Migräne - Oliver Sacks - E-Book

Migräne E-Book

Oliver Sacks

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Beschreibung

"Migräne" ist eine umfassende medizinische und medizinhistorische Darstellung eines der am meisten verbreiteten Leiden der Menschheit. Oliver Sacks hat sich mit Beharrlichkeit über 1000 Migräne-Patienten gewidmet und dabei Erstaunliches zutage gefördert. Auch wenn es die Leidenden sicher zunächst nur mit Zögern annehmen können: Jede Migräne hat im Leben des Betroffenen einen Sinn, eine ganz individuelle Bedeutung. und ist diese erst erkannt, kann der Schmerz besiegt werden.

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Oliver Sacks

Migräne

Aus dem Englischen von Jutta Schust

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

«Migräne» ist eine umfassende medizinische und medizinhistorische Darstellung eines der am meisten verbreiteten Leiden der Menschheit. Oliver Sacks hat sich mit Beharrlichkeit über 1000 Migräne Patienten gewidmet und dabei Erstaunliches zutage gefördert. Auch wenn es die Leidenden sicher zunächst nur mit Zögern annehmen können: Jede Migräne hat im Leben des Betroffenen einen Sinn, eine ganz individuelle Bedeutung, und ist diese erst erkannt, kann der Schmerz besiegt werden.

Über Oliver Sacks

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert De Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City.

Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».

Inhaltsübersicht

WidmungVorwort zur überarbeiteten Fassung (1992)Vorwort zur Ausgabe 1970EinleitungHistorische EinführungTeil I Die Erfahrung MigräneEinleitung1 Die einfache MigräneKopfschmerzenÜbelkeit und damit verbundene SymptomeVeränderungen des GesichtsAugensymptomeNasale SymptomeAbdominelle Symptome und abnorme DarmtätigkeitLethargie und SchläfrigkeitBenommenheit, Schwindel, Schwächegefühl und SynkopesVeränderungen im FlüssigkeitshaushaltFieberUntergeordnete Symptome und AnzeichenOrganische ÜberempfindlichkeitStimmungswechselSymptomkonstellationen bei der einfachen MigräneDer Ablauf einer einfachen MigränePostskriptum (1992)2 Migräne-ÄquivalenteZyklisches Erbrechen und GallenattackenAbdominelle MigränePeriodische DurchfällePeriodisches FieberPräkordiale MigränePeriodischer Schlaf und TrancezuständePeriodische StimmungsschwankungenMenstruelle SyndromeWechsel und TransformationenGrenzgebiete der MigräneWechselweises und gleichzeitiges Auftreten mit anderen StörungenDifferentialdiagnose und Terminologie3 Migräne-Aura und klassische MigräneEinführungOptische HalluzinationenTaktile HalluzinationenAndere HalluzinationenDie Pseudo-Objektivität von MigränehalluzinationenAllgemeine Veränderungen der WahrnehmungsschwelleVeränderungen von Bewußtsein und MuskeltonusSpezifische motorische StörungenVeränderungen von Affekt und StimmungVeränderungen der höchsten integrativen FunktionenMosaik- und FilmillusionAndere StörungenFallgeschichtenDie Struktur der AuraHäufigkeit der Migräne-AuraDie Differentialdiagnose der Migräne-Aura: Migräne versus EpilepsieKlassische MigränePostskriptum (1992) – Die Skotom-Angst4 Migränöse Neuralgie («Cluster-Kopfschmerz») – Hemiplegische Migräne – Ophthalmoplegische Migräne – PseudomigräneMigränöse NeuralgieFallgeschichtenHemiplegische MigräneOphthalmoplegische MigränePseudomigräneBleibende neurologische oder vaskuläre Schäden infolge einer Migräne5 Die Struktur der MigräneTeil II Das Auftreten der MigräneEinführung6 Die Prädisposition zur MigräneDie Häufigkeit der MigräneFamiliäres Auftreten und Vererblichkeit der MigräneAnzeichen einer migränösen KonstitutionMigräneneigung im Zusammenhang mit anderen ErkrankungenDie Migräne in Beziehung zum AlterAllgemeine Erörterung und Schlußfolgerungen7 Periodische und paroxysmale MigränenMigräne und andere biologische ZyklenDie Zeitspanne zwischen den AttackenImmunität zwischen den AnfällenDie Vorboten des AnfallsPseudoperiodizitätSchlußfolgerungenPostskriptum (1992)8 Umstandsbedingte MigräneArousal-MigränenLicht und LärmGerücheUngünstige WitterungsverhältnisseSchmerzErmattungsmigränen und «Crash»-ReaktionenEssen und FastenHitze und FieberPassive BewegungErschöpfungReaktionen auf Medikamente und AlkoholSituationen nachlassender SpannungNächtliche MigräneResonanzmigräneDurch Verzerrungen des Gesichtsfeldes ausgelöste MigränenWeitere umstandsbedingte MigränenDie Migräne in Beziehung zu Menstruationszyklus und HormonenAllergien und MigräneMigräne als sich selbst erhaltender ProzeßSchlußfolgerungen9 Habituelle MigräneFallgeschichtenSchlußfolgerungenTeil III Die Basis der MigräneEinführung10 Physiologische Mechanismen der MigräneHistorische EinführungEinige moderne Theorien zum MigränemechanismusSchlußfolgerungen11 Die physiologische Organisation von MigränenZusammenfassung12 Migräne aus biologischer Sicht13 Migräne aus psychologischer SichtSchlußfolgerungenTeil IV Formen der MigränebehandlungEinführung14 Allgemeine MaßnahmenAllgemeine Maßnahmen und die Vermeidung anfallprovozierender UmständeUnterstützende und psychotherapeutische Maßnahmen15 Spezifische Maßnahmen während und zwischen MigräneattackenNützliche Medikamente zur Behandlung von MigräneattackenAllgemeine Maßnahmen bei akuter MigräneattackeBehandlung des «Migränestatus»Vorbeugende MaßnahmenWeitere Medikamente in der MigränebehandlungChirurgische MaßnahmenSchlußfolgerungen16 Fortschritte in der MigränetherapieTeil V Migräne als Universalie17 Migräne-Aura und halluzinatorische KonstantenEinführungTypen oder Ebenen von HalluzinationenHalluzinatorische KonstantenMechanismen der HalluzinationSich selbst organisierende SystemeEin neues Modell der Migräne-AuraTafelteilAnhangAnhang I Die Visionen der Hildegard von BingenAnhang II Die Visionen Cardanos (1570)Anhang III Heilmittel, die Willis (1672), Heberden (1801) und Gowers (1892) empfahlenDankDie Fallgeschichten im ÜberblickGlossarBibliographieRegisterOliver Sacks bei Rowohlt und rororo

«Das Gebäude des Heils». Aus der Handschrift ‹Scivias› (‹Wisse die Wege›), die Hildegard von Bingen etwa 1180 verfaßte. Dieses Bild ist aus mehreren durch Migräneanfälle hervorgerufenen Visionen entstanden.

Meinen Eltern

Wie es bei Platon heißt, empfahl Sokrates erst eine Behandlung für den Kopfschmerz des Charmides, nachdem dieser seinen verstörten Geist besänftigt hatte; Körper und Seele müssen gemeinsam geheilt werden, wie der Kopf und die Augen  …

Robert Burton

Wem … Krankheit eine Lebensäußerung des Organismus ist, der sieht in ihr nicht mehr einen Feind … Mit dem Augenblick, wo ich einsehe, daß die Krankheit eine Schöpfung des Kranken ist, wird sie für mich dasselbe wie seine Art zu gehen, seine Sprechweise, das Mienenspiel seines Gesichtes, die Bewegung seiner Hände, die Zeichnung, die er entworfen, das Haus, das er gebaut, das Geschäft, das er abgeschlossen hat, oder der Gang, den seine Gedanken gehen: ein beachtenswertes Symbol der Gewalten, die ihn beherrschen und die ich zu beeinflussen suche, wenn ich es für recht halte.

Georg Groddeck

Bei einer Migräne können vielfältige Wahrnehmungsveränderungen auftreten. Die seltsamste und tiefgreifendste ist die Mosaikillusion, hier veranschaulicht durch das Bild eines Migränepatienten, den man bat, seine Erfahrungen während seiner Anfälle zu malen. (Mit freundlicher Genehmigung der British Migraine Association und der Boehringer Ingelheim GmbH.)

Vorwort zur überarbeiteten Fassung (1992)

Die wesentlichen Merkmale der Migräne – die mit ihr verbundenen Phänomene und die Art und Weise, wie Patienten sie erleben, ihre Erscheinungsformen und Auslöser, die allgemeinen Möglichkeiten, mit ihr zu leben oder gegen sie anzukämpfen – haben sich in zweitausend Jahren nicht verändert. Eine anschauliche und detaillierte Beschreibung all dessen ist also zu keinem Zeitpunkt unwichtig oder überflüssig.

Viele Migränepatienten – besonders junge Menschen, die zum erstenmal eine Migräne-Aura oder einen Anfall von klassischer Migräne erleben – wissen nicht, was mit ihnen geschieht, und haben vielleicht Angst, an einem Schlaganfall, einem Gehirntumor oder einer anderen schlimmen Krankheit zu leiden – oder sie befürchten, verrückt zu werden oder Opfer einer bizarren Hysterie zu sein. Solche Patienten fühlen sich ungeheuer erleichtert, wenn sie erfahren, daß ihr Leiden weder schwer noch eingebildet ist, sondern ein moralisch neutraler, wiederkehrender, jedoch seinem Wesen nach gutartiger Zustand, den sie mit zahllosen anderen Menschen gemeinsam haben und über den wir sehr viel wissen. «Die Angst vor dieser Krankheit», schrieb Montaigne, «treibt uns so lange um, wie wir nichts darüber wissen.» Ein Patient, der ‹Migräne› gelesen hat, ist nicht geheilt, doch zumindest weiß er, woran er leidet und was es bedeutet, und braucht keine Angst mehr zu haben.

Natürlich ist ‹Migräne› nicht nur eine Beschreibung, sondern auch ein Nachdenken über das Wesen von Gesundheit und Krankheit und darüber, wie Menschen es vielleicht gelegentlich brauchen, eine Zeitlang krank zu sein; ein Nachdenken zudem über die Einheit von Körper und Geist, über Migräne als ein exemplarisches Beispiel unserer psychophysischen Transparenz; und schließlich ist das Buch eine Betrachtung über Migräne als biologische Reaktion, analog jener, die wir bei vielen Tieren finden. Ich glaube, daß die umfassendere Sicht dieser Erkrankung als fester Bestandteil der conditio humana ihre Bedeutsamkeit bewahrt – konstituiert sie doch die konstante Taxonomie der Migräne.

Es sind im Laufe der Jahre einige Neuauflagen von ‹Migräne› erschienen, doch sie alle haben, wie ich finde, an Einschränkungen und Verkürzungen gelitten – daran, daß man das Original um die eine oder andere Einzelheit oder ausführlichere Erörterung gekürzt, es verwässert oder versucht hat, es «populärer» oder «praktischer» zu machen. Inzwischen glaube ich, daß dies ein Fehler war – das Buch ist am stärksten in seiner ursprünglichen Form und bleibt dabei doch auch für Leser zugänglich, die nicht fachlich vorgebildet sind.

Natürlich hat es in den letzten zwanzig Jahren in unserem Verständnis des Migränemechanismus und in der Entwicklung neuer Medikamente und Verfahren der Migränetherapie bedeutsame Fortschritte gegeben. Ein Patient, der an schwerer und häufig auftretender Migräne leidet, hat heute eine sehr viel größere Chance, damit fertig zu werden, als die Patienten von 1970. Ich habe das Buch also in vielerlei Hinsicht erweitert und ergänzt, einschließlich eines ganz neuen Kapitels (16), in dem ich mich mit den aufregenden physiologischen und pharmakologischen Entdeckungen der letzten zwei Jahrzehnte wie auch mit den neuen Behandlungsformen beschäftige, die uns dank dieser Entdeckungen zur Verfügung stehen. Drei Kapitel habe ich um Überlegungen erweitert, in denen ich Migräne in Beziehung zu Chaos- und Bewußtseinstheorien betrachte. Ich habe auch zahlreiche weitere Fallgeschichten, einen historischen Anhang und viele Fußnoten hinzugefügt. Mit diesen Ergänzungen wird die vorliegende Fassung zur vollständigsten und aktuellsten Ausgabe von ‹Migräne›.

Das ursprüngliche Manuskript des Buches (1967/68) enthielt einen Teil V, der aus einer Analyse der komplexen geometrischen Auraformen und dem Versuch bestand, eine Erklärung für diese Formen zu finden. Ich kam zu dem Schluß, daß mir dies nicht gelungen und jeder derartige Versuch zur damaligen Zeit verfrüht war. Also nahm ich diesen Teil seinerzeit nicht in das Buch auf. Es war mir eine besondere Freude, dieses Projekt jetzt wieder aufnehmen und, zusammen mit meinem Kollegen Ralph Siegel, eine allgemeine Theorie oder Erkärung der Auraphänomene zur Diskussion stellen zu können, wie sie vor 25 Jahren nicht möglich gewesen wäre. Also verfügt die vorliegende Fassung schließlich doch über einen Teil V.

O.W.S.

New York

Februar 1992

Vorwort zur Ausgabe 1970

Als ich meinen ersten Migränepatienten sah, hielt ich Migräne für nicht mehr und nicht weniger als eine besondere Form von Kopfschmerz. Nachdem ich mehr Patienten behandelt hatte, wurde mir klar, daß Kopfschmerzen niemals das einzige Merkmal einer Migräne sind, und noch später begriff ich, daß es sich dabei nicht einmal um ein zwangsläufiges Symptom dieser Erkrankung handelt. Das brachte mich dazu, mich intensiver mit einem Phänomen zu beschäftigen, das mir zu entgleiten schien, immer komplexer wurde, immer weniger einzugrenzen und zu begreifen war, je mehr ich darüber wußte. Ich vergrub mich in die Fachliteratur, und als ich sie durchgearbeitet hatte, war ich in mancherlei Hinsicht kenntnisreicher, doch verwirrter in anderer. Ich kehrte zu meinen Patienten zurück, die ich lehrreicher fand als jedes Buch. Und nach tausend Migränepatienten sah ich, daß das Phänomen einen Sinn ergibt.

Zunächst war ich beunruhigt, später entzückt angesichts der Komplexität der Geschichten, die ich zu hören bekam. Hier war etwas, das innerhalb weniger Minuten von subtilsten Störungen von Wahrnehmung, Sprache, Emotion und Denken in jedes erdenkliche vegetative Symptom übergehen konnte. Jeder Patient mit klassischer Migräne offenbarte sich sozusagen als vollständige neurologische Enzyklopädie.

Das Leiden meiner Patienten und ihr Hoffen auf Hilfe ließen mein rein neurologisches Interesse in den Hintergrund treten. Manchen Patienten konnte ich mit Medikamenten helfen, manchen mit dem Zauber der Zuwendung. Bei den am schwersten betroffenen Patienten jedoch war all mein therapeutisches Bemühen vergebens, bis ich anfing, eingehend und beharrlich ihr emotionales Leben zu erkunden. Mir wurde klar, daß vielen Migräneattacken eine emotionale Bedeutung zugrunde liegt und daß man sie nicht sinnvoll erforschen – und noch weniger behandeln – kann, wenn man nicht ihre emotionalen Bedingungen und Auswirkungen genauestens kennt.

Ich fand es daher notwendig, mich ständig um eine doppelte Perspektive zu bemühen – die Migräne einerseits als eine Struktur zu betrachten, deren Formen dem Repertoire des Nervensystems implizit sind, und andererseits zugleich auch als eine Strategie auf dem Weg zu einem emotionalen und auch zu einem biologischen Ziel. Ich habe mich beim Aufbau dieses Buches bemüht, beide Perspektiven ständig im Blick zu behalten und die Migräne als physisches und symbolisches Geschehen darzustellen. In Teil I beschreibe ich die Formen von Migräneattacken, wie sie vom Patienten erlebt und vom Arzt beobachtet werden. Teil II befaßt sich mit den vielfältigen – physischen, physiologischen und psychologischen – Umständen, die einzelne oder wiederholte Migräneattacken auslösen können. Teil III gliedert sich in eine Betrachtung der physiologischen Mechanismen der Migräneattacke und eine Erkundung des biologischen und psychologischen Zwecks, dem eine Migräne oder bestimmte verwandte Störungen möglicherweise dienen. Teil IV ist dem therapeutischen Umgang mit der Migräne gewidmet und ist so zugleich Schlußfolgerung und Ergänzung zu den vorhergehenden Abschnitten des Buches.

Wo immer es möglich war, habe ich mich der Alltagssprache, wo immer es nötig erschien, einer Fachsprache bedient. Auch wenn Teil I und Teil II dieser Arbeit, im Unterschied zum erklärenden und spekulativen dritten Teil, vornehmlich beschreibender Natur sind, bewege ich mich doch ständig frei, vielleicht allzu frei, zwischen der Darstellung von Fakten und dem Hinterfragen ihrer Bedeutung hin und her. Wenn sich der Bezugsrahmen stetig erweitert, ist das ein Erfordernis der zahlreichen, vielfältigen und zuweilen sehr seltsamen Befunde, die wir zu berücksichtigen haben.

Ich hoffe, drei Gruppen von Lesern werden in diesem Buch etwas finden, was für sie von Interesse ist. Erstens Migränekranke und ihre Ärzte, die nach einer verständlichen und plausiblen Darstellung der Migräne und nach therapeutischer Orientierung suchen. Zweitens Studenten und Forscher auf dem Gebiet der Migräne, denen versichert sei, daß sie mit diesem Buch ein detailliertes, wenn auch etwas diskursives Nachschlagewerk in die Hand bekommen. Und schließlich Leser mit einem Sinn für spekulative Gedanken (nicht unbedingt Mediziner!), die eingeladen sind, in der Migräne etwas zu sehen, das zahllose Analogien im Leben von Mensch und Tier hat, ein Modell, das ein Licht wirft auf die Vielfalt und Einheit psychophysiologischer Reaktionen, indem es uns wieder und wieder an die absolute Kontinuität von Geist und Körper gemahnt.

Einleitung

Beschreibungen des Migräneleidens gibt es seit mindestens zweitausend Jahren, und zweifellos hat jede Generation des modernen Menschen in seiner vielleicht 250000jährigen Geschichte ihre eigene Erfahrung mit dieser Konstellation von Störungen gemacht. Gleichwohl herrscht in der Öffentlichkeit und unter Medizinern die Meinung vor, es sei wenig über Migräne bekannt und noch weniger über Möglichkeiten ihrer Behandlung. Erst 1970 ist, in London, die erste Spezialklinik für Migränekranke eingerichtet worden.

Natürlich wird die Migräne in medizinischen, besonders in neurologischen Lehrbüchern abgehandelt, doch geschieht dies gewöhnlich recht beiläufig in Zusammenhang mit anderen intermittierend auftretenden Störungen wie der Epilepsie und der Neuralgie. Die Migräne gilt allgemein lediglich als eine Form von Kopfschmerz, die die Betroffenen zumeist nicht gravierend beeinträchtigt und weit mehr Zeit des überlasteten Arztes beansprucht, als ihre Bedeutung rechtfertigt. Einige ihrer Begleiterscheinungen, etwa Erbrechen und Sehstörungen, sind anerkannt, was zuweilen so weit geht, daß eine Migräne nur dann diagnostiziert wird, wenn ein bestimmtes Muster von Sehstörung, Kopfschmerzen und Erbrechen in regelmäßiger Abfolge auftritt.

Der Arzt beschränkt sich gewöhnlich darauf, Tabletten zu verschreiben, und gibt dem Patienten das geläufige und geschmacklose Klischee mit auf den Weg, er müsse «lernen, damit zu leben»; insgeheim hofft er, daß er beim nächsten Besuch des Patienten dienstfrei hat. Da ein umfassendes Verständnis der Komplexität und Vielfalt einer in ihrer Phänomenologie in jeder Hinsicht faszinierenden Krankheit fehlt, sind viele Ärzte nur allzu froh, wenn ein Patient in seiner Verzweiflung Hilfe bei Heilpraktikern sucht, fast darauf hoffend, daß die Ergebnisse ebenso mager wie kostspielig sein werden.

Ist der medizinische Berufsstand hier gänzlich im Unrecht? Fällt einem sofort der Name eines maßgebenden oder «definitiven» Lehrbuches ein? Gibt es in hinreichender Anzahl angemessen ausgestattete und organisierte Zentren, wo man die Krankheit erforschen kann? Gibt es ausführliche Statistiken über das gesamte Syndrom, wie wir sie etwa für Industrieunfälle, Bronchialkarzinome oder Masern haben? Haben wir als Studenten eine einzige Vorlesung über Migräne gehört, und hat uns irgend jemand gesagt, daß Migräne mehr ist als eine unangenehme Form von gelegentlichem Kopfschmerz? Fast mit Sicherheit nicht. Und daß eine Migräne Ausdruck der Erbanlagen, der Persönlichkeit, der Lebensweise eines Individuums ist, hört man erst seit kurzem.

Ein weiterer stark vernachlässigter Aspekt des Migräneprozesses ist die physiologische Störung, die sich in ihm manifestiert. Bei keiner anderen Krankheit findet ein derart vollständiges physiologisches Experiment in einem Menschen statt wie beim Migräneanfall, Wir sehen, wir erleben an uns selbst den allmählichen Funktionsverfall der gesunden Person, so wie bei einem Schlaganfall oder einem Hirntumor, nur ohne das Unglück einer dauerhaften Beeinträchtigung. Innerhalb weniger Minuten oder Stunden gehört der Anfall der Vergangenheit an. Alle Symptome und Anzeichen, etwa Dysphasie und Hemiplegie, Doppelsehen (Diplopie), Schwindel, Erbrechen, Verdauungsstörungen, Veränderungen des Flüssigkeitshaushalts und Persönlichkeitsstörungen, sind verschwunden. Gleichwohl gibt es dazu nur wenige wissenschaftliche Studien, und deren Probanden sind zumeist mehr oder weniger betäubte Tiere, die – soweit wir wissen – wahrscheinlich keine Migräne kennen.

Um diesem Ungleichgewicht von Interesse, Erfahrung, physiologischem Wissen und therapeutischer Initiative abzuhelfen, brauchen wir eine synoptische Arbeit, eine Zusammenschau, die uns die Reichweite des Raum-Zeit-Kontinuums der Migräne in ihrer Gesamtheit vor Augen führt, das lebenslange Muster sich stets ändernder Merkmale und Faktoren, die der Migränepatient sowohl erleidet als auch erschafft. Sein soziales Umfeld, seine Kollegen und besonders seine Ärzte sind diesem Kontinuum untrennbar zugehörig.

Dr. Oliver Sacks bietet uns diesen allgemeinen Überblick, den wir so lange vermißt haben. In einem ungeheuren Kraftakt klinisch-wissenschaftlicher Arbeit hat er nahezu das gesamte moderne Wissen über die Migräne zusammengetragen. Für den Neurologen mag es eine interessante akademische Übung sein, herauszufinden, ob irgendein Nebenaspekt, den er – vielleicht als einziger – entdeckt zu haben glaubt, im Buch nicht erwähnt wird. Er wird sich schwertun, eine solche Lücke zu finden.

Es steht zu hoffen, daß diesem Werk in seinem Bestreben, Licht auf das ebenso beeindruckende wie wichtige Gebiet der Migräneforschung zu werfen, Erfolg beschieden ist. Jeder derartige Erfolg wird Patienten, Ärzten und der Gesellschaft im allgemeinen sehr nützlich sein.

Dr. William Gooddy

Historische Einführung

An Migräne leidet eine beträchtliche Zahl von Menschen, sie tritt in allen Zivilisationen auf und ist bekannt, seit Geschichte schriftlich überliefert wird. Geißel, aber auch Antrieb nach Auffassung Caesars, Pauls, Kants und Freuds, ist sie tägliches Faktum im Leben von Millionen anonymer Menschen, die im verborgenen und schweigend leiden. Ihre Formen und Symptome sind, wie Burton dies über die Melancholie schreibt, «keiner Regel unterworfen, dunkel und unverständlich, vielfältig und so zahllos, Proteus selbst kann nicht vielgestalter sein». Ihr Wesen und ihre Ursachen stellten Hippokrates vor Rätsel und sind seit zweitausend Jahren Diskussionsthema.

Die wesentlichen klinischen Merkmale der Migräne – ihr periodisches Auftreten, ihr Zusammenhang mit Charakter und Lebensumständen, ihre körperlichen und emotionalen Symptome – sind seit dem zweiten Jahrhundert unserer Zeitrechnung gut bekannt. So beschreibt sie der griechische Arzt Aretaios aus Kappadokien unter dem Namen Heterokranie wie folgt:

Und in bestimmten Fällen schmerzt der ganze Kopf, und der Schmerz ist manchmal auf der rechten Seite und manchmal auf der linken Seite, oder in der Stirn oder der Fontanelle; und solche Attacken ändern ihren Ort während desselben Tages … Man nennt dies Heterokranie, eine keineswegs leichte Krankheit … Sie verursacht quälende, schlimme Symptome … Übelkeit; Erbrechen galliger Stoffe; Zusammenbruch des Patienten … es gibt viel Starrheit, Schwere des Kopfes, Angst; und das Leben wird zur Last. Denn die Kranken fliehen das Licht; die Dunkelheit lindert ihre Leiden; sie können es auch nicht ohne weiteres ertragen, etwas Angenehmes zu sehen oder zu hören … Die Patienten sind des Lebens überdrüssig und möchten sterben.

Während sein Zeitgenosse Pelops die sensorischen Symptome schildert und benennt, die einer Epilepsie vorausgehen können (die Aura), beobachtete Aretaios die analogen Symptome, die bestimmte Migräneformen einleiten: «Blitze purpurner oder schwarzer Farben vor den Augen, oder alles miteinander vermischt, wie um das Erscheinen eines am Himmel ausgespannten Regenbogens darzustellen».

Vierhundert Jahre liegen zwischen den Beobachtungen von Aretaios und den Abhandlungen des Mediziners Alexander von Tralles. Während dieser langen Zeitspanne bestätigten und verfeinerten wiederholte Beobachtungen die einfache und klare Beschreibung des Aretaios, wobei man die Theorien der Antike über das Wesen der Migräne ungeprüft übernahm. Viele Jahrhunderte bestanden die Bezeichnungen heterocrania, holocrania und hemicrania rivalisierend nebeneinander; hemicrania verdrängte die Rivalen und entwickelte sich schließlich über viele Transliterationen zum heutigen Begriff Migräne (engl. migraine oder megrim).[*]

Seit Hippokrates haben zwei theoretische Konzepte das medizinische Denken über das Wesen der Migräne dominiert. Beide gaben noch Ende des achtzehnten Jahrhunderts Anlaß zu ernsthaftem Disput, und beide nehmen sie, inzwischen vielfach umgewandelt, auch heute eine breite öffentliche Zustimmung für sich in Anspruch. Es ist also keineswegs überflüssig, sondern im Gegenteil von größter Wichtigkeit, der Entstehung und Entwicklung dieser beiden klassischen Theorien nachzuspüren. Wir werden sie hier die humoralpathologische und die sympathetische Theorie nennen.

Ein Übermaß an gelber oder schwarzer Galle, so nahm man an, verursache nicht nur allgemeines Unwohlsein, schlechte Laune oder eine verbitterte Lebenseinstellung, sondern auch das gallige Erbrechen und die Magenbeschwerden bei starken Kopfschmerzen.[*] Den Kern dieser Theorie und die Art der Behandlung, die sie nahelegt, finden wir in präziser Formulierung bei Alexander von Tralles: «Wenn der Kopfschmerz, wie dies häufig vorkommt, von dem Überfluß an Galle herrührt, so verordne man Mittel, welche die Galle abführen oder zu beseitigen vermögen.»

Reinigen und Abführen der Gallenflüssigkeit – darin liegt die historische Rechtfertigung zahlloser abgeleiteter Theorien und zum Teil bis heute praktizierter Behandlungsformen. Möglich, daß Magen und Darm überschwemmt sind mit Gallenflüssigkeit: daher seit undenklichen Zeiten die Verabreichung von Brech- und Abführmitteln jeglicher Art. Fettes Essen zieht Galle in den Magen, also muß die Ernährung des Migränekranken spärlich und asketisch sein. Folglich hielt Fothergill, sittenstreng und sein Leben lang an Migräne leidend, folgende Nahrungsmittel für besonders gefährlich: «geschmolzene Butter, fettes Fleisch, Gewürze, heißer gebutteter Toast und starkes, gehopftes Bier …»

Ähnlich glaubte man seit alters und glaubt es immer noch, daß Verstopfung (und somit das Zurückhalten von Galle im Darm) einem Migräneanfall vorausgehen oder ihn auslösen kann. Möglicherweise, so dachte man auch, werde Galle in zu geringen Mengen von der Leber erzeugt (noch heute werden bei Migräne «Leberpillen» jeglicher Art empfohlen) oder in dem Maße reduziert, wie sich ihre Konzentration im Blut erhöhe (Aderlaß war insbesondere im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert als Form der Migränebehandlung en vogue). Es ist keineswegs abwegig, heutige biochemische Herleitungen der Migräne als intellektuelle Ableger des alten Humoralmodells zu betrachten.

Gleichzeitig mit den humoralpathologischen Theorien entstand eine Vielzahl «sympathetischer» Theorien. Sie behaupteten, Migräne entstehe peripher in einem oder mehreren der verschiedenen Bauchorgane (im Magen, Darm, Uterus etc.), von wo aus sie sich dann mittels einer besonderen Form innerer, viszeraler Kommunikation im Körper ausbreite. Diese verborgene Form der Kommunikation, unterhalb der Bewußtseinstätigkeit ablaufend, nannten die Griechen «sympathia» und die Römer «consensus»; ihr schrieb man eine besonders wichtige Rolle bei der Verbindung von Kopf und Eingeweiden zu («mirum inter caput et viscera commercium»).

Thomas Willis erweckte die klassischen Vorstellungen von Sympathie zu neuem Leben und gab ihnen eine exaktere Form. Willis verwarf die hippokratische Vorstellung von der Hysterie als Folge eines unmittelbar physischen Einflusses der Gebärmutter und vermutete statt dessen, daß der Uterus die hysterischen Phänomene über unzählige winzige Bahnen in den Körper ausstrahle. Er erweiterte dieses Konzept auf die Übertragung einer Migräne durch den Körper und auf viele andere mit Anfällen einhergehende Störungen.

Vor dreihundert Jahren veröffentlichte Willis sein Buch ‹De anima brutorum›, in dem er den gesamten Bereich der nervösen Störungen im Überblick darstellte, und ein Abschnitt dieses Werkes («De cephalalgia») muß als die erste moderne Abhandlung über Migräne und auch als der erste entscheidende Fortschritt seit Aretaios gelten. Er sammelte und ordnete eine ungeheure Menge zum großen Teil aus dem Mittelalter stammender Beobachtungen und Spekulationen über Migräne, Epilepsie und andere anfallartige Störungen und ergänzte sie um eigene klinische Beobachtungen von außerordentlicher Genauigkeit und Sachlichkeit. So stammt von ihm die folgende unvergleichliche Beschreibung der Migräne:

Vor einigen Jahren ließ eine höchst vornehme Dame nach mir schicken, die seit mehr als zwanzig Jahren zunächst in Abständen, dann fast ständig an Kopfschmerzen litt … sie war mit dieser Krankheit aufs äußerste gestraft. Von einem Fieber genesen, bevor sie zwölf geworden, befielen sie Kopfschmerzen, die manchmal ganz von selbst und häufiger nach sehr geringfügigem Anlaß auftraten. Das Leiden war nicht auf eine Stelle des Kopfes beschränkt, sondern plagte sie manchmal auf der einen Seite, manchmal auf der anderen, und durchdrang oft den ganzen Kopf. Während des Anfalls (der selten vor Ablauf eines Tages und einer Nacht endete und oft zwei, drei oder vier Tage andauerte) waren ihr Licht, Sprechen, Geräusche und jegliche Bewegung unerträglich. Sie saß aufrecht im Bett, das Zimmer war abgedunkelt, sie sprach mit niemandem, schlief nicht und nahm keinerlei Nahrung zu sich. Gegen Ende des Anfalls schließlich legte sie sich zu einem schweren, unruhigen Schlaf nieder, aus dem erwacht sie sich besser zu fühlen pflegte … Zunächst traten die Anfälle nur hin und wieder auf, und selten war der Abstand kürzer als zwanzig Tage eines Monats, doch später wurden sie häufiger, und in letzter Zeit ist sie selten ohne Beschwerden.

Die Erörterung dieses Falls zeigt, daß Willis die zahlreichen prädisponierenden, erregenden und untergeordneten Ursachen derartiger Attacken genau kennt: « … eine schlechte oder schwache Konstitution … zuweilen angeboren und ererbt … eine Irritation in einem der Gliedmaßen oder in den Eingeweiden … Wechsel der Jahreszeiten, Witterungsverhältnisse, die großen Aspekte von Sonne und Mond, heftige Leidenschaften und falsche Ernährung».[*] Er wußte auch, daß die Migräne ein zwar oft unerträgliches, aber gutartiges Leiden ist:

… Doch obwohl diese Unpäßlichkeit der vornehmen Dame seit mehr als zwanzig Jahren arg zusetzte … ihre Zelte an den Zinnen des Gehirns aufgeschlagen, seine königliche Festung so lange belagert hatte, war es ihr doch nicht gelungen, sie einzunehmen; denn da die Dame nicht zu Vertigo, Schwindel, Krämpfen noch irgendwelchen Anzeichen von Bewußtseinstrübung neigte, waren die wichtigsten Bereiche ihrer Seele durchaus gesund.

Die andere klassische Vorstellung, die Willis wiederbelebte, war die der Idiopathie, der Tendenz zu periodischen und plötzlichen «Explosionen» im Nervensystem.[*] Das Nervensystem des Migränekranken und das Nervensystem des Epileptikers können also jederzeit aufgrund einer Vielzahl von Einflüssen – physischer wie emotionaler – explodieren, und die Auswirkungen dieser Explosion auch an entferntester Stelle setzen sich auf sympathetischem Weg durch den Körper fort, über angenommene sympathische Nerven, auf deren Existenz Willis selbst nur schließen konnte.

Im achtzehnten Jahrhundert galt den sympathetischen Theorien das bevorzugte Interesse. Aus der Beobachtung, daß Magenstörungen einem Migränekopfschmerz vorausgehen und ihn offensichtlich einleiten können und daß Erbrechen die Attacke unter Umständen zu einem schnellen Ende bringt, schloß Simon André Tissot: «Es ist also sehr wahrscheinlich, daß sich im Magen nach und nach ein Irritationsherd bildet und daß diese Irritation irgendwann einen Punkt erreicht, an dem sie akute Schmerzen in allen Verzweigungen des Supraorbitalnervs auslöst …»

Ebenfalls mit dem Gewicht seiner Autorität vertrat auch Tissots Zeitgenosse Robert Whytt solche sympathetischen Theorien; er beobachtet «das Erbrechen, das im allgemeinen mit einer Entzündung der Gebärmutter einhergeht; die Übelkeit, den gestörten Appetit nach der Empfängnis … den Kopfschmerz, die Hitze und die Rückenschmerzen, die Darmkoliken kurz vor der Menstruation … etc.» und folgert daraus, daß der menschliche Körper (wie Foucault es so anschaulich wiedergibt) von einer Extremität zur anderen siebartig durchlöchert sei von verborgenen, aber seltsam direkten sympathetischen Bahnen – Nervenbahnen, die die Phänomene einer Migräne oder Hysterie von ihrem viszeralen Ursprungsort weiterleiten können.

Es ist wichtig festzuhalten, daß die schärfsten klinischen Beobachter des achtzehnten Jahrhunderts – Tissot (der ausführlich über die Migräne schrieb und dessen Abhandlung von 1780 die würdige Nachfolgerin von Willis' «De cephalalgia» ist), Whytt, Cheyne, Cullen, Sydenham etc. – nicht willkürlich zwischen physischen und emotionalen Symptomen unterschieden: Man hatte sie miteinander, als integrale Bestandteile «nervöser Störungen», zu betrachten. So finden wir bei Robert Whytt als wesentliche und miteinander in Beziehung stehende Symptome: «eine außerordentliche Empfindung von Kälte und Hitze, von Schmerzen in verschiedenen Teilen des Körpers; Ohnmachten und unerklärliche Krämpfe; Katalepsie und Tetanus; Gas in Magen und Darm … Erbrechen schwarzer Substanzen; plötzlicher und reichlicher Fluß klaren, hellen Urins … starkes Herzklopfen; unregelmäßiger Puls; periodischer Kopfschmerz; Vertigo und nervöse Anfälle, Depression, Verzweiflung … Verrücktheit, Alpträume oder Alpdrücken».

Mit dieser zentralen Überzeugung, dieser Vorstellung von der untrennbaren Einheit psychophysiologischer Reaktionen wurde zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts gebrochen. Die «nervösen Störungen» von Willis und Whytt schied man strikt in «organische» versus «funktionelle», und ebenso strikt unterschied man zwischen Neurologen und Irrenärzten; zwar schilderten Liveing und Jackson die Migräne weiterhin als psychophysiologisches Geschehen ohne interne Abgrenzungen, aber ihre Anschauungen waren die Ausnahme und liefen dem Trend ihres Jahrhunderts entgegen.

Mit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts erschienen zahlreiche hervorragende Beschreibungen der Migräne, und fast alle besaßen sie eine Lebendigkeit, die der medizinischen Literatur heute verlorengegangen zu sein scheint. Beim Rückblick auf den Reichtum dieser älteren Literatur ist man versucht, sich vorzustellen, daß jeder Arzt von Reputation entweder an Migräne litt oder es sich zur Aufgabe gemacht hatte, das Phänomen zu erfassen: Zu dieser glänzenden Schar zählen Heberden und Wollaston im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts, Abercrombie, Piorry und Parry in seiner zweiten und dritten Dekade, Romberg, Symonds, Hall und Möllendorff um die Jahrhundertmitte; brillante Aufzeichnungen gibt es auch von etlichen Nichtmedizinern, die hervorragendsten von den Astronomen Herschel und Vater und Sohn Airy.

Doch fast alle diese Darstellungen gelten den physischen Aspekten von Migräneanfällen und vernachlässigen ihre emotionalen Komponenten, die Ereignisse, die ihnen vorangehen, und ihren Zweck oder Nutzen. Den Theorien des neunzehnten Jahrhunderts fehlt auch die Allgemeinheit, das Übergreifende der älteren Lehrmeinungen, und sie beschränken sich gewöhnlich auf sehr spezifische mechanische Ätiologien des einen oder anderen Typs. Sehr populär waren Theorien, die von vaskulären Störungen ausgingen, sei es allgemeine Plethora, Blutandrang im Gehirn oder spezifische Erweiterungen oder Verengungen der Kranialgefäße. Großes Gewicht maß man lokalen Faktoren bei: einer Vergrößerung der Hypophyse, einer Entzündung in den Augen etc. Auch erblicher «Makel» und Masturbation wurden Mitte des Jahrhunderts für die Migräne (wie schon früher für Epilepsie und Wahnsinn) verantwortlich gemacht, und in derartigen Theorien offenbart sich – wie in späteren Theorien von Autointoxikation, Infektionsherden etc. – eine anachronistische Ausrichtung, denn der Aktionsmodus war nur scheinbar physisch, doch unterschwellig und implizit moralisch.

Höchsten Respekt schulden wir einem bemerkenswerten Meisterwerk aus viktorianischer Zeit, Edward Liveings Abhandlung ‹On Megrim, Sick-Headache, and Some Allied Disorders›, das zwischen 1863 und 1865 entstand, aber erst 1873 veröffentlicht wurde. Mit dem Scharfsinn und dem Wissen eines Gowers und der ideen- und gedankenreichen Tiefe und Weite eines Hughlings Jackson umriß und ordnete Liveing den gesamten Bereich der Migräneerfahrung und ihre Stellung innerhalb des ungeheueren Feldes «verwandter und metamorphotischer Störungen». Liveing wollte mit den Migränedaten ähnlich verfahren wie Hughlings Jackson, der anhand von Phänomenen der Epilepsie Entwicklung und Zerstörung hierarchisch organisierter Funktionen im Nervensystem veranschaulicht hatte. Historische Tiefe und Allgemeinheit des Ansatzes müssen von jeder medizinischen Darstellung gefordert werden, und in dieser Hinsicht bleibt Liveings Meisterwerk bis heute unerreicht.

Wesentlicher Teil von Liveings Sicht der Dinge (und hier stand er Willis und Whytt näher als seinen Zeitgenossen) war die auf Beobachtung gründende Vorstellung, daß die Erscheinungsformen der Migräne von unendlicher Mannigfaltigkeit sind und sich von zahlreichen anderen paroxysmalen Reaktionen nicht unterscheiden. Seine eigene Theorie der «Nervengewitter» ist von großer Allgemeinheit und Kraft und erklärt, wie es keine andere Theorie vermochte, die für Migräneanfälle so charakteristischen plötzlichen oder allmählichen Metamorphosen. Gowers erweiterte diese These; für ihn sind Migräne, Ohnmachten, Vagusattacken, Schwindel, Schlafstörungen etc. miteinander und mit der Epilepsie verwandt – alles Nervengewitter, die wechselseitig, wenn auch auf rätselhafte Weise, ineinander transformierbar sind.

Im zwanzigsten Jahrhundert verzeichnet die Erforschung Fortschritte, aber auch Rückentwicklungen. Die Fortschritte liegen in der Verbesserung der Diagnose- und Behandlungsverfahren, die Rückschritte in der Aufgliederung und Fragmentierung des Forschungsgegenstandes, was unumgängliche Folge der Spezialisierung von Wissen zu sein scheint. So findet man einen realen Zuwachs an Kenntnissen und technischem Können an einen realen Verlust allgemeinen Verständnisses gekoppelt.

Eine Migräne ist ein körperliches Geschehen, das von Anfang an oder im späteren Verlauf seiner Entwicklung auch ein emotionales oder symbolisches Geschehen sein kann. Eine Migräne drückt sowohl physiologische als auch emotionale Bedürfnisse aus: Sie ist der Prototyp einer psychophysiologischen Reaktion. Die Konvergenz des Denkens, die ihr Verständnis erfordert, muß also auf Neurologie und Psychiatrie gleichermaßen gründen (die Konvergenz, wie sie sich Cannon, der Physiologe, und Groddeck, der Psychoanalytiker, vorstellten und anschaulich machten); und schließlich darf man die Migräne nicht als ausschließlich menschliche Reaktion betrachten, sondern muß sie als eine spezifisch auf menschliche Bedürfnisse und das menschliche Nervensystem zugeschnittene Form einer allgemeineren biologischen Reaktion sehen.

Wir stehen vor der Aufgabe, die Bruchstücke der Migräne zu sammeln und erneut als kohärentes Ganzes darzustellen. Unzählige wissenschaftliche Aufsätze und Monographien haben unser Wissen über spezifische Aspekte der Migräne erweitert und gefestigt. Doch eine allgemeine und umfassende Darstellung hat es seit Liveing nicht mehr gegeben.

Teil IDie Erfahrung Migräne

Einleitung

Unser erstes Problem haben wir gleich mit dem Wort Migräne, das (halbseitigen) Kopfschmerz als charakteristisches Merkmal impliziert. Doch von Anfang an muß klar sein, daß Kopfschmerzen niemals das einzige Symptom, ja nicht einmal eine notwendige Begleiterscheinung von Migräneanfällen sind. Wir werden im Verlauf dieses Buches auf Anfalltypen treffen, die klinisch, physiologisch, pharmakologisch und in jeder anderen Hinsicht die ganze Palette der Migränemerkmale aufweisen – mit Ausnahme der Kopfschmerzen. Angesichts seines langen und allgemein üblichen Gebrauchs können wir nicht umhin, das Wort Migräne beizubehalten, müssen allerdings seine Bedeutung weit über die Grenzen jedweder Wörterbuchdefinition hinaus erweitern.

Innerhalb des Migränekomplexes läßt sich eine Vielzahl von Syndromen unterscheiden, und diese wiederum können sich überschneiden, ineinander verwandeln oder miteinander verschmelzen. Am häufigsten ist die einfache Migräne, bei der wir eine Reihe migränöser Symptome um das Hauptmerkmal – den Migränekopfschmerz – gruppiert finden (Kapitel 1). Wenn nicht Kopfschmerzen, sondern andere Komponenten ein sonst ähnliches klinisches Bild dominieren, sprechen wir von Migräne-Äquivalenten, und unter dieser Überschrift werden wir uns mit periodisch wiederkehrenden Anfällen befassen, in deren Verlauf Übelkeit und Erbrechen, Bauchschmerzen, Durchfall, Fieber, Benommenheit, Stimmungswechsel etc. die beherrschende Rolle spielen (Kapitel 2). In diesen Zusammenhang gehören auch bestimmte andere Formen von Attacken und Reaktionen, die in einer eindeutigen, wenn auch entfernteren Verwandtschaft zur Migräne stehen, zum Beispiel Kinetose, Ohnmacht oder vagale Anfälle.

Eigener Betrachtung bedarf ein besonders akuter und dramatischer Anfalltyp – die Migräne-Aura. Solche Auren treten als isolierte Ereignisse auf oder gehen Kopfschmerzen, Übelkeit und anderen Merkmalen des Migränekomplexes voraus. Geschieht letzteres, so wird das gesamte Syndrom als klassische Migräne bezeichnet (Kapitel 3).

Etwas entfernter verwandt mit den genannten Syndromen ist eine höchst spezifische Migränevariante, die wir unter einer Vielzahl von Namen beschrieben finden und die man wohl am besten als migränöse Neuralgie bezeichnet. In sehr seltenen Fällen bleiben nach einer einfachen oder klassischen Migräne lang anhaltende, neurologische Ausfälle zurück, die sogenannten hemiplegischen oder ophtalmoplegischen Migränen. In Zusammenhang mit diesen seltenen Varianten werden wir uns auch kurz mit den Pseudomigränen beschäftigen, bei denen sich organische Hirnläsionen in Form von Migränesymptomen bemerkbar machen (Kapitel 4).

Teil I schließt mit dem Versuch, unter Verwendung der bereits eingeführten Terminologie einige allen Migräneformen gemeinsame formale Charakteristika, also die allgemeine Struktur der Migräne, zu definieren.

1Die einfache Migräne

Seit meinem zwanzigsten Lebensjahr leide ich, sonst bei guter Gesundheit, unter Migräne. Alle drei oder vier Wochen überfällt sie mich … Ich erwache mit einem allgemeinen Gefühl von Unwohlsein und einem leichten Schmerz in der rechten Schläfengegend, der, ohne sich über die Schädelmitte auszubreiten, gegen Mittag seine größte Intensität erreicht; gegen Abend verschwindet er dann gewöhnlich. Wenn ich mich ruhig halte, ist der Schmerz erträglich, doch steigert er sich bei Bewegung zu äußerster Heftigkeit … Er reagiert auf jedes Pulsieren der Schläfenarterie. Letztere fühlt sich auf der betroffenen Seite an wie ein hartes Seil, während sich die linke in ihrem normalen Zustand befindet. Das Gesicht ist bleich und eingefallen, das rechte Auge klein und gerötet. Auf dem Höhepunkt der Attacke überfällt mich, wenn sie heftig ist, Übelkeit … Manchmal bleiben leichte Magenbeschwerden zurück; häufig bleibt auch die Kopfhaut den nächsten Morgen über an einer Stelle empfindlich … Nach der Attacke kann ich mich eine gewisse Zeit Einflüssen aussetzen, die zuvor unweigerlich einen Anfall ausgelöst hätten.

Emil du Bois-Reymond, 1860

Die Hauptsymptome einer einfachen Migräne sind Kopfschmerzen und Übelkeit. Sie können mit einer bemerkenswerten Vielfalt anderer deutlicher Symptome einhergehen, zusammen mit kleineren Störungen und physiologischen Veränderungen, die der Patient möglicherweise gar nicht wahrnimmt. Während der gesamten Attacke dominiert, um mit Emil du Bois-Reymond zu sprechen, «ein allgemeines Gefühl von Unwohlsein», das körperlich oder emotional erfahren wird und sich mit Worten nur schwer oder gar nicht beschreiben läßt. Daß die Symptome sehr variabel sind, gilt nicht nur für die Attacken verschiedener Patienten, sondern auch für aufeinanderfolgende Attacken desselben Patienten.

Wenden wir uns also den Komponenten einer einfachen Migräne zu. Wir werden sie nacheinander benennen und beschreiben, wobei Migränesymptome natürlich niemals in solcher schematischen Vereinzelung auftreten, sondern auf unterschiedliche Weise miteinander verbunden sind. Manche Symptome vereinen sich zu charakteristischen Konstellationen, während andere sich in einer bestimmten und häufig dramatischen Reihenfolge präsentieren, so daß wir in solchen Attacken eine grundlegende Sequenz erkennen können.

Kopfschmerzen

Der Charakter der Schmerzen variiert sehr stark; zumeist sind sie hämmernd, pochend oder ziehend. .. [in anderen Fällen] drückend und dumpf … bohrend mit einem Gefühl des Zerberstens … sich ausdehnend … ausstrahlend … in manchen Fällen fühlt es sich an, als ob ein Keil in den Kopf getrieben wird, oder wie ein Geschwür oder als ob das Gehirn in Stücke gerissen oder aus dem Kopf gepreßt wird.

J.C. Peters, 1853

Herkömmlicherweise wird der Migränekopfschmerz als heftiger, pochender Schmerz in einer Schläfe beschrieben, und tatsächlich tritt er auch nicht selten in dieser Form auf. Ihm eine konstante Lokalisation, Qualität oder Intensität zuzuschreiben ist allerdings unmöglich, denn dem Spezialisten wird der Kopfschmerz im Migränekontext in allen nur möglichen Variationen begegnen. Dazu H.G. Wolff (1963):

Migränekopfschmerzen sind vor allem temporal, supraorbital, frontal, retrobulbär, parietal, postaurikulär und okzipital … Sie können auch im Wangenbereich, in den Zähnen des Ober- wie des Unterkiefers, an der Nasenwurzel, in der mittleren Augenhöhlenwand, im Nacken und im Bereich der Halsschlagadern und hinab bis zum Ende der Schulter auftreten.

Man kann jedoch allgemein feststellen, daß der Migränekopfschmerz häufiger halb-als beidseitig auftritt und dazu tendiert, sich im Verlauf der Attacke diffus auszubreiten. Gewöhnlich ist eine Kopfseite bevorzugt betroffen, und bei einigen Patienten ihr Leben lang ausschließlich die rechte oder die linke. Häufiger besteht nur eine relative Präferenz, oft verbunden mit unterschiedlicher Schmerzintensität: schwere häufige Hemikranie auf der einen Seite und leichte gelegentliche Hemikranie auf der anderen. Etliche Patienten klagen über einen Wechsel der Hemikranie von einer Seite auf die andere in aufeinanderfolgenden Attacken oder sogar im Verlauf eines Anfalls. Mindestens ein Drittel aller Patienten leidet vom Beginn der Attacke an unter beidseitigem oder diffusem Kopfschmerz (Holokranie).

Ähnlich variabel ist die Art des Migränekopfschmerzes. In weniger als der Hälfte der Fälle ist er pochend, und auch hier oft nur zu Beginn, um dann bald in einen Dauerschmerz überzugehen. Pochender Schmerz während der ganzen Attacke ist selten und tritt vornehmlich bei Patienten auf, die sich trotz Migräne zu ständiger körperlicher Aktivität zwingen. Das Pochen ist pulssynchron und kann mit sichtbarem Pulsieren der extrakranialen Arterien einhergehen.

Seine Intensität ist proportional der erhöhten Amplitude solcher Arterienpulse (Wolff), und der Schmerz läßt sich durch Druck auf die Arterie, die Halsschlagader oder manchmal auch auf den Augapfel auf der jeweils betroffenen Seite unterbrechen. Löst man den Fingerdruck, leben nach der Okklusion Arterienpuls und Kopfschmerz unverzüglich und heftig wieder auf. Das Pochen ist jedoch kein sine qua non vaskulärer Kopfschmerzen, und sein Fehlen hat nicht dieselbe Bedeutsamkeit wie sein Auftreten. Doch es steht fest, daß sich fast alle vaskulären Kopfschmerzen durch aktives oder passives Bewegen des Kopfes oder durch den sich fortpflanzenden Stoß beim Husten, Niesen oder Erbrechen verschlimmern. Ruhe oder Fixieren des Kopfes in einer Position minimieren daher den Schmerz. Auch Gegendruck kann ihn mildern; viele Migräniker drücken deshalb die betroffene Schläfe ins Kissen oder halten die schmerzende Seite mit der Hand.

Sehr variabel ist auch die Dauer eines Migränekopfschmerzes. Bei einer extrem akuten Attacke («migränöse Neuralgie») ist der Schmerz möglicherweise nur eine Angelegenheit von Minuten. Bei einer einfachen Migräne hält der Schmerz selten weniger als drei Stunden an, normalerweise sind es acht bis vierundzwanzig Stunden, manchmal mehrere Tage und im Extremfall eine Woche. Bei sehr ausgedehnten Attacken kann es zu Gewebeveränderungen kommen. Die unter der Haut liegende Schläfenarterie (Arteria temporalis superficialis) mit ihren Ästen ist dann äußerst berührungsempfindlich und sichtbar verhärtet. Auch die Haut in ihrer Umgebung kann nach Abklingen der Schmerzen über einen Tag lang empfindlich bleiben. In sehr seltenen Fällen bildet sich ein spontanes Hygrom oder Hämatom um die betroffene Ader.

Die Intensität von Migränekopfschmerzen variiert ebenfalls erheblich. Sie können so heftig sein, daß sie den Betroffenen völlig außer Gefecht setzen, oder so schwach, daß sie nur als kurzzeitiger Schmerz beim Kopfschütteln oder Husten spürbar sind.[*] Die Schmerzintensität kann sich auch während einer Attacke ändern; ein langsames An- und Abschwellen in Perioden von wenigen Minuten wird häufig beschrieben, doch können die Phasen, in denen der Schmerz zu- oder abnimmt, auch sehr viel länger sein, insbesondere bei menstruellen Migränen.

Häufig werden Migränekopfschmerzen durch gleichzeitiges oder vorhergehendes Auftreten von Kopfschmerzen anderen Typs kompliziert. Ein vornehmlich in der Zervikal- und hinteren Okzipitalregion lokalisierter charakteristischer «Spannungskopfschmerz» kann einen Migränekopfschmerz einleiten oder begleiten, vor allem dann, wenn Reizbarkeit, Angst oder fortgesetzte Aktivität die Attacke bestimmen. Solche Spannungskopfschmerzen sind kein integraler Bestandteil der Migräne, sondern eine sekundäre Reaktion auf sie.

Übelkeit und damit verbundene Symptome

Das Aufstoßen ist entweder geruchlos und ohne Geschmack oder von einer unerträglichen Widerlichkeit; es fließt reichlich Schleim und Speichelflüssigkeit in den Mund, manchmal vermischt mit einer Substanz von bitterem, galligen Geschmack; es besteht äußerster Widerwille, Nahrung zu sich zu nehmen; allgemeine Unpäßlichkeit … anfallartige Blähungen des Magens aufgrund von Gasansammlung, gefolgt von Aufstoßen mit vorübergehender Erleichterung, oder Erbrechen können auftreten  …

J.C. Peters, 1853

Übelkeit, ob geringfügig und in Abständen auftretend oder ständig vorhanden und überwältigend, ist ein Symptom jeder einfachen Migräne. Das Wort «Übelkeit» (Nausea) ist seit alters her in wörtlichem wie übertragenem Sinne zu verstehen und meint nicht nur eine spezifische (wenn auch nicht zu lokalisierende) Empfindung, sondern auch einen Geisteszustand und ein Verhaltensmuster – ein Sich-Abwenden von Nahrung, von allem und jedem, und ein Sich-nach-innen-Wenden. Selbst wenn die Übelkeit nicht spürbar ist, haben die weitaus meisten Migränepatienten eine Abneigung gegen Essen, weil sie wissen, daß der Akt des Essens, der Anblick, der Geruch, ja sogar der bloße Gedanke an Nahrung möglicherweise heftige Übelkeit auslösen. Wir können in diesem Zusammenhang geradezu von einer latenten Übelkeit sprechen.

Sehr oft geht die Übelkeit mit einer Vielzahl weiterer – lokaler und systemischer – Symptome einher. Vermehrter Speichelfluß und der Rückfluß (Reflux) bitteren Mageninhalts («Sodbrennen»), zwangsläufig verbunden mit Schlucken oder Ausspucken, können das Übelkeitsgefühl nicht nur begleiten, sondern ihm auch einige Minuten lang vorausgehen. Nicht selten wissen Patienten, daß sich eine schwere Migräne ankündigt, wenn sich ihr Mund mit Speichel und bitterem Mageninhalt füllt, und sind so in der Lage, rechtzeitig Medikamente zu nehmen und weiteren Symptomen vorzubeugen.

Übelkeit ruft verschiedene Arten viszeraler Ausstoßreaktionen hervor: Schluckauf, Aufstoßen, Würgen und Erbrechen. Wenn der Patient Glück hat, endet mit dem Erbrechen nicht nur die Übelkeit, sondern die ganze Migräneattacke. In den meisten Fällen wird ihm das Erbrechen jedoch keine Erleichterung bringen, sondern einen bestehenden vaskulären Kopfschmerz auf peinigende Weise verschlimmern. Eine ausgeprägte Übelkeit ist sehr viel schwerer zu ertragen als Kopfschmerzen oder Schmerzen anderer Art, und bei vielen, insbesondere jungen Patienten dominieren Übelkeit und Erbrechen das klinische Bild und machen die einfache Migräne zu einem höchst elenden Zustand.

Wiederholtes Erbrechen entleert zunächst den Magen, dann wird aufsteigende Galle erbrochen, bis die Betroffenen schließlich unter stetig wiederkehrendem «trockenem» Brechreiz oder Würgen leiden. Erbrechen ist (zusammen mit übermäßigem Schwitzen und Durchfall) die Hauptursache des schweren Flüssigkeits- und Elektrolytmangels, der Patienten mit länger andauernden Attacken völlig entkräften kann.

Veränderungen des Gesichts

Die anschaulichen Bezeichnungen «rote Migräne» und «weiße Migräne» stammen von Emil du Bois-Reymond und haben einen gewissen deskriptiven Wert. Bei einer roten Migräne ist das Gesicht dunkel und gerötet, einem älteren Bericht (Peters 1853) zufolge «übermäßig mit Blut gefüllt, mit einem Dröhnen und Sausen im Kopf, einem aufgedunsenen, glühenden und glänzenden Gesicht … großer Hitze in Kopf und Gesicht … Pochen in Halsschlagader und Schläfenarterien».

Eine derart starke Plethora-Symptomatik, wie Peters sie hier beschreibt, ist sehr ungewöhnlich und nicht einmal bei einem Zehntel aller Fälle von einfacher Migräne zu finden. Patienten mit einem Hang zu roter Migräne neigen oft auch dazu, vor Wut rot anzulaufen oder vor Verlegenheit zu erröten: Gesichtsrötung, so können wir sagen, ist ihr «Stil».

Fall 40 Ein 60jähriger Mann von reizbarem Temperament leidet seit seinem achtzehnten Lebensjahr an einfacher Migräne, und seine Kindheitsanamnese verzeichnet Gallenattacken und schwere Kinetose. Sein Gesicht ist rot wie rohes Rindfleisch mit winzigen erweiterten Arteriolen in Nase und Augen. Während seiner häufigen Wutanfälle läuft er rot an, und tatsächlich scheint in seinem Gesicht stets ein rotes, schwelendes Feuer zu glühen – die exakte physiologische Entsprechung seiner chronisch schwelenden Reizbarkeit. Einige Minuten vor Einsetzen der Migränekopfschmerzen wird sein Gesicht hochrot und bleibt während der ganzen Attacke gerötet.

Sehr viel vertrauter ist uns das Bild der weißen Migräne, bei der das Gesicht blaß oder sogar aschfahl, hager, abgespannt und verhärmt erscheint. Unter den Augen, die klein sind und tief in den Höhlen liegen, bilden sich Ringe. Diese Veränderungen können so markant sein, daß sie an das Bild des chirurgischen Schocks erinnern. Bei schwerer Übelkeit sind die Betroffenen immer sehr blaß. Gelegentlich rötet sich das Gesicht in den ersten Minuten einer Attacke und erblaßt dann abrupt, als ob, um mit Peters zu sprechen, «plötzlich alles Blut aus dem Kopf in die Beine sackt».

Zuweilen kommt es, sei es als isoliertes Merkmal oder im Kontext einer allgemeinen Flüssigkeitsretention oder Ödemneigung, zu einem Gesichts- und Kopfhautödem. Bei manchen Patienten schwellen zu Beginn einer Attacke, ähnlich wie beim angioneurotischen Ödem, Gesicht, Zunge und Lippen an. Bei einem solchen Patienten, den ich selbst beobachtet habe, entwickelte sich in der Anfangsphase einer Attacke einige Minuten vor Einsetzen der Kopfschmerzen auf einer Seite ein massives periorbitales Ödem. Im häufigeren Fall bilden sich Gesichts- und Kopfhautödem nach einer länger andauernden Erweiterung extrakranialer Gefäße und gehen, wie Wolff und andere gezeigt haben, mit Flüssigkeitsaustritt und steriler Entzündung im Bereich der betroffenen Blutgefäße einher. Die ödematöse Haut ist stets empfindlich und die Schmerzschwelle an dieser Stelle erniedrigt.

Augensymptome

Fast immer lassen sich während oder vor einer Migränekopfschmerz-Attacke sichtbare Veränderungen an den Augen entdecken, auch wenn der Patient selbst von keinerlei visuellen oder okularen Symptomen berichtet. Gewöhnlich sind die kleinen Blutgefäße im Augapfel gerötet, und bei besonders schweren Attacken können die Augen völlig blutunterlaufen sein (wie es für die migränöse Neuralgie charakteristisch ist). Durch vermehrten Tränenfluß können die Augen feucht (chemotisch) aussehen – ein dem vermehrten Speichelfluß analoges und oft synchron mit ihm verlaufendes Phänomen –, oder sie sind trüb infolge einer exsudativen Entzündung der Gefäße. Oder die Augen erscheinen glanzlos und eingesunken: Es kann zu einer echten Enophthalmie kommen.

In schweren Fällen gehen diese Veränderungen im Augapfel mit etlichen Begleitsymptomen einher: Jucken und Brennen im betroffenen Auge, schmerzhafter Lichtempfindlichkeit und Verschwommensehen. Letzteres kann so gravierend sein, daß der Patient völlig außer Gefecht gesetzt («blind vor Kopfschmerzen») und es aufgrund der exsudativen Verdickung der Cornea nicht einmal möglich ist, sich ein einigermaßen klares Bild von den Netzhautgefäßen zu machen.

Nasale Symptome

Nur selten werden in Beschreibungen der Migräne Symptome im Bereich der Nase erwähnt, obwohl sich bei sorgfältiger Befragung wenigstens ein Viertel aller Patienten an eine gewisse «Verstopfung» der Nase im Verlauf der Attacke erinnert. Eine Untersuchung zu diesem Zeitpunkt zeigt, daß die Nasenmuscheln verstopft und purpurrot sind. Solche Symptome und Untersuchungsergebnisse können Patient und Arzt dazu verleiten, eine Nebenhöhlenentzündung oder «allergische» Kopfschmerzen zu diagnostizieren.

Ein weiteres Nasensymptom zu Beginn oder gegen Ende einer Attacke ist eine starke katarrhalische Sekretion. Die Kombination von «laufender Nase», einem Gefühl von Unpäßlichkeit und Kopfschmerzen kann durchaus so aussehen wie eine «Erkältung» oder eine andere Virusinfektion, und zweifellos werden derartige Migränen häufig als solche fehldiagnostiziert. Wenn die «Erkältung» allerdings die Neigung zeigt, jedes Wochenende oder stets nach akuten emotionalen Belastungen aufzutreten, wird die wahre Diagnose offenbar.

Die folgende Fallgeschichte illustriert, welch große Rolle nasale und andere Sekretionen, aber auch sonstige, einer Attacke vorausgehende Symptome, die wir uns später genauer ansehen werden, im Verlauf einer Migräne spielen können:

Fall 20 Eine 53jährige Dame leidet seit fast dreißig Jahren an einer besonders ausgeprägten Form der einfachen Migräne. Eine Zeitlang stellte sich am Abend vor ihren Attacken «ein Gefühl großen Wohlbefindens» ein. In letzter Zeit wird sie eher von starker Müdigkeit befallen und neigt zu wiederholtem und unkontrollierbarem Gähnen. Sie betont die «unnatürliche … unwiderstehliche … bedrohliche» Qualität dieser Schläfrigkeit. An diesen Abenden geht sie früh zu Bett und schläft ungewöhnlich lange und tief.

Ihren Zustand nach dem Erwachen am nächsten Morgen beschreibt sie als «ein Gefühl der Ruhelosigkeit … Mein ganzes System ist irgendwie im Aufbruch, und alles in mir fängt an, sich zu bewegen …» Dieses Gefühl von Unruhe und innerer Bewegung verwandelt sich in eine diffuse sekretorische Aktivität, mit heftigem Katarrh, übermäßigem Speichel- und Tränenfluß, Schwitzen, wäßriger Diurese, Erbrechen und Durchfall. Nach zwei oder drei Stunden dieser massiven inneren Aktivität entwickelt sie einen heftigen pochenden Kopfschmerz auf der linken Seite.

Abdominelle Symptome und abnorme Darmtätigkeit

Etwa ein Zehntel der an einfacher Migräne leidenden Erwachsenen klagt über Bauchschmerzen und abnorme Darmbewegung während der Attacke. Bei jüngeren Patienten ist dieser Anteil merklich höher, und die hier als mögliche untergeordnete Komponente einer einfachen Migräne beschriebenen Abdominalsymptome können im Falle sogenannter «abdomineller Migränen» (Kapitel 2) die vorherrschenden oder auch einzigen Symptome sein.

Zwei Typen von Abdominalschmerz kehren in den Beschreibungen mit einer gewissen Häufigkeit wieder. Das eine ist ein intensiver, stetiger, bohrender, «neuralgischer» Schmerz, der gewöhnlich im Oberbauch auftritt und manchmal in den Rücken ausstrahlt – er kann den Schmerzen eines perforierten Geschwürs, einer Gallenblasenentzündung (Cholezystitis) oder einer Pankreatitis ähneln. Etwas häufiger berichten Patienten von einem kolikartigen Bauchschmerz, oft im rechten Unterbauch lokalisiert, der nicht selten für eine Blinddarmentzündung (Appendizitis) gehalten wird.

Ein aufgeblähter Leib, fehlende Darmgeräusche und Verstopfung sind häufige Symptome der Prodromalphase, der Anfangsstadien einer Migräne. Röntgenkontrastaufnahmen haben Stasis und Dilatation im gesamten Gastrointestinaltrakt während dieser Phase bestätigt. Dem Stillstand folgt später oder in der Endphase der Attacke eine gesteigerte peristaltische Aktivität im gesamten Darm, klinisch manifest als Kolikschmerz, Durchfall und saures Aufstoßen.

Lethargie und Schläfrigkeit

Wenn auch viele Patienten, insbesondere die unbeugsamen und zwanghaften unter ihnen, keine Zugeständnisse an die Migräne machen und sich beharrlich durch den alltäglichen Ablauf von Arbeit und Spiel kämpfen, zeichnen sich schwere einfache Migränen doch durch eine gewisse Teilnahmslosigkeit und den Wunsch nach Ruhe aus. Allein ein vaskulärer Kopfschmerz, der äußerst empfindlich auf Kopfbewegungen reagiert, erzwingt Inaktivität, doch das ist keineswegs der einzige, ja nicht einmal der wesentliche Mechanismus, der hier wirksam ist. Viele Patienten fühlen sich während einer Attacke schwach und zeigen einen verminderten Muskeltonus. Viele sind niedergeschlagen, ziehen sich zurück und verhalten sich passiv. Viele sind schläfrig.

Die Beziehung zwischen Schlaf und Migräne ist komplexer und fundamentaler Natur, und wir werden in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen Gelegenheit haben, darauf zurückzukommen: beim Auftreten von Synkope und Stupor in den akutesten Migräneformen (Migräne-Aura und klassische Migräne), im Zusammenhang mit der Tendenz aller Migränetypen, während des Schlafs aufzutreten, und wenn wir uns Gedanken über eine mögliche Verwandtschaft mit Traum und Alpdrücken machen. An dieser Stelle sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf drei Aspekte einer komplexen Beziehung richten: das Auftreten von starker Schläfrigkeit und Stupor vor oder während einer einfachen Migräne, das zuweilen abrupte Ende von Attacken nach einem kurzen und ungewöhnlich tiefen Schlaf und den typischen protrahierten Schlaf, mit dem viele Attacken ihr natürliches Ende finden.

Nirgendwo finden wir den migränösen Stupor genauer und lebendiger beschrieben als in der Monographie Liveings:

Es ist wichtig, diese Schläfrigkeit vom vergleichsweise natürlichen und wohltuenden Schlaf zu unterscheiden, der in vielen Fällen den Paroxysmus beendet und manchmal abkürzt. Sie ist ganz im Gegenteil höchst unangenehm und bedrückend und führt zuweilen an den Rand eines Komas.

Liveing vergleicht diese Schläfrigkeit mit den veränderten Bewußtseinszuständen, wie sie manchmal einem Asthmaanfall vorausgehen, und zitiert folgende introspektive Beschreibung:

Um 4 Uhr nachmittags machten sich die ersten Symptome eines bevorstehenden Anfalls bemerkbar. Das waren vor allem ein Gefühl der Enge im Kopf, dumpfe und schwere Augen und eine unangenehme Schläfrigkeit. Die Schläfrigkeit wurde so stark, daß ich einen großen Teil des Abends in immer wieder auftretenden «Trancen» – wie ich diesen Zustand nenne – verbrachte. Diese fürchterliche Schläfrigkeit verhindert im allgemeinen, daß man spürt, wie der Anfall sich nähert, bis er dann begonnen hat.

In dem oben zitierten Fall aus meiner eigenen Praxis (Fall 20, S. 48) beschreibt die Patientin einen sehr ähnlichen Zustand von unwiderstehlicher und unangenehmer Schläfrigkeit als Prodrom ihrer Attacken, und solche Beschreibungen ließen sich beliebig vermehren. Manchmal geht die Schläfrigkeit anderen Symptomen um Minuten oder Stunden voraus, manchmal stellt sie sich pari passu mit Kopfschmerzen und anderen Symptomen ein. Charakteristisch für diesen lethargischen Zustand ist das wiederholte Gähnen, vermutlich der Versuch, mit Hilfe eines physiologischen Erregungsmechanismus der Trägheit Herr zu werden. Diese migränöse Schläfrigkeit ist nicht nur «unwiderstehlich», klebrig und unangenehm, sondern geht oft auch mit seltsam lebendigen, scheußlichen und wirren Träumen einher – ein Zustand an der Grenze zum Delirium. Man tut also gut daran, sich ihm nicht ohne Gegenwehr auszuliefern.[*]

Manche Patienten machen allerdings die Erfahrung, daß ein kurzer, tiefer Schlaf in der Anfangsphase einer Migräne deren weitere Entwicklung verhindert.

Fall 18 Ein 24jähriger Mann leidet an klassischer und einfacher Migräne und gelegentlich auch an nächtlichem Asthma und somnambulen Episoden. Er könne, berichtet er, kurz nach Einsetzen einer Migräne, «in einen sehr tiefen Schlaf fallen … ich bin dann kaum aufzuwecken». Wenn die Umstände es ihm gestatteten, dies dann auch zu tun, wache er nach einer Stunde sehr erfrischt und ohne jedes Symptom wieder auf. Sei er aber daran gehindert, auf diese Art zu schlafen, nehme die Attacke für den Rest des Tages ihren Lauf.

So ein Heilschlaf kann sehr kurz sein. Liveing zitiert den Fall eines Gärtners mit typischer abdomineller Migräne. Dieser Patient konnte das Fortschreiten einer Attacke dadurch verhindern, daß er sich bei den ersten Symptomen unter einen Baum legte und zehn Minuten lang schlief.

Benommenheit, Schwindel, Schwächegefühl und Synkopes

Wirklicher Schwindel ist im Verlauf einer einfachen Migräne offenbar ein seltenes Ereignis, tritt aber im Rahmen einer Migräne-Aura oder einer klassischen Migräne oft auf. Zu leichteren Schwindel- und Unsicherheitsgefühlen kommt es dagegen sehr häufig. In einer klinischen Studie von G. Selby und J.W. Lance (1960) «klagten etwa 72 Prozent» von fünfhundert Migränepatienten jeden Typs «über Benommenheit, leichten Schwindel und Unsicherheit». Ferner beobachteten Selby und Lance, daß «sechzig von 396 Patienten im Verlauf von Kopfschmerzattacken das Bewußtsein verloren» hatten.

Solche Symptome haben natürlich mehrere mögliche Ursachen, etwa vegetative Reaktionen auf Schmerz und Übelkeit, vasomotorisch bedingte Kollapsneigung, Entkräftung aufgrund von Flüssigkeitsverlust oder Erschöpfung, Muskelschwäche und Adynamie etc. Auf jeden Fall ist immer auch ein zentralnervöser Mechanismus wirksam, der in gewissem Umfang das Bewußtsein trübt oder einschränkt.

Veränderungen im Flüssigkeitshaushalt

Etliche Migränepatienten klagen darüber, daß ihr Gewicht während eines Anfalls zunimmt oder daß Kleidung, Ringe, Gürtel, Schuhe etc. zu eng werden. Diese Symptome hat Wolff sehr genau analysiert. Bei mehr als einem Drittel der von ihm untersuchten Patienten fand er eine gewisse Gewichtszunahme vor Einsetzen der Kopfschmerzen. Da sich die Kopfschmerzen aber weder durch eine experimentell herbeigeführte Diurese noch durch vermehrte Flüssigkeitszufuhr beeinflussen ließen, schloß Wolff, daß «Gewichtszunahme und allgemeine Flüssigkeitsretention nicht in ursächlichem Zusammenhang mit dem Kopfschmerz stehen, sondern deren Begleiterscheinung sind», eine sehr bedeutsame Schlußfolgerung, auf die wir zurückkommen werden, wenn wir uns mit den Beziehungen der verschiedenen Symptome des Migränekomplexes untereinander beschäftigen.

Während der Phase der Wasserretention ist die Urinausscheidung vermindert und der ausgeschiedene Urin hochkonzentriert.[*] Die eingelagerte Flüssigkeit wird gegen Ende des Migräneanfalls, zuweilen in Verbindung mit weiteren sekretorischen Aktivitäten, in Form reichlichen Harnlassens ausgeschieden.

Fall 35 Diese 24jährige Frau leidet regelmäßig an menstrueller Migräne und an durchschnittlich ein bis zwei weiteren Attacken pro Monat. Allen Attacken geht eine Gewichtszunahme bis zu zehn Pfund voraus. Die Flüssigkeit verteilt sich auf Rumpf, Füße, Hände und Gesicht und sammelt sich im Verlauf von etwa zwei Tagen an. Gleichzeitig mit der Flüssigkeitsretention kommt es zu einem, wie es die Patientin ausdrückt, «starken Anstieg der nervösen Energie» in Form von Ruhelosigkeit, Hyperaktivität, Redseligkeit und Schlaflosigkeit, gefolgt von 24 bis 36 Stunden andauernden, krampfartigen Bauchschmerzen und vaskulärem Kopfschmerz. Die Attacken lösen sich dann in buchstäblichem Sinne in einer massiven Diurese und unwillkürlichem Tränenfluß auf.

Fieber

Viele Patienten fühlen sich während einer einfachen Migräne fiebrig, und tatsächlich kann es vor Einsetzen der Kopfschmerzen oder sie begleitend zu Gesichtsröte, Kälte und Zyanose der Extremitäten, zu Schüttelfrost, Schwitzen und abwechselnden Kälte- und Hitzeschauern kommen. Diese Symptome müssen nicht unbedingt mit Fieber einhergehen, obwohl Temperaturerhöhungen – und besonders bei jugendlichen Migränikern sogar als recht hohes Fieber – auftreten können.

Fall 60 Ein 20jähriger Mann leidet seit seinem achten Lebensjahr an einfacher Migräne. Die Kopfschmerzen werden begleitet von starker Übelkeit, Blässe und gastrointestinalen Störungen, Kälteschauern, kaltem Schweiß und sporadischer Muskelsteife. Einmal hatte ich Gelegenheit, ihn während einer schweren Attacke zu untersuchen, seine – oral gemessene – Temperatur betrug 39,7 Grad Celsius.

Untergeordnete Symptome und Anzeichen

Pupillenverengung an einem Auge, Lidsenkung (Ptose) und Enophthalmie (Hornersches Syndrom) können bei halbseitiger Migräne zu auffallender Asymmetrie führen. Über die Pupillengröße läßt sich allerdings keine einheitliche Aussage treffen. In den frühen Stadien eines Anfalls oder bei sehr starkem Schmerz können die Pupillen erweitert sein; wenn dann im weiteren Verlauf Übelkeit, Lethargie, Kollapsneigung etc. das Bild dominieren, sind die Pupillen eher klein. Das gilt ähnlich auch für die Pulsfrequenz. Einer anfänglichen Tachykardie folgt sehr oft eine länger andauernde Bradykardie, letztere gelegentlich begleitet von stark gesenktem Blutdruck, Kollapsneigung oder kurzer Ohnmacht (Synkope). Aufmerksame Patienten weisen selber auf solche Veränderungen von Puls und Pupillen während ihrer schlimmsten Attacken hin.

Fall 51 Ein 48jähriger Mann leidet seit seiner Kindheit an Migräneanfällen und chronischer Tachykardie. Er ist daher sehr beeindruckt von der Verlangsamung seines Pulses während der Attacken und hat auch beobachtet, daß seine normalerweise großen Pupillen sehr klein werden. Als ich ihn während eines Anfalls sah, konnte ich diese Beobachtungen bestätigen: Er war auffallend blaß und schwitzte stark, hatte gerötete, tränende Augen, stecknadelkopfgroße Pupillen und eine Bradykardie von 45 Schlägen pro Minute.

Es gibt unzählige seltsame, verschiedenartige Veränderungen physiologischer Funktionen, die im Verlauf einer Migräne auftreten können. Ihre vollständige Auflistung ergäbe einen faszinierenden Katalog von Kuriosa. Ein kurzer Hinweis auf ausgedehnte Gefäßveränderungen und gelegentlich auftretende trophische Störungen im Rahmen einer Migräne mag daher genügen. Daß sich um eine betroffene Kopfarterie ein spontaner Erguß oder eine Ekchymose bilden kann, habe ich bereits erwähnt. So ging die «rote» Migräne eines meiner Patienten einher mit einem Flush des gesamten Körpers, in späteren Phasen der Attacke gefolgt von zahlreichen spontanen Ekchymosen an Rumpf und Gliedern. Einer 25jährigen Patientin schmerzten während der Migränekopfschmerzen die Innenflächen beider Hände, und solange die Schmerzen andauerten, waren die Hände gerötet und geschwollen: Dieses Syndrom hat sehr viel Ähnlichkeit mit der von Wolff beschriebenen «Palmarmigräne».

In der Literatur finden wir oft erwähnt, daß nach wiederholten Migräneanfällen das Kopfhaar weiß werden und ausfallen kann. Der einzige derartige Fall, den ich aus eigener Anschauung kenne, war der einer Frau in mittleren Jahren, die an häufigen, sehr schweren und stets linksseitigen Hemikranien litt. Als sie Mitte Zwanzig war, färbte sich auf dieser Seite eine Haarsträhne schlohweiß, das übrige Haar blieb noch jahrelang tiefschwarz.

Organische Überempfindlichkeit

… der Patient konnte keinerlei Berührung am Kopf ertragen, und das geringfügigste Licht und das kleinste Geräusch, selbst das Ticken seiner Uhr, waren ihm unerträglich.

Simon André Tissot, 1778

Überempfindlichkeit und Photophobie gehen überaus häufig mit Migräneattacken einher, so daß Wolff und andere sie als pathognomische, die Diagnose erleichternde Merkmale einstuften.

Wir haben es mit zwei Arten von Überempfindlichkeit als Begleiterscheinung von Migräne zu tun. Da ist zunächst der Stimmungsumschwung und das defensive Sichzurückziehen, die das Verhalten und auch die sozialen Kontakte vieler Migränepatienten prägen. Die zweite Art von Überempfindlichkeit hat ihre Ursache in einer diffusen sensorischen Erregung und Reizbarkeit, die so groß ist, daß jeglicher sensorische Reiz, wie es schon Tissot beschrieb, unerträglich wird. Migräniker neigen insbesondere zu Photophobie, einem starken, lokal und allgemein empfundenen Unbehagen, das durch Licht hervorgerufen wird. Die Betroffenen meiden jegliches Licht, was zum hervorstechenden äußeren Merkmal der gesamten Attacke werden kann. Diese Photophobie ist zum Teil die Folge der bereits erwähnten Hyperämie und Entzündung der Bindehaut und geht mit Brennen und Jucken der Augen einher. Doch im wesentlichen liegt der Photophobie eine zentrale Übererregbarkeit und sensorische Erregung zugrunde, die in vielen Fällen von sehr lebhaften und länger andauernden Nachbildern und einer turbulenten Bildsymbolik begleitet wird. W.C. Alvarez hat derartige Symptome während eigener Migräneanfälle anschaulich beschrieben. Im Anfangsstadium eines Anfalls sieht er beim Fernsehen auf dem Bildschirm Nachbilder von solcher Leuchtkraft, daß er dem Fernsehgeschehen nicht mehr folgen kann. Aufmerksame Patienten berichten immer wieder, daß sie in einer solchen Phase mit geschlossenen Augen einem optischen Feuerwerk ausgesetzt seien, einem Kaleidoskop schnell wechselnder Farben und Bilder, letztere entweder amorph oder in hohem Maße strukturiert wie Traumbilder.