen kennen wir wahrscheinlich alle, es läuft anders als geplant. Ein willkommener Anlass, sich zu beklagen, zu beschweren oder gar auszuflippen. Der Flughafen Berlin-Tegel hatte kein Enteisungsmittel vorrätig, mitten im Winter! Gedanken, die mir durch den Kopf gehen: „Die Realität sollte anders sein. Ich habe keine Zeit für so was. Es ist nicht das erste Mal Winter in Berlin – welcher Idiot hat vergessen, das Enteisungsmittel nachzubestellen? Das war doch nicht so vereinbart, das habe ich so nicht gebucht!“ Bei den sporadischen Durchsagen der Fluggesellschaft, dass die Flugzeit noch mal nach hinten korrigiert werden muss, entgeisterte Gesichter bei den Wartenden. Manch einer macht seinem Frust lauthals Luft.

Ist es nicht häufig so, dass wir mit dem, was ist, hadern? Dass wir die Realität anders haben wollen, als sie ist? Sei es im Stau, bei einem wichtigen Termin, mit dem anspruchsvollen Kunden, mit den nölenden Kindern oder der plötzlichen Grippe, die uns ganz unpassend heimsucht. Was, wenn ich jetzt innehalte und das kraftraubende Lamentieren in meinem Kopf unterbreche? Einfach dasitzen, aus dem Fenster schauen auf die verschneite Flughafenlandschaft und dabei meinen aufgepeitschten Verstand mit seinen Gedanken beobachten. Präsent sein im Hier und Jetzt. Was für ein Geschenk, was für eine schöne Einladung, einfach mal zu entschleunigen, die kommenden Tage werden sowieso hektisch genug. Annehmen, was ist. Ja, wenn das so einfach wäre! Permanent schießen uns doch Gedanken und Bewertungen durch den Kopf, die im Widerstreit sind mit dem, was ist. Die Gegebenheiten im Außen können wir sehr häufig nicht ändern, ich kann nichts dazu beitragen, dass das Flugzeug endlich startet, es steht nicht in meiner Macht. Aber ich kann mir meine stressvollen Gedanken dazu anschauen, darauf habe ich Einfluss. Nicht so sehr auf das, was ich denke. Das entzieht sich sehr häufig meiner Kontrolle, ES denkt mich und wenn ich mir vornehme, heute mal nicht zu denken, ist es prompt schon wieder passiert. Denken wir ununterbrochen oder hört es irgendwann auch auf?

Ein ganz normaler Tag

Ich wache auf, bin noch halb im süßen Zwischenland, wo es noch keine Gedanken gibt, und halb schon ist mein Bewusstsein erwacht. Und dann verliere ich den seligen Zustand des Nicht-Denkens ganz und mein Ich-Bewusstsein rastet ein, ich bin mir meiner bewusst und denke die ersten bewussten Gedanken des Tages: „Du musst aufstehen. Ich habe keine Lust auf den Tag. Vergiss nicht, den Klienten später anzurufen. Was soll ich heute anziehen? Hoffentlich ist noch Milch da.“ Und wumms, ist der Gedankenapparat angeschaltet und er wird eifrig schnurren und Gedanken produzieren, bis ich abends im Bett liege und irgendwann in eine traumlose Schlafphase übergleite. Gedanken begleiten uns, sobald unser Bewusstsein wach ist und das ist, außer im Schlaf oder Koma und vielleicht noch in einigen raren Momenten wie z. B. der Meditation, eigentlich immer der Fall. So kommen wir dann auch auf schätzungsweise stolze 60–80.000 Gedanken pro Tag! Nicht, dass uns alle Gedanken bewusst wären, glücklicherweise läuft ein Großteil der Gedanken wie ein weißes Rauschen auf einer vorbewussten Ebene ab. „Rechter Arm, streck dich aus und greife nach der Tasse Tee“, ist so ein Gedanke, der in unserem „impliziten Gedächtnis“ verarbeitet wird und gar nicht in unser Bewusstsein kommt – es sei denn, wir hatten einen Schlaganfall und trainieren, die gelähmte Seite wieder zu bewegen. Bei automatisierten Handlungsabläufen, wie z. B. aus dem Bett aufstehen und ins Bad gehen, können wir uns also getrost auf unseren Autopiloten verlassen, wir müssen darüber nicht mehr nachdenken. Im Gegensatz dazu steht das explizite Gedächtnis, in dem Wissen über die eigene Person sowie über die Welt allgemein und persönliche autobiografische Ereignisse gespeichert sind und wir bewusst und explizit darüber berichten können (Roth, 2009).

Von den vielen Gedanken, die wir tagtäglich denken, sind die meisten noch nicht einmal innovativ. Vermutlich 60–80 % wiederholen sich wie ein inneres Mantra. Ich rede jetzt nicht nur von „banalen“ Gedanken wie „Ich koche heute einen Eintopf und nachher gehe ich zum Sport“. Nein, ich rede von beschwerenden Gedanken wie „Mein Partner sollte seine Socken nicht immer so liegen lassen“ oder „Ich bin es nicht wert, gemocht zu werden“. Unsere bewussten Gedanken sind wie ein innerer Monolog, es ist, als ob ein Kommentator in unserem Kopf haust, der zu allem seinen Senf abgibt. Beobachten Sie sich doch selbst einmal bei einer einfachen, alltäglichen Tätigkeit, wie z. B. eine Fußgängerzone entlangschlendern. Könnte sich folgender Gedankenstrom so oder so ähnlich auch in Ihrem Kopf abspielen? „Mein Gott ist die dick. Oh, ein Eis hätte ich jetzt auch gerne. Ah sieh mal an, die Herbstkollektion ist schon raus. Die Schuhe sind ja schön. Denk dran, noch Briefmarken zu kaufen. Hoffentlich habe ich Karl nicht vor den Kopf gestoßen als ich ...“. Dieses innere Hörspiel läuft innerhalb von Sekunden in uns ab, ob wir wollen oder nicht. Oder gelingt es Ihnen, die Stopp-Taste zu drücken und Ihre Gedanken zum Verstummen zu bringen? „So, heute mal nur Stille in meinem Kopf!“ Dumm gelaufen, schon wieder ein Gedanke.

Viele Gedanken sind uns gar nicht bewusst, andere wiederum sind uns sehr vertraut, da sie uns täglich mehrere Male besuchen kommen. Solche Evergreens können liebevoll sein und uns in eine gute Stimmung versetzen. Oder aber es sind Gedanken folgender Couleur: „Ich muss das machen. Mein Partner unterstützt mich nicht genug. Mein Chef ist inkompetent. Die Politiker sind doch alle korrupt. Das Leben ist hart.“

Kommen Ihnen solche Gedanken bekannt vor? Haben Sie so etwas auch schon mal gedacht? Vermutlich ja, denn die Gedanken, die wir haben, unterscheiden sich gar nicht so großartig voneinander. Das stelle ich immer wieder in Coachings und Trainings fest, wenn Menschen ihre stressvollen Gedanken mitteilen. „Keine neuen Gedanken auf diesem Planeten, alles recycelt“ – wie Byron Katie so schön sagt. Wir kreisen gedanklich immer wieder um dieselben Themen und Inhalte, egal ob es sinnvoll ist oder nicht. Unsere viel zitierten Mantren lauten so oder so ähnlich:

Er sollte dies tun ...

Sie sollte das nicht tun ...

Ich bin nicht gut genug ...

Ich will aber ...

Ich brauch von dir, um glücklich zu sein ...

Das hätte mir nicht passieren sollen ...

Ich will das nicht erleben ...

Ich muss das oder dies tun ...

Können wir etwas tun, um diese Mantren zum Schweigen zu bringen? Bitte probieren Sie dazu folgende Übung aus:

 Übung

Nicht denken

Halten Sie bitte jetzt einmal inne. Lesen Sie sich diese Instruktion durch und gehen Sie anschließend einige Momente in Stille. Bleiben Sie in den nächsten Minuten äußerlich und innerlich still und denken Sie nichts. Wenn Sie abdriften und anfangen zu denken, holen Sie sich zurück und beginnen wieder, nichts zu denken. Bleiben Sie einfach ganz bei sich, gedankenfrei.

Auswertung: Und, wie hat das funktioniert? Ist es Ihnen gelungen, längere Zeit nichts zu denken? Oder sind immer wieder Gedanken gekommen? Den wenigsten gelingt es, auch nur eine Minute gedankenfrei zu bleiben. Gedanken kommen einfach, ohne dass wir das längerfristig unterbinden könnten. Nicht denken zu wollen, ist wie sich vorzunehmen, nicht zu atmen oder nicht zu kommunizieren: Es ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Wenn „nicht denken“ nicht funktioniert, welche Möglichkeiten haben wir dann, mit unseren Gedanken, vor allem den stressvollen, umzugehen? Probieren Sie bitte als Nächstes folgende Übung aus.

 Übung

Beobachter sein

Da wir also nicht „nicht denken“ können, probieren Sie jetzt einmal, sich selbst beim Denken zu beobachten. Dieses Mal ist es ganz und gar erwünscht, Gedanken zu haben. Nehmen Sie einfach Ihre Gedanken wahr, ohne etwas zu verändern oder zu urteilen. Lauschen Sie Ihren Gedanken, während Sie auf Ihrem Stuhl sitzen oder auf einer Unterlage liegen. Seien Sie Beobachter Ihrer Gedanken. Lassen Sie den Gedankenstrom an sich vorbeiziehen, bleiben Sie dabei neutral und schauen Sie sich das Schauspiel aus der Ferne an. Falls Sie anfangen Ihren Gedanken nachzuhängen, ist das völlig in Ordnung, holen Sie sich dann gedanklich wieder zurück und gehen Sie auf Ihren Beobachterposten. Beginnen Sie jetzt.

Auswertung: Wie ist Ihre Erfahrung mit dieser Übung gewesen? Den meisten geht es so, dass Sie, sobald Sie nichts mehr tun, außer Ihre Gedanken zu beobachten, erst mitkriegen, wie viele Gedanken eigentlich passieren. War es leicht für Sie, einfach Ihre Gedanken zu beobachten, ohne darauf einzusteigen? Wenn das noch ungewohnt ist, fällt es Menschen häufig erst einmal schwer. Je mehr Sie diese Art der Wahrnehmung schulen, desto leichter und selbstverständlicher wird es für Sie und kann letztlich zu einer Gewohnheit und Haltung werden. Um da hinzukommen, können Sie diese Haltung den ganzen Tag über immer wieder mal einnehmen. Sie warten auf den Zug? Ein wunderbare Gelegenheit Ihre Gedanken zu beobachten. Die Schlange an der Supermarktkasse zieht sich in die Länge? Nutzen Sie diese Situation, um wahrzunehmen, was in Ihrem Kopf passiert. Werden Sie zum Beobachter Ihrer Gedanken, ohne sich gleichzeitig damit zu identifizieren. Sie müssen ja nicht alles glauben, was Sie so denken. Der indische Philosoph Jiddu Krishnamurti sagt dazu so passend: „Die höchste Form menschlicher Intelligenz ist, zu beobachten, ohne zu bewerten.“

Sie fragen sich jetzt eventuell, was das alles mit Ihrem Wohlbefinden oder mit Stress zu tun hat? Eine ganze Menge. Vielleicht ist Ihnen durch die Übungen bewusst geworden, dass Sie erstens Gedanken haben und zweitens, davon auch noch unzählige. Und was schätzen Sie, sind die Gedanken, die Sie so den ganzen Tag vor sich hin denken, hilfreich? Sind sie eine Unterstützung für Sie? Sagt Ihr innerer Kommentator beständig mit liebevoller Stimme: „Du bist spitze! Du bist ein wunderbarer, liebenswürdiger Mensch. Die Welt ist ein sicherer und freundlicher Ort. Mein Körper ist ein Wunderwerk der Natur. Meine Kinder lieben und respektieren mich. Mein Chef bewundert meinen Einfallsreichtum?“ Wenn ja, wunderbar. Weiter so! Oder nagen die Gedanken eher an Ihrer Stimmung wie Mäuse am Speck, wo am Ende nur noch ein angeknabbertes Stückchen Ihres Wohlbefindens übrig bleibt? Das würde sich dann ungefähr so anhören: „Du bist ein Versager, nichts kriegst du ordentlich geregelt. Meine Kinder tanzen mir auf der Nase rum. Mein Körper ist ein Wrack. Mein Chef würdigt mich nicht.“ Wenn Ihnen das bekannt vorkommt, dann seien Sie sich bewusst, dass solche Gedanken einen gehörigen Einfluss auf Ihre Stimmungen, Gefühle und Ihr Stressempfinden haben und ebenso auf Ihr Verhalten. Der erste Schritt zur Veränderung ist wahrzunehmen, dass Sie Gedanken haben. Erst wenn Ihnen bewusst ist, dass Sie stressvolle Gedanken haben, können Sie darauf eingehen. Die Grundlage ist geschaffen. Viele Menschen laufen schlafwandlerisch durch den Tag, ohne dass ihnen jemals bewusst wird, was sie über sich und die Welt für Mythen und stressvolle Geschichten glauben.

1.5 Die Macht der Gedanken

„Wir sind, was wir denken. Alles, was wir sind, entsteht aus unseren Gedanken. Mit unseren Gedanken formen wir die Welt.“

Siddhartha Gautama

Was sind überhaupt Gedanken? Ein Gedanke ist flüchtig, von außen nicht greifbar oder erkennbar, er spielt sich nur in unserem Inneren ab, genauer gesagt irgendwo in unserem Gehirn. Obwohl Gedanken so ätherisch wirken, haben Sie ein messbares physiologisches Korrelat. Bei einem Gedanken werden chemische Substanzen in unserem Gehirn ausgeschüttet und elektrische Impulse weitergegeben. Gedanken haben reale Auswirkungen auf jede Zelle unseres Körpers und darauf, wie wir uns fühlen und verhalten. Beim Lügendetektor-Test wird dieses Wissen genutzt, um den Wahrheitsgehalt von Aussagen zu prüfen. Die Testperson wird, während sie Fragen beantwortet, an Geräte angeschlossen, die Handtemperatur, Puls, Blutdruck, Atemfrequenz, Muskelspannung und Handschweiß bestimmen. Stellen Sie sich vor, die Person hat eine Bank ausgeraubt und wird beim Test danach gefragt. Mit großer Wahrscheinlichkeit wird der Körper eine Stress-Reaktion zeigen und die Hände werden schwitzig und kälter, der Blutdruck steigt an, das Herz rast, der Atem geht schneller und die Muskulatur spannt sich an. Die Reaktion auf die Frage erfolgt unmittelbar, selbst wenn die Person nicht antwortet und ihre Gedanken nur für sich behält. Wenn die Person aber unschuldig ist, wird sie auf die Frage nach dem Banküberfall eine entspannte Körperreaktion zeigen, d. h. die Hände werden trockener und wärmer, Puls und Atmung werden langsamer und der Blutdruck sinkt. Auch hier wird die körperliche Reaktion unmittelbar sichtbar (Amen, 2010, S. 95). Das gilt für unsere Gedanken generell und auch wenn wir nicht an Gerätschaften angeschlossen sind, die unsere Köperreaktionen messen, spüren wir manchmal von selbst, wie unser Herz rast oder wir feuchte Hände bekommen, während wir an bestimmte Dinge denken. Gedanken haben eine Auswirkung auf unseren Körper, das zeigt der Lügendetektor-Test sehr deutlich. Dabei werden Menschen über konkrete Aktionen befragt, wie z. B. einen Banküberfall, aber auch unsere Fantasie ist so machtvoll, dass sie eine schwere Stressreaktion auszulösen vermag.

Stellen Sie sich vor, es ist schon spät und Ihr Partner ist noch nicht zu Hause. Komisch, das sieht ihm gar nicht ähnlich. Leider hat er das Handy nicht mitgenommen, sonst könnten Sie leicht klären, was denn los ist. Langsam werden Sie nervös und während Sie den Abwasch machen, stellen Sie sich vor, wie Ihr Partner womöglich einen Unfall hatte, wie er blutüberströmt im Straßengraben liegt. Wie der Notarztwagen kommt und ihn mit heulenden Sirenen ins Krankenhaus fährt. Aber die Hilfe kommt zu spät, Ihr Partner ist tot und Sie bekommen Besuch von der Polizei, die Ihnen diese schreckliche Nachricht überbringt. Sie stellen sich vor, wie Sie am Küchentisch zusammenbrechen, überlegen sich gedanklich schon mal, was Sie bei der Beerdigung tragen werden und der Kloß in Ihrem Hals wird immer dicker. Sie sind angespannt und Ihre Augen werden feucht. Sie fragen sich, wie Sie diesen Schmerz aushalten werden, da geht plötzlich der Schlüssel in der Tür und Ihr Partner steht vor Ihnen, total lebendig. Er hatte einfach die Zeit vergessen. Gott sei Dank war alles nur eine Fantasie, aber komisch, die Gefühle haben sich doch so echt angefühlt. Wie kann das sein? Unser Gehirn unterscheidet nicht, ob etwas „real“ passiert ist oder ob wir es uns in unserem Kopf nur vorgestellt haben, eine Vielzahl von gleichen Hirnarealen ist aktiv (Singer, 2002, S. 71). Gedanken scheinen zwar flüchtig, sie haben aber zugleich ein physiologisches Korrelat. Während dieser Film vor Ihrem inneren Auge ablief, hat sich in Ihrem Körper eine neuroendokrine Stressreaktion aufgebaut. Während Sie sich das Horrorszenario lebhaft ausgemalt haben, ist im Außen, in der Wirklichkeit gar nichts passiert, trotzdem fühlen Sie die Stressreaktion in Ihrem Körper. Vielleicht läuft vor Ihrem inneren Auge nicht genau so ein Film ab, aber wie sieht es aus mit der nächsten Prüfung, dem nächsten Flug, der ausstehenden E-Mail des Angebeteten? Die inneren Filme sind auswechselbar, aber die Gefühle, die aus diesen Gedanken resultieren, sind echt. Mögen Sie Ihr Entertainmentprogramm? Läuft bei Ihnen in Dauerschleife eine Soap-Opera, eine Tragödie, ein Bollywoodfilm, eine Komödie oder ein Splattermovie? Wenn man bedenkt, welchen Effekt die Gedanken auf unser Wohlbefinden haben, sollte man sich gut überlegen, welche Filme man auswählt.

 Übung

Die Zitrone

Am besten lassen Sie sich diese Übung von jemandem vorlesen. Falls das nicht geht, lesen Sie den Text und geben Sie sich währenddessen die Zeit, die Worte auf sich wirken zu lassen.

Stellen Sie sich bitte einmal vor Ihrem inneren Auge eine Zitrone vor. Eine schöne, gelbe Zitrone. Schauen Sie sich diese Zitrone einmal genauer an, die Struktur der Schale, die Farbgebung, die Form. Dann riechen Sie an der Zitrone. Wie riecht die Frucht? Stellen Sie sich vor, wie Sie mit einem Messer die Zitrone aufschneiden. Vielleicht entfaltet sich dabei noch mehr von dem Duft der Zitrone? Schauen Sie sich die Zitrone jetzt von innen an, ihr Fruchtfleisch, die Farbe, die Kerne ... Halten Sie Ihre Nase ganz nah an die geöffnete Zitrone, was riechen Sie? Dann nehmen Sie gedanklich noch einmal das Messer zur Hand und schneiden sich einen kleinen Schnitz von der Zitrone ab. Vielleicht tropft dabei etwas Saft von der Zitrone am Messer herunter? Nehmen Sie das kleine Zitronenstückchen in Ihre Hand und schauen Sie es sich genauer an. Was können Sie wahrnehmen? Legen Sie sich jetzt den Zitronenschnitz auf Ihre Zunge. Nehmen Sie wahr, was auf Ihrer Zunge passiert. Schmecken Sie den Geschmack der Zitrone? Was passiert in Ihrem Mund, was passiert mit Ihrem Gesicht?

Auswertung: Haben Sie etwas Saures auf Ihrer Zunge gespürt, hat sich der Mund zusammengezogen? Manch einer nimmt auch vermehrten Speichelfluss in seinem Mund wahr. Anhand dieses kleinen Experiments können Sie selbst die Erfahrung machen, was ein Gedanke bewirken kann. Es war lediglich eine Fantasie, eine Halluzination. Keine Zitrone da, außer in Ihrer Vorstellung. Unser Gehirn kümmert sich nicht darum, ob etwas „real“ oder „eingebildet“ ist. Mit The Work können wir uns aber darum kümmern. Sie werden erleben, dass Sie mit The Work täuschend echte Halluzinationen in Ihrem Verstand enttarnen können.

Unsere Erinnerung spielt uns einen Streich

Haben Sie sich schon mal mit anderen Menschen über einen Roman unterhalten und sich gewundert, von welchem Buch die anderen da eigentlich reden? In einer Studie wurden einmal Geschwisterpaare gebeten, in einem Aufsatz zu beschreiben, wie damals in ihrer Familie Weihnachten gefeiert wurde. Es war den Forschern anschließend nicht möglich, anhand der einzelnen Beschreibungen die Geschwisterpaare zu identifizieren. Wie kann das sein? Die Geschwister haben doch an derselben Feier teilgenommen? Anscheinend haben unsere Erfahrungen und Erinnerungen eine sehr individuelle, subjektive Färbung. Nur weil Geschwister am selben Weihnachtsfest teilgenommen haben, heißt das noch lange nicht, dass sie genau das gleiche Weihnachten erlebt haben, geschweige denn es über die Jahre gleich in Erinnerung behalten.

Es geht sogar noch weiter, nicht nur, dass wir Situationen unterschiedlich wahrnehmen und erinnern, wir können sogar Ereignisse erinnern, die uns nie passiert sind. In wissenschaftlichen Experimenten ist es immer wieder gelungen, Teilnehmern falsche Erinnerungen „einzupflanzen“. Die Psychologin Elizabeth Loftus untersucht seit dreißig Jahren, wie sich „falsche Wahrheiten“ in unserem Gehirn als Realität festigen können. In ihrer Studie „Lost in the mall“ (Loftus, 1999) wurde den Teilnehmern z. B. suggeriert, dass sie als 5- oder 6-Jähriger einmal in einem Einkaufszentrum verloren gegangen und später von einem Erwachsenen gefunden worden wären. Immerhin 6 von 24 Teilnehmern konnten sich an dieses nie stattgefundene Ereignis erinnern. Loftus und ihr Team manipulierten in einer anderen Studie Fotos, und suggerierten einigen Teilnehmern dadurch erfolgreich, dass sie als Kind einmal mit ihrem Vater in einem Heißluftballon geflogen seien. Die Ballonflug hatte nie stattgefunden, ebenso wenig wie die Begegnung mit Bugs Bunny in Disneyland. Auch hier zeigte Loftus Studenten fiktive manipulierte Fotos von ihnen als Kind mit Bugs Bunny im Arm. Ein Anteil von 35 % konnte sich an diese nie stattgefundene Begegnung in Disneyland später erinnern (Schuhmacher 2005).

In einem anderen Zusammenhang wird ebenfalls deutlich, wie unterschiedlich, begrenzt und fragil unsere Wahrnehmung und Erinnerung sind: bei Zeugenaussagen. In einem Gemeinschaftsprojekt haben die Polizei von Manchester, die BBC und Open University das Thema Zeugenaussage mit modernster Technologie im Gruppenexperiment erforscht (Winterman, 2010)[4]. In einer fingierten Szene in einem Pub wurde Probanden dieses Experiments eine täuschend echte Messerstecherei präsentiert. Der Pub war ausgestattet mit 10 versteckten Kameras, die unter anderem die Augenbewegungen der Personen aufzeichneten. So konnte z. B. festgestellt werden, dass Personen das Verbrechen „gesehen“ hatten, obwohl sie anschließend felsenfest davon überzeugt waren, nichts gesehen zu haben.

Sechs Wochen nach dem Vorfall wurden die Zeugen gebeten, anhand von 10 Fotografien die Beteiligten an der Messerstecherei zu identifizieren. Keiner identifizierte den Mörder, nur einem fiel überhaupt auf, dass er auch im Pub anwesend gewesen war. Zwei identifizierten einen Unschuldigen als Mörder, den die Versuchspersonen nie zuvor gesehen hatten.

Warum haben Geschwister unterschiedliche Erinnerungen ans gemeinsame Weihnachtsfest oder warum erinnern wir sogar Dinge, die nie geschehen sind. Warum erinnern Zeugen unterschiedliche Dinge und blenden andere aus? Dies hat mit unserer Wahrnehmung und Aufmerksamkeit zu tun, die begrenzt sind. Das Abspeichern von Erlebnissen in unserem Gehirn verläuft nicht wie mit Akten in Papierform oder Daten am Computer, wo etwas schwarz auf weiß niedergeschrieben ist und genau so jederzeit wieder abrufbar ist. Jedes Mal, wenn wir uns an ein Ereignis wieder erinnern, verändert unser Gehirn auch diese Erinnerung, überschreibt sie, passt sie an neue Erfahrungen und Gegebenheiten an. Häufig ergänzen wir sogar Aspekte, die eigentlich nicht passiert sind, die aber so stimmig ins Bild passen. „Falsche“ Erinnerungen, die jedoch vom Urheber gar nicht so wahrgenommen werden und auch nicht absichtlich geschehen. Wenn wir also selbst bei einem sprichwörtlichen Elefantengedächtnis Sachverhalte nicht eins zu eins wahrnehmen, abspeichern und erinnern, müssen wir uns fragen, ob wir immer Recht haben mit unserer Variante einer Geschichte. Dann bekommt die Aussage „es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit zu haben“ eine ganz neue Bedeutung. Unsere Geschichten über die Vergangenheit in einem neuen Licht zu sehen, ermöglicht uns The Work. Dies wird uns in den folgenden Kapiteln und vor allem im 4. Kapitel noch mal verstärkt beschäftigen.

1.6 Die Welt entsteht in unserem Kopf

„Die Umwelt, so wie wir sie wahrnehmen, ist eine Erfindung.“

Heinz von Foerster

Die Welt, so wie wir sie mit unseren Sinnessystemen wahrnehmen können, entspricht keinem objektiven Abbild der Wirklichkeit. Mit unseren fünf Wahrnehmungskanälen Sehen, Hören, Tasten, Schmecken und Riechen nehmen wir immer nur einen bestimmten Ausschnitt der Welt da draußen wahr. Oder können Sie vielleicht Sprengstoff riechen? Ein Hund schon. Auch das menschliche Auge sieht nur in einem Schwingungsbereich von ca. 380 bis 780 Nanometer, das bedeutet Millionstel eines Millimeters, alles darunter oder darüber ist für unser Sehsystem nicht wahrnehmbar. Bienen können etwas sehen, was dem menschlichen Auge verborgen bleibt, den ultravioletten Schwingungsbereich. Das Studium des menschlichen Auges liefert generell lehrreiche Informationen zum Thema Wahrnehmung. Es gibt bekanntlich den sprichwörtlichen „blinden Fleck“, der uns blind sein lässt für gewisse Eigenschaften oder Persönlichkeitsmerkmale an uns selbst. Das menschliche Auge verfügt tatsächlich über so eine Stelle. Sie befindet sich da, wo der Sehnerv von der Netzhaut alle Informationen an das Gehirn weitergibt. An dieser Stelle gibt es keine Stäbchen und Zapfen, folglich sind wir dort blind. Davon merken wir aber gar nichts, die Welt erscheint uns ja nicht löchrig wie ein Schweizer Käse, sondern als vollständiges Gesamtbild. Das liegt daran, dass unser Gehirn diese fehlende Information mithilfe der angrenzenden Sehzellen und des anderen Auges füllt. Der blinde Fleck offenbart sich uns nur, wenn wir die Augen durch ein Wahrnehmungsexperiment austricksen (Maturana & Varela 2011, S. 21 f.).

Schließen Sie das linke Auge (oder decken Sie es mit der Hand ab) und schauen Sie auf den ✹. Den ● sehen Sie dabei trotzdem noch im Gesichtsfeld. Lassen Sie den Blick fixiert auf den ✹, während Sie nun den Abstand zur Buchseite verändern, indem Sie das Buch zu sich hin- und von sich wegbewegen. Der ● verschwindet an einer bestimmten Stelle. Mit dem linken Auge geht es analog seitenverkehrt.

Wir sehen also keine löchrige Welt, sondern haben im Gegenteil normalerweise ein sehr homogenes, präzises und tiefenräumliches Seherleben. Da wir es so gewohnt sind, verwundert es uns vielleicht nicht. Wenn man sich aber bewusst macht, dass unser Kopf und unsere Augäpfel sehr viel in Bewegung sind, verblüfft es schon eher: Eigentlich führen unser Augen ständig kleine feine Bewegungen aus, die man Augentremor nennt. Manchmal hüpft das Auge sogar hin und her, wenn es die Umwelt abtastet. Diese willkürlichen Augenbewegungen kann man beobachten, wenn man jemandem in die Augen schaut. Wie kommt es trotzdem in unserer Wahrnehmung zu einem scharfen, stabilen Bild der Welt und nicht wie zu erwarten, einem unscharfen oder verwischten? Tatsächlich wird die neuronale Aktivität, die eigentlich dabei entstehen müsste, unterdrückt und wir sind sogar für einen Sekundenbruchteil blind. Wir merken es wieder einmal nicht, denn diese kleine Lücke wird durch unser Gehirn überbrückt. Das Bild zwischen den Augenhüpfern wird künstlich verlängert. „Zeit ist eben auch eine Konstruktion des Gehirns“, sagt der Hirnforscher Gerhard Roth dazu in seinem empfehlenswerten Buch Aus Sicht des Gehirns (vgl. ebd. S. 47).

Der blinde Fleck oder unser hin und her springendes Auge machen deutlich: Wir sehen nicht, dass wir nicht sehen. Gleichzeitig aber sind wir uns so gewiss, dass unsere Wahrnehmung korrekt und vollständig ist. Wir sind unserer eigenen Blindheit gegenüber blind und das betrifft nicht nur unsere Augen, das betrifft unsere Wahrnehmung insgesamt. Der Neurobiologe Wolf Singer sagt, dass „Wahrnehmung nicht als passive Abbildung von Wirklichkeit verstanden werden darf, sondern als das Ergebnis eines außerordentlich aktiven, konstruktivistischen Prozesses gesehen werden muß, bei dem das Gehirn die Initiative hat. Das Gehirn bildet ständig Hypothesen darüber, wie die Welt sein sollte, und vergleicht die Signale von den Sinnesorganen mit diesen Hypothesen. Finden sich die Voraussetzungen bestätigt, erfolgt die Wahrnehmung nach sehr kurzen Verarbeitungszeiten. Treffen sie nicht zu, muß das Gehirn seine Hypothesen korrigieren, was die Reaktionszeit verlängert. In den meisten Fällen dürfte sich der Wahrnehmungsakt jedoch auf das Bestätigen bereits formulierter Hypothesen beschränken“ (vgl. ebd. S. 72 ).

Unser Gehirn entspricht nicht dem viel zitierten „Computer“, der Informationen von der Außenwelt empfängt. Es bringt vielmehr seine eigene Welt hervor. Wir nehmen keine Bilder mit den Sehzellen war, sondern elektrische Impulse. Wir sehen mit dem Gehirn, nicht mit dem Auge. Wahrnehmung ist eine kreative und konstruktivistische Leistung.

Diese neurologischen „Beschränkungen“ oder auch Wahrnehmungsfilter gelten ebenfalls für unser Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken und sie gelten für alle Menschen gleichermaßen. Hinzu kommen aber noch subjektive Wahrnehmungsfilter, die sich aus unserer Sozialisation, unseren ganz persönlichen Erfahrungen und der Kultur, in der wir leben, ergeben. Stellen Sie sich vor, Sie wachsen an einem Ort auf, wo es kein Konzept für „Arbeit“ gibt, wo dieses Wort gar nicht in Ihrer Sprache existiert. Wie erleben Sie den Tag, wenn Sie nicht unterteilen können in Arbeit und Freizeit, aufstehen, zur Wasserstelle gehen, um Wasser zu holen, das Dach der Hütte neu decken oder mit anderen Dorfbewohnern ein Schwätzchen halten oder singen? Die Yequana-Indianer aus Venezuela haben in ihrer Sprache kein Wort für unseren Begriff „Arbeit“. Es gibt einfach Dinge, die ohne Bewertung von ,das ist Arbeit / das ist Freizeit‘ getan werden, alles ist gleichbedeutend.

Unsere Kultur prägt uns nachhaltig, das kann vermutlich jeder bestätigen, der schon mal eine Zeit im Ausland gelebt hat. Als ich in Guatemala in einem Kinderdorf mit einheimischen Kollegen zusammengearbeitet habe, fiel mir auf, welche unterschiedlichen Vorstellungen wir über Erziehung hatten, geschweige denn vom Thema Pünktlichkeit. Soziale Normen variieren von Kultur zu Kultur und helfen uns in der Komplexität des sozialen Miteinanders zu orientieren. Auf der anderen Seite sorgen sie aber auch dafür, dass wir davon ausgehen, die Welt sei so, wie wir sie gewohnt sind oder wie wir sie kennen.

Vielleicht ist das alles ein alter Hut für Sie und Sie wissen natürlich, dass es keine objektive Realität gibt. Mir ist das auch schon lange klar, ich frage mich dann nur, wie es dazu kommen kann, dass ich in einem Streit so vehement auf meiner Position und der Richtigkeit meiner Version der Situation beharre? Das ist ja irrsinnig, kann ich ja noch nicht mal davon ausgehen, dass mein Gegenüber und ich die Kaffeetasse vor uns „gleich“ wahrnehmen. Wie soll es dann erst bei einem hochkomplexen Vorgang wie einer Diskussion oder einer Beziehung zwischen zwei oder mehreren Menschen sein?

Die von uns wahrgenommene Wirklichkeit entsteht durch eine subjektive, aktive Konstruktion. Da wir die Konstrukteure sind, haben wir die Freiheit, unsere Wahrnehmung der Realität zu verändern. Davon handelt dieses Buch – mehr Freiheit in sich zu finden, indem man seine subjektiven Wirklichkeitskonstruktionen hinterfragt und dadurch erweitert.

Ein Wandergeist macht uns unglücklich

Wie kommt man auf 60-80.000 Gedanken pro Tag? Unter anderem, indem wir Menschen gedanklich häufig nicht im Moment präsent sind, sondern gedanklich umherwandern. Dass sich dies auf unsere Lebenszufriedenheit auswirkt, konnten die beiden Forscher Killingsworth & Gilbert (2010) eindrucksvoll aufzeigen. Sie statteten in ihrer Studie über 2250 Teilnehmer mit einem iPhone und einer besonderen App aus, um sie während des Tages über ihre mentale Verfassung zu befragen. Das Forscherteam von der Harvard Universität war daran interessiert herauszufinden, wie häufig unser Verstand auf Wanderschaft geht und wie sehr die Stimmung davon beeinflusst wird. Die App unterbrach die Teilnehmer zufällig bei ihren täglichen Aktivitäten mit folgenden Fragen:

Wie fühlen sie sich gerade auf einer Skala von 0–100 (sehr schlecht – sehr gut)?

Was machen sie gerade?

Denken Sie gerade an etwas anderes als das, was sie gerade tun? Antwortmöglichkeiten: Nein; Ja, etwas Angenehmes; Ja, etwas Neutrales; Ja, etwas Unangenehmes.

Der große Vorteil dieser Studie lag darin, dass die Forscher sich die moderne Technologie zunutze machen und dank der App die Teilnehmer in Echtzeit die Fragen beantworten lassen konnten. In vorangegangenen Forschungsarbeiten zu dem Thema gaben die Befragten immer nur rückblickend Auskunft über ihre Befindlichkeit. In der Rückschau werden aber häufig Erlebnisse „verfälscht“ erinnert. In dieser Studie wurden die Beteiligten aber im Moment des täglichen Handelns direkt über ihre Gedanken befragt. Spannendes Ergebnis: Der Verstand wandert häufig umher, egal welcher konkreten Aktivität die Menschen in diesem Moment nachgehen. Es gibt nur eine Ausnahme, beim Sex scheinen die Menschen ziemlich fokussiert zu sein. Zweites Ergebnis: Wenn der Verstand wandert, sind die Menschen unglücklicher, egal welcher Tätigkeit sie gerade nachgehen. Ob ich ein Fünf-Gänge-Menü in einem absolut angesagten Restaurant mit einer wahnsinnig attraktiven Begleitung zu mir nehme oder in der Mensa eine undefinierbare Pampe in Gegenwart von hunderten Kommilitonen esse. Wenn der Verstand dabei abschweift, vermiese ich mir das Essen, so oder so. Und das trifft für die mentale Wanderschaft zu angenehmen wie unangenehmen Orten gleichermaßen zu. Interessanterweise wandern die Teilnehmer aber häufiger zu unangenehmen Themen und vergällen sich damit ihre Lebenszufriedenheit gleich doppelt, einmal indem sie nicht präsent im Moment sind und zum zweiten, weil sie sich dann auch noch unangenehme Dinge vorstellen. Angenehme Tagträume machen die Lage aber auch nicht besser. Die Strategie, wenn in meinem Leben schon alles schief läuft, dann male ich mir wenigstens ein wunderbares Leben in meiner Fantasie aus, befriedigt wohl doch nicht. Verlockende Fantasien wie, wenn ich im Lotto gewinne, dann sind alle meine Probleme mit einem Schlag gelöst und dann kaufe ich mir ein Villa, ein Lamborghini und eine Yacht, trüben die Stimmung mehr, als dass sie einen positiv stimmen. Also, positiv gefärbte Tagträume machen nicht glücklicher, als sich mit dem aktuellen Moment zu beschäftigen. An neutral gefärbte Themen zu denken oder gar sich Horrorfantasien auszumalen macht deutlich unglücklicher als präsent im Hier und Jetzt zu sein.

Abbildung 1: Wo sind Sie gerade mit Ihrer Aufmerksamkeit?

Bedeutet das Ergebnis, dass wir ab jetzt jegliche mentale Abschweifung unbedingt unterbinden sollten? Auf keinen Fall, diese menschliche Fähigkeit, mit dem Verstand zu reisen, birgt auch einen evolutionären Vorteil. Unsere umherwandernden Gedanken ermöglichen uns auch etwas zu erschaffen, Pläne zu schmieden, unsere Ziele umzusetzen, Probleme und Herausforderungen zu lösen und sie können eine Quelle der Fantasie und Kreativität für uns Menschen sein. Ohne Gedankenreisen wäre wahrscheinlich kein Film oder Buch entstanden. Es geht also wie so häufig um die Balance zwischen Tagträumerei, die sich ungünstig auf die Lebenszufriedenheit auswirkt, und dem kreativem Erschaffen mithilfe unserer Gedanken.

Sie können gerne einmal für sich prüfen, ob es auch bei Ihnen zutrifft, dass Ihr Verstand von dem abschweift, was Sie gerade tun. Beobachten Sie sich doch z. B. mal beim Abwasch. Sind Sie ganz präsent mit dem Teller beschäftigt, den Sie gerade im Wasser schrubben? Spüren Sie das Wasser auf Ihren Händen, die Temperatur, die Textur des Schaums? Widmen Sie sich mit all Ihrer Aufmerksamkeit genau dem Teller, den Sie gerade in den Händen halten oder sind Sie gedanklich schon beim anschließenden Fernsehprogramm? Ich lag letztens nach einer sehr anstrengenden Yogastunde in der wohlverdienten Endentspannung. Alle viere von mir gestreckt, vergällte ich mir diesen süßen Moment der Entspannung nach der körperlichen Anstrengung, indem ich mir lebhaft vor Augen führte, welche Speise ich gleich zu verzehren gedachte. Ich wägte innerlich verschiedene Restaurants ab und dachte auch daran, dass ich im Anschluss unbedingt noch ein, zwei E-Mails beantworten musste. Wenn Sie bei sich feststellen, dass auch Ihr Verstand häufig umherwandert und Sie gedanklich mit etwas anderem beschäftigt sind als dem, was sie eigentlich tun, stehen mehrere Strategien zur Verfügung, um mehr Lebenszufriedenheit zu erreichen: entweder Sie haben häufig Sex, Sie üben sich in Achtsamkeit mit dem Fokus auf das Hier und Jetzt, Sie versenken sich in eine mentale Tätigkeit und planen oder kreieren etwas, oder Sie nageln einen Ihrer 80.000 Gedanken fest und befragen ihn mit The Work.

Achtsamkeit

„Achtsamkeit ist ein aufmerksames Beobachten, ein Gewahrsein, das völlig frei von Motiven oder Wünschen ist, ein Beobachten ohne jegliche Interpretation oder Verzerrung.“

Krishnamurti