Onkel Wolfram - Oliver Sacks - E-Book

Onkel Wolfram E-Book

Oliver Sacks

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Beschreibung

Ein originelles Buch voller Geschichten und Anekdoten mit unerwarteten Einsichten – ein echter Sacks! «Wolfram» heißt der chemische Grundstoff, den man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram – englisch «Uncle Tungsten» – nannte Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete – stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.

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Oliver Sacks

Onkel Wolfram

Erinnerungen

Aus dem Englischen von Hainer Kober

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Ein originelles Buch voller Geschichten und Anekdoten mit unerwarteten Einsichten – ein echter Sacks!

 

«Wolfram» heißt der chemische Grundstoff, den man unter anderem zur Herstellung von Glühfäden braucht, und Onkel Wolfram – englisch «Uncle Tungsten» – nannte Oliver Sacks seinen Lieblingsonkel Dave. Denn dieser betrieb im Londoner Stadtteil Farringdon eine Glühbirnenfabrik, und die Besuche bei Onkel Wolfram in seiner Firma Tungstalite wurden zu prägenden Erlebnissen für den kleinen Oliver. Er war sechs Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann, und zwölf, als die Völkerschlacht endete – stärker als alle Kriegsereignisse beeindruckten ihn seine Erfahrungen mit Phänomenen der Natur und Technik.

Über Oliver Sacks

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert De Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City.

Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».

Inhaltsübersicht

Kapitel eins Onkel WolframKapitel zwei «37»Kapitel drei ExilKapitel vier Ein ideales MetallKapitel fünf Licht für die MassenKapitel sechs Im Land des AntimonitsKapitel sieben Chemische LustbarkeitenKapitel acht Stinken und knallenKapitel neun HausbesucheKapitel zehn Eine chemische SpracheKapitel elf Humphry Davy: Poet und ChemikerKapitel zwölf BilderKapitel dreizehn Mr. Daltons runde HolzklötzchenKapitel vierzehn KraftlinienKapitel fünfzehn FamilienlebenKapitel sechzehn Mendelejews GartenKapitel siebzehn Ein TaschenspektroskopKapitel achtzehn Kaltes FeuerKapitel neunzehn MaKapitel zwanzig Durchdringende StrahlenKapitel einundzwanzig Madame Curies ElementKapitel zweiundzwanzig Straße der ÖlsardinenKapitel dreiundzwanzig Befreite WeltKapitel vierundzwanzig Strahlendes LichtKapitel fünfundzwanzig Das Ende einer LiebeNachwortDank

Kapitel einsOnkel Wolfram

Viele meiner Kindheitserinnerungen betreffen Metalle: Von Anfang an schienen sie einen besonderen Zauber auf mich auszuüben. Von der Uneinheitlichkeit der Welt hoben sie sich auffällig ab mit ihrem Glanz, ihrem Schimmer, ihrem silbrigen Schein, ihrer Glätte und ihrem Gewicht. Sie waren kühl, wenn man sie berührte, und gaben Töne von sich, wenn man sie anschlug.

Ich liebte die gelbe Farbe, die Schwere des Goldes. Oft zog meine Mutter den Ehering vom Finger und ließ mich eine Zeit lang damit spielen, während sie mir berichtete, dass er unantastbar, gegen jedes Anlaufen gefeit sei. «Sieh nur, wie schwer er ist», sagte sie dann. «Noch schwerer als Blei.» Ich kannte Blei, denn ich hatte mit dem schweren, weichen Stück Rohrleitung gespielt, das der Klempner einmal zurückgelassen hatte. Auch Gold sei weich, sagte meine Mutter, deshalb werde es gewöhnlich mit anderem Metall gemischt, um es härter zu machen.

Wie beim Kupfer – das mischte man mit Zinn, um Bronze herzustellen. Bronze! Schon allein das Wort war für mich wie ein Fanfarenstoß, der zur Schlacht aufrief, wo Bronze kühn auf Bronze prallte, Bronzespeere auf Bronzeschilde, den großen Schild des Achill. Man könne Kupfer aber auch mit Zink legieren, sagte meine Mutter, das ergebe Messing. Wir alle – meine Mutter, meine Brüder und ich – hatten unsere eigenen Messingmenora für Chanukka. (Mein Vater hatte einen silbernen Leuchter.)

Ich kannte Kupfer, die glänzende rötliche Färbung des großen Kupferkessels in unserer Küche – er wurde nur einmal im Jahr heruntergenommen, wenn die Quitten und Holzäpfel im Garten reif waren und meine Mutter sie zu Gelee einkochte.

Ich kannte Zink: Die stumpfe, leicht bläuliche Vogeltränke im Garten war aus Zink; und Zinn, von der schweren Zinnfolie, in die die Sandwiches fürs Picknick eingewickelt wurden. Meine Mutter zeigte mir, dass Zinn oder Zink ein besonderes «Geschrei» ausstoßen, wenn man sie biegt. «Das liegt an der Verformung der Kristallstruktur», sagte sie und vergaß, dass ich fünf war und die Erklärung noch nicht verstehen konnte. Trotzdem faszinierten mich ihre Worte und weckten den Wunsch, mehr zu wissen.

Im Garten gab es eine riesige Rasenwalze aus Gusseisen. Viereinhalb Zentner wiege sie, sagte mein Vater. Wir Kinder konnten sie kaum von der Stelle bewegen, aber er war ungeheuer stark und konnte sie vom Boden heben. Sie war immer etwas rostig, was mich beunruhigte, weil der Rost absplitterte und kleine Löcher und Vertiefungen hinterließ. Ich befürchtete, die Walze könnte ganz zerfressen werden und eines Tages zerfallen, sodass nur noch ein Haufen von Rostsplittern und rotem Staub übrig bliebe. Ich wollte, dass Metalle stabil waren, stabil wie Gold – fähig, alle Angriffe der Zeit abzuwehren.

Manchmal bat ich meine Mutter, ihren Verlobungsring hervorzuholen und mir seinen Diamanten zu zeigen. Er glitzerte stärker als alles, was ich bislang gesehen hatte. Man konnte fast meinen, er sende mehr Licht aus, als er empfange. Sie zeigte mir, wie mühelos er Kratzer ins Glas schnitt, und forderte mich auf, ihn an die Lippen zu legen. Er war eigenartig und verblüffend kalt. Metall fühlte sich immer kühl an, aber der Diamant eisig. Der Grund sei, so Mutter, dass er Wärme so gut leite – besser als jedes Metall. Er entziehe den Lippen die Körperwärme, sobald er sie berühre. Dieses Gefühl habe ich nie vergessen. Ein andermal zeigte sie mir, was geschieht, wenn man mit einem Diamanten einen Eiswürfel berührt: Er leitet die Wärme aus der Hand in das Eis und durchschneidet es wie Butter. Meine Mutter erzählte mir, der Diamant sei eine besondere Form des Kohlenstoffs, aus dem gleichen Element wie die Kohle, die wir im Winter in allen Zimmern verwendeten. Das verwirrte mich – wie konnte diese schwarze, poröse, undurchsichtige Kohle das Gleiche sein wie der harte, durchsichtige Edelstein in ihrem Ring?

 

Ich liebte Licht, besonders das Leuchten der Schabbes-Kerzen am Freitagabend, wenn Mutter ein Gebet murmelte, während sie sie anzündete. Wenn sie brannten, durfte ich sie nicht berühren – sie seien heilig, wurde mir gesagt, ihre Flammen seien heilig und kein Spielzeug. Ich war verzaubert von dem kleinen blauen Kegel in der Mitte der Kerzenflamme. Warum war er blau? Unsere Kamine wurden mit Kohle beheizt. Häufig starrte ich ins Herz eines Feuers und beobachtete, wie es von Dunkelrot zu Orange, zu Gelb wechselte, dann bearbeitete ich es mit dem Blasebalg, bis es fast in Weißglut war. Ich fragte mich, ob es blau erstrahlte, in Blauglut geriete, wenn es heiß genug würde.

Brannten die Sonne und die Sterne auf die gleiche Weise? Warum gingen sie nicht aus? Woraus bestanden sie?

Ich war beruhigt, als ich erfuhr, dass der Erdkern aus einer großen Eisenkugel besteht. Das klang solide und verlässlich. Es freute mich, dass wir selbst aus ganz den gleichen Elementen gemacht sind, die den Stoff von Sonne und Sternen bilden, und einige von meinen Atomen möglicherweise einmal zu einem fernen Stern gehört haben. Aber es erschreckte mich auch, denn es gab mir das Gefühl, meine Atome wären mir nur leihweise überlassen und könnten sich jederzeit davonmachen, davonfliegen wie das feine Talkumpuder, das bei uns im Badezimmer stand.

Ständig bombardierte ich meine Eltern mit Fragen. Woher die Farben kämen. Wie es meiner Mutter gelinge, die Flamme des Gasbrenners zu entzünden. Was mit dem Zucker geschehe, wenn man ihn in den Tee rühre. Wo er bleibe. Warum sich Blasen bildeten, wenn Wasser koche. (Oft beobachtete ich, wie Wasser auf dem Herd kochte, und sah es vor Hitze erzittern, bevor die Blasen emporquollen.)

Meine Mutter zeigte mir noch andere Wunder. Sie hatte ein Halsband aus polierten gelben Bernsteinstücken und führte mir vor, wie winzige Papierschnipsel aufflogen und an dem Bernstein haften blieben, wenn man ihn zuvor rieb. Oder sie hielt mir den elektrisierten Bernstein ans Ohr, sodass ich ein leises Knistern spürte und hörte, einen Funken.

Meine beiden Brüder Marcus und David, neun und zehn Jahre älter als ich, führten mir gern ihre Magneten vor, indem sie sie unter einem Stück Papier bewegten, auf das sie Eisenfeilspäne gestreut hatten. Ich wurde nicht müde, die prächtigen Muster zu bewundern, die von den Magnetpolen ausstrahlten. «Das sind Kraftlinien», erklärte mir Marcus, was mich allerdings nicht schlauer machte.

Dann gab es noch das Kristallradio, das mir mein Bruder Michael schenkte. Ich spielte damit im Bett, indem ich den Draht auf dem Kristall umherbewegte, bis ich einen Sender laut und klar hörte. Und nicht zu vergessen die Uhren mit Leuchtzifferblättern – das ganze Haus war voll von ihnen, weil mein Onkel Abe ein Pionier auf dem Gebiet der Leuchtfarben war. Wie mein Kristallradio nahm ich sie abends mit unter meine Bettdecke, in mein privates, geheimes Gewölbe, und sie erfüllten meine Höhle aus Betttüchern mit einem unheimlichen, grünlichen Licht.

All diese Dinge – der geriebene Bernstein, die Magneten, das Kristallradio, die Zifferblätter mit ihrem unermüdlichen Leuchten – vermittelten mir einen Eindruck von unsichtbaren Strahlen und Kräften, das Gefühl, dass sich hinter der vertrauten, sichtbaren Welt der Farben und Erscheinungen eine dunkle Welt voller geheimnisvoller Gesetze und Phänomene verbarg.

Immer wenn wir einen «Kurzen» hatten, kletterte mein Vater zum Sicherungskasten aus Porzellan hoch oben an der Küchenwand, ermittelte die durchgebrannte Sicherung, die zu einem Klumpen zusammengeschmolzen war, und ersetzte sie durch eine neue Sicherung aus einem merkwürdigen, weichen Draht. Es war schwer vorstellbar, dass Metall schmelzen konnte – waren Sicherungen tatsächlich aus dem gleichen Material gemacht wie Rasenwalzen und Zinnkrüge?

Sicherungen bestünden aus einer Speziallegierung, erklärte mir mein Vater, einer Mischung aus Zinn, Blei und anderen Metallen. Sie alle hätten relativ niedrige Schmelzpunkte, aber noch niedriger sei der Schmelzpunkt ihrer Legierung. Ich fragte mich, wie das möglich war. Welches Geheimnis verbarg sich hinter dem seltsam niedrigen Schmelzpunkt dieses neuen Metalls? Überhaupt, was war Elektrizität, und wie konnte sie fließen? War sie eine Art Flüssigkeit wie die Wärme, die auch geleitet werden konnte? Warum floss sie durch Metall, aber nicht durch Porzellan? Auch das verlangte nach einer Erklärung.

Meine Fragen nahmen kein Ende und machten vor nichts Halt, wenn sie auch immer wieder um meine Obsession, die Metalle, kreisten. Warum glänzten sie? Warum waren sie glatt? Warum kühl? Warum hart? Warum schwer? Warum bogen sie sich und brachen nicht? Warum erzeugten sie Töne? Wie konnten sich zwei weiche Metalle wie Zink und Kupfer oder Zinn und Kupfer zu härteren Stoffen verbinden? Was verlieh Gold seinen gelben Glanz, und warum lief es nie an?

Meistens ging meine Mutter geduldig auf meine Fragen ein, aber wenn ihre Geduld schließlich erschöpft war, sagte sie: «Mehr kann ich dir nicht sagen, wenn du es genauer wissen willst, musst du Onkel Dave fragen.»

Solange ich mich erinnern kann, nannten wir ihn Uncle Tungsten, Onkel Wolfram, weil er Glühlampen mit feinen Drähten aus Wolfram (tungsten) herstellte. Seine Firma hieß Tungstalite. Oft besuchte ich ihn in der alten Fabrik in Farringdon und beobachtete ihn bei der Arbeit, mit Klappkragen und aufgekrempelten Hemdsärmeln. Das schwere dunkle Wolframpulver wurde gepresst, gehämmert, rotglühend gesintert und dann zu einem immer feineren und feineren Draht für die Leuchtfäden gezogen. Das schwarze Pulver hatte sich in Onkels Hände so eingebrannt, dass kein Waschen half (er hätte sich schon die Epidermis entfernen lassen müssen, und selbst das hätte wahrscheinlich nicht gereicht). Nach dreißig Jahren Arbeit mit Wolfram, so stellte ich mir vor, war ihm das schwere Element in Lungen und Knochen gedrungen, in Gefäße und Gedärme, in jedes Gewebe seines Körpers. Doch ich sah das als Privileg, nicht als Fluch – für mich wurde sein Körper gestärkt und gekräftigt durch das wunderbare Element, wurde ihm eine Kraft und Beständigkeit von fast übermenschlichem Ausmaß verliehen.

Immer wenn ich die Fabrik besuchte, zeigte er mir die Maschinen oder bat seinen Werkmeister darum. (Der Werkmeister war ein kleiner, muskulöser Mann, ein Popeye mit enormen Unterarmen, ein augenfälliger Beweis für die Vorzüge der Arbeit mit Wolfram.) Ich wurde nie müde, die komplizierten Maschinen zu bestaunen, die immer sauber, glänzend und geölt waren, oder den Ofen, in dem das lockere schwarze Pulver zu dichten, harten, grau schimmernden Stangen gepresst wurde.

Bei meinen Besuchen in der Fabrik und manchmal auch zu Hause führte Onkel Dave mich mit kleinen Experimenten in die Welt der Metalle ein. Ich wusste, dass Quecksilber, dieses seltsame flüssige Metall, unglaublich schwer und dicht war. Sogar Blei war leichter, wie mein Onkel mir zeigte, indem er eine Bleikugel auf Quecksilber in einer Schüssel schwimmen ließ. Doch dann zog er eine kleine graue Stange aus seiner Tasche, die zu meinem Erstaunen sofort auf den Boden des Gefäßes sank. Das, sagte er, sei sein Metall,Wolfram.

Onkel liebte die Dichte des Wolframs, das er herstellte, und seine Feuerfestigkeit, seine enorme chemische Stabilität. Er liebte den Umgang mit ihm – mit dem Draht, dem Pulver, aber vor allem mit den massiven kleinen Stangen und Barren. Er streichelte sie, wog sie (zärtlich, wie mir schien) in der Hand. «Fühl nur, Oliver», pflegte er zu sagen und hielt mir einen Barren hin. «Nichts auf der Welt fühlt sich an wie gesintertes Wolfram.» Dann schlug er leicht auf die kleinen Stangen, und sie gaben einen dunklen Ton von sich. «Der Klang von Wolfram», sagte Onkel Dave, «unvergleichlich.» Ich wusste nicht, ob das stimmte, zog es jedoch nie in Zweifel.

 

Als der Jüngste von beinahe der Jüngsten (ich war das letzte von vier Kindern und meine Mutter das sechzehnte von achtzehn) wurde ich fast hundert Jahre nach meinem Großvater mütterlicherseits geboren und habe ihn nicht mehr gekannt. Er wurde 1837 als Mordechai Fredkin in einem kleinen russischen Dorf geboren. Als jungem Mann gelang es ihm, sich dem Dienst in der Kosakenarmee zu entziehen Er floh aus Russland mit dem Pass eines Toten namens Landau, da war er gerade sechzehn. Als Marcus Landau gelangte er nach Paris und von dort nach Frankfurt, wo er heiratete (eine Frau, die ebenfalls sechzehn war). Zwei Jahre später, 1855, zogen sie mit ihrem ersten Kind nach England.

Nach allem, was über ihn berichtet wird, fühlte sich der Vater meiner Mutter zu materiellen und geistigen Dingen gleichermaßen hingezogen. Von Beruf war er Schuhmacher, Schochet (Schächter) und später Lebensmittelhändler, doch zugleich hebräischer Gelehrter, Mystiker, Amateurmathematiker und Erfinder. Er hatte einen weit gespannten geistigen Horizont: Von 1888 bis 1891 gab er in seinem Keller die Zeitung Jewish Standard heraus; er interessierte sich für das neue Gebiet der Luftfahrt und korrespondierte mit den Gebrüdern Wright, die ihm einen Besuch abstatteten, als sie zu Beginn des letzten Jahrhunderts nach London kamen (einige meiner Onkel erinnern sich noch daran). Wie meine Tanten und Onkel mir erzählten, hatte er eine Leidenschaft für komplizierte arithmetische Aufgaben, die er im Kopf löste, während er in der Badewanne lag. Vor allem aber beschäftigte ihn die Erfindung von Lampen – Sicherheitslampen für Bergwerke, Kutschlampen, Straßenlaternen – in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat er viele einschlägige Patente angemeldet.

Als Universalgelehrter und Autodidakt hegte Großvater ein leidenschaftliches Interesse für die Erziehung – vor allem die naturwissenschaftliche Bildung – aller seiner Kinder, seiner neun Töchter nicht weniger als seiner neun Söhne. Vielleicht lag es daran oder an seiner eigenen Begeisterung dafür, jedenfalls entdeckten sieben seiner Söhne gleich ihm ihre Liebe für die Mathematik und Physik. Seine Töchter hingegen wandten sich eher den Humanwissenschaften zu – der Biologie, Medizin, Pädagogik und Soziologie. Zwei von ihnen gründeten Schulen. Zwei andere wurden Lehrerinnen. Meine Mutter konnte sich zunächst nicht zwischen der Physik und den Humanwissenschaften entscheiden: Als Mädchen fühlte sie sich besonders zur Chemie hingezogen (ihr älterer Bruder Mick hatte gerade seine berufliche Laufbahn als Chemiker begonnen), sie wurde dann jedoch Anatomin und Chirurgin. Ihr Interesse und ihre Vorliebe für die Physik verlor sie nie – den starken Wunsch, unter die Oberfläche der Dinge zu gelangen, zu erklären. So begegnete sie den tausendundeins Fragen, die ich als Kind stellte, selten mit ungeduldigen oder abwehrenden Antworten, sondern mit eingehenden Erklärungen, die mich faszinierten (wenn sie auch oft meinen Horizont überstiegen). So wurde ich von früh an zum Nachfragen und Forschen ermutigt.

Dank der vielen Tanten und Onkel (von Vaters Seite kamen noch ein paar mehr dazu) zählten meine Cousins und Cousinen fast an die hundert; und da die Familie größtenteils in London ansässig war (wenn es auch verstreute amerikanische, kontinentale und südafrikanische Ableger gab), trafen wir uns häufig auf tribalistisch anmutenden Familienfesten. Dieses Gefühl für die erweiterte Familie war mir seit frühester Kindheit vertraut und lieb und verband sich mit dem Empfinden, es sei unsere Aufgabe – die Familienaufgabe –, Fragen zu stellen, «Naturwissenschaftler» zu sein, so wie wir Juden oder Engländer waren. Ich gehörte zu den Jüngsten unter meinen Vettern und Cousinen – in Südafrika hatte ich welche, die fünfundvierzig Jahre älter waren als ich –, und einige dieser Cousins waren bereits als Naturwissenschaftler oder Mathematiker tätig; andere, nur wenig älter als ich, zeigten sich bereits für die Wissenschaft entflammt. Einer meiner Cousins arbeitete als junger Physiklehrer, drei andere lehrten Chemie an der Universität und einer, ein frühreifer Fünfzehnjähriger, galt als große mathematische Hoffnung. Wir alle, so wollte mir scheinen, trugen etwas von dem alten Mann in uns.

Kapitel zwei«37»

Ich wuchs unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg in einem riesigen, weitläufigen Gebäude aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Londons Nordwesten auf. Als Eckhaus an der Kreuzung Mapesbury und Exeter Road lag die Nummer 37 Mapesbury Road beiden Straßen zugekehrt und war größer als die Nachbargebäude. Die Grundform des Hauses war quadratisch, fast würfelförmig, doch es hatte einen weit vorspringenden Eingangsbereich, der mit seinem V-förmigen Vordach wie ein Kirchenportal aussah. Zu beiden Seiten ragten Erker heraus, dazwischen befanden sich Nischen, sodass das Dach eine höchst komplexe Form annahm und in meinen Augen einem riesigen Kristall glich. Es war ein roter Backsteinbau von eigenartig matter, dunkler Farbe. Nachdem ich mir ein paar geologische Kenntnisse angeeignet hatte, wurden diese Ziegel für mich zu altem rotem Sandstein aus dem Devon, und der Umstand, dass alle Straßen in unserer Nachbarschaft Namen aus der Grafschaft Devon trugen – Exeter, Teignmouth, Dartmouth, Dawlish –, unterstützte meine Vermutung.

Es gab zwei Haustüren mit einem kleinen Vestibül dazwischen, sie führten in die Diele und über einen Korridor zurück in die Küche. Diele und Korridor hatten einen Mosaikfußboden aus bunten Steinen. Von der Diele aus führte rechter Hand eine geschwungene Treppe nach oben, deren massives Geländer vom Hosenboden meiner Brüder glatt poliert war.

Manche Räume des Hauses hatten einen magischen, fast sakralen Charakter, vor allem das Sprechzimmer meiner Eltern (beide waren Ärzte) mit seinen Medizinfläschchen, der Waage zum Auswiegen der Pülverchen, den Gestellen mit Reagenzgläsern und Bechergläsern, der Spirituslampe und dem Untersuchungstisch. Alle Arten von Arzneimitteln, Lotionen und Elixieren standen in einem großen Glasschrank, der wie eine altmodische Miniaturapotheke aussah. Außerdem gab es ein Mikroskop und Flaschen mit Reagenzien für Urintests, etwa die hellblaue Fehlinglösung, die sich gelb färbte, wenn Zucker im Urin war.

Aus diesem verbotenen Raum, zu dem zwar Patienten Zutritt hatten, aber nicht meine kindliche Person (es sei denn, er war unverschlossen), sah ich manchmal einen hellen, violetten Schein unter der Tür hervordringen und roch einen seltsamen, an Seeluft erinnernden Duft, der, wie ich später erfuhr, vom Ozon stammte – dem Ozon der alten UV-Lampe. Als Kind wusste ich nicht genau, was Ärzte «tun». Der Anblick der Katheter und Bougies in ihren Nierenschalen, der Wundhaken und Spekula, der Gummihandschuhe, des Katguts und der Pinzetten – das alles wirkte wohl ziemlich furchteinflößend auf mich, aber auch faszinierend. Als die Tür einmal aus Versehen offen stand, sah ich eine Patientin auf dem Rücken liegen, die Beine hoch in Halterungen (in der «Steinschnittlage», wie ich später erfuhr). Die Geburtshilfe- und die Anästhesietasche meiner Mutter lagen immer griffbereit für den Notfall, und ich wusste genau, wann sie gebraucht wurden, weil ich dann Kommentare hörte wie: «Er ist schon fünf bis sechs Zentimeter offen» – Kommentare, die, unverständlich und geheimnisvoll, wie sie waren (handelte es sich um einen Art Code?), meine Phantasie aufs Äußerste beflügelten.

Ein weiterer geheiligter Raum war die Bibliothek, die, zumindest am Abend, vor allem das Reich meines Vaters darstellte. Eine Wand war zum Großteil mit seinen hebräischen Büchern ausgefüllt, aber es gab Bücher jeder Art – die Bücher meiner Mutter (sie liebte Romane und Biographien), die Bücher meiner Brüder und die Bücher, die wir von den Großeltern geerbt hatten. Ein ganzer Bücherschrank beinhaltete allein Stücke – meine Eltern, die sich als begeisterte Mitwirkende einer von Medizinstudenten gegründeten Ibsen-Gesellschaft kennen gelernt hatten, gingen noch immer jeden Donnerstag ins Theater.

Die Bibliothek war nicht nur zum Lesen bestimmt; an den Wochenenden wurden die Bücher vom Lesetisch zur Seite geräumt, um verschiedensten Spielen Platz zu machen. Während sich meine drei älteren Brüder in ein Karten- oder Schachspiel vertieften, vergnügte ich mich bei einem einfachen Mensch ärgere dich nicht mit Tante Birdie. Sie war die ältere Schwester meiner Mutter und lebte bei uns mit im Haus – in meinen ersten Lebensjahren war eher sie mein Spielkamerad als meine Brüder. Mit außerordentlicher Leidenschaft wurde Monopoly gespielt. Noch bevor ich die Regeln richtig kannte, hatten sich die Preise und Farben der Straßen meiner Vorstellung fest eingeprägt. (Noch heute sehe ich Old Kent Road und Whitechapel als billige, mauvefarbene Liegenschaften, kaum besser verhält es sich mit der hellblauen Angel und Euston Road in ihrer Nachbarschaft. Dagegen prangt das Westend für mich in kräftigen, kostspieligen Farben: Fleet Street scharlachrot, Piccadilly gelb, Bond Street in Grün, Park Lane und Mayfair schließlich in einem dunklen, Bentley-farbenen Blau.) Manchmal spielten wir auch alle zusammen Tischtennis oder wir bastelten irgendetwas, in beiden Fällen leistete uns der große Tisch in der Bibliothek große Dienste. Doch nach einem Wochenende leichtfertigen Zeitvertreibs wurden die Spiele wieder in der riesigen Schublade unter einem der Bücherschränke verstaut, woraufhin in der Bibliothek wieder die Ruhe einkehrte, die mein Vater für seine abendliche Lektüre brauchte.

Auf der anderen Seite des besagten Bücherschrankes gab es noch eine weitere Schublade, eine Attrappe, die sich nicht öffnen ließ und in einem meiner häufig wiederkehrenden Träume eine wichtige Rolle spielte. Wie alle Kinder liebte ich Münzen – ihren Schimmer, ihr Gewicht, ihre unterschiedlichen Formen und Größen – von den hellen Kupfer-Farthings, Halfpennys und Pennys über die verschiedenen Silbermünzen (besonders die winzigen Threepennys – einer war zu Weihnachten immer im Fruchtpudding versteckt) bis zu dem schweren goldenen Sovereign, der alten 20-Shilling-Münze, die mein Vater an seiner Uhrkette trug. Ich las in meiner Kinderenzyklopädie von Dublonen und Rubeln, von Münzen mit Löchern und «pieces of eight» (Achterstücken), die ich mir als vollkommene Achtecke vorstellte. In meinem Traum konnte ich die Schubladenattrappe öffnen und erblickte einen glitzernden Schatz von Kupfer-, Silber- und Goldmünzen aus zahllosen Ländern und Zeiten, darunter zu meinem Entzücken auch achteckige «pieces of eight».

Besonderes Vergnügen bereitete es mir, in den dreieckigen Schrank unter der Treppe zu kriechen, in dem das spezielle Geschirr und Besteck für das Passahfest aufbewahrt wurde. Der Schrank war nicht ganz so tief wie die Treppe, und mir schien, seine Rückseite klang hohl, wenn man dagegenklopfte. Irgendetwas verbarg sich dahinter, dessen war ich mir sicher, ein Geheimfach oder vielleicht ein Geheimgang. Hier in meinem Privatversteck fühlte ich mich geborgen – niemand außer mir war klein genug, um hineinzugelangen.

Doch zum Schönsten und Geheimnisvollsten wurde in meinen Augen die Eingangstür – sie bestand aus Glasfenstern der verschiedensten Farben und Formen. Ich blickte durch eine tiefrote Scheibe und sah eine Welt in Karmesin (in der die roten Dächer der gegenüberliegenden Häuser jedoch merkwürdig blass wirkten und sich die Wolken verblüffend krass von einem blauen Himmel abhoben, der jetzt fast schwarz erschien); ganz anders die Erfahrungen mit dem grünen Glas oder dem dunkelvioletten. Am meisten faszinierte mich das gelbgrüne Glas, weil es changierte, manchmal mehr ins Gelbliche, manchmal mehr ins Grünliche, je nachdem, wo ich stand und wie die Sonne einfiel.

Als Tabuzone galt der Dachboden. Er war riesig, weil er sich über die ganze Fläche des Hauses erstreckte und bis in die gläsernen Höhen des Daches hinaufreichte. Einmal wurde er mir gezeigt, woraufhin ich wiederholt davon träumte, vielleicht weil man ihn für verboten erklärt hatte, nachdem Marcus allein hinaufgeklettert und durchs Dachfenster gefallen war. Es hatte ihm eine böse Schnittwunde im Oberschenkel eingetragen (obwohl er mir einmal in Fabulierlaune weisgemacht hatte, die Narbe verdanke er – wie Odysseus die seine an der gleichen Stelle – einem wilden Eber).

Die Mahlzeiten wurden im Frühstücksraum neben der Küche eingenommen. Das Esszimmer mit dem langen Tisch blieb den Schabbesmahlen, Festlichkeiten und besonderen Anlässen vorbehalten. Eine ähnliche Unterscheidung wurde zwischen Wohnzimmer und Salon gemacht – das Wohnzimmer mit seinem Sofa und den ausgesessenen, gemütlichen Sesseln war für den alltäglichen Gebrauch, der Salon mit seinen eleganten, aber unbequemen chinesischen Stühlen und Lackschränken nur für Familienzusammenkünfte bestimmt. Tanten, Onkel, Cousinen und Cousins aus der Nachbarschaft schauten an den Samstagnachmittagen vorbei. Dann wurde ein besonderes silbernes Teeservice hervorgeholt, und kleine, rindenlose Sandwiches mit geräuchertem Lachs und Dorschkaviar wurden im Salon gereicht – derartige Leckerbissen gab es sonst nie. Die Kronleuchter im Salon, ursprünglich Gasleuchter, waren irgendwann in den zwanziger Jahren auf Elektrizität umgestellt worden (aber überall im Haus gab es noch Gasbrenner und seltsame Aufsätze, sodass wir im Notfall wieder zum Gaslicht zurückkehren konnten). Im Salon stand außerdem ein riesiger Flügel mit vielen Familienfotos darauf, doch mir gefiel der leisere Klang des Klaviers im Wohnzimmer besser.

Obwohl das Haus voller Musik und Bücher war, gab es so gut wie keine Gemälde, Stiche oder Bildwerke irgendeiner Art. Dazu passte, dass meine Eltern zwar häufig in Aufführungen und Konzerte gingen, aber, soweit ich mich erinnern kann, nie Museen oder Kunstgalerien besuchten. Unsere Synagoge hatte bunte Glasfenster mit biblischen Szenen, die ich häufig während der eher ermüdenden Abschnitte des Gottesdienstes betrachtete. Es bestand offenbar keine Einigkeit darüber, ob solche Darstellungen angesichts des Verbots von Götzenbildern zulässig waren, und ich fragte mich, ob dies der Grund sei, warum bei uns zu Hause keine Bilder hingen. Doch wie mir bald klar wurde, lag es einfach daran, dass Einrichtung und Aussehen des Hauses für meine Eltern überhaupt keine Rolle spielten. Später erfuhr ich, dass sie nach dem Kauf des Hauses (1930) Lina, der älteren Schwester meines Vaters, ihr Scheckbuch in die Hand gedrückt und gesagt hatten: «Mach, was du willst, und besorg, was du willst.»

Linas Entscheidungen – die bis auf die Chinoiserien im Salon ziemlich konventionell waren – wurden weder begrüßt noch missbilligt, meine Eltern nahmen sie hin, ohne sie recht zu beachten. Als mein Freund Jonathan Miller mich zum ersten Mal besuchte – es war kurz nach dem Krieg –, meinte er, es wirke wie ein möbliert gemietetes Haus auf ihn, ohne Anzeichen für persönlichen Geschmack oder Gestaltungswillen. Mir war die Einrichtung genauso gleichgültig wie meinen Eltern, obwohl mich Jonathans Bemerkung ärgerte und verwirrte. Denn für mich war Nummer 37 voller Geheimnisse und Wunder – Bühne und mythischer Hintergrund, vor dem sich mein Leben entrollte.

 

Fast in jedem Zimmer gab es Kohlekamine, einschließlich eines mit Fischmotiven verzierten Kachelofens im Badezimmer. Zum Kamin im Wohnzimmer gehörten große kupferne Kohleneimer zu beiden Seiten, ein Blasebalg und ein Kaminset einschließlich eines großen, leicht gebogenen stählernen Feuerhakens (mein ältester Bruder Marcus, der sehr kräftig war, hatte es geschafft, ihn in fast weißglühendem Zustand zu biegen. Wenn ein oder zwei Tanten zu Besuch kamen, versammelten wir uns im Wohnzimmer, und sie stellten sich mit dem Rücken zum Kamin und hoben die Röcke. Wie meine Mutter waren sie alle starke Raucherinnen. Sobald sie sich am Feuer aufgewärmt hatten, setzten sie sich also aufs Sofa, rauchten und warfen ihre Zigarettenstummel ins Feuer. Meist zielten sie miserabel, sodass die feuchten Kippen die Ziegelmauer trafen, wo sie Ekel erregend kleben blieben, bis sie endlich verbrannten.

Meine früheste Kindheit, die Vorkriegsjahre, sind mir nur bruchstückhaft im Gedächtnis geblieben, aber ich erinnere mich noch an den kindlichen Schrecken, den mir die Beobachtung einflößte, dass viele meiner Tanten und Onkel pechschwarze Zungen hatten – würde meine eigene, so fragte ich mich, auch schwarz werden, wenn ich groß war? Zu meiner großen Erleichterung erklärte mir jedoch Tante Len, die meine Ängste erriet, ihre Zungen seien nicht wirklich schwarz, sondern nur eingefärbt von Kohlekeksen, die sie alle gegen Blähungen kauten.

An meine Tante Dora (die starb, als ich noch sehr klein war) habe ich keine Erinnerung außer der Farbe Orange – ob es die Farbe ihres Teints, ihres Haars oder ihrer Kleidung war oder einfach der Widerschein des Kaminfeuers, weiß ich nicht mehr. Was geblieben ist, ist ein Gefühl der Wärme, ein nostalgisches Empfinden und eine sonderbare Vorliebe für Orange.

Als der Jüngste hatte ich nur ein winziges Zimmer, von dem eine Verbindungstür ins Schlafzimmer meiner Eltern führte. Ich erinnere mich an merkwürdige Kalkablagerungen an der Decke. Vor meiner Geburt war es Michaels Zimmer gewesen. Der hatte den gallertartigen Sago – dessen Schleimigkeit ihm missfiel – gern löffelweise an die Decke befördert, wo er mit nassem Klatschen haften blieb. Wenn der Sago dann trocknete, wurde daraus ein kreidiger Haufen.

Es gab mehrere Räume ohne besondere Zuordnung zu jemandem und ohne erkennbare Funktion. Alle möglichen Dinge wurden darin aufbewahrt – Bücher, Spiele und Spielzeuge, Zeitschriften, Regenmäntel, Sportgeräte. In einem kleinen Zimmer befanden sich lediglich eine Singer-Nähmaschine mit Fußpedal (die meine Mutter bei ihrer Heirat im Jahre 1922 gekauft hatte) und eine Strickmaschine von verwickelter (und in meinen Augen schöner) Bauweise. Auf ihr strickte meine Mutter unsere Socken, und gar zu gern sah ich zu, wie sie mit dem Griff hantierte, wie die blitzenden Stahlstricknadeln im Gleichklang klapperten und die Wollrolle, beschwert mit einem Bleigewicht, stetig nach unten ruckte. Einmal lenkte ich sie dabei so sehr ab, dass der Wollschlauch länger und länger wurde, bis er schließlich auf den Fußboden reichte. Da sie nicht wusste, was sie mit diesem überlangen Schlauch anfangen sollte, gab sie ihn mir als Muff.

Diese Extrazimmer ermöglichten meinen Eltern, Verwandte wie Tante Birdie unterzubringen – manchmal für lange Zeit. Das größte blieb für meine imposante Tante Annie reserviert, für einen ihrer seltenen Besuche aus Jerusalem (dreißig Jahre nach ihrem Tod hieß es immer noch «Annies Zimmer»). Auch Tante Len stand, wenn sie von Delamere zu Besuch kam, ein eigenes Zimmer zur Verfügung, wo sie sich mit ihren Büchern und ihrem Teegeschirr häuslich einrichtete – es gab einen Gaskocher in diesem Zimmer, auf dem sie sich ihren eigenen Tee zubereitete. Immer wenn sie mich zu sich einlud, hatte ich das Gefühl, eine andere Welt zu betreten, eine Welt, die von anderen Interessen, anderen Vorlieben geprägt war, eine Welt der Höflichkeit und der bedingungslosen Liebe.

Als mein Onkel Joe, ein Arzt in Malaya, in japanische Kriegsgefangenschaft geriet, wohnten sein älterer Sohn und seine Tochter bei uns. In den Kriegsjahren nahmen meine Eltern auch manchmal Flüchtlinge aus Europa auf. Daher wirkte das Haus trotz seiner Größe nie leer, vielmehr schienen sich darin Dutzende separater Leben zu entfalten. Der Bau beherbergte neben der engeren Familie – meine Eltern, meine drei Brüder und ich – immer auch die wechselnden Onkel und Tanten, die Bediensteten – die Kinderfrau und die Köchin – und nicht zu vergessen die Patienten, die aus und ein gingen.

Kapitel dreiExil

Anfang September 1939 brach der Krieg aus. Man erwartete eine massive Bombardierung Londons, daher wurden Eltern von der Regierung nachdrücklich aufgefordert, ihre Kinder zu evakuieren und auf dem Land in Sicherheit zu bringen. Mein fünf Jahre älterer Bruder Michael besuchte eine Tagesschule in unserer Nachbarschaft. Als sie bei Kriegsausbruch geschlossen wurde, entschied sich einer der stellvertretenden Schulleiter, sie in dem kleinen Dorf Braefield neu einzurichten. Meine Eltern hatten zwar große Bedenken (wie mir erst viele Jahre später klar wurde), einen kleinen Jungen – ich war gerade sechs – von seiner Familie zu trennen und ihn in ein behelfsmäßiges Internat in Mittelengland zu schicken, aber sie sahen keine andere Möglichkeit und trösteten sich damit, dass Michael und ich immerhin zusammen sein würden.

Es hätte auch durchaus gut gehen können – wie bei der Evakuierung von Tausenden anderen. Doch die Schule entsprach in ihrer neuen Form nur noch einem Zerrbild des Originals. Das Essen war rationiert und knapp, und die Lebensmittelpakete von zu Hause wurden von der Hausmutter geplündert. Unsere Kost bestand vorwiegend aus Steckrüben und Runkelrüben – riesigen gelben Rüben und den Wurzeln der rote Bete, die als Viehfutter angebaut wurden. Es gab eine Grütze, deren Ekel erregender Geschmack sich sofort wieder einstellt (während ich diese Zeilen rund sechzig Jahre später schreibe), sodass ich fast wieder zu würgen beginne. Der furchtbare Schulalltag wurde für die meisten von uns noch verschlimmert durch das Gefühl, wir seien von der Familie verstoßen worden und müssten nun an diesem schrecklichen Ort verderben – als unerklärliche Bestrafung für etwas, was wir getan hatten.

Der Direktor schien von der eigenen Macht berauscht zu sein. Als Lehrer in London sei er ganz anständig, sogar beliebt gewesen, erzählte Michael, doch in Braefield, wo er die Verantwortung übernahm, entwickelte er sich rasch zum Ungeheuer. Er entpuppte sich als bösartig, ja sadistisch und züchtigte viele von uns fast täglich und mit offensichtlichem Vergnügen. «Eigensinn» wurde streng bestraft. Ich fragte mich manchmal, ob ich wohl sein «Liebling» sei, den er am häufigsten zur Bestrafung herausgriff, doch tatsächlich wurden viele von uns so heftig geschlagen, dass wir tagelang nicht richtig sitzen konnten. Einmal zerbrach er einen Rohrstock auf meinem achtjährigen Hintern und brüllte: «Verdammt noch mal, Sacks! Schau dir an, was du angerichtet hast!» Er setzte den Preis des Rohrstocks auf meine Rechnung. Schikanen und Grausamkeiten waren allerdings auch unter den Jungen sehr verbreitet. Sie entwickelten großen Einfallsreichtum, um die Schwächen der kleineren Kinder herauszufinden und sie bis über die Grenzen des Erträglichen hinaus zu quälen.

Doch bei all dem Schrecken gab es auch plötzliche Lichtblicke, die man besonders deutlich empfand, weil sie so selten waren und in so krassem Widerspruch zum übrigen Leben standen. Mein erster Winter dort, der Winter 1939/40, war außergewöhnlich kalt – mit Schneetreiben und Verwehungen, die höher waren als ich, und langen glitzernden Eiszapfen, die vom Dach der Kirche herabhingen. Diese Winterlandschaft mit ihren manchmal unglaublichen Schnee- und Eisgebilden versetzte mich in meiner Phantasie nach Lappland oder ins Märchenland. Die Schule zu verlassen und sich in die umliegenden Felder aufzumachen, war stets ein Vergnügen; und das Weiß, die Unberührtheit und Reinheit des Schnees waren eine wunderbare, wenn auch kurze Erholung von der Eingeschlossenheit, dem Elend und dem Gestank der Schule. Einmal gelang es mir irgendwie, mich von den anderen Jungen und unserem Lehrer zu entfernen, sodass ich einen kurzen, ekstatischen Augenblick lang das Gefühl genießen konnte, mich zwischen den Schneeverwehungen «verirrt» zu haben – ein Gefühl, das sich rasch in Schrecken verwandelte, als sich herausstellte, dass ich mich tatsächlich verirrt hatte und das Ganze kein Spiel mehr war. Ich war sehr glücklich, als man mich schließlich fand, in den Arm nahm und mir nach der Rückkehr in die Schule eine Tasse heißer Schokolade vorsetzte.

Meiner Erinnerung nach entdeckte ich im gleichen Winter die Eisblumen an den Fensterscheiben der Pfarrhaustüren. Ich war von ihren Nadelspitzen und Kristallformen fasziniert und stellte staunend fest, dass ich einige mit meinem Atem zum Schmelzen bringen konnte, sodass kleine Gucklöcher entstanden. Eine meiner Lehrerinnen – sie hieß Barbara Lines – bemerkte mein starkes Interesse und zeigte mir die Schneekristalle unter einer Lupe. Niemals seien auch nur zwei vollkommen gleich, erklärte sie mir, und die Erkenntnis, wie viele Variationsmöglichkeiten in einer sechseckigen Grundform steckten, wurde eine Offenbarung für mich.

Auf einem der Felder stand ein ganz besonderer Baum, den ich liebte; seine Silhouette gegen den Himmel sprach mich auf seltsame Weise an. Ich sehe ihn immer noch vor mir, auch den gewundenen Pfad, der zu ihm hinführte. Dass es neben dem Reich der Schule zumindest noch die Natur gab, war ein zutiefst beruhigendes Gefühl.

Das Pfarrhaus mit seinem weitläufigen Garten, in dem die Schule untergebracht war, die alte Kirche daneben und das eigentliche Dorf – das alles erschien hübsch, ja, idyllisch. Die Dorfbewohner verhielten sich freundlich gegenüber diesen offensichtlich heimwehkranken und unglücklichen Jungen aus London. Hier im Dorf lernte ich bei einer drallen jungen Frau reiten; gelegentlich, wenn ich besonders unglücklich aussah, nahm sie mich in den Arm. (Michael hatte mir Abschnitte aus Gullivers Reisen von Swift vorgelesen, und manchmal kam sie mir vor wie Glumdalclitch, Gullivers Riesenkindermädchen.) Bei einer alten Dame bekam ich Klavierstunden. Sie machte mir immer einen Tee. Im Dorfladen kaufte ich mir Lollys und hin und wieder eine Scheibe Cornedbeef. Es gab auch schulische Momente, die mir Spaß machten: als wir Modellflugzeuge aus Balsaholz bastelten oder als ich mit einem Freund, einem kleinen rothaarigen Jungen in meinem Alter, ein Baumhaus baute. Doch meistens fühlte ich mich in Braefield wie gefangen, ohne Hoffnung, ohne Rettung, auf ewig – viele von uns, nehme ich an, haben durch diesen Aufenthalt ernsthafte seelische Schäden erlitten.

Während der vier Jahre, die wir in der Schule in Braefield verbrachten, besuchten uns unsere Eltern zwar, aber doch so selten, dass ich fast keine Erinnerung daran habe. Als Michael und ich im Dezember 1940 nach fast einjähriger Abwesenheit für die Weihnachtsferien nach Hause zurückkehrten, hegte ich äußerst gemischte Gefühle: Erleichterung, Wut, Freude, Besorgnis. Auch das Haus erschien mir fremd und verändert: Hauswirtschafterin und Köchin waren fort, stattdessen traf man auf Fremde, ein flämisches Ehepaar, das in letzter Minute aus Dünkirchen hatte entkommen können. In dem nun fast leeren Haus hatten meine Eltern sie aufgenommen, bis sie eine eigene Wohnung fänden. Nur Greta, unser Dackel, schien die Gleiche geblieben zu sein. Sie jaulte begeistert, wälzte sich auf dem Rücken und wedelte wie verrückt mit dem Schwanz.

Es gab auch äußerliche Veränderungen: Vor den Fenstern hingen schwere Verdunkelungsvorhänge; die innere Eingangstür, durch deren Glasfenster ich so gerne geschaut hatte, war einige Wochen zuvor bei einer Bombenexplosion herausgerissen worden; der Garten, im Rahmen der Kriegsmaßnahmen mit Topinambur bepflanzt, schien fast nicht mehr wiederzuerkennen; und an Stelle des alten Gartenschuppens befand sich ein Anderson-Bunker, ein hässliches, klotziges Bauwerk mit dickem Betondach.

Zwar war die Schlacht um England schon vorüber, doch der Luftkrieg tobte mit unverminderter Heftigkeit. Fast jede Nacht gab es Fliegeralarm, und der Nachthimmel erstrahlte hell von Flakfeuer und Scheinwerfern. Ich erinnere mich an deutsche Flugzeuge, die im Kegel eines wandernden Scheinwerfers fast bewegungslos erschienen, während sie versuchten, in den dunkler werdenden Nachthimmel über London zu entweichen. Es war erschreckend, aber auch aufregend für einen Siebenjährigen. Vor allem aber war ich wohl froh, der Schule entkommen zu sein und wieder die Geborgenheit meines Zuhauses zu genießen.

Eines Nachts fiel eine Zehnzentnerbombe in den Garten des Nachbarhauses, sie zündete aber glücklicherweise nicht. In dieser Nacht schien sich die ganze Straße davonzuschleichen (unsere Familie zur Wohnung eines Cousins) – viele von uns im Pyjama –, alle auf Zehenspitzen (vielleicht konnte die geringste Erschütterung das Ding in die Luft gehen lassen). Die Straßen stockduster, weil die Verdunkelung in Kraft war, behalfen wir uns mit elektrischen Taschenlampen, deren Licht von rotem Krepppapier weiter gedämpft wurde. Keiner wusste, ob unser Haus am Morgen noch stehen würde.

Ein andermal landete eine Brandbombe, eine Thermitbombe, hinter unserem Haus und loderte dort mit schrecklicher, weißglühender Hitze. Mein Vater setzte eine Tretpumpe in Gang, und meine Brüder schafften Kübel voll Wasser herbei, doch Wasser schien gegen das infernalische Feuer nichts auszurichten – im Gegenteil, es stachelte die Wut der Flammen offenbar noch an. Wenn das Wasser auf das weiß glühende Metall traf, ertönte ein bösartiges Zischen und Spucken, während die Bombe unbeirrt das eigene Gehäuse zum Schmelzen brachte und Klumpen aus flüssigem Metall in alle Richtungen spie. Am nächsten Morgen fanden wir den Rasen vernarbt und verwüstet wie eine Vulkanlandschaft vor, zu meinem Entzücken aber auch von herrlich glänzenden Schrapnellsplittern bedeckt, die ich nach den Ferien in der Schule vorzeigen konnte.

 

Eine merkwürdige und beschämende Episode ist mir aus der kurzen Zeit meines Aufenthalts zu Hause während der Luftangriffe in Erinnerung geblieben. Unsere Hündin Greta liebte ich sehr (und weinte bitterlich, als sie 1945 von einem rasenden Motorradfahrer getötet wurde), trotzdem sperrte ich sie gleich nach meiner Ankunft bei klirrendem Frost draußen auf dem Hof im Kohlenverschlag ein, von wo man ihr jämmerliches Geheul und Gebell nicht hören konnte. Nach einiger Zeit wurde sie vermisst. Ich wurde wie alle anderen gefragt, wann ich sie zuletzt gesehen hätte und ob ich wüsste, wo sie sein könnte. Ich dachte an sie – hungrig, frierend, eingesperrt, vielleicht schon sterbend dort draußen im Kohlenverschlag –, sagte aber keinen Ton. Erst gegen Abend gestand ich meine Tat, woraufhin man die fast erfrorene Greta aus ihrem Gefängnis befreite. Mein Vater war wütend. Er verabreichte mir eine «ordentliche Tracht Prügel» und ließ mich für den Rest des Tages in der Ecke stehen. Man fragte mich jedoch nicht, warum ich eine derart untypische Unart an den Tag gelegt hatte, warum ich zu einem Hund, den ich liebte, so grausam gewesen war. Und hätte man mich gefragt, hätte ich es ihnen nicht erklären können. Aber es war sicherlich eine Botschaft, ein symbolischer Akt, mit dem ich meine Eltern auf meinen Kohlenverschlag aufmerksam machen wollte, auf Braefield, auf meine Not und meine Hilflosigkeit dort. Obwohl täglich Bomben auf London niedergingen, fürchtete ich die Rückkehr nach Braefield mehr als alles andere. Ich wünschte mir sehnlichst, zu Hause bleiben zu können, bei der Familie, und nicht getrennt von ihnen. Selbst wenn wir alle den Bomben zum Opfer fielen.

 

In den Jahren vor dem Krieg hatte ich religiöse Vorstellungen und Empfindungen ganz kindlicher Art. Wenn meine Mutter die Schabbes-Kerzen anzündete, meinte ich fast körperlich zu spüren, wie der Sabbat Einzug hielt, willkommen geheißen wurde und sich wie eine weiche Decke auf die Erde senkte. Ich stellte mir vor, dies geschähe überall im Universum – auch auf die fernsten Sternensysteme und Galaxien komme der Sabbat herab und hülle sie ein in den Frieden Gottes.

Gebete waren ein Teil meines Lebens. Zunächst das Schma Jisrael «Höre, o Israel… », dann das Abendgebet, das ich vor dem Schlafen aufsagte. Meine Mutter wartete, bis ich mir die Zähne geputzt und den Pyjama angezogen hatte, dann kam sie herauf und setzte sich zu mir aufs Bett, während ich den hebräischen Text hersagte: «Baruch atoh adonai… » «Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du Sorge trägst, dass die Binden des Schlafs auf meine Augen fallen und auf meinen Lidern schlummern… » Es klang schön auf Englisch, aber noch schöner auf Hebräisch. (Hebräisch, so erzählte man mir, sei Gottes Muttersprache, obwohl Er natürlich jede Sprache verstehe und sogar die Gefühle eines Menschen, wenn der sie nicht in Worte kleiden könne.) «Ewiger unser Gott und Gott meiner Väter, lass mich ruhig schlafen und mich frisch wieder aufstehen… » Doch spätestens hier lasteten die Binden des Schlafs (was immer sie sein mochten) schwer auf meinen Augen, sodass ich selten weiter kam. Dann gab mir meine Mutter einen Kuss, und ich fiel augenblicklich in Schlaf.

Zurück in Braefield gab es keine Gutenachtküsse mehr, und ich gab mein Abendgebet auf, denn für mich war es untrennbar mit dem Kuss meiner Mutter verbunden. Jetzt wäre es nur eine unerträgliche Erinnerung an ihre Abwesenheit gewesen. Die gleichen Worte, die mir sonst so lieb und tröstlich waren, weil sie Gottes Fürsorge und Macht zum Ausdruck brachten, klangen jetzt hohl und verlogen.

Denn durch meine plötzliche Verstoßung (so kam es mir vor) wurden mein Vertrauen und meine Liebe zu meinen Eltern zutiefst erschüttert – und damit zugleich auch mein Glaube an Gott. Welchen Beweis für die Existenz Gottes gab es denn, so fragte ich mich fortwährend. Ich beschloss, die Frage ein für alle Mal durch ein Experiment zu klären: Im Gemüsegarten in Braefield pflanzte ich zwei Reihen Radieschen nebeneinander und forderte Gott auf, die eine – egal welche – zu segnen und die andere zu verfluchen, sodass ich einen deutlichen Unterschied würde ausmachen können. Beide Reihen Radieschen gediehen gleich, was ich als Beweis dafür ansah, dass es keinen Gott gab. Doch damit wurde meine Sehnsucht, an etwas zu glauben, nur noch größer.

Je länger die Prügel, das Hungern und die Quälereien andauerten, desto extremer wurden die psychologischen Mittel, zu denen wir in der Schule Verbliebenen getrieben wurden – die Entmenschlichung und Entwirklichung unseres größten Peinigers. Manchmal, wenn er mich schlug, nahm ich ihn als gestikulierendes Skelett wahr (von zu Hause kannte ich Röntgenaufnahmen, Knochen in einer flüchtigen Hülle von Fleisch). Dann wieder sah ich ihn als gar nicht existent, als eine lediglich vorübergehende, senkrechte Ansammlung von Atomen. Ich sagte mir: «Der ist nichts als Atome» – und sehnte mich mehr und mehr nach einer «Nur-Atome»-Welt. Die Gewalttätigkeit, die von diesem Direktor ausging, schien manchmal das Ganze lebender Natur zu infizieren, sodass Gewalt für mich zum Grundprinzip des Lebens wurde.

Was konnte ich unter diesen Umständen anderes tun als mir eine Zuflucht zu suchen, einen Rückzugsort, an dem ich allein sein, an dem ich mich versenken konnte, ohne von anderen gestört zu werden, an dem ich ein Gefühl der Stabilität und Wärme finden konnte? Meine Situation glich wohl derjenigen, die Freeman Dyson in seinem autobiographischen Essay To Teach or Not to Teach beschreibt.

Ich gehörte zu einer kleinen Minderheit von Jungen, denen es an Körperkraft und sportlichem Geschick mangelte… der Schikane zweier Seiten [eines bösartigen Schuldirektors und tückischer Mitschüler] ausgeliefert.… Wir fanden Zuflucht in einem Reich, das gleichermaßen unzugänglich war für unseren Lateinbesessenen Direktor wie für unsere Football-besessenen Schulkameraden. Wir fanden Zuflucht in der Naturwissenschaft…  Wir lernten,… dass die Wissenschaft ein Reich der Freiheit und Freundschaft war inmitten von Tyrannei und Hass.

Ich fand meine Zuflucht zunächst in den Zahlen. Mein Vater war ein Ass im Kopfrechnen, und auch ich konnte, obwohl erst sechs, schon rasch mit Zahlen jonglieren – mehr noch, ich hatte eine Leidenschaft für sie. Ich mochte Zahlen, weil sie zuverlässig und unveränderlich waren. Sie waren Fixpunkte in einer chaotischen Welt. Es gab in den Zahlen und ihren Beziehungen etwas, was absolut und sicher war, nicht infrage gestellt werden konnte und über jeden Zweifel erhaben blieb. (Jahre später, als ich Orwells 1984 las, lag für mich der entsetzliche, der endgültige Beweis für Winstons Zerrüttung und Niederlage in seinem unter Folter erzwungenen Verleugnen, dass zwei und zwei vier sind. Noch schrecklicher war, dass er es schließlich selbst zu bezweifeln begann und ihn am Ende auch die Zahlen im Stich ließen.)

Meine besondere Liebe galt den Primzahlen, der Tatsache ihrer Unteilbarkeit, ihrer Unzerlegbarkeit, ihrer nicht entfremdbaren Identität. (Zu mir selbst hatte ich kein solches Vertrauen, denn mir war, als würde ich jede Woche ein bisschen mehr geteilt, entfremdet, zerlegt.) Primzahlen waren die Bausteine aller anderen Zahlen, daher mussten sie meiner Meinung nach eine besondere Bedeutung haben. Warum tauchten Primzahlen auf? Lag ihrer Verteilung irgendein Muster, eine Logik zugrunde? Hörten sie irgendwann auf oder setzten sie sich endlos fort? Unzählige Stunden verbrachte ich damit, Zahlen in ihre Faktoren zu zerlegen, nach Primzahlen zu suchen, sie auswendig zu lernen. Ich verdankte ihnen viele Stunden weltvergessener, abgeschiedener Beschäftigung, bei der ich niemand anderen brauchte.

Ich legte ein Gitternetz, zehn mal zehn, der ersten hundert Zahlen an und schwärzte die Primzahlen ein, konnte aber kein Muster, keine Logik in ihrer Verteilung erkennen. Ich vergrößerte die Tabellen und Gitternetze auf zwanzig mal zwanzig, dreißig mal dreißig, doch noch immer zeigte sich kein erkennbares Muster. Trotzdem war ich davon überzeugt, dass es eines gab.

 

Die einzigen echten Ferien, die ich während des Krieges hatte, waren Besuche bei meiner Tante Len in Cheshire, mitten im Delamere Forest, wo sie die Jewish Fresh Air School für «heikle Kinder» gegründet hatte. (Das waren Kinder aus Arbeiterfamilien in Manchester – viele hatten Asthma, einige Rachitis oder Tuberkulose, und eines oder zwei, so vermute ich im Nachhinein, waren autistisch). Alle Kinder hatten einen eigenen kleinen Garten, kleine Flecken Erde von zwei, drei Metern, die mit Steinen voneinander abgegrenzt wurden. Verzweifelt wünschte ich mir, ich könnte in Delamere zur Schule gehen statt in Braefield – ein Wunsch, den ich nie äußerte (obwohl ich mich fragte, ob meine kluge und liebevolle Tante ihn nicht ahnte).

Tante Len bereitete mir immer größte Freude, indem sie mir alle möglichen botanischen und mathematischen Besonderheiten zeigte. Im Garten wies sie mich auf die Spiralmuster im Blütenkorb der Sonnenblumen hin und forderte mich auf, ihre Samen zu zählen. Dabei erklärte sie mir, dass sie entsprechend einer mathematischen Reihe angeordnet seien – 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 usw. –, wobei jede Zahl die Summe der beiden vorhergehenden bildete. Und wenn man jede Zahl durch die nächstfolgende teilte (1/2, 2/3, 3/5, 5/8 usw.), näherte man sich dem Wert 0,618. Diese Zahlenreihe heiße Fibonacci-Reihe, nach einem italienischen Mathematiker, der vor Jahrhunderten gelebt habe. Der Quotient 0,618 werde auch als Wert der goldenen Proportion oder des goldenen Schnittes bezeichnet, ein ideales geometrisches Verhältnis, das häufig von Architekten und Malern verwendet werde.

Tante Len unternahm lange botanische Waldspaziergänge mit mir, zeigte mir, dass auch Kiefernzapfen spiralige Anordnungen nach dem goldenen Schnitt aufweisen, ließ mich an einem Flussufer die festen, knotig gegliederten Stiele von Schachtelhalmen befühlen und schlug mir vor, sie abzumessen und die Längen der aufeinander folgenden Segmente in einer Kurve darzustellen. Als ich es tat und sah, dass die Kurve sich abflachte, erklärte sie mir, die Zuwächse seien «exponentiell». Und das sei die Art und Weise, wie Wachstum generell stattfinde. Diese Quotienten oder geometrischen Verhältnisse seien überall in der Natur zu finden – durch Zahlen werde die Welt zusammengehalten.

Die Verknüpfung von Pflanzen und Gärten und Zahlen gewann für mich einen merkwürdig intensiven, symbolischen Charakter. Ich begann mir ein Königreich oder ein Land der Zahlen vorzustellen, mit einer eigenen Geographie, mit eigenen Sprachen und Gesetzen; und mehr noch einen Garten der Zahlen, einen magischen, geheimen und wundersamen Garten. Ein vor meinen Peinigern und dem Schuldirektor verborgener, für sie alle unerreichbarer Garten, in dem ich mich darüber hinaus irgendwie mit Wohlwollen und Freundlichkeit aufgenommen fühlte. Zu meinen Freunden in diesem Garten gehörten nicht nur Primzahlen und Fibonacci-Sonnenblumen, sondern auch vollkommene Zahlen (wie 6 oder 28, die der Summe ihrer Faktoren, ausgenommen sie selbst, entsprechen); pythagoreische Zahlen, deren Quadrat die Summe zweier anderer Quadrate bildet (zum Beispiel 3, 4, 5 oder 5, 12, 13); oder «befreundete Zahlen» (etwa 220 und 284), Zahlenpaare, deren Faktoren sich zur jeweils anderen Zahl addieren. Und meine Tante hatte mir auch erklärt, dass meinem Zahlengarten ein doppelter Zauber innewohne – er nicht nur schön und freundlich sei, immer da, sondern auch Teil jenes Plans, der dem ganzen Universum zugrunde liege. Zahlen, so meine Tante, seien die Gedanken Gottes.

 

Von allen Dingen zu Hause in London vermisste ich am meisten die Uhr meiner Mutter, eine schöne alte Standuhr mit einem goldenen Zifferblatt, das nicht nur Zeit und Datum anzeigte, sondern auch die Mondphasen und die Konjunktionen der Planeten. Als ich noch sehr klein war, hatte ich die Uhr für eine Art astronomisches Instrument gehalten, das seine Informationen direkt aus dem Kosmos bezog. Einmal in der Woche öffnete meine Mutter das Gehäuse und zog die Uhr auf. Ich beobachtete, wie sich das schwere Gewicht hob, und berührte (wenn sie mich ließ) die langen Metallhämmer des Glockenspiels für die Stunden und die Viertelstunden.

Dieses Läuten vermisste ich schmerzlich während meiner vier Jahre in Braefield. Manchmal träumte ich nachts davon und bildete mir ein, zu Hause zu sein, um gleich darauf in einem engen, harten Bett aufzuwachen und nicht selten festzustellen, dass ich es nass gemacht hatte. Viele von uns regredierten in Braefield und wurden schrecklich verprügelt, wenn sie ins Bett gemacht hatten.

Im Frühjahr 1943 wurde Braefield geschlossen. Fast alle hatten sich bei ihren Eltern über die Verhältnisse an der Schule beklagt, und fast alle wurden abgemeldet. Ich hatte mich nie beschwert (auch Michael nicht, aber der war 1941, mit dreizehn Jahren, aufs Clifton College gekommen), sodass ich zum Schluss fast nur noch allein übrig blieb. Ich habe nie erfahren, was genau passiert ist – der Direktor verschwand mit seiner grässlichen Frau und dem Kind, und man sagte mir einfach nur am Ende der Ferien, ich würde nicht nach Braefield zurückkehren, sondern eine andere Schule besuchen.

 

Das St. Lawrence College bestand (wie mir schien) aus einer weitläufigen und eindrucksvollen Anlage mit alten Gebäuden und ebenso alten Bäumen. Es war zweifellos sehr vornehm, doch es schüchterte mich ein. Bei all seinem Schrecken war Braefield mir zumindest vertraut gewesen – ich kannte die Schule, ich kannte das Dorf, ich hatte einen oder zwei Freunde –, während mir in St. Lawrence alles fremd und unbekannt vorkam.

Ich verfüge über merkwürdig wenige Erinnerungen an das Halbjahr, das ich dort verbracht habe. Offenbar habe ich diese Zeit gründlich verdrängt oder vergessen, denn als ich kürzlich im Gespräch mit einer Freundin, die mich gut kennt und alles über Braefield weiß, darauf kam, war sie erstaunt und sagte, ich hätte ihr noch nie von St. Lawrence erzählt. Hauptsächlich erinnere ich mich an die merkwürdigen Lügen oder Scherze oder Phantasien oder Wahnvorstellungen – ich weiß nicht, wie ich es nennen soll –, die ich dort von mir gab.

Besonders allein fühlte ich mich an den Sonntagmorgenden, wenn alle anderen Jungen in die Kirche gingen und ich, der kleine jüdische Junge, allein in der Schule zurückblieb (was mir in Braefield unter den zumeist jüdischen Kindern nicht passiert war). Eines Sonntagmorgens zog ein schreckliches Gewitter auf, mit heftigen Blitzen und schrecklichen Donnerschlägen – einer so entsetzlich laut und nah, dass ich einen Augenblick glaubte, die Schule sei getroffen. Als die anderen aus der Kapelle zurückkehrten, behauptete ich steif und fest, ich sei tatsächlich von einem Blitz getroffen worden, er sei in mich «eingedrungen» und habe sich nun in meinem Gehirn eingenistet.

Andere Erfindungen, die ich für bare Münze ausgab, hatten mit meiner Kindheit zu tun oder genauer gesagt mit einer Alternativversion, einer phantasierten Kindheit. Ich gab vor, ich sei in Russland geboren (Russland war damals unser Verbündeter, und ich wusste, der Vater meiner Mutter stammte von dorther), und erzählte lange, mit vielen Einzelheiten ausstaffierte Geschichten von Schlittenfahrten, von Pelzen, in die ich eingewickelt worden war, und heulenden Wolfsrudeln, die unsere Schlitten bei Nacht verfolgten. Ich kann mich nicht erinnern, wie diese Geschichten aufgenommen wurden, nur, dass ich eisern an ihnen festhielt.

Dann wieder behauptete ich, meine Eltern hätten mich aus irgendeinem Grund als Kind ausgesetzt, ich sei jedoch von einer Wölfin gefunden und von ihr unter Wölfen aufgezogen worden. Ich hatte das Dschungelbuch von Kipling gelesen und kannte es fast auswendig, daher war ich in der Lage, meine «Erinnerungen» gebührend auszuschmücken, und erzählte den staunenden Neunjährigen um mich herum von Baghira, dem schwarzen Panther, Balu, dem alten Bären, der mich im Gesetz unterwies, von meiner Freundin Kaa, der Schlange, mit der ich im Fluss schwamm, und Hathi, dem König des Dschungels, der tausend Jahre alt war.

Im Rückblick auf diese Zeit habe ich den Eindruck, dass ich voller Tagträume und Mythen steckte und manches Mal die Grenze zwischen Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr kannte. Offenbar versuchte ich, eine Identität von absurder, aber eindrucksvoller Art zu erfinden. Ich glaube, mein Gefühl, isoliert zu sein, verlassen und unbekannt, war in St. Lawrence noch stärker als in Braefield, wo ich selbst die sadistischen Aufmerksamkeiten des Schuldirektors als eine Art von Interesse, ja, von Liebe verstehen konnte. Möglicherweise verspürte ich Wut gegen meine Eltern, die sich als blind und taub oder gleichgültig für meine Not erwiesen, sodass ich versucht war, sie durch freundliche und fürsorgliche Russen oder Wölfe zu ersetzen.

Als meine Eltern Mitte des Schuljahrs 1943 zu Besuch kamen (und möglicherweise von meinen eigenartigen Phantastereien und Lügen hörten), wurde ihnen schließlich klar, dass ich mich in einer sehr ernsten seelischen Verfassung befand und es wohl ratsam wäre, mich nach London zu bringen, bevor Schlimmeres passierte.

Kapitel vierEin ideales Metall

Im Sommer 1943, nach vier Jahren Exil, kehrte ich nach London zurück, ein zehnjähriger Junge, etwas verschlossen und in gewisser Weise verstört, aber mit einer Leidenschaft für Metalle, für Pflanzen und Zahlen. Das Leben nahm wieder ein gewisses Maß an Normalität an, trotz der allgegenwärtigen Bombenschäden, der Rationierung, der Verdunkelung und des dünnen, schäbigen Papiers, auf dem die Bücher gedruckt wurden. Die Deutschen hatten in Stalingrad einen Rückschlag erlitten, die Alliierten auf Sizilien Stellung bezogen. Es mochte vielleicht noch Jahre dauern, aber an einem Sieg bestand kein Zweifel mehr.

Zeichen dessen war (für mich), dass mein Vater auf vielen Umwegen etwas ganz Unerhörtes bekommen hatte: eine Banane aus Nordafrika. Niemand von uns hatte seit Kriegsbeginn eine Banane zu Gesicht bekommen, daher teilte mein Vater sie feierlich in sieben gleiche Teile: je einen für meine Mutter und ihn, einen für Tante Birdie und je ein Stück für meine Brüder und mich. Wie eine Hostie legten wir uns den winzigen Bissen auf die Zunge und kosteten ihn andächtig aus, während wir ihn langsam hinunterschluckten. Es war ein sinnliches, fast ekstatisches Geschmackserlebnis, unmittelbare Erinnerung und Symbol vergangener Zeiten und zugleich Vorgriff auf die Zukunft, ein Zeichen, ein Pfand vielleicht, dass ich nun auf Dauer zu Hause bleiben würde.

Und doch hatte sich vieles verändert. Diese Heimat war ihrerseits bestürzend anders geworden und in vielerlei Hinsicht ganz und gar nicht mehr der geordnete, zuverlässige Haushalt, der er vor dem Krieg gewesen war. Es handelte sich bei uns wohl um einen durchschnittlichen Mittelstandshaushalt, aber solche Haushalte hatten damals einen ganzen Stab von Helfern und Bediensteten, von denen viele für uns Kinder überaus wichtig waren, wuchsen wir doch mit sehr beschäftigten und bis zu einem gewissen Grade abwesenden Eltern auf. Da gab es die ältere Kinderschwester Yay, die seit Marcus’ Geburt im Jahr 1923 bei uns lebte (ich wusste nie genau, wie ihr Name buchstabiert wurde, stellte mir aber, als ich lesen gelernt hatte, vor, er werde «Yea» geschrieben – Bibellektüre hatte meine Begeisterung für Worte wie lo und hark und yea geweckt). Dann mein eigenes Kindermädchen, Marion Jackson, an der ich leidenschaftlich hing – meine ersten verständlichen Worte (so heißt es) seien ihr Name gewesen, jede Silbe mit babyhafter Langsamkeit und Sorgfalt ausgesprochen. Yay trug Schwesterntracht und Haube, was auf mich etwas streng und abweisend wirkte, doch Marion Jackson hatte immer weiche, weiße Kleider an, weich wie Vogelfedern, in die ich mich kuschelte und ein Gefühl höchster Geborgenheit empfand.

Dann war da Marie, die Köchin und Haushälterin, mit gestärkter Schürze und geröteten Händen, und eine «Zugehfrau», deren Namen ich vergessen habe und die Marie half. Außer diesen vier Frauen gab es noch Don, den Chauffeur, und Swain, den Gärtner, die sich die schwere Arbeit im Haus teilten.

Von alledem überstand weniges den Krieg. Yay und Marion Jackson verschwanden – wir waren jetzt «groß». Der Gärtner und der Chauffeur waren fort, und meine Mutter (jetzt fünfzig) beschloss, ihr Auto selbst zu fahren. Marie sollte eigentlich zurückkommen, tat es aber nicht. An ihrer Stelle kümmerte sich Tante Birdie um die Besorgungen und das Kochen.[*]

Auch äußerlich hatte sich das Haus verändert. Wie alles im Krieg waren auch die Kohlen knapp geworden, daher hatte man den großen Dampfkessel abgeschaltet. Es gab einen kleinen Ölbrenner von sehr begrenzter Kapazität, sodass jetzt viele der Extrazimmer im Haus nicht mehr genutzt wurden.

Da ich nun «groß» war, bekam ich auch ein größeres Zimmer. Es hatte vorher Marcus gehört, der inzwischen wie David die Universität besuchte. Hier fand ich eine Gasheizung, einen alten Schreibtisch und eigene Bücherregale, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, über einen eigenen Platz, einen eigenen Raum zu verfügen. Ich verbrachte Stunden darin, in denen ich las und von Zahlen, von der Chemie und von Metallen träumte.

Vor allem aber machte es mir Freude, dass ich Onkel Wolfram wieder besuchen konnte – zumindest seine Welt schien sich