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Jules Verne bei Null Papier Komplett neu überarbeitet; reichhaltig illustriert und kommentiert Michael Strogoff, der Kurier des Zaren. Jules Vernes spannende und vielleicht ausgereifteste Geschichte. Nun vollkommen überarbeitet und mit 83 stimmigen Graphiken versehen. Grundlage dieser Neubearbeitung ist die erste Übersetzung ins Deutsche aus dem Jahr 1876. Da diese Version aber heutzutage schwer zu lesen ist, hat sich der Null Papier Verlag der Sache angenommen und eine von vermeintlichen Rechtschreibfehler, mißzuverstehenden Vokabeln und verwirrenden Dialog-Konstruktionen befreite und um Erläuterungen ergänzte Version geschaffen. Diese ermöglicht ein flüssiges und spannendes Lesen, ohne den Charme der damaligen Zeit und Sprache zu verlieren. Machen Sie den Test und lesen Sie ein Probekapitel Erzählt wird die Geschichte des Offiziers Michael Strogoff, der als Kurier im Dienste des Zaren steht. Von diesem erhält er in Moskau den Befehl, während einer Invasion der Tataren eine Depesche nach Irkutsk zu bringen. Er soll den Bruder des Zaren vor dem Verräter Iwan Ogareff warnen. Dieser will Rache und hat sich daher mit dem Tatarenfürsten Feofar-Khan verbündet. Mit der Eisenbahn, per Dampfschiff, mit Pferd und Wagen und zu Fuß macht sich Strogoff auf den gefährlichen Weg durch Sibirien. Auf dem Weg lernt er die schöne junge Nadia kennen. Strogoff hat ein Abenteuer nach dem anderen zu bestehen, und daß Ogareff seinen Auftrag kennt, macht die Sache für ihn noch gefährlicher. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 531
Jules Verne
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Vollständige Überarbeitung der Erstübersetzung, kommentiert und illustriert
Jules Verne
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Vollständige Überarbeitung der Erstübersetzung, kommentiert und illustriert
(Michel Strogoff)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung und Fußnoten: Jürgen SchulzeIllustrationen: Jules Férat EV: A. Hartleben’s Verlag, 1876 4. Auflage, ISBN 978-3-954180-51-6
null-papier.de/angebote
Inhaltsverzeichnis
Jules Verne – Leben und Werk
Band 1
Erstes Kapitel – Ein Fest im Neuen Palais
Zweites Kapitel – Russen und Tartaren
Drittes Kapitel – Michael Strogoff
Viertes Kapitel – Von Moskau nach Nishny-Nowgorod
Fünftes Kapitel – Eine Verordnung mit zwei Artikeln
Sechstes Kapitel – Bruder und Schwester
Siebtes Kapitel – Auf der Volga stromabwärts
Achtes Kapitel – Die Kama stromaufwärts
Neuntes Kapitel – Tag und Nacht im Tarantass
Zehntes Kapitel – Ein Unwetter in den Uralbergen
Elftes Kapitel – Reisende in Not
Zwölftes Kapitel – Eine Herausforderung
Dreizehntes Kapitel – Die Pflicht über alles!
Vierzehntes Kapitel – Mutter und Sohn
Fünfzehntes Kapitel – Der Barabinen-Sumpf
Sechzehntes Kapitel – Eine letzte Anstrengung
Siebzehntes Kapitel – Bibelsprüche und Siederverse
Band 2
Erstes Kapitel – Ein tartarisches Feldlager
Zweites Kapitel – Aleide Jolivets Haltung
Drittes Kapitel – Schlag für Schlag
Viertes Kapitel – Der siegreiche Einzug
Fünftes Kapitel – Nun sieh’ Dich um
Sechstes Kapitel – Ein Freund unterwegs
Siebtes Kapitel – Die Überschreitung der Jeniseï
Achtes Kapitel – Ein Hase, der über der Weg läuft
Neuntes Kapitel – In der Steppe
Zehntes Kapitel – Baikal und Angara
Elftes Kapitel – Zwischen zwei Asern
Zwölftes Kapitel – Irkutsk
Dreizehntes Kapitel – Ein Kurier des Zaren
Vierzehntes Kapitel – Die Nacht vom 5. zum 6. Oktober
Fünfzehntes Kapitel – Schluss
Ein Nachwort
Danke, dass Sie dieses E-Book aus meinem Verlag erworben haben.
Jules Verne gehört zu den Autoren, die jeder schon einmal gelesen hat. Eine Behauptung, die man nicht über viele Schriftsteller aufstellen kann. Die Geschichten von Verne sind unterhaltend, lehrreich und immer sehr atmosphärisch.
In unregelmäßiger Folge wird mein Verlag die Werke von Verne veröffentlichen – die bekannten wie die unbekannten. Immer in der überarbeiteten Erstübersetzung, um den (sprachlichen) Charme der Zeit beizubehalten.
Korrigiert und kommentiert werden Orts- und Personennamen oder offensichtlich falsche Angaben. Sie finden die Erläuterungen in Fußnoten.
Ich habe es mir auch nicht nehmen lassen, die ursprünglichen Namen zu verwenden: Aus dem Johann wird so wieder der ursprüngliche Jean, aus Ludwig wieder Louis und aus Marianne wieder Marie. Ich denke, das tut den Geschichten nur gut.
Sollten Sie Hilfe benötigen oder eine Frage haben, schreiben Sie mir.
Ihr Jürgen Schulze null-papier.de/kontakt
Reise um die Erde in 80 Tagen
Michael Strogoff - Der Kurier des Zaren
Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer
Eine Idee des Doktor Ox
Eine Überwinterung im Eis
Schwarz-Indien – Oder: Die Stadt unter der Erde
Fünf Wochen im Ballon
Robur der Eroberer
Der Herr der Welt
Von der Erde zum Mond
und weitere …
Beinahe wäre Klein-Jules als Schiffsjunge nach Indien gefahren, hätte eine Laufbahn als Seemann eingeschlagen und später unterhaltsames Seemannsgarn gesponnen, das vermutlich nie die Druckerpresse erreicht hätte.
Jules Verne
Verliebt in die abenteuerliche Literatur
Glücklicherweise für uns Leser hindert man ihn daran: Der Elfjährige wird von Bord geholt und verlebt weiterhin eine behütete Kindheit vor bürgerlichem Hintergrund. Geboren am 8. Februar 1828 in Nantes, wächst Jules-Gabriel Verne in gut situierten Verhältnissen auf. Als ältester von fünf Sprösslingen soll er die väterliche Anwaltspraxis übernehmen, weshalb er ab 1846 in Paris Jura studiert.
Viel spannender findet er schon zu dieser Zeit allerdings die Literatur. Verne freundet sich sowohl mit Alexandre Dumas als auch mit seinem gleichnamigen Sohn an. Gemeinsam mit Vater Dumas verfasst er Opernlibretti und erste dramatische Werke. Nach dem Abschluss seines Studiums beschließt er, nicht nach Nantes zurückzukehren, sondern sich völlig der Dramatik zu widmen.
Zwar schreibt er nicht ganz erfolglos – drei seiner Erzählungen erscheinen in einer literarischen Zeitschrift. Doch zum Leben reicht es nicht, weshalb der junge Autor 1852 den Posten eines Intendanz-Sekretärs am Théâtre lyrique annimmt. Immerhin wird diese Arbeit zuverlässig vergütet und Verne darf sich als Dramatiker betätigen. In seiner Freizeit verfasst er weiterhin Erzählungen, wobei ihn abenteuerliche Reisen am meisten interessieren.
Als er 1857 eine Witwe heiratet, die zwei Töchter in die Ehe mitbringt, muss sich der Literat nach einer besser bezahlten Einkommensquelle umsehen. Während der nächsten zwei Jahre schlägt er sich als Börsenmakler durch, wobei er genug Zeit findet, längere Schiffsreisen zu unternehmen, bevor 1861 sein Sohn Michel geboren wird.
Verliebt ins literarische Abenteuer
Letztlich ist es einer besonderen Begegnung im Jahr 1862 geschuldet, dass alles, was der Autor bisher »geistig angesammelt« hat, in seinen künftigen Romanen kulminieren darf: Der Jugendbuch-Verleger Pierre-Jules Hetzel veröffentlicht Vernes utopischen Reiseroman »Fünf Wochen im Ballon«. Dieses von ihm ohnehin bevorzugte Sujet wird den Schriftsteller nie wieder loslassen – die abenteuerlichen Reisen, auf welcher Route auch immer sie absolviert werden. Hetzel verlegt Vernes noch heute beliebteste Schriften: 1864 »Reise zum Mittelpunkt der Erde«, im folgenden Jahr »Von der Erde zum Mond«, 1869 »Reise um den Mond« und »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer«. Mit »Reise um die Erde in 80 Tagen« erscheint 1872 Jules Vernes erfolgreichster Roman überhaupt.
Die Zusammenarbeit mit Hetzel, der gleichzeitig als sein Mentor fungiert, sorgt in den späten 1860er Jahren dafür, dass der höchst produktive Schriftsteller seiner Familie einigen Wohlstand bieten und sich selbst »jugendtraumhafte« Reisewünsche erfüllen kann. Sein Verleger stellt ihn namhaften Wissenschaftlern vor – in Kombination mit den erwähnten Reisen entsteht auf diese Weise ein ungeheurer Fundus der Inspiration: Jules Vernes Zettelkasten enthält angeblich 25.000 Notizen!
Zwar ist er seit »Reise um den Mond« gleichermaßen wohlhabend und geachtet; er engagiert sich seit den späten 1880er Jahren sogar als Stadtrat in Amiens, wohin er 1871 mit seiner Familie übergesiedelt war. Der »Ritterschlag« aber bleibt aus: In der Académie française möchte man den Jugendbuchautor nicht haben, er gilt als nicht seriös genug.
Den Zenit seines Schaffens hat der Literat bereits überschritten, als er 1888 bleibende Verletzungen durch den Schusswaffen-Angriff eines geistesgestörten Verwandten davonträgt. Dennoch arbeitet der Autor ununterbrochen weiter. Als Jules Verne im März 1905 stirbt, hinterlässt er ein gewaltiges Gesamtwerk: 54 zu Lebzeiten erschienene Romane, weitere elf Manuskripte bearbeitet sein Sohn Michel nach dem Tod des Vaters. Ergänzt wird Vernes Œuvre durch Erzählungen, Bühnenstücke und geografische Veröffentlichungen.
Geliebt und missachtet
Jenes zwiespältige Verhältnis, das sich bereits in der Ablehnung der Akademiemitglieder äußert, kennzeichnet die akademische Rezeption bis heute: Jules Verne ist eben »nur ein Jugendbuchautor«. Weniger befangene Rezipienten freilich schreiben ihm eine ganz andere Bedeutung zu, die dem Visionär und leidenschaftlichen Erzähler besser gerecht wird.
Wenngleich der alternde Literat zum Ende seines Schaffens durchaus nicht mehr in gläubiger Technikbegeisterung aufgeht, bleiben uns doch genau jene Werke in liebevoller Erinnerung, in denen technische und menschliche Großtaten die Handlung bestimmen: »Reise um die Erde in 80 Tagen« oder »Zwanzigtausend Meilen unter dem Meer« beispielsweise. Wer als Kind von Nemo und seiner Nautilus liest, wird unweigerlich gefangen von diesem technischen Wunderwerk und dessen Kapitän. Vernes Romane gehören zu jenen Jugendbüchern, die man als Erwachsener gerne nochmals zur Hand nimmt – und man staunt erneut, erinnert sich, lässt sich wiederum einfangen und fragt sich, warum man eigentlich so selten Verne liest…
So wie der Autor sich selbst durch Reisen und Wissenschaft inspirieren lässt, dienen seine Werke seit jeher der Inspiration seiner Leserschaft. Wie präsent dieser exzellente Unterhalter in den Köpfen seiner Leser bleibt, belegen Benennungen in See- und Raumfahrt: Das erste Atom-U-Boot der Geschichte ist die amerikanische USS Nautilus. Ein Raumtransporter der Europäischen Raumfahrtagentur heißt »Jules Verne«, ein Asteroid und ein Mondkrater tragen ebenfalls den Namen des Schriftstellers. Die »Jules Verne Trophy« wird seit 1990 für die schnellste Weltumsegelung verliehen, was dem begeisterten Jachtbesitzer Verne gewiss gefallen hätte.
Der kommerzielle Literaturbetrieb sowie die Filmwirtschaft betrachten den französischen Vater der Science-Fiction-Literatur ebenfalls mit Wohlwollen: Unzählige Neuauflagen der Romanklassiker, Hörbücher und Verfilmungen der rasanten, stets mitreißenden Handlungen sprechen Bände. Mittlerweile gelten die ältesten Verfilmungen selbst als kulturelle Meilensteine, die keineswegs nur ein junges Publikum erfreuen.
Jules Vernes Bedeutung für die Literatur
Der Einfluss Vernes auf nachfolgende Science-Fiction-Autoren ist gar nicht hoch genug einzuschätzen: Aus heutiger Sicht ist er einer der Vorreiter der utopischen Literatur Europas, der noch vor H. G. Wells (»Krieg der Welten«) und Kurd Laßwitz (»Auf zwei Planeten«) das neue Genre begründet. Seinerzeit gibt es diesen Begriff noch nicht, weshalb Hetzel die Romane seines Erfolgsschriftstellers als »Außergewöhnliche Reisen« vermarktet
Der Franzose sieht, anders als Wells und ähnlich wie Laßwitz, im technischen Fortschritt das künftige Wohl der Menschheit begründet. Trotzdem ist Jules Verne vor allem Erzähler: Er will weder warnen wie Wells noch belehren wie Laßwitz, sondern in erster Linie unterhalten. Im Vergleich zum spröden Realismus eines Wells wirken seine Romane für moderne Leser ausufernd, vielleicht sogar geschwätzig. Dennoch sind sie leichter zugänglich als das stilistisch ähnliche Schaffen des Deutschen Laßwitz, weil sie Utopie und Technikbegeisterung nicht zum Zweck ihres Inhalts machen, sondern lediglich zu dessen Träger: Schließlich ist es einfach aufregend, in einem Ballon eine Weltreise anzutreten oder Kapitän Nemo in sein geheimes Reich zu folgen.
Sire, eine neue Depesche.«
»Von woher?«
»Aus Tomsk.«
»Über diese Stadt hinaus ist die Leitung unterbrochen?«
»Sie ist seit gestern gestört.«
»General, Sie werden von Stunde zu Stunde ein Telegramm von Tomsk einfordern und mich auf dem Laufenden erhalten.«
»Zu Eure Majestät Befehl« antwortete der General Kissoff.
Diese Worte wurden gegen zwei Uhr morgens gewechselt, als ein im Neuen Palais abgehaltenes Fest eben in höchstem Glanze strahlte.
Die Kapellen der Regimenter von Preobrajensky und von Paulowsky spielten zu dieser Soirée die gewähltesten Nummern ihres Repertoires, Polkas, Mazurkas, Schottische und Walzer, ununterbrochen auf. Immer neue Paare von Tänzern und Tänzerinnen rauschten durch die prächtigen Salons dieses Palastes, der sich nur wenige Schritte entfernt von dem »alten Hause aus Stein« erhebt, in welch letzterem sich so viele furchtbare Dramen abgespielt haben und das jetzt nur die flüchtigen Melodien der Quadrillen widerhallte.
Der Oberhofmarschall fand bei Erfüllung seiner delikaten Pflichten eine sehr beachtenswerte Unterstützung. Die Großfürsten selbst, deren Adjutanten, die Kammerherren vom Dienst und die Hausoffiziere des Palastes unterzogen sich des Arrangements der Tänze. Die von Diamanten strahlenden Großfürstinnen und die Hofdamen in gewähltester Galatoilette gingen den Frauen und Töchtern der höchsten Militär- und Zivilbeamten mit aufmunterndem Beispiele voran. Als das Signal zur Polonaise ertönte, als die Eingeladenen jeden Ranges herbeieilten zu dieser rhythmischen Promenade, welche bei derartigen Festlichkeiten die volle Bedeutung eines Nationaltanzes erlangt, da bot das Gemisch der langen, spitzenüberwebten Roben und der an Ordensschmuck so reichen Uniformen bei dem Glanze der hundert Kronleuchter, deren Lichtmeer die ungeheuren Spiegel noch zu verdoppeln schienen, dem Auge ein entzückendes, kaum zu beschreibendes Bild.
Dazu lieferte der große Salon, das schönste der Gemächer im Neuen Palais, für diese Versammlung hoher und höchster Personen und verschwenderisch geschmückter Frauen den entsprechend prachtvollen Rahmen. Die reiche Decke mit ihren von der Zeit schon etwas gemilderten Vergoldungen erschien wie besäet mit blitzenden Sternen. Der Brokat der Gardinen und der in schweren Falten herabfallenden Portièren färbte sich mit warmen Tönen, welche sich nur an den schärferen Kanten des kostbaren Stoffs lebhafter heraushoben.
Durch die Scheiben der großen Rundbogenfenster drang das Licht des Innern nur wenig geschwächt, ähnlich dem Widerschein einer Feuersbrunst nach außen, und stach grell ab von dem nächtlichen Dunkel, das seit wenig Stunden diesen glitzernden Palast umhüllte. Dieser Kontrast mochte auch die Aufmerksamkeit zweier Ballgäste erregen, welche am Tanze keinen Anteil nahmen. In einer der Fensteröffnungen stehend, konnten sie mehrere jetzt nur undeutlich sichtbare Glockentürme wahrnehmen, deren riesige Silhouetten sich am Himmel abzeichneten. Unten bewegten sich schweigend, das Gewehr wagrecht über die Schulter gelegt, zahlreiche Wachtposten auf und ab, und auf den Spitzen ihrer Pickelhauben blitzte es dann und wann von dem darauf fallenden Lichte aus dem Palaste. Jene vernahmen wohl auch den Schritt der Patrouillen auf den Steinplatten des Vorplatzes, der gewiss taktgerechter war, als manchmal die Bewegungen der Tanzenden auf dem Parkett des Festsaales. Dann und wann hörte man den Zuruf der Schildwachen von Posten zu Posten und manchmal mischte sich ein hellschmetterndes Trompetensignal harmonisch mit den Akkorden des Orchesters.
Noch weiter unten erschienen dunkle Massen in den ungeheuren von den Fenstern des Neuen Palais ausgeströmten Lichtkegeln. Das waren Schiffe, die auf dem Strome herabglitten, dessen Wellen, überstrahlt von den grellen Lichtbündeln mehrerer kleiner Leuchtfeuer, den Fuß der Terrassen des Palastes bespülten.
Die Hauptperson des Balles, der Festgeber des heutigen Abends, dem gegenüber General Kissoff jene nur den Souveränen zukommende Anrede benutzte, erschien einfach in der Uniform eines Offiziers der Gardejäger. Seinerseits lag hierin keine Ziererei, sondern die Gewohnheit eines Mannes, der für äußeren Pomp wenig empfindlich ist. Seine Erscheinung kontrastierte demnach mit den prachtvollen Kostümen, die sich um ihn drängten, und ebenso zeigte er sich auch gewöhnlich inmitten seiner Eskorte von Georgiern, Kosaken und Lesghiern, jener prächtigen Reiterleibwache in den brillanten Uniformen des Kaukasus.
Jener hochgewachsene Mann mit freundlichem Gesicht, ruhiger Physiognomie, aber bisweilen sorgenvoller Stirn, ging leutselig von einer Gruppe zur anderen, sprach aber wenig und schien selbst weder den heiteren Gesprächen der jüngern Welt eine besondere Aufmerksamkeit zu schenken, noch den ernsteren Worten seiner höchsten Staatsbeamten oder der Mitglieder des diplomatischen Corps, welche die Hauptstaaten Europas an seinem Hofe vertraten. Zwei oder drei dieser scharfsichtigen Politiker – geborene Physiognomiker – glaubten auf dem Antlitz ihres hohen Wirts einige Zeichen von Unruhe bemerkt zu haben, deren Ursache ihnen zwar unerklärlich blieb, aber ohne dass einer derselben sich erlaubt hätte, eingehender danach zu forschen. Auf jeden Fall lag es, daran war gar nicht zu zweifeln, in der Absicht des Offiziers der Gardejäger, durch seine Geheimnisse die Festesfreude in keiner Weise zu beeinträchtigen, und da er einer der seltenen Fürsten war, dem fast eine ganze Welt, sogar im Gedanken, zu gehorchen sich gewöhnt hatte, so wurden auch die Vergnügungen des Balles nicht einen Augenblick unterbrochen.
Indessen wartete General Kissoff von dem Offizier, dem er das Telegramm aus Tomsk überreicht hatte, auf die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, aber jener verharrte in Schweigen. Er hatte das Blatt angenommen, durchlesen und mehr und mehr Wolken lagerten sich auf seine Stirne. Unwillkürlich fasste seine Hand nach dem Degengriff und erhob er diese wieder bis an die Augen, welche er einen Augenblick bedeckte. Es schien, als blende ihn der Schein der tausend Flammen und als suche er etwas Schatten, um besser in sein Inneres blicken zu können.
»Wir sind also«, begann er wieder, nachdem er den General Kissoff in eine Fensternische geführt, »seit gestern ohne alle Verbindung mit dem Großfürsten?«
»Ohne Verbindung, Sire, und es steht zu befürchten, dass die Depeschen bald nicht einmal die Grenze Sibiriens mehr überschreiten können.«
»Aber die Truppen des Amurgebietes, sowie die von Transbaikalien haben die Order empfangen, sofort nach Irkutsk aufzubrechen?«
»Diesen Befehl enthielt das letzte Telegramm, welches über den Baikalsee hinaus zu senden möglich war.«
»Doch mit den Gouvernements Jeniseisk, Omsk, Semipalatinsk und Tobolsk stehen wir seit Beginn des Einfalls stets in direkter Kommunikation?«
»Gewiss, Sire, dahin gelangen unsere Depeschen, und wir sind sicher, dass die Tartaren zur Stunde den Irtysch und Obi noch nicht überschritten haben.«
»Und von dem Verräter Iwan Ogareff hat man noch keine weitere Kunde?«
»Nein«, antwortete General Kissoff, »der Polizeichef vermag nicht zu sagen, ob jener die Grenze überschritten hat oder nicht.«
»Wahrlich, mein Herr, dieses kleine Fest ist reizend.«
»Sein Signalement1 werde sofort nach Nishny-Nowgorod, Perm, Jekaterinburg, Kassimow, Tinmen, Ichim, Omsk, Elamsk, Keliwan, Tomsk und überhaupt nach allen Stationen gesandt, mit denen wir noch in telegrafischem Verkehr stehen.«
»Eure Majestät Befehle werden unverzüglich ausgeführt werden«, erwiderte der General.
»Kein Wort über alles Dieses!«
Nach einem stummen Zeichen ehrfurchtsvoller Ergebenheit verneigte sich der General, mischte sich erst unbefangen unter die Gäste, verließ aber bald die Salons, ohne dass sein Verschwinden irgendwelches Aufsehen erregte.
Der Offizier blieb träumerisch noch kurze Zeit stehen, und als er sich den verschiedenen Gruppen von Diplomaten und Militärs wieder näherte, hatte sein Gesicht die einen Augenblick verlorene Ruhe vollständig wiedergefunden.
Die sehr ernste Ursache jener schnell gewechselten Worte war aber keineswegs so unbekannt, als der Gardejägeroffizier und der General Kissoff glauben mochten. Man sprach zwar nicht offiziell davon, ja nicht offiziös, da die Zungen jetzt noch nicht gelöst waren, aber verschiedene hochgestellte Personen hatten doch mehr oder weniger genaue Berichte erhalten über die Vorgänge jenseits der Grenze.
Was man nur so vom Hörensagen wusste, davon unterhielt man sich nicht, nicht einmal die Mitglieder der Diplomatie untereinander, zwei Eingeladene, welche weder eine Uniform, noch sonst welche Auszeichnung als berechtigt zu dieser Festlichkeit kennzeichnete, sprachen mit gedämpfter Stimme über diese Angelegenheit und schienen sehr genaue Informationen zu besitzen.
Auf welchem Wege, durch welches Zwischenmittel wussten aber diese beiden einfachen Sterblichen das, was andere und selbst sehr einflussreiche Personen kaum mutmaßten? Niemand hätte das sagen können. Waren sie mit einem Vorgefühl oder mit einer Voraussicht begabt? Besaßen sie noch einen sechsten Sinn, der es ihnen ermöglichte, über den begrenzten Horizont hinaus zu blicken, der sonst die Tragweite des Menschenauges abschließt? Hatten sie eine besonders scharfe Witterung, um die geheimsten Neuigkeiten auszuspüren? Sollte sich ihre Natur bei der tief eingewurzelten Gewohnheit, von und durch die Information zu leben, gänzlich verändert haben? Man wurde versucht, das zu glauben.
Diese beiden Männer, der eine Engländer, der andere Franzose, waren lange, hagere Gestalten – dieser gebräunt wie die Südländer der heißen Provence – jener rot, wie ein Gentleman aus Lancashire. Der abgemessene, kalte phlegmatische, mit Bewegungen und Worten haushälterische Anglo-Normane schien nur bei der Auslösung einer Feder zu reden und zu gestikulieren, die von Zeit zu Zeit in ihm wirkte. Der lebhafte, fast ungestüme Gallo-Romane dagegen sprach gleichzeitig mit Lippen, Augen und Händen, und schien seine Gedanken auf zwanzigerlei Art mitzuteilen, während seinem Partner nur eine zu Gebote stand, welche stereotypisch in seinem Hirn fest saß.
Diese physischen Unterschiede hätten des oberflächlichen Beobachters Urteil gewiss leicht irre führen können, der Physiognomiker aber, der diese beiden Persönlichkeiten aus der Nähe beobachtete, hätte den physiologischen Kontrast, der sie charakterisierte, gewiss in die Worte zusammengefasst, dass der Franzose »ganz Auge« und der Engländer »ganz Ohr« sei.
In der Tat hatte sich der Gesichtssinn des einen durch den Gebrauch ganz außerordentlich geschärft. Seine Netzhaut besaß dieselbe Augenblicksempfindlichkeit, wie die der geübten Taschenspieler, welche eine Karte schon beim schnellen Mischen oder an einem so unscheinbaren Zeichen erkennen, dass es jedem anderen zweifellos entgeht. Dieser Franzose besaß also in höchstem Grade das, was man so bezeichnend »das Gedächtnis des Auges« nennt.
Der Engländer im Gegenteil schien ganz speziell organisiert, nur zu hören und in sich aufzunehmen. Traf seinen Gehörapparat der Ton einer Stimme nur ein einziges Mal, so vergaß er diesen niemals mehr und hätte diese Stimme nach zehn, nach zwanzig Jahren unter tausend anderen wieder herausgehört. Seine Ohren besaßen zwar sicherlich nicht das Vermögen, sich so zu bewegen, wie die der Tiere, welche mit sehr entwickelten Ohrmuskeln versehen sind, da die Gelehrten aber außer Zweifel gesetzt haben, dass die äußeren Ohren des Menschen nur »nahezu« unbeweglich sind, so wäre man anzunehmen berechtigt gewesen, dass die des genannten Engländers sich mussten strecken, verschieben und winden können, um die Schallwellen unter den günstigsten Verhältnissen aufzunehmen, sodass einem Sachverständigen ihre Bewegungen wohl nicht entgangen wären.
Es sei gleich hierbei bemerkt, dass diese Vervollkommnung des Gesichts und Gehörs den beiden Männern bei ihrer Beschäftigung sehr zu Statten kam, denn der Engländer war ein Korrespondent des Daily-Telegraph, der Franzose Korrespondent des… ja, welches oder welcher Journale, das sagte er nicht, und wenn man ihn darum fragte, so antwortete er scherzend, er korrespondiere mit »seiner Cousine Madelaine«. Im Grunde war dieser Franzose trotz seines legèren Auftretens ein sehr scharfer Beobachter, und wenn er so in den Tag hinein plauderte, vielleicht um seine eigentliche Absicht desto mehr zu verdecken, so gab er sich doch niemals eine Blöße. Gerade seine Redseligkeit diente ihm dazu, zu schweigen, und wahrscheinlich war er eigentlich verschlossener und diskreter als sein Kollege vom Daily-Telegraph.
Wenn beide diesem in der Nacht von 15. zum 16. Juli im Neuen Palais gegebenen Feste beiwohnten, so geschah das in ihrer Eigenschaft als Journalisten, und zwar zur größten Erbauung ihrer Leserkreise.
Es versteht sich ganz von selbst, dass diese beiden Männer für ihre Mission in der Welt wirklich begeistert waren, dass sie es liebten, sich wie Spürhunde auf die Fährte der unerwartetsten Neuigkeiten zu stürzen, dass Nichts sie zurückschreckte oder abhielt, zu ihrem Ziele zu gelangen, und dass sie das absolut unerregbare, kalte Blut und den wirklichen Mut dieser Helden von der Feder besaßen. Wahrhafte Jockeys dieser Steeplechase,2 dieser Jagd nach Neuigkeiten, sprangen sie über die Hecken, flogen über die Flüsse, setzten über die Hürden mit dem unvergleichlichen Feuereifer jener Vollblutrenner, die entweder die Ersten am Ziele sein oder sterben wollen.
Übrigens geizten ihre Journale nicht mit dem Gelde, jenem bis jetzt sichersten, schnellsten und vollkommensten Mittel, sich zu informieren. Zu ihrer Ehre sei aber hier eingeflochten, dass weder der eine noch der andere je über die Mauer des Privatlebens sah oder horchte, und dass sie nur dann in Tätigkeit traten, wenn politische oder soziale Interessen ins Spiel kamen. Mit einem Worte, sie waren, wie man seit den letzten Jahren zu sagen pflegt, »die großen politischen und militärischen Berichterstatter«.
Indes wird man bei näherer Betrachtung sehen, dass sie die Tatsachen und ihre Konsequenzen meist auf besondere Art und Weise ansahen, da sie eben jeder seine besondere Manier hatten, zu sehen und zu urteilen. Da sie jedoch stets mit Freimut handelten und bei jeder Gelegenheit ihr Möglichstes taten, so würde man Unrecht tun, sie deshalb zu tadeln.
Der französische Korrespondent hieß Alcide Jolivet. Harry Blount war der Name des englischen Reporters. Sie begegneten sich eben zum ersten Male bei dem Feste im Neuen Palais über welches sie ihren Journalen Bericht erstatten wollten. Die Verschiedenheit ihres Charakters in Verbindung mit einer gewissen Geschäftsvorsicht, konnte ihnen nur wenig gegenseitige Sympathie einflößen. Jedoch, sie vermieden sich deshalb nicht, ja, sie suchten sich sogar, um einer dem anderen die Neuigkeiten des Tages abzulocken. Sie waren alles in allem zwei Nimrods, die auf dem nämlichen Gebiete jagten. Was der eine fehlte, konnte ja dem anderen zum Schusse gelegen kommen, und ihr Interesse verlangte es, dass sie immer so weit Fühlung behielten, um einander zu sehen und zu hören.
An diesem Abend befanden sich beide auf dem Anstande. Offenbar lag etwas in der Luft.
»Und wenn’s nur ein Volk Enten wäre«, sagte sich Alcide Jolivet, »einen Flintenschuss wird’s doch wert sein!«
Die beiden Korrespondenten kamen also in ein Gespräch während des Balles, kurze Zeit, nachdem General Kissoff die Salons verlassen hatte, und beide klopften erst gegenseitig auf den Busch.
»Wahrlich, mein Herr, dieses kleine Fest ist reizend!«, begann Alcide Jolivet, mit der liebenswürdigsten Miene von der Welt die Unterhaltung mit dieser ausgesprochen französischen Phrase einleitend.
»Ich habe schon telegrafiert: splendid!«, antwortete frostig Harry Blount mit besonderer Betonung dieses Wortes, welches jeder Bürger des Vereinigten Königreichs als Ausdruck seiner Bewunderung zu gebrauchen pflegt.
»Ich jedoch, fügte Alcide Jolivet hinzu, glaubte meiner Cousine…«
»Ihrer Cousine?…«, wiederholte Harry Blount erstaunt, indem er seinen Kollegen unterbrach.
»Jawohl«, fuhr Alcide Jolivet fort, »ich stehe mit meiner Cousine Madelaine in Briefwechsel, sie hat es gern, schnell alles zu erfahren, meine Cousine!… Ich glaubte ihr also mitteilen zu müssen, dass die Stirn des Souveräns bei diesem Feste doch von einigen Wölkchen beschattet gewesen sei.«
»Mir dagegen schien sie strahlend frei«, antwortete Harry Blount, der wahrscheinlich seine Ansicht über diesen Gegenstand zu verbergen suchte.
»Und in Folge dessen haben Sie sie auch in den Spalten des Daily-Telegraph ›strahlen‹ lassen?«
»Gewiss.«
»Erinnern Sie sich, Herr Blount«, sprach Alcide Jolivet weiter, »was im Jahre 1812 in Zakret vorgekommen ist?«
»So genau, als ob ich dabei gewesen wäre«, erwiderte der englische Reporter.
»Nun«, sagte Alcide Jolivet, »so ist Ihnen bekannt, dass man bei einem dem Kaiser Alexander zu Ehren gegebenen Feste diesem die Nachricht brachte, dass Napoleon mit der französischen Vorhut soeben den Niemen überschritten habe. Der Kaiser verließ jedoch das Fest nicht, trotz der Wichtigkeit dieser Nachricht, die ihm seine Herrschaft kosten konnte, und bekämpfte äußerlich jede Unruhe…«
»So wenig wie unser Wirt eine solche zeigte, als ihm General Kissoff die Meldung machte, dass die telegrafischen Verbindungen zwischen der Grenze und dem Gouvernement von Irkutsk unterbrochen seien.«
»Ah, Sie kennen diese Einzelheiten?«
»Ich kenne sie.«
»Ich muss wohl davon unterrichtet sein, da mein letztes Telegramm bis Udinsk gelangt ist, bemerkte Alcide Jolivet mit einer gewissen Genugtuung.«
»Und die meinigen nur bis Krasnojask«, erwiderte Harry Blount etwas unwirsch.
»So wissen Sie auch, dass schon Befehle an die Truppen von Nicolajewks abgegangen sind?«
»Jawohl, mein Herr, gleichzeitig, als man den Kosaken des Gouvernements Tobolsk telegrafisch die Order zugehen ließ, sich zu sammeln.«
»Sehr richtig, Herr Blount, auch diese Maßnahmen sind mir vollkommen bekannt, und glauben Sie, meine liebenswürdige Cousine wird schon morgen Einiges davon zu erzählen wissen.«
»Ganz so wie die Leser des Daily-Telegraph davon unterrichtet sein werden, Herr Jolivet.«
»Das kommt davon, wenn man alles sieht, was ringsum vorgeht…«
»Und wenn man alles hört, was gesprochen wird!«
»Da wird’s einen interessanten Feldzug zu verfolgen geben.«
»Dem ich mich anschließe, Herr Jolivet.«
»O, dann kann sich’s treffen, dass wir uns auf einem minder sicheren Terrain, als das Parkett dieses Saales, wieder begegnen.«
»Wohl einem minder sicheren, aber auch…«
»Einem weniger glatten!«, antwortete Alcide Jolivet, der seinen Kollegen in den Armen auffing, als dieser eben beim Rückwärtsgehen fast umgefallen wäre.
Später trennten sich die beiden Kollegen, ganz zufrieden, zu wissen, dass keiner dem anderen um eine Nasenlänge voraus war.
Jetzt sprangen die Türen der anstoßenden Säle auf. Dort zeigten sich verschiedene große und prächtig servierte Tafeln, schwer beladen mit kostbarem Porzellan und goldenen Gefäßen. Auf der mittelsten, für die Prinzen, Prinzessinnen und die Mitglieder des diplomatischen Corps reservierten Tafel glänzte ein Tafelaufsatz von unschätzbarem Werte aus Londoner Werkstätten und rund um dieses Meisterwerk der Juwelierarbeit spiegelten sich unter dem Glanze der Lustres3 die unzähligen Stücke des herrlichsten Geschirrs, das jemals die Manufakturen von Sèvres verlassen hatte.
Die Gäste des Neuen Palais begaben sich nach den Speisesälen.
In diesem Augenblicke näherte sich der General Kissoff, der inzwischen zurückgekehrt war, rasch dem Offizier der Gardejäger.
»Nun, wie steht’s?«, fragte dieser lebhaft.
»Die Telegramme gehen nicht über Tomsk hinaus, Sire.«
»Sofort einen Kurier!«
Der Offizier verließ den großen Saal und zog sich in ein daneben liegendes großes Gemach zurück. Es war das ein mit Eichenmöbeln sehr einfach ausgestattetes Arbeitskabinett an einer Ecke des Neuen Palais. Einige Bilder, darunter einzelne Ölgemälde von Horace Vernet, hingen an den Wänden.
Der Offizier riss schnell ein Fenster auf, als habe es seinen Lungen an Sauerstoff gemangelt, und sog auf einem mächtigen Balkon die laue Luft der schönen Julinacht ein.
Vor seinen Augen breitete sich, in sanftes Mondlicht gebadet, eine Art Festungswerk aus, in welchem sich zwischen zwei Kathedralen drei Paläste und ein Arsenal erhoben. Rings um dasselbe die bestimmt unterschiedenen Städte: Kital-Gorod, Boloï-Gorod und Zemlianoï-Gorod, das ungeheure europäische, tartarische und chinesische Quartier, überragt von Türmen und Minaretts, von den Kuppeln der dreihundert Kirchen mit ihren grünen Dächern und dem silbernen Kreuz darauf. Ein kleiner Fluss mit vielgewundenem Laufe glänzte manchmal in den Strahlen des Mondes. Das Ensemble bildete eine wunderbare, verschieden gefärbte Mosaik, welche ein zehn Stunden langer Rahmen umschloss.
Dieser Fluss war die Moskowa, diese Stadt war Moskau, jenes Festungswerk war der Kreml und jener Offizier der Gardejäger, der mit gekreuzten Armen und träumerischer Stirn nur halb den Lärmen des Festes hörte, der sich aus dem Neuen Palais über die alte Stadt der Moskowiter verbreitete – das war der Zar.
Der Offizier sog auf einem mächtigen Balkon die laue Luft ein.
Steckbrief <<<
Steeplechase (etwa: Kirchturmjagd) ist eine im Vereinigten Königreich, Tschechien, den USA, Frankreich und Irland verbreitete Art des Pferderennens. Bei einer Steeplechase müssen die verschiedensten natürlichen Hindernisse wie Zäune, Gräben und anderen Arten von Hindernissen übersprungen werden. <<<
Lüster, Kronleuchter <<<
Wenn der Zar so unerwartet und gerade in dem Augenblicke, als das Fest, welches er den Spitzen der Zivil- und Militärbehörden gab, in schönstem Glanze strahlte, die Salons des Neuen Palais verließ, so kam das daher, das sich jenseits des Ural sehr wichtige Ereignisse vorbereiteten. Es war gar nicht zu bezweifeln: eine furchtbare Invasion drohte die sibirischen Provinzen der russischen Autonomie zu entziehen.
Das asiatische Russland oder Sibirien bedeckt eine Oberfläche von 560.000 Quadratmeilen (französische Lieues) und zählt etwa zwei Millionen Einwohner. Es erstreckt sich von dem Gebirgszuge des Ural, der es von dem europäischen Russland trennt, bis nach dem Gestade des Pazifischen Ozeans.
Nach Süden zu schließt es Turkestan und das Chinesische Reich mit einer häufig unbestimmten Grenze ab, im Norden der arktische Ozean von dem Karameere bis zur Behringstraße. Es wird in Gouvernements oder Provinzen geteilt, nämlich in die von Tobolsk, Jeniseisk, Irkutsk, Omsk, und Jakutsk, ferner umfasst es zwei Distrikte, die von Oksotsk und von Kamschatka, und besitzt endlich zwei Länder, welche jetzt dem moskowitischen Szepter untertan sind, das Land der Kirghisen und das Land der Tschuktschen.
»Ja, General, ich will Dir auch sagen, was Du noch nicht weißt.«
Diese ungeheure Strecke von Steppen, in der Längenausdehnung über 110 Graden von Westen nach Osten umfassend, bildet einen Deportationsort für Verbrecher das Exil für diejenigen welche ein Ukas mit Verbannung belegte.
Zwei Generalgouverneure vertreten die Oberherrschaft des Zaren in diesem weiten Reiche. Der eine residiert in Irkutsk, der Hauptstadt des westlichen Sibiriens. Der Tchuma, ein Nebenfluss des Jenisei, trennt die beiden Hälften des Territoriums.
Noch furcht keine Eisenbahn diese unendlichen Ebenen, unter denen einige ausnehmend fruchtbar sind, kein Schienenweg entlastet die reichen Minen, welche bei ihrer Ausdehnung über große Strecken den Boden Sibiriens unter der Erde kostbarer erscheinen lassen, als auf der Oberfläche. Im Sommer reist man daselbst im Tarantass, im Winter im Schlitten.
Die einzige Verbindung, aber eine elektrische, verknüpft die beiden Grenzen im Westen und im Osten Sibiriens durch einen Draht, der nicht weniger als 8000 Werst1 lang ist. Nach Überschreitung des Ural passiert er Jekaterinburg, Kassimow, Tiumen, Ichim, Omsk, Elamsk, Kolywan, Tomsk, Krasnojarsk, Nishny, Udinsk, Irkutsk, Verkne-Nertschinsk, Strelink, Albazine, Blagowestenks, Radde, Orloneskaga, Alexandrowskoë, Nicolajewsk, und kostet jedes bis an das äußerste Ende zu befördernde Wort 6 Rubel 19 Kopeken (= fast genau 20 Mark oder 10 österreichische Gulden). Von Irkutsk aus verläuft eine Zweigleitung nach Kjachta an der mongolischen Grenze, von wo aus die Depeschen, das Wort für 30 Kopeken (= 96,7 Pf. oder 48,3 Kreuzer), in weiteren vierzehn Tagen bis Peking befördert werden.
Jene Drahtleitung war zuerst zwischen Jekaterinburg und Nicolajewek, nachher vor Tomsk und einige Stunden später zwischen Tomsk und Kolywan durchschnitten worden.
Eben deshalb hatte der Zar, nach der zweiten Mitteilung, welche General Kissoff ihm machte, nur geantwortet: »Sofort einen Kurier!«
Seit kurzer Zeit stand nun der Zar bewegungslos am Fenster seines Kabinetts, als die Huissiers wiederum dessen Türen öffneten. Der erste Chef der Polizei erschien auf der Schwelle.
»Tritt ein«, sagte der Zar kurz, »und teile mir alles mit, was Du über Iwan Ogareff weißt.«
»Es ist das ein sehr gefährlicher Mann, Sire, erwiderte der hohe Polizeibeamte.«
»Er hatte den Rang eines Obersten?«
»Ja, Sire.«
»Und war ein intelligenter Offizier?«
»Gewiss, sehr intelligent, aber unmöglich zu zügeln und von sinnlosem Ehrgeiz, der vor nichts zurückschreckte. Er verwickelte sich sehr bald in verschiedene Intrigen und wurde damals von Seiner Kaiserlichen Hoheit dem Großfürsten erst degradiert und später nach Sibirien verwiesen.«
»Wann ungefähr?«
»Vor etwa zwei Jahren. Nach sechsmonatlicher Verbannung durch Eure Majestät Gnade erlöst, kehrte er nach Russland zurück.«
»Und seit dieser Zeit wandte er sich nicht wieder nach Sibirien?«
»Doch, Sire, aber diesmal kehrte er freiwillig dahin zurück«, antwortete der Chef der Polizei.
Dann fügte er mit etwas zurückgehaltener Stimme hinzu: »Es gab eine Zeit, Sire, da man nicht zurückkehrte, wenn man nach Sibirien ging!«
»Mag sein, so lange ich lebe, soll aber Sibirien ein Land sein, aus dem man auch wiederkehrt!«
Der Zar hatte wohl ein Recht, auf diese Worte einen besonderen Ausdruck zu legen, denn wiederholt hatte er durch seine Milde bewiesen, dass die russische Justiz auch zu verzeihen vermöge.
Der Polizeichef erwiderte nichts, aber offenbar war er kein Freund von halben Maßregeln. Seiner Ansicht nach durfte keiner, der den Ural unter Bedeckung von Gendarmen überschritten hatte, jemals daran denken, es noch einmal zu tun. Anders war es aber jetzt unter der neuen Regierung, und der Chef der Polizei bedauerte das aufrichtig. Wie! Es sollte keine andere Verbannung auf Lebenszeit mehr geben, als für Verbrechen gegen das gemeine Recht? Politische Sträflinge kehrten von Tobolsk, von Jakutsk, von Irkutsk in das Vaterland zurück? Wahrlich, der Polizeichef, gewöhnt an die autokratischen Ukase,2 welche jede Amnestie ausschlossen, konnte sich mit dieser Art und Weise zu regieren niemals aussöhnen. Doch er schwieg und wartete es ab, dass der Zar ihn weiter fragen werde.
Das ließ nicht lange auf sich warten.
»Ist Iwan Ogareff«, begann der Zar, »nach dieser Reise nach den sibirischen Provinzen, einer Reise übrigens, deren eigentlicher Zweck wohl unerkannt blieb, nicht auch ein zweites Mal nach Russland gekommen?«
»Gewiss, Sire.«
»Und seit dieser Rückkehr hat die Polizei seine Spur verloren?«
»O nein, denn ein Verbannter wird von dem Tage seiner Begnadigung an erst gefährlich!«
Über die Stirn des Zaren flog eine leichte Wolke. Vielleicht fürchtete der Polizeichef etwas zu weit gegangen zu sein, obwohl das Festhalten seiner Ideen gewiss nicht größer und stärker war, als seine unbegrenzte Ergebenheit gegen seinen Herrn. Der Zar aber, der solche indirekte Vorwürfe bezüglich seiner innern Politik unbeachtet ließ, fuhr einfach in seiner Fragestellung fort: »Und wo befand sich Iwan Ogareff zuletzt?«
»Im Gouvernement von Perm.«
»In welcher Stadt?«
»In Perm selbst.«
»Was tat er daselbst?«
»Er schien unbeschäftigt und erregte durch seine Lebensweise keinerlei Verdacht.«
»Er stand nicht unter polizeilicher Aufsicht?«
»Nein, Sire.«
»Zu welcher Zeit hat er Perm verlassen?«
»Etwa im März.«
»Und wandte sich wohin?«
»Das ist mir unbekannt.«
»Seit dieser Zeit weiß man auch nicht, was aus ihm geworden ist?«
»Niemand weiß es.«
»Recht schön, aber ich, ich weiß es!«, antwortete der Zar. »Geheime Nachrichten, welche die Büros der Polizei nicht passierten, sind an mich gelangt, und in Berücksichtigung der Tatsachen, welche sich jetzt jenseits der Grenze vollziehen, habe ich allen Grund, an die Richtigkeit derselben zu glauben!«
»Wollen Sie damit sagen, Sire«, rief der Polizeichef, »dass Iwan Ogareff bei der Tartaren-Invasion die Hand im Spiele habe?«
»Ja, General, und ich will Dir auch sagen, was Du noch nicht weißt, Iwan Ogareff überschritt, nachdem er das Gouvernement Perm verlassen, den Ural. Er begab sich nach Sibirien, in die Steppen der Kirghisen, und hat dort nicht ohne Erfolg die Nomadenvölker aufzuwiegeln gesucht. Darauf hat er sich weiter nach Süden, bis nach dem unabhängigen Turkestan begeben. Dort fand er in den Khanaten von Bukhara, Khokhand und Kunduz Häuptlinge, welche bereit waren, ihre Tartarenhorden in die sibirischen Provinzen zu werfen und einen allgemeinen Aufstand gegen die russische Herrschaft in Asien hervorzurufen. Die ganze Bewegung ist sehr geheim geschürt worden, sie bricht aber jetzt wie ein Donnerschlag aus und schon sind alle Wege und Kommunikationsmittel zwischen dem östlichen und dem westlichen Sibirien abgeschnitten! Dazu trachtet Iwan Ogareff, von Rache getrieben, meinem Bruder nach dem Leben!«
Als er so sprach, war der Zar erregter geworden und ging mit raschen Schritten auf und nieder. Der erste Chef der Polizei erwiderte kein Wort, aber er sagte sich, dass Iwan Ogareffs Pläne zur Zeit, als die Selbstherrscher aller Reußen niemals einen Exilierten begnadigten, nicht hätten zur Reise gedeihen können.
Still vergingen einige Augenblicke, dann näherte er sich dem Zaren, der sich in einen Fauteuil3 geworfen hatte.
»Eure Majestät«, sagte er, »haben unzweifelhaft Befehl gegeben, dass dieser Einfall so schnell als möglich zurückgewiesen wird?«
»Ja«, antwortete der Zar. »Das letzte Telegramm, das Nishny-Udinsk hat erreichen können, hat auch die Truppen der Gouvernements Jeniseisk, Irkutsk und Jakutsk, sowie diejenigen der Amurprovinzen und des Baikalsees in Bewegung setzen müssen. Gleichzeitig ziehen die Regimenter von Perm und Nishny-Nowgorod in Eilmärschen nach der Grenze am Ural, leider brauchen sie aber mehrere Wochen, bevor ein Zusammentreffen mit den Tartarenhorden möglich ist!«
»Und Eure Majestät Bruder, Seine kaiserliche Hoheit der Großfürst, der in diesem Augenblicke allein im Gouvernement Irkutsk weilt, steht mit Moskau in keiner direkten Verbindung mehr?«
»Nein.«
»Er muss aus den letzten Depeschen aber die Maßregeln Eure Majestät erfahren haben und auch wissen, welche Hilfe er aus den Irkutsk zunächst gelegenen Gouvernements zu erwarten hat?«
»Das ist ihm bekannt, erwiderte der Zar, er weiß aber nicht, dass Iwan Ogareff sich unter falschem Namen bei ihm zu dienen anbieten wird. Gelang es ihm dann, sein Vertrauen zu gewinnen, so wird er, wenn die Tartaren Irkutsk angreifen, die Stadt ausliefern, nebst meinem Bruder, dessen Leben unmittelbar bedroht ist. Das sind die Nachrichten, welche ich erhielt, die aber der Großfürst nicht kennt und folglich sofort erfahren muss!«
»Nun wohl, Sire, ein tüchtiger, mutiger Kurier…«
»Den erwarte ich.«
»Und beeilen muss er sich«, fügte der Chef der Polizei hinzu, »denn Sie gestatten mir auszusprechen, Sire, dass dieses ganze Sibirien zur Rebellion sehr geneigt ist!«
»Glaubst Du, General, dass die Sträflinge mit den Feinden gemeinschaftliche Sache machen könnten?«, rief der Zar, der bei dieser Andeutung des Polizeichefs ganz außer sich geriet.
»Verzeihung, Majestät!…«, entgegnete stammelnd der Chef des Polizeiwesens, denn wirklich war das der Gedanke gewesen, der in seinem unruhigen und misstrauischen Kopfe aufgestiegen war.
»Ich traue den Verbannten mehr Vaterlandsliebe zu!«, erwiderte der Zar.
»In Sibirien befinden sich auch andere Sträflinge, als die politischen Verbannten«, antwortete der Polizeichef.
»Die Verbrecher! O, General, die überlasse ich Dir! Das ist der Auswurf des menschlichen Geschlechts, diese haben überhaupt kein Vaterland. Die Erhebung, oder vielmehr der Einfall, ist aber nicht gegen den Kaiser gerichtet, sondern gegen Russland, gegen die Heimat, welche die Verbannten doch noch einmal wieder zu sehen hoffen, und die sie wieder sehen werden!… Nein, Nein, nie wird ein Russe sich auch nur eine Stunde lang mit einem Tartaren verbinden, um die moskowitische Macht zu untergraben und zu schwächen!«
Der Zar war berechtigt, an den Patriotismus derjenigen zu glauben, die seine Politik zeitweilig verbannt hatten. Jene Milde, der Grundzug seiner Justiz, wenn er dieselbe selbst handhabte, die weitgehenden Erleichterungen bei Ausführung der früher so schrecklichen Ukase garantierten ihm, dass er sich hierin nicht täusche. Aber auch ohne diese mächtige Beihilfe zu einem Erfolge der Tartaren-Invasion gestaltete sich die Sachlage überaus ernst, denn es stand mindestens zu befürchten, dass sich ein großer Teil der Kirghisenbevölkerung den Angreifern anschließen werde.
Die Kirghisen zerfallen in drei Horden, die Große, die Kleine und die Mittlere, und zählen etwa 40.000 »Zelte«, d. h. gegen 2.000.000 Seelen. Von diesen verschiedenen Tribus sind die einen ganz unabhängig, andere erkennen entweder die russische Oberhoheit an, oder die der Khanate von Khiwa, Khokhand oder Bukhara, d. h. der mächtigsten Häuptlinge von Turkestan. Die Mittlere Horde, die rechte, ist übrigens auch die bedeutendste und ihre Lager bedecken den ganzen Raum zwischen den Wasserläufen des Sora-Su, des Irtysch, des oberen Thim und dem Hadisang- und Aksakalsee. Die Große Horde, welche die östlich von der Mittleren gelegenen Gegenden bewohnt, dehnt sich bis zu den Gouvernements Omsk und Tobolsk aus. Empörten sich diese Kirghisenvölker, so überschwemmten sie das asiatische Russland und rissen Sibirien östlich vom Jenisei los.
Zwar sind diese Kirghisen nur Neulinge in der Kriegskunst und weit mehr nächtliche Räuber oder gewohnt, die Karawanen zu überfallen, als reguläre Soldaten. Levchine sagte von ihnen: »Eine geschlossene Front oder ein Quarré4 tüchtiger Infanterie widersteht einer zehnfach größeren Anzahl Kirghisen und eine einzige Kanone richtet sie in Massen zu Grunde.«
Das mag wohl wahr sein, aber erst ist es doch nötig, dass ein Quarré Infanterie in dem empörten Lande bei der Hand sei und dass die Feuerschlünde die Artillerieparks der russischen Provinzen verlassen, welche immerhin zwei- bis dreitausend Werst entfernt sind. Außer auf der direkten Straße von Jekaterinburg nach Irkutsk sind aber die häufig sumpfigen Steppen nur schwierig passierbar, und mehrere Wochen mussten unzweifelhaft vergehen, bevor die russischen Truppen in die Lage kamen, die Tartarenhorden zu Paaren zu treiben.
Omsk, das Zentrum der Militärorganisation von Westsibirien, dazu bestimmt, die Kirghisenbevölkerung in Respekt zu erhalten. Dort verlaufen die Grenzen, welche die halbunterjochten Nomaden wiederholt verletzt haben, und im Kriegsministerium nahm man nicht ohne Ursache an, dass Omsk schon sehr bedroht sei.
»Verzeihung, Majestät!«
Die Linie der Militärkolonien, d. h. der Kosakenposten, welche von Omsk bis Semipalatinsk verteilt sind, war gewiss an verschiedenen Punkten durchbrochen, und es stand zu befürchten, dass die »Großsulta ne«, welche die Kirghisendistrikte regieren, entweder freiwillig oder gezwungen die Herrschaft der Tartaren, Muselmänner so wie sie selbst anerkannten und dabei der durch ihre Botmäßigkeit schon genährte Hass sich durch den Antagonismus der muselmännischen und griechischen Religion verstärkte.
Schon seit langer Zeit suchten tatsächlich die Tartaren von Turkestan, und vor Allen die aus den Khanaten von Bukhara, Khiwa und Khokhand, durch Gewalt ebenso, wie durch Überredung, die Kirghisenhorden dem moskowitischen Szepter zu entreißen.
Über diese Tartaren nur einige Worte.
Speziell gehören die Tartaren zu zwei verschiedenen Rassen, der kaukasischen und der mongolischen Menschenrasse.
Die kaukasische Rasse, diejenige, von der A. von Rémusat sagt, »dass sie in Europa als der Typus der Schönheit unserer Menschenklassen angesehen wird, weil alle Völker dieses Erdteiles von ihr abstammen«, umfasst unter demselben Namen die Türken und die Eingebornen persischer Abkunft.
Die rein mongolische Rasse finden wir bei den Mongolen, den Mandschus und Thibetanern.
Die Tartaren, welche damals das russische Reich bedrohten, gehörten zur kaukasischen Rasse und waren vorzüglich in Turkestan zu Hause. Dieses weite Gebiet wird in verschiedene Staaten geteilt, welche von Khans, daher auch der Name Khanat, regiert werden. Die wichtigsten Khanate sind die von Bukhara, Khokhand, Kunduz usw.
Das Khanat von Bukhara war jener Zeit das einflussreichste und mächtigste. Schon mehrmals hatte Russland Krieg geführt mit seinen Häuptlingen, welche aus persönlichem Interesse und um sie unter ihr Joch zu beugen, die Unabhängigkeit der Kìrghisen gegen die moskowitische Herrschaft verteidigten. Der dermalige Häuptling, Feofar-Khan, folgte ganz den Fußstapfen seiner Vorgänger.
Dieses Khanat von Bukhara erstreckt sich von Süden nach Norden vom 37. bis zum 41. Breitengrade, von Osten nach Westen vom 61. bis 66. Längengrade, d. h. über eine Fläche von gegen 10.000 Quadratmeilen.
Die Bevölkerung des Staates schätzt man auf 2.500.000 Einwohner mit einer Armee von 60.000 Mann Fußvolk, welches in Kriegszeiten auf das Dreifache verstärkt wird, und etwa 30.000 Reitern. Es ist ein reiches Land mit großen Schätzen aus dem Tier-, Pflanzen- und Mineralreiche, und noch durch den Hinzutritt der Territorien von Balkh, Aukoï und Meïmaneh nicht unwesentlich vergrößert. Es besitzt neunzehn bemerkenswerte Städte Bukhara, umschlossen von einer acht englischen Meilen langen und von Türmen flankierten Mauer, eine berühmte Stadt, deren schon die Ovirennas und andere Gelehrte des 10. Jahrhunderts erwähnen, wird als Mittelpunkt muselmännischer Wissenschaft betrachtet und zu den Hauptplätzen Zentralasiens gerechnet, Samarkand, mit dem Grabe Tamerlans und jenem berühmten Palaste mit dem blauen Stein darin, auf welchen sich jeder Khan bei Antritt seiner Regierung setzen muss, wird von einer ungemein starken Zitadelle verteidigt, Karschi mit seiner dreifachen Mauer und gelegen in einer Oase mit sumpfiger, von Schildkröten und Eidechsen wimmelnden Umgebung, erscheint fast uneinnehmbar, Tscharoschui wird von einer Volksmenge von fast 20.000 Seelen verteidigt, endlich Katta-Kurgan, Nurata, Djizah, Païkande, Karakul, Khuzar und andere – sie alle bilden einen Kranz von schwer zu bändigenden Städten. Dieses durch seine Berge geschützte und durch seine Steppen isolierte Khanat von Bukhara ist demnach ein in Wahrheit zu fürchtender Staat, und Russland muss ihm stets nicht unbeträchtliche Streitkräfte entgegenwerfen. Damals beherrschte nun der ehrgeizige und wilde Feofar diesen Winkel der Tartarei. Gestützt auf die anderen Khans – vorzüglich die von Khokhand und von Kunduz, zwei grausame und beutegierige Kriegsmänner, welche stets bereit waren, sich zu beteiligen, wo es ihr Interesse galt – und unter Mitwirkung der Häuptlinge, welche alle die Horden in Zentralasien befehligten, stellte er sich an die Spitze dieser Invasion, deren eigentliche Seele Iwan Ogareff war. Dieser Verräter hatte, getrieben durch einen sinnlosen Ehrgeiz und gestachelt von wildem Hasse, die Bewegung so geleitet, dass man zuerst die große sibirische Straße in seine Gewalt bekam. In Wahrheit ein Tollhäusler, glaubte er die russische Macht brechen zu können, und auf seine Anordnung überschritt der Emir, es ist das der Titel, den sich die Khans von Bukhara ausnehmend beilegen, die russische Grenze. Er fiel in das Gouvernement Semipalatinsk ein, woselbst die zu schwachen Kosakenposten sich vor seiner Übermacht hatten zurückziehen müssen. Sogar über den Balkhachsee drang er vor und riss die Kirghisenbevölkerung mit sich fort. Raubend, sengend und brennend, wälzte sich der Schwarm von Stadt zu Stadt. Wer sich unterwarf, ward eingereiht ins Herr, wer Widerstand leistete, umgebracht. So drang er vor, gefolgt von den unausbleiblichen Anhängseln eines orientalischen Souveräns, seiner aus den Frauen und Sklaven bestehenden Hausdienerschaft – immer mit der gedankenlosen Tollkühnheit eines modernen Gengis-Khan.
Wo stand er in diesem Augenblicke? Bis wohin waren seine Scharen zu der Stunde vorgedrungen, als die Nachricht von dem Einfall nach Moskau gelangte?
Bis zu welchem Punkte in Sibirien hatten die russischen Truppen zurückweichen müssen? Niemand vermochte das zu sagen. Die Verbindungen waren gestört. Hatten den Draht zwischen Kolywan und Tomsk aber nur einige Reiter aus der Vorhut der Tartarenarmee zerschnitten oder überzog schon der Emir selbst die Provinzen von Jeniseisk? Stand das ganze südliche Westsibirien in Flammen? Reichte die Empörung schon bis nach den Gebieten im Osten? Keiner wusste es. Der einzige Kundschafter, der weder die Kälte noch die Hitze fürchtet, weder die Rauigkeit des Winters, noch die verdorrende Glut des Sommers, und der dahin fliegt mit der rasenden Schnelligkeit des Blitzes, der elektrische Funke, konnte nicht mehr durch die Steppen laufen, war außerstande, den Großfürsten zu benachrichtigen von der Gefahr, die ihm in Irkutsk durch den Verrat Iwan Ogareffs bedrohte.
Nur ein Kurier konnte den unterbrochenen Strom einigermaßen ersetzen. Dieser Mann bedurfte einer gewissen Zeit, um die 5200 Werst (= 5523 Kilometer) von Moskau bis Irkutsk zurückzulegen. Er musste, um die Haufen der Rebellen und der Feinde zu durchbrechen, einen sozusagen übermenschlichen Mut und eben solche Klugheit entwickeln. Doch, mit Kopf und Herz kommt man ja weit!
»Werde ich diesen Kopf und dieses Herz finden?«, fragte sich der Zar.
Russ. Wegmaß, 1 Werst enspricht etwa 1 km <<<
Ein Ukas war im Zarentum Russland und im Russischen Kaiserreich ein Erlass der zaristischen und kaiserlichen Regierung bzw. der orthodoxen Kirchenführung mit Gesetzeskraft. <<<
Lehnstuhl, Lehnsessel oder Armsessel <<<
hier: Gruppe, Aufgebot <<<
Bald öffnete sich die Tür des kaiserlichen Kabinetts und der Huissier1 meldete den General Kissoff.
»Nun, der verlangte Kurier?«, fragte rasch der Zar.
»Ist schon da, Sire«, antwortete der General.
»Du hast einen geeigneten Mann gefunden?«
»Ich wage, mich Eure Majestät dafür zu verbürgen.«
»Stand er in Palastdiensten?«
»Ja, Sire.«
»Du kennst ihn?«
»Persönlich: und mehrmals hat er schon schwierige Missionen zur Zufriedenheit ausgeführt.«
»Im Auslande?«
»Gerade in Sibirien.«
»Woher ist er?«
»Aus Omsk, also selbst ein Sibirier.«
»Er besitzt kaltes Blut, Intelligenz und Mut?«
»Gewiss, Sire, er besitzt alle Eigenschaften, auch da zu reüssieren, wo andere vielleicht scheitern könnten.«
»Wie alt?«
»Dreißig Jahre.«
»Es ist ein gesunder, kräftiger Mann?«
»Sire, er vermag Frost, Hunger, Durst und Anstrengung bis zum Äußersten zu ertragen.«
»Er hat einen Körper von Stahl?«
»Ohne Zweifel, Sire.«
»Und ein Herz?…«
»Ein Herz von Gold.«
»Sein Name?«
»Michael Strogoff.«
»Ist er bereit abzureisen?«
»Im Saale der Garden erwartet er Eure Majestät Befehle.«
»Er soll hierher kommen«, sagte der Zar.
Einige Augenblicke später trat Michael Strogoff in das Kabinett des Kaisers ein.
Michael Strogoff war hochgewachsen, kräftig, hatte breite Schultern und eine volle Brust: Sein mächtiger Kopf zeigte die besten Merkmale kaukasischer Rasse. Seine wohlgebildeten Gliedmaßen erschienen wie eben so viel mechanische Hebel zur sicheren Ausführung kräftiger Bewegungen. Der äußerlich ansprechende Mann mit gewinnendem Auftreten schien nicht leicht wider Willen aus seiner Stellung gebracht werden zu können, denn wenn er seine Füße auf den Boden gesetzt hatte, schienen sie schon mehr darin zu wurzeln. Auf seinem nicht eben kleinen Kopf mit breiter Stirn kräuselte sich üppiges Haar, das in Locken herabfiel, wenn er es mit der moskowitischen Mütze bedeckte. Veränderte sich sein gewöhnlich etwas blasses Gesicht, so geschah das nur, wenn ihm das Herz schneller schlug, unter dem Einflusse einer beschleunigten Blutzirkulation, welche jenes lebhafter färbte. Seine tiefblauen Augen mit geradem, offenem und sicherem Blicke glänzten unter dem vollen Bogen der durch ihre Muskeln etwas zusammengezogenen Augenbrauen und verrieten seinen Mut, »jenen Mut ohne Zorn, den die Helden besitzen«, wie die Physiologen sagen. Seine nicht zu kleine Nase beherrschte einen symmetrischen Mund mit ein wenig hervorspringenden Lippen, jenem Zeichen eines edelmütigen und guten Charakters.
Michael Strogoff besaß das Temperament des entschiedenen Mannes, der seinen Entschluss schnell zu fassen gewöhnt ist, der nicht in der Ungewissheit die Nägel zernagt, sich nicht im Zweifel hinter den Ohren kraut und nicht unentschlossen mit den Füßen stampft. Karg in Bewegungen und Worten, stand er vor seinem Vorgesetzten still wie ein Soldat, wenn er jedoch ging, so zeigte seine Haltung eine große Leichtigkeit, eine auffallende Sicherheit der Bewegungen – ein Zeichen des Selbstvertrauens und der Lebhaftigkeit seines Geistes. Er gehörte zu den Leuten, die immer etwas vorzuhaben scheinen und die Ausführung nicht zu verzögern pflegen.
Michael Strogoff trug eine elegante Uniform, ähnlich jener des Offiziercorps der berittenen Feldjäger, Stiefeln, Sporen, anliegende Beinkleider und einen pelzverbrämten Dolman mit gelben Schnüren auf braunem Grunde. Auf seiner breiten Brust glänzten ein Kreuz und verschiedene Medaillen.
Michael Strogoff gehörte zu der Spezialabteilung der Kuriere des Zaren und stand bei dieser Elitetruppe in Offiziersrang. Ganz zweifellos erkannte man an seinem Gange, seiner Physiognomie, seiner ganzen Person, und leicht genug erkannte es auch der Zar, dass dieser Mann gewöhnt war, einem erhaltenen Befehl unbedingt nachzukommen. Er besaß also eine der in Russland schätzenswertesten Eigenschaften, eine Eigenschaft, welche nach Aussage des berühmten Schriftstellers Turgenjew, im Moskowitenreiche die Staffel nach den höchsten Ehrenstellen bildet.
Gewiss, wenn einer diese Reise von Moskau nach Irkutsk glücklich vollenden, in jenem empörten Gebiete alle Hindernisse besiegen, alle Gefahren überwinden konnte, so war es Michael Strogoff.
Ein für das Gelingen jenes Vorhabens sehr günstiger Umstand war es, dass Michael Strogoff das zu durchziehende Land vollkommen kannte und die verschiedenen Sprachen desselben verstand, nicht weil er jenes schon bereist hatte, sondern weil er, wie erwähnt, von Geburt selbst Sibirier war.
Sein Vater, der vor zehn Jahren verstorbene Peter Strogoff, bewohnte die in dem gleichnamigen Gouvernement gelegene Stadt Omsk, woselbst seine Mutter, Marfa Strogoff, noch jetzt lebte. Dort, in jenen wilden Steppen der Provinzen Omsk und Tobolsk, war es, wo der furchtbare sibirische Jäger seinen Sohn Michael »verstählt« hatte, wie der landläufige Ausdruck hieß. Sommer und Winter, im glühenden Sonnenbrande, wie in der grimmigsten Kälte, streifte er über die endlosen Ebenen, durch die Lärchen- und Weidengebüsche, durch die düstern Kiefernwälder, legte seine Fallen aus, verfolgte das kleinere Wild mit dem Gewehre, das große mit dem Spieße und dem Waidmesser. Unter großem Wilde verstand man hierbei den sibirischen Bären, eine furchtbare und sehr wilde Art, welche an Größe ihren Verwandten in den Polargegenden vollständig gleichkommt. Peter Strogoff hatte mehr als neununddreißig Bären erlegt, das will sagen, dass auch schon der vierzigste unter seiner Hand gefallen war – und man weiß ja, wenn den Jagdgeschichten aus Russland einigermaßen zu trauen ist, wie viele Jäger bis zum neununddreißigsten Bären glücklich davon kamen und beim vierzigsten unterliegen mussten!
Peter Strogoff hatte diese Unglückszahl also überschritten, ohne auch nur eine Schramme davon zu tragen. Von da ab unterließ es der damals elfjährige Michael Strogoff niemals, seinen Vater bei den Jagdausflügen zu begleiten, wobei er die »Ragatina« trug, d. h. eine Art Gabelspieß, um seinem Vater, der meist nichts als ein Messer bei sich führte, im Notfall zu Hilfe zu kommen. Mit dem vierzehnten Jahre hatte Michael Strogoff seinen ersten Bären erlegt, und zwar ganz allein, was nicht so gar viel heißen will, nachdem er diesen aber abgezogen, hatte er auch das Fell des riesigen Tieres bis nach dem mehrere Werst entfernten väterlichen Hause geschleppt – was bei dem Kinde eine ungewöhnliche Kraft voraussetzen ließ.
Diese Lebensweise bekam ihm gut, und als er das Mannesalter erreichte, vermochte er alles zu ertragen, Frost und Hitze, Hunger und Durst, Mühsal und Plage.
Er war mit einem Wort, so wie die Jakuten des unwirtbaren Nordens, ein ganzer Mann von Eisen. Er hielt leicht vierundzwanzig Stunden aus, ohne etwas zu essen, zehn Nächte, ohne zu schlafen, und begnügte sich mit einem Lager in der freien Steppe, wo tausend andere sich zum Tode erkältet hätten.
Begabt mit unendlich feinen Sinnen, durch die weiße Ebene geführt von einem reinen Delawareninstinkt,2 wenn auch der Nebel den ganzen Horizont verhüllte, und das selbst in höheren Breiten, wo die Polarnacht schon mehrere Tage anhält, fand er doch immer seinen richtigen Weg, wo andere nicht mehr gewusst hätten, wohin sie den Fuß setzen sollten.
Michael Strogoff trat in das Kabinet des Kaisers ein.
Alle Geheimnisse seines Vaters waren auch ihm bekannt. Er wusste sich nach kaum bemerkenswerten Anzeichen zu richten, nach der Lage der Eisnadeln, der Stellung der dünnsten Baumzweige, nach schwachen Gerüchen, welche von außerhalb der Grenze des Horizontes herkamen, nach der Spur der Blätter im Walde, nach den schwächsten Geräuschen in der Luft oder nach entfernten Detonationen, wie nach dem Zuge der Vögel in der dunstigen Atmosphäre – nach tausend Einzelheiten, welche für den Kenner eben so viel Wahrzeichen sind. Dabei hatte er, der von dem Schneetreiben abgehärtet war, wie der Stahl in den Wassern von Damaskus, wirklich eine Gesundheit von Eisen, und doch, wie der General Kissoff ganz richtig gesagt hatte, dabei ein Herz von Gold.
Eine einzige Leidenschaft besaß Michael Strogoff, die Liebe zu seiner alten Mutter Marfa, welche nicht zu bewegen gewesen war, das alte Haus der Strogoffs in Omsk, an der Grenze von Irtysch, zu verlassen, in dem sie so lange Zeit mit dem alten Jäger vereint gelebt hatte. Als der Sohn sie verließ, geschah es, um seinem Triebe nach einem größeren Wirkungskreise zu genügen, aber er versprach ihr dabei, stets zeitweilig zu ihr zurückzukehren, sobald die Umstände es erlaubten – ein Versprechen, das mit religiöser Strenge eingehalten wurde.
Es war beschlossen worden, dass Michael Strogoff mit seinem zwanzigsten Jahre in den persönlichen Dienst des Kaisers von Russland eintreten sollte, und zwar in das Corps der Kuriere des Zaren. Der kühne, intelligente, eifrige und sich wacker aufführende junge Sibirier fand die erste Gelegenheit, sich auszuzeichnen, bei einer Sendung nach dem Kaukasus, mitten durch das von einigen unruhigen Nachfolgern Schamyls aufgewühlte Land, später bei einer wichtigen Mission, welche ihn bis Petropolawsk in Kamtschatka, nach den äußersten Grenzen des asiatischen Russland, führte.
»So geh’ also, Michael Strogoff, geh’ mit Gott für Russland!« …
Während dieser so weiten Reisen legte er wiederholte Proben seiner ausgezeichneten Eigenschaften, seiner Kaltblütigkeit, Klugheit und seines Mutes ab, welche ihm die Anerkennung und das Wohlwollen seiner Vorgesetzten erwarben und seine Karriere beschleunigten. Den ihm nach so mühseligen Expeditionen mit Recht zukommenden Urlaub versäumte er nie seiner alten Mutter zu widmen – und wenn er auch Tausende von Wersten entfernt war von ihr, und der Winter alle Wege fast ungangbar machte. Jetzt hatte Michael Strogoff, der im Süden des Reiches vielfach beschäftigt wurde, die alte Marfa zum ersten Male seit drei Jahren, für ihn drei Jahrhunderte – nicht gesehen! In wenig Tagen sollte er seinen reglementsmäßigen Urlaub antreten und hatte auch schon alle Vorbereitungen zur Reise nach Omsk getroffen, als die uns schon bekannten Ereignisse eintraten.
Michael Strogoff wurde vor den Zaren geführt, in vollständiger Unkenntnis dessen, was derselbe von ihm verlangen würde.
Einige Augenblicke betrachtete ihn der Zar, ohne ein Wort zu reden, mit durchdringendem Blicke, während Michael Strogoff unbeweglich stehenblieb.
Dann wendete sich der Zar, offenbar befriedigt von dieser Vorprüfung, nach seinem Schreibtische, machte dem Chef der Polizei ein Zeichen, sich dahin zu setzen, und diktierte ihm mit leiser Stimme einen Brief von wenig Zeilen.
Nach Vollendung des Schreibens durchlas es der Kaiser noch einmal mit größter Aufmerksamkeit und unterzeichnete es, nachdem er seinem Namen noch die Worte: »Byt po semu«, welche »So geschehe es« bedeuten und eine gewöhnliche Bestätigungsformel der russischen Kaiser ausmachen, vorgesetzt hatte.
Der Brief ward dann in ein Couvert gesteckt und mit einem Siegel mit dem kaiserlichen Wappen verschlossen.
Der Zar erhob das Schriftstück und winkte Michael Strogoff, sich zu nähern.
Dieser tat dann einige Schritte vorwärts und blieb wieder unbeweglich vor seinem Kaiser stehen.
Noch einmal sah der Zar ihn durchdringend, Auge in Auge, ins Gesicht. Dann begann er:
»Dein Name?«
»Michael Strogoff, Sire.«
»Deine Stellung?«
»Kapitän bei den Kurieren des Zaren.«
»Du kennst Sibirien?«
»Ich stamme daher.«
»Du bist geboren?«
»In Omsk.«
»Hast Du Verwandte in Omsk?«
»Meine alte Mutter.«
Der Zar unterbrach einen Augenblick die Reihe seiner Anfragen. Dann fuhr er fort, indem er dem Kurier den Brief zeigte, den er in der Hand hielt: »Hier ist ein Brief, den ich Dich, Michael Strogoff, beauftrage, dem Großfürsten eigenhändig – keinem, keinem anderen! – zu überliefern.«
»Ich werde ihn besorgen, Sire.«
»Der Großfürst befindet sich in Irkutsk.«
»Ich werde nach Irkutsk gehen.«
»Es handelt sich hier aber darum, ein von Rebellen unsicher gemachtes, von den Tartaren überfallenes Land zu durchreisen, in welchem jene Meuterer ein Interesse haben könnten, diesen Brief aufzufangen.«
»Ich werde hindurch kommen.«
»Und wirst Dich vor allem vor einem Verräter, Iwan Ogareff, zu hüten haben, dem Du auf dem Wege vielleicht begegnen könntest.«
»Ich werde ihm auszuweichen wissen.«
»Kommst Du über Omsk?«
»Mein Weg führt mich dahin.«
»Wenn Du Deine Mutter sehen wolltest, würdest Du Gefahr laufen, erkannt zu werden. Du darfst Deine Mutter nicht besuchen!«
Michael Strogoff zögerte einen Augenblick mit seiner Antwort.
»Ich werde sie nicht sehen«, sagte er.
»Schwöre mir, dass nichts Dich vermögen wird, Dir zu entlocken, wer Du bist und wohin Du gehst.«
»Ich schwöre es.«
»Michael Strogoff«, fuhr der Zar fort, indem er dem jungen Kurier das Schreiben einhändigte, »so nimm diesen Brief, von dem das Heil Sibiriens und vielleicht das Leben meines Bruders, des Großfürsten, abhängt.«
»Dieser Brief wird in die Hand Seiner Hoheit des Großfürsten gelangen.«
»Du wirst also auf jeden Fall durchzudringen suchen?«
»Ich dringe hindurch überall, bis man mich tötet.«
»Ich bedarf aber Deines Lebens.«
»Ich werde auch lebend durch Sibirien kommen«, antwortete Michael Strogoff.
Der Zar schien mit der einfachen und ruhigen Sicherheit der Antworten Michael Strogoffs wohlzufrieden.
»So geh also, Michael Strogoff«, sagte er, »Geh mit Gott für Russland, für meinen Bruder und für mich!«
Michael Strogoff grüßte militärisch, verließ sofort das Kabinett des Kaisers und wenige Minuten später das Neue Palais.
»Ich glaube, Du hast eine glückliche Hand gehabt, General«, sagte der Zar.
»Ich glaube es, Sire«, antwortete General Kissoff, »Und Eure Majestät können versichert sein, dass Michael Strogoff alles tun wird, was ein Mann zu leisten vermag.«
»In der Tat, das schien ein ganzer Mann zu sein!«, bemerkte der Zar.
Die Entfernung, welche Michael Strogoff von Moskau nach Irkutsk zurückzulegen hatte, betrug 5200 Werst (= 5523 Kilometer). Als noch kein Telegrafendraht den Zwischenraum zwischen den Bergen des Ural und der Ostküste Sibiriens überspannte, wurde der Depeschendienst durch Kuriere versehen, deren schnellster mindestens achtzehn Tage bedurfte, um sich von Moskau nach Irkutsk zu begeben. Das war aber nur eine Ausnahme und dauerte die Reise durch das asiatische Russland gewöhnlich vier bis fünf Wochen, obwohl alle Beförderungsmittel den Abgesandten des Zaren zur Verfügung gestellt wurden.