Der Strom des Bewusstseins - Oliver Sacks - E-Book

Der Strom des Bewusstseins E-Book

Oliver Sacks

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Beschreibung

Hat ein Regenwurm Empfindungen? Wie viele Nervenzellen hat eine Qualle, und wozu dienen sie ihr? Was kann man aus der Beobachtung von Menschen lernen, die an Migräne leiden? Und was passiert in unserem Gehirn, wenn wir uns falsch erinnern? Diese und viele andere Fragen behandelt Oliver Sacks in seinem neuen Buch. Der New Yorker Neurologe ist durch seine Fallgeschichten weltberühmt geworden. Voller Empathie und mit großer Fachkenntnis hat er immer wieder Menschen porträtiert, deren Leben durch eine schwere Krankheit oder Behinderung geprägt wurde – und hat seinen Lesern gezeigt, welche Chancen die Abweichungen vom sogenannten Normalen bieten und welche positiven Besonderheiten die betroffenen Menschen auszeichnen. Als er im Sommer 2015 starb, war gerade seine Autobiographie «On the Move» erschienen – und wurde weltweit zum Bestseller. Fast bis zum letzten Tag hat er noch an einem Band mit neuen Studien und Fallgeschichten gearbeitet, die von den kreativen Potentialen des menschlichen Gehirns zeugen. Wie entsteht Bewusstsein? Wie funktionieren Gedächtnis und Erinnerung? Dieser Band, den Oliver Sacks' engste Mitarbeiter nun druckfertig gemacht haben, liest sich wie eine Art Vermächtnis des großartigen Autors und Menschenkenners.

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Oliver Sacks

Der Strom des Bewusstseins

Aus dem Englischen von Hainer Kober

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Hat ein Regenwurm Empfindungen? Wie viele Nervenzellen hat eine Qualle, und wozu dienen sie ihr? Was kann man aus der Beobachtung von Menschen lernen, die an Migräne leiden? Und was passiert in unserem Gehirn, wenn wir uns falsch erinnern?

Diese und viele andere Fragen behandelt Oliver Sacks in seinem neuen Buch. Der New Yorker Neurologe ist durch seine Fallgeschichten weltberühmt geworden. Voller Empathie und mit großer Fachkenntnis hat er immer wieder Menschen porträtiert, deren Leben durch eine schwere Krankheit oder Behinderung geprägt wurde – und hat seinen Lesern gezeigt, welche Chancen die Abweichungen vom sogenannten Normalen bieten und welche positiven Besonderheiten die betroffenen Menschen auszeichnen.

Als er im Sommer 2015 starb, war gerade seine Autobiographie «On the Move» erschienen – und wurde weltweit zum Bestseller. Fast bis zum letzten Tag hat er noch an einem Band mit neuen Studien und Fallgeschichten gearbeitet, die von den kreativen Potentialen des menschlichen Gehirns zeugen. Wie entsteht Bewusstsein? Wie funktionieren Gedächtnis und Erinnerung?

Dieser Band, den Oliver Sacks' engste Mitarbeiter nun druckfertig gemacht haben, liest sich wie eine Art Vermächtnis des großartigen Autors und Menschenkenners.

Über Oliver Sacks

Oliver Sacks, geboren 1933 in London, praktizierte als Neurologe und wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten berühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert de Niro und Robin Williams. Oliver Sacks lebte in New York City und war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er starb am 30. August 2015.

 

Bei Rowohlt erschienen u. a. die Bücher «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist», «Drachen, Doppelgänger und Dämonen», «On the Move» und «Dankbarkeit».

Für Bob Silvers

Vorwort

Zwei Jahre vor seinem Tod im August 2015 skizzierte Oliver Sacks den Inhalt von Der Strom des Bewusstseins, dem letzten Buch, das er noch selbst in die Wege leiten konnte, und beauftragte uns drei, für seine Veröffentlichung zu sorgen.

Einer von vielen Auslösern dieses Buchs war der Umstand, dass Sacks 1991 von einem holländischen Filmemacher eingeladen worden war, an der dokumentarischen Fernsehserie A Glorious Accident teilzunehmen. In der letzten Folge setzten sich sechs Wissenschaftler – der Physiker Freeman Dyson, der Biologe Rupert Sheldrake, der Paläontologe Stephen Jay Gould, der Wissenschaftshistoriker Stephen Toulmin, der Philosoph Daniel Dennett und Dr. Sacks – gemeinsam an einen Tisch, um einige der wichtigsten Fragen der naturwissenschaftlichen Forschung zu erörtern: den Ursprung des Lebens, die Bedeutung der Evolution, das Wesen des Bewusstseins. In einer lebhaften Diskussion zeigte sich eines sehr deutlich: Sacks vermochte sich mühelos zwischen allen Disziplinen zu bewegen. Sein wissenschaftliches Verständnis beschränkte sich nicht auf die Neurowissenschaft oder die Medizin; er begeisterte sich für alle Probleme, Ideen und Fragen der Naturwissenschaften. Diese umfassenden Kenntnisse und sein leidenschaftliches Interesse bestimmen den Horizont des vorliegenden Buchs, in dem er sich nicht nur mit dem Wesen menschlicher Erfahrung befasst, sondern dem des ganzen Lebens (einschließlich des botanischen).

In Der Strom des Bewusstseins betrachtet er Evolution, Botanik, Chemie, Medizin, Neurowissenschaft und die Kunst, wobei er sich auf seine großen wissenschaftlichen und kreativen Helden beruft – allen voran Darwin, Freud und William James. Von frühester Jugend an waren diese Autoren für Sacks ständige Begleiter, weshalb sich ein Großteil seines Werks als ein erweitertes Gespräch mit ihnen verstehen lässt. Wie Darwin war er ein genauer Beobachter und begeisterter Sammler von Proben aus der Pflanzen- und Tierwelt, von denen er viele dank seiner sehr umfangreichen Korrespondenz mit Patienten und Kollegen erhielt. Wie Freud trieb es ihn, menschliches Verhalten in seinen rätselhaftesten Manifestationen zu verstehen. Wie James bleibt Sacks, auch wenn er theoretische Gegenstände wie Zeit, Gedächtnis und Kreativität untersucht, der Besonderheit konkreter Erfahrung verpflichtet.

Dr. Sacks wollte das vorliegende Buch Robert Silvers widmen, der mehr als 30 Jahre lang sein Herausgeber, Mentor und Freund war und eine Anzahl der hier versammelten Aufsätze in The New York Review of Books veröffentlichte.

 

Kate Edgar, Daniel Frank und Bill Hayes

Kapitel einsDarwin und der Sinn der Blumen

Wer kennt die Geschichte nicht: Der zweiundzwanzigjährige Charles Darwin heuert auf der Beagle an und fährt bis ans Ende der Welt; Darwin in Patagonien; Darwin in den argentinischen Pampas (wo es ihm gelingt, seinem Pferd ein Lasso um die Beine zu werfen); Darwin in Südamerika, wo er die Knochen riesenhafter ausgestorbener Tiere sammelt; Darwin in Australien, wo er – immer noch religiös – beim Anblick eines Kängurus staunt («Gewiss müssen hier zwei verschiedene Schöpfer am Werk gewesen sein»). Und, natürlich, Darwin auf dem Galápagos-Archipel, wo er feststellt, dass die Finken auf jeder Insel anders aussehen; und wo er eine bahnbrechende Idee hat, eine neue Vorstellung von der Evolution der Lebewesen, die ein Vierteljahrhundert später zur Veröffentlichung der Entstehung der Arten führen sollte.

Mit der Veröffentlichung der Entstehung im November 1859 erreicht die Geschichte ihren Höhepunkt – und wird noch mit einer Art elegischem Nachspiel versehen: dem Bild eines ältlichen und kränkelnden Darwin, der in den gut zwanzig Jahren, die ihm verbleiben, ziemlich plan- und ziellos im Garten seines Anwesens Down House herumwerkelt; vielleicht noch ein oder zwei Bücher schreibt, obwohl sein Hauptwerk längst vollendet ist.

Nichts könnte falscher sein. Darwin blieb äußerst empfänglich für Kritik wie für Belege, die seine Theorie der natürlichen Selektion untermauerten. Das veranlasste ihn, nicht weniger als fünf Ausgaben der Entstehung herauszubringen. Gewiss hätte er sich nach 1859 in seinen Garten und zu seinen Gewächshäusern zurückziehen können (rund um Down House gab es weitläufige Ländereien und fünf Gewächshäuser), doch für ihn wurden sie zu einem kriegerischen Arsenal, das ihm dazu diente, die Kritiker draußen mit immer neuen Beweisen zu beschießen – Beschreibungen ungewöhnlicher Strukturen und Verhaltensweisen von Pflanzen, die sich nur schwer auf einen einzelnen Schöpfungsakt oder auf Design zurückführen ließen – eine Fülle von Belegen für Evolution und natürliche Selektion, die weit überwältigender war als alles, was er in der Entstehung vorgelegt hatte.

Seltsamerweise schenken selbst Darwin-Forscher seinem botanischen Werk relativ wenig Aufmerksamkeit, obwohl es sechs Bücher und gut siebzig Artikel umfasst. So schrieb Duane Isely 1994 in seinem Buch One Hundred and One Botanists, dass zwar

mehr Bücher über Darwin geschrieben wurden als über irgendeinen anderen Biologen, der jemals gelebt hat … Aber er wird nur selten als Botaniker dargestellt … Die Tatsache, dass er einige Bücher über seine Pflanzenforschung geschrieben hat, findet zwar recht oft beiläufige Erwähnung in der Darwin-Literatur, aber doch meist so mit dem Unterton: «Selbst ein großer Mann muss hin und wieder spielen.»

Darwin hatte immer eine besondere Vorliebe und große Bewunderung für Blumen. («Ich hatte immer Freude daran, die Pflanzen in der Rangordnung organisierter Wesen höher zu stufen»[1]). Er wuchs in einer botanischen Familie auf – sein Großvater Erasmus Darwin hatte The Botanic Garden, ein umfangreiches zweibändiges Werk, verfasst, und Darwin selbst wuchs in einem Haus auf, dessen weitläufige Gärten nicht nur mit Blumen gefüllt waren, sondern auch mit verschiedenen Spielarten von Apfelbäumen, die für erhöhte Widerstandskraft gezüchtet worden waren. Die einzigen Vorlesungen, die Darwin als Student in Cambridge regelmäßig besuchte, waren die des Botanikers J.S. Henslow, und es war Henslow, der die außergewöhnlichen Fähigkeiten seines Studenten erkannte und ihn für eine Stellung auf der Beagle empfahl.

Diesem Henslow schrieb Darwin sehr eingehende Briefe voller Beobachtungen über die Fauna, Flora und Geologie der Orte, die er besuchte. (Als die Briefe gedruckt und in Umlauf gebracht wurden, machten sie ihren Verfasser in wissenschaftlichen Kreisen berühmt, noch bevor er mit der Beagle nach England zurückgekehrt war.) Für Henslow stellte Darwin auf den Galápagos eine sorgfältige Sammlung aller blühenden Pflanzen zusammen und merkte an, dass verschiedene Inseln des Archipels häufig verschiedene Arten derselben Gattung aufwiesen. Das wurde für ihn ein entscheidender Beweis, als er über die Rolle geographischer Divergenz für den Ursprung neuer Arten nachdachte.

2008 wies David Kohn in einem brillanten Essay darauf hin, dass die weit über zweihundert Pflanzenexemplare, die Darwin auf den Galápagos sammelte, «die einflussreichste naturhistorische Einzelsammlung lebender Organismen der gesamten Wissenschaftsgeschichte ist … Sie sollte sich auch als Darwins bestdokumentiertes Beispiel für die Evolution der Arten auf den Inseln erweisen.»

(Dagegen waren die Vögel, die Darwin sammelte, nicht immer korrekt bestimmt oder der richtigen Herkunftsinsel zugeordnet. Erst als Darwin nach England zurückgekehrt war, wurden diese Exemplare – ergänzt durch die Proben, die seine Schiffskameraden gesammelt hatten – von dem Ornithologen John Gould geordnet und systematisiert.)

Darwin freundete sich mit zwei Botanikern an, Joseph Dalton Hooker in Kew Gardens und Asa Gray in Harvard. Hooker war in den 1840er Jahren sein Vertrauter geworden – der einzige Mensch, dem er die ersten Entwürfe seines Werks über die Evolution zeigte –, während Asa Gray erst in den 1850er Jahren zum inneren Kreis hinzukam. Beiden konnte Darwin mit steigendem Enthusiasmus von «unserer Theorie» berichten.

Zwar bezeichnete sich Darwin gern als Geologe (er schrieb drei geologische Bücher, in denen er die während der Beagle-Reise gesammelten Beobachtungen verarbeitete, und entwickelte eine verblüffend originäre Theorie über die Entstehung von Korallenatollen, die erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts experimentell bestätigt wurde), doch betonte er stets, er sei kein Botaniker. Ein Grund dafür war der Umstand, dass die Botanik (obwohl sie Anfang des 18. Jahrhunderts einen vielversprechenden Anfang mit Stephen Hales’ Vegetable Staticks hatte, einem Buch voll faszinierender Experimente über Pflanzenphysiologie) eine fast gänzlich deskriptive und taxonomische Disziplin blieb: Pflanzen wurden bestimmt, klassifiziert und mit Namen versehen, aber nicht erforscht. Darwin war vor allem ein Forscher, der sich für das «Wie» und «Warum» der Morphologie und des Verhaltens von Pflanzen interessierte, nicht für das «Was».

Für Darwin war die Botanik nicht nur eine Nebenbeschäftigung oder Liebhaberei wie für so viele Menschen in viktorianischer Zeit; das Studium der Pflanzen war für ihn immer auf einen theoretischen Zweck ausgerichtet, und dieser Zweck betraf Evolution und natürliche Selektion. Es war, so schrieb sein Sohn Francis, «als sei er mit theoretischer Energie aufgeladen, die immer auf dem Sprung war, sich beim geringsten Anlass in jeden sich bietenden Kanal zu entladen, sodass kein Faktum, und mochte es noch so klein sein, davor sicher war, einen Strom von Theorie freizusetzen».

Im 18. Jahrhundert hatte der schwedische Naturforscher Carl von Linné nachgewiesen, dass Blumen Geschlechtsorgane haben (Stempel und Staubblätter), und seine Klassifikation an ihnen ausgerichtet. Aber man nahm fast allgemein an, dass sich Blütenpflanzen durch Selbstbefruchtung fortpflanzen – warum sonst enthielt jede Blüte sowohl männliche wie weibliche Organe? Linné trieb so manchen Spaß mit der Idee; so stellte er eine Blüte mit neun Staubgefäßen und einem Stempel als Schlafgemach dar, in dem ein junges Mädchen von neun Liebhabern umgeben war. Einen ähnlichen Einfall hatte Darwins Großvater im zweiten Band von The Botanic Garden, der den Titel The Loves of the Plants trägt. In solcher Atmosphäre wuchs der kleine Darwin auf.

Doch binnen ein oder zwei Jahren nach seiner Rückkehr von der Beagle sah Darwin sich aus theoretischen Gründen genötigt, das Konzept der Selbstbefruchtung in Frage zu stellen. 1837 schrieb er in sein Notizbuch: «Unterliegen Pflanzen, die sowohl männliche als auch weibliche Organe haben, nicht dennoch den Einflüssen anderer Pflanzen?» Wenn sich Pflanzen tatsächlich evolutionär entwickelt haben sollten, so überlegte er, sei die Fremdbefruchtung unbedingt erforderlich – ansonsten könnte es niemals irgendwelche Veränderungen geben, und die Welt müsste sich mit einer einzigen, sich selbst reproduzierenden Pflanze zufriedengeben, statt über die außerordentliche Fülle von unterschiedlichen Arten zu verfügen, von denen wir umgeben sind. Anfang der 1840er Jahre begann Darwin, seine Theorie zu überprüfen, indem er eine Vielzahl von Blüten sezierte (unter anderem Rhododendren und Azaleen). Dabei wies er nach, dass viele Blüten über morphologische Mechanismen zur Verhinderung oder Minimierung der Selbstbestäubung verfügten.

Doch erst nach der Veröffentlichung von der Entstehung der Arten im Jahr 1859 konnte sich Darwin ganz den Pflanzen widmen. Während er in seinen frühen Werken in erster Linie Beobachter und Sammler war, gewann er seine neuen Erkenntnisse jetzt durch Experimente.

Wie andere Naturforscher hatte er beobachtet, dass Primelblüten in zwei verschiedenen Formen vorkommen: eine «Nadel»-Form mit langem Griffel – der weibliche Teil der Blüte – und eine «Knäuel»-Form mit kurzem Griffel. Man meinte, diese Unterschiede hätten keine besondere Bedeutung. Doch Darwin war anderer Meinung, und als er Primelsträuße untersuchte, die ihm seine Kinder brachten, stellte er fest, dass das Verhältnis von Nadeln zu Knäueln exakt eins zu eins betrug.

Darwins Phantasie war höchst erregbar: Ein Eins-zu-eins-Verhältnis war genau das, was man von einer Art mit getrennten männlichen und weiblichen Blüten erwartete – war es denkbar, dass die Blüten mit langem Griffel, obwohl Hermaphroditen, im Begriff waren, weibliche Blüten zu werden, und die kurzgriffeligen, sich zu männlichen Blüten zu entwickeln? Erblickte er tatsächlich Zwischenformen, den unmittelbaren evolutionären Prozess selbst? Es war eine hübsche Idee, aber sie hielt einer Überprüfung nicht stand, denn die kurzgriffeligen Blüten, die vermeintlich männlichen, produzierten genauso viel Samen wie die langgriffeligen «weiblichen» Blüten. Das war (wie sein Freund T.H. Huxley es formuliert hätte) die «Ermordung einer schönen Hypothese durch eine hässliche Tatsache».

Welche Bedeutung hatten dann diese verschiedenen Griffellängen und ihr Eins-zu-eins-Verhältnis? Darwin ließ die Theorien und wandte sich dem Experiment zu. In mühevoller Kleinarbeit versuchte er, sich als Bestäuber zu betätigen. Mit dem Gesicht nach unten lag auf dem Rasen und übertrug Pollen von einer Blüte auf die andere: langgriffelig auf langgriffelig, kurzgriffelig auf langgriffelig, langgriffelig auf kurzgriffelig und so weiter. Nachdem die Samen produziert waren, sammelte er sie ein, wog sie und stellte fest, dass die reichste Samenausbeute von den fremdbestäubten Blüten produziert wurde. Daraus schloss er, dass die Heterostylie – Pflanzen besitzen Griffel von verschiedenen Längen – ein spezieller Mechanismus ist, der sich evolutionär entwickelt hat, um die Kreuzbefruchtung zu verstärken. Dadurch wird die Zahl und Lebensfähigkeit von Samen erhöht (er nannte das «hybride Vitalität»). Später schrieb Darwin: «Daß ich herausfand, welche Bedeutung die Bauart dieser Pflanzen hat, verschaffte mir mehr Befriedigung als sonst etwas in meinem wissenschaftlichen Leben.»[2]

Obwohl dieser Gegenstand weiterhin ein spezielles Interessengebiet von Darwin blieb (1877 veröffentlichte er darüber ein Buch mit dem Titel The Different Forms of Flowers on Plants of the Same Species [dt.: Die verschiedenen Blüthenformen an Pflanzen der nämlichen Art, Stuttgart 1877]), interessierte er sich jetzt vor allem für die Frage, welche Anpassungsmechanismen den Blütenpflanzen ermöglichten, Insekten für ihre Befruchtung zu verwenden. Es war allgemein bekannt, dass Insekten von bestimmten Blüten angezogen werden, sie aufsuchen und mit Pollen bedeckt wieder herauskommen. Aber niemand hatte dem größere Bedeutung beigemessen, da man annahm, Blüten seien Selbstbefruchter.

Darwin hatte bereits 1840 Verdacht geschöpft; in den 1850er Jahren gab er fünf seiner Kinder den Auftrag, die Flugwege männlicher Hummeln aufzuzeichnen. Seine besondere Bewunderung galt den einheimischen Orchideen, die auf den Wiesen in der Umgebung von Down House wuchsen, daher begann er mit diesen Blumen. Mit der Hilfe von Freunden und Korrespondenten, die ihm Orchideen zu Studienzwecken zuschickten, vor allem aber dank Hooker, der jetzt Direktor von Kew Gardens war, bezog er auch Ideen aller Art in seine Forschungsarbeiten ein.

Die Orchideenarbeit kam rasch und gut voran, sodass Darwin sein Manuskript 1862 in Druck geben konnte. Das Buch hatte einen typischen viktorianischen Titel – fürchterlich lang und ausführlich: On the Various Contrivances by Which British and Foreign Orchids Are Fertilised by Insects (Über die Einrichtungen zur Befruchtung Britischer und ausländischer Orchideen durch Insekten und über die günstigen Erfolge der Wechselbefruchtung, Stuttgart 1862). Auf den ersten Seiten stellt er klar, welche Absichten, oder Hoffnungen, er mit dem Buch verbindet:

In meinem Buche Über die Entstehung der Arten habe ich nur allgemeine Gründe für meine Ansicht angeführt, dass die Organismen-Arten einem gemeinsamen Naturgesetze zufolge von Zeit zu Zeit einer Kreuzung verschiedener Individuen miteinander bedürfen oder, was Dasselbe ist, dass kein Zwitter während einer Reihe aufeinanderfolgender Zeugungen immer sich selbst befruchtet. Da … will ich jetzt den Beweis liefern, dass ich denselben nicht ohne eingehende Forschung ausgesprochen habe … Diese Abhandlung veranlasst mich auch den Nachweis zu versuchen, dass das Studium der Organischen Wesen ebenso ansprechend für denjenigen Beobachter, welcher von der Abhängigkeit ihrer Einrichtung von Naturgesetzen vollkommen überzeugt ist, als für jeden werden kann, der jede unbedeutende Einzelheit ihres Baus als das Ergebnis eines unmittelbaren Eingreifens des Schöpfers betrachtet.[3]

Hier fordert Darwin die Zunft unmissverständlich heraus, indem er sagt: «Erklärt das besser – wenn ihr könnt.»

Darwin erforschte Orchideen und Blüten, wie es noch niemand vor ihm getan hatte, und lieferte in seinem Orchideenbuch eine beeindruckende Fülle von Details, weit mehr als man in der Entstehung findet. Nicht, weil er etwa pedantisch oder obsessiv gewesen wäre, sondern weil er jedes Detail für potenziell bedeutsam hielt. Manchmal heißt es, Gott stecke im Detail, doch für Darwin war es nicht Gott, sondern die über Jahrmillionen wirkende natürliche Selektion, die in diesen Details sichtbar wurde – Details, die unverständlich und sinnlos waren, wenn man sie nicht im Licht der Geschichte und der Evolution betrachtete. Diese botanischen Forschungsarbeiten, so schrieb sein Sohn Francis:

Sie boten ein Argument dar gegen diejenigen Kritiker, welche sich so reichlich in dogmatisierenden Äußerungen über die Nutzlosigkeit besonderer Bildungseigenthümlichkeiten und über die daraus folgende Unmöglichkeit ihrer Entwicklung mittels der natürlichen Zuchtwahl ergangen hatten. Seine Beobachtungen über Orchideen setzten ihn in den Stand zu sagen: «Ich kann die Bedeutung mancher der scheinbar bedeutungslosen Leisten, Hörner nachweisen; wer wird jetzt zu sagen wagen, daß dies oder jenes Gebilde nutzlos ist?»[4]

1793 hatte der deutsche Naturforscher Christian Konrad Sprengel, ein höchst aufmerksamer Beobachter, in einem Buch mit dem Titel Das entdeckte Geheimniss der Natur im Bau und in der Befruchtung der Blumen geschildert, dass Bienen die Pollen, die an ihnen haften bleiben, von einer Blüte zur anderen trügen. Darwin hatte dieses Werk immer als ein «wundervolles» Buch bezeichnet. Aber Sprengel, der der Wahrheit zwar nahekam, verfehlte doch das letzte Geheimnis, weil er immer noch der Linné’schen Idee verhaftet war, dass Blüten selbstbefruchtend und, wenn sie derselben Art angehörten, im Wesentlichen identisch seien. An dieser Stelle vollzog Darwin einen radikalen Bruch und löste das Geheimnis der Blüten, indem er zeigte, dass ihre besonderen Merkmale – die verschiedenen Muster, Farben, Formen, Nektare und Düfte, mit denen sie Insekten dazu verlocken, von Pflanze zu Pflanze zu fliegen, und die Mechanismen, die dafür sorgen, dass die Insekten die Pollen aufnehmen, bevor sie die Blüte verlassen – alles «Einrichtungen» (contrivances), wie er sie nannte, sind, die sich evolutionär im Dienst der Fremdbefruchtung entwickelt haben.

Was eben noch ein idyllisches Naturbild war – Insekten umschwirren bunte Blüten –, wurde jetzt ein zentraler Lebensprozess von biologischer Tiefe und Bedeutung.

Die Farben und Düfte der Blüten waren den Sinnesorganen der Insekten angepasst. Während Bienen von blauen und gelben Blumen angelockt werden, verschmähen sie die roten, weil sie rotblind sind. Doch ihre Fähigkeit, jenseits des Violetts zu sehen, wird von Blüten ausgenutzt, die ultraviolette Markierungen aufweisen – die Honiganzeiger, die Bienen zu ihren Nektarien leiten. Schmetterlinge mit guter Rotsichtigkeit befruchten rote Blüten, lassen aber unter Umständen die blauen und violetten links liegen. Blüten, die von Nachtfaltern bestäubt werden, sind meist farblos, sondern aber nachts ihre Duftstoffe ab. Wenn die Bestäuber Fliegen sind, die sich von verwesenden Stoffen ernähren, imitieren die Blüten gelegentlich den (für uns) widerlichen Gestank von verfaulendem Fleisch.

Nicht nur auf die Evolution der Pflanzen, sondern auch auf die Koevolution von Pflanzen und Insekten hat Darwin zum ersten Mal hingewiesen. So habe die natürliche Selektion dafür gesorgt, dass die Mundwerkzeuge der Insekten genau dem Bau ihrer Lieblingsblüten entsprachen – und Darwin machte sich ein besonderes Vergnügen daraus, auf solche Entdeckungen mit Vorhersagen zu reagieren. Als er eine madagassische Orchidee untersuchte und feststellte, dass deren Nektarium fast einen Fuß lang war, sagte er vorher, man werde einen Schmetterling mit einem Saugrüssel finden, der lang genug sei, um bis in die Tiefen dieses Nektariums einzudringen; Jahrzehnte nach seinem Tod wurde ein solcher Schmetterling tatsächlich entdeckt.

Die Entstehung war (obschon taktvoll präsentiert) ein Frontalangriff auf den Schöpfungsglauben, und obwohl Darwin vorsichtig genug war, in dem Buch nur wenig über die Evolution des Menschen zu sagen, waren die Implikationen seiner Theorie doch vollkommen klar. Vor allem die Idee, dass man den Menschen als bloßes Tier betrachten könne – als einen Affen –, der von anderen Tieren abstamme, hatte Empörung und Spott hervorgerufen. Doch mit den Pflanzen verhielt es sich für die meisten Menschen ganz anders – sie hatten weder Empfindungen, noch konnten sie sich fortbewegen. Sie lebten in einem eigenen Reich, das durch einen großen Abstand vom Tierreich getrennt war. Darwin meinte, die Evolution der Pflanzen werde von den Menschen nicht so wichtig genommen und für weniger bedrohlich gehalten als die Evolution der Tiere und sei daher eher einer gelassenen und rationalen Beurteilung zugänglich. An Asa Gray schrieb er: «Niemand anders hat bemerkt, dass es mir in meinem Orchideenbuch vor allem darum ging, eine ‹Flankenbewegung› gegen den Feind zu führen.» Darwin war nie kriegerisch wie seine «Bulldogge» Huxley, aber er wusste, dass es eine Schlacht zu schlagen galt, und war deshalb militärischen Metaphern nicht abgeneigt.

Doch das Orchideenbuch vermittelt nicht den Eindruck von Militanz oder Polemik, sondern drückt reine Freude aus, das Entzücken über das, was er sah. Diese Begeisterung spricht auch aus seinen Briefen:

Sie können sich nicht vorstellen, wie mich die Orchideen entzückt haben (S. 343) … Was für wundervolle Bildungen! (S. 344) … ich erkläre, daß meiner Meinung nach ihre Anpassungen in jedem Theile der Blüthe völlig so schön und deutlich sind (S. 343) … Ich wurde beinahe närrisch über meinen Reichthum an Orchideen (S. 346). … eine prachtvolle Blüthe von Catasetum geschickt, die wunderbarste Orchidee, die ich gesehen habe (S. 346) … Der glückliche Mensch, er hat factisch Haufen von Bienen um Catasetum herumfliegen sehen mit den Pollinien an ihren Rücken geheftet (S. 344) … Mich hat in meinem ganzen Leben kein Gegenstand mehr interessiert als diese Orchidee (S. 346).[5]

Die Befruchtung von Blüten beschäftigte Darwin bis ans Ende seines Lebens; auf das Orchideenbuch folgte fast fünfzehn Jahre später ein Werk, das sich mit dem Thema allgemeiner befasste: The Effects of Cross and Self Fertilisation in the Vegetable Kingdom (Die Wirkungen der Kreuz- und Selbstbefruchtung im Pflanzenreich, Stuttgart 1877).

Aber Pflanzen müssen auch überleben, sich entwickeln und eine Nische in der Welt finden (oder sich schaffen), wenn sie überhaupt in die Lage kommen wollen, sich fortzupflanzen. Daher interessierte Darwin sich genauso für die Mechanismen und Adaptionen, mittels deren Pflanzen überleben, und für ihre vielfältigen und manchmal erstaunlichen Lebensweisen, für die ihnen Sinnesorgane und Bewegungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die an die von Tieren erinnern.

1860 stieß Darwin zum ersten Mal auf insektenfressende Pflanzen und war fasziniert von ihnen. Es folgten eine Reihe von Untersuchungen, die fünfzehn Jahre später mit der Veröffentlichung von Insectivorous Plants (Insectenfressende Pflanzen, Stuttgart 1876) ihren Höhepunkt fanden. Dieses Buch ist in einem leichten, eingängigen Stil gehalten und beginnt, wie die meisten seiner Werke, mit einer persönlichen Erinnerung:

Ich war während des Sommers 1860 erstaunt zu finden, was für eine große Anzahl Insekten von den Blättern des gewöhnlichen Sonnenthaus (Drosera rotundifolia) auf einer Heide in Sussex gefangen wurden. … Viele Pflanzen, zum Beispiel die klebrigen Knospen der Roßkastanien, verursachen den Tod von Insekten, ohne daraus, soweit wir bemerken können, selbst irgendwelchen Vortheil zu ziehen. Es zeigte sich aber bald deutlich, daß die Drosera für den besondern Zweck, Insekten zu fangen, ausgezeichnet geschickt war.[6]

Das Konzept der Adaption oder Anpassung beschäftigte Darwin fortwährend; ein Blick auf den Sonnentau zeigte ihm, dass es dort Adaptionen vollkommen neuer Art gab, denn Droseras Blätter hatten nicht nur eine klebrige Oberfläche, sondern waren auch mit feinen Härchen bedeckt («Tentakel» nannte Darwin sie), an deren Spitzen Drüsen saßen. Welche Aufgabe hatten sie?, fragte er sich. «Wenn ein kleiner organischer oder unorganischer Gegenstand auf die Drüsen in der Mitte des Blattes gelegt wird», schrieb er,

so übertragen diese einen motorischen Reiz auf die randständigen Tentakel. Die nächststehenden werden zuerst afficirt und neigen sich langsam nach der Mitte hin, dann die entfernteren, bis sie zuletzt alle über dem Gegenstand dicht zusammen gebogen sind.[7]

War der Gegenstand hingegen nicht nahrhaft, wurde er rasch abgestoßen.

Im Anschluss bewies Darwin diese Behauptung, indem er auf einige Blätter Eiweißtröpfchen fallen ließ und auf andere ähnliche Tröpfchen anorganischer Materie. Die anorganische Materie wurde rasch abgestoßen, aber das Eiweiß blieb auf der Pflanze und regte die Bildung eines Ferments und einer Säure an, die den organischen Stoff rasch verdauten und absorbierten. Ähnlich verhielt es sich mit Insekten, besonders mit lebenden. Ohne Mund oder Darm oder Nerven fing Drosera ihre Beute und absorbierte sie mit Hilfe spezieller Verdauungsenzyme.

Darwin beschrieb nicht nur, wie geschickt Drosera zu Werke ging, sondern auch, warum sie eine so außergewöhnliche Lebensweise angenommen hatte: Er beobachtete, dass die Pflanze in Sümpfen wuchs, in saurem Boden, der kaum organische Stoffe und assimilierbaren Stickstoff enthielt. Nur wenige Pflanzen konnten unter solchen Bedingungen überleben, aber Drosera hatte eine Möglichkeit gefunden, diese Nische zu besetzen, indem sie den Stickstoff direkt aus den Insekten und nicht aus dem Boden aufnahm. Erstaunt darüber, dass Drosera ihre Tentakel tierähnlich koordinieren konnte – sie schlossen sich um die Beute wie die Tentakel einer Seeanemone – und dass sie fähig war, ihre Nahrung wie ein Tier zu verdauen, schrieb Darwin an Asa Gray: «Du bist ungerecht, was die Verdienste meiner geliebten Drosera betrifft; sie ist eine wundervolle Pflanze oder vielmehr ein höchst kluges Tier. Ich werde Drosera bis zum Ende meiner Tage die Treue halten.»

Seine Begeisterung für Drosera wurde noch größer, als er feststellte, dass eine Verletzung in der einen Hälfte des Blattes genau diese Hälfte lähmte, als wäre ein Nerv zertrennt. Das Erscheinungsbild eines solchen Blattes, schrieb er, könne «mit dem eines Menschen verglichen werden, dessen Rückgrat gebrochen ist und dessen untere Extremitäten gelähmt sind»[8]. Später hielt Darwin Exemplare der Venusfliegenfalle – einer Pflanze, die ebenfalls zur Sonnentaufamilie gehört. In dem Augenblick, da ihre auslöserähnlichen Härchen berührt werden, klappen ihre Blätter über einem Insekt zusammen und setzen es gefangen. Die Reaktionen der Fliegenfalle waren so rasch, dass Darwin sich fragte, ob möglicherweise Elektrizität im Spiel sei, etwa so wie bei einem Nervenimpuls. Er erörterte diese Frage mit seinem Kollegen Burdon Sanderson, einem Physiologen, und war hocherfreut, als Sanderson nachweisen konnte, dass die Blätter tatsächlich elektrischen Strom erzeugten und dass sie auch durch elektrische Stimulation veranlasst werden konnten, sich zu schließen. «Wenn die Blätter gereizt werden», berichtete Darwin in Insectenfressende Pflanzen, wird «der Strom in derselben Art und Weise gestört … wie es während der Contraction des Muskels eines Thieres stattfindet»[9]

Pflanzen gelten oft als empfindungslos und unbeweglich – doch die insektenfressenden Pflanzen lieferten eine spektakuläre Widerlegung dieser Vorstellung, woraufhin sich Darwin, begierig, andere Aspekte der Pflanzenbewegung zu untersuchen, den Kletterpflanzen zuwandte. (Diese Beschäftigung fand ihren Höhepunkt in der Veröffentlichung des Buchs On the Movements and Habits of Climbing Plants [dt.: Die Bewegungen und Lebensweise der kletternden Pflanzen, Stuttgart 1876].) Klettern war eine wirksame Anpassung, erlaubt es den Pflanzen doch, sich von starrem Stützgewebe zu befreien, indem sie andere Pflanzen dazu als Halt und Aufstiegshilfen benutzen. Außerdem gab es nicht nur eine Möglichkeit zu klettern, sondern viele. Zum Beispiel Schlingpflanzen, Blattkletterer und Pflanzen, die sich mit Hilfe von Ranken in die Höhe arbeiteten. Besonders Letztere faszinierten Darwin – er hatte fast den Eindruck, als hätten sie «Augen» und könnten ihre Umgebung nach geeigneten Stützen «absuchen». «Ich glaube, Sir, die Ranken können sehen», schrieb er an Asa Gray. Wie kommt es zu solchen komplexen Anpassungen?

Darwin hielt Schlingpflanzen für älter als andere Kletterpflanzen, und er dachte, Rankenpflanzen hätten sich aus diesen entwickelt und die Blattkletterer ihrerseits aus Rankenpflanzen, wobei jede Entwicklung immer mehr mögliche Nischen eröffnete – Rollen für die Organismen in ihrer Umwelt. Kletterpflanzen hatten sich also im Laufe der Zeit entwickelt – und waren nicht in einem einzigen Augenblick durch das göttliche Wort entstanden. Aber wie hatte das Schlingen selbst angefangen? Darwin hatte Drehbewegungen in den Stängeln, Blättern und Wurzeln jeder Pflanze beobachtet, die er untersucht hatte, und solche Drillbewegungen (die er Zirkumnutation nannte) lassen sich bei den entwicklungsgeschichtlich frühesten Pflanzen beobachten: Palmfarnen, Farnen, Seetang. Wenn Pflanzen dem Licht entgegenwachsen, dann ist es nicht nur eine Aufwärtsbewegung auf das Licht zu, sie schießen nicht nur in die Höhe; sie verdrillen sich, führen eine korkenzieherartige Bewegung aus. Nach Darwins Einschätzung handelte es sich bei der Zirkumnutation um ein universelles Bestreben von Pflanzen und eine Vorstufe aller anderen Drehbewegungen.

Diese Überlegungen nebst Dutzenden eleganten Experimenten schilderte er in seinem letzten, 1880 veröffentlichten Pflanzenbuch – The Power of Movement in Plants (dt.: Das Bewegungsvermögen der Pflanzen, Stuttgart 1881). Unter den vielen hübschen und einfallsreichen Experimenten, von denen er dort berichtete, war eines, in dem er Hafersetzlinge einpflanzte, sie mit Licht aus verschiedenen Richtungen bestrahlte und feststellte, dass sie sich immer nach dem Licht beugten oder drehten, selbst wenn es zu schwach war, um vom menschlichen Auge gesehen zu werden. Gab es eine lichtempfindliche Region (wie er es bereits bei den Ranken vermutet hatte), eine Art «Auge» an der Spitze der Setzlingsblätter? Er bastelte kleine Kappen, die er mit Ausziehtusche schwärzte, um diese Stellen zu verdecken, und stellte fest, dass die Blätter nicht mehr auf das Licht reagierten. Daraus folge eindeutig, so schloss er, dass Licht, wenn es auf die Blattspitze falle, diese zur Freisetzung einer Art Botenstoff anrege. Sobald dieser die «motorischen» Teile des Setzlings erreiche, würde der veranlasst, sich dem Licht zuzuwenden. Ähnlich reagierten auch die Primärwurzeln (oder «Würzelchen») der Setzlinge, die alle möglichen Hindernisse zu überwinden hatten, äußerst empfindlich auf Berührungen, Schwerkraft, Druck, Feuchtigkeit, chemische Gradienten etc. Er schrieb:

Wir glauben, dass es bei Pflanzen keine wunderbarere Bildung gibt, soweit die Funktionen derselben in Betracht kommen, als die Spitze des Würzelchens … Es ist kaum eine Übertreibung, wenn man sagt, dass die in dieser Weise ausgerüstete Spitze des Würzelchens … gleich dem Gehirn eines der niederen Thiere wirkt; [es] erhält Eindrücke von den Sinnesorganen und leitet die verschiedenen Bewegungen.[10]

Janet Browne weist allerdings in ihrer Darwin-Biographie darauf hin, dass Das Bewegungsvermögen der Pflanzen «ein unerwartet kontroverses Buch» gewesen sei. Darwins Konzept der Zirkumnutation wurde heftig kritisiert. Dabei hatte er immer eingeräumt, dass es eine äußerst spekulative These sei. Sehr viel schärfer war die Kritik, die der deutsche Botaniker Julius Sachs vorbrachte, der laut Browne «über Darwins Behauptung, die Spitze der Wurzel lasse sich mit dem Gehirn eines einfachen Organismus vergleichen, bissig spottete und erklärte, Darwins hausgemachte Experimentaltechniken wiesen groteske Mängel auf».

Doch ganz gleich, wie einfach Darwins Techniken sein mochten, seine Beobachtungen waren exakt und korrekt. Die Hypothese, dass ein chemischer Botenstoff von der lichtempfindlichen Spitze des Setzlings zu seinem «motorischen» Gewebe transportiert werde, sollte fünfzig Jahre später zu der Entdeckung von Pflanzenhormonen wie den Auxinen beitragen, die in Pflanzen viele der Funktionen übernehmen, die in Tieren vom Nervensystem wahrgenommen werden.

Vierzig Jahre lang kränkelte Darwin. Seit seiner Rückkehr von den Galápagos litt er an einer rätselhaften Krankheit. Manchmal erbrach er sich ganze Tage lang oder musste auf dem Sofa liegen bleiben. Als er älter wurde, bekam er zusätzlich Herzprobleme. Das beeinträchtigte seine geistige Energie und Kreativität allerdings nicht im Mindesten. Nach der Entstehung schrieb er zehn Bücher, von denen er viele wiederholt einer gründlichen Revision unterzog – ganz zu schweigen von Dutzenden Artikeln und unzähligen Briefen. Seine verschiedenen Interessen verfolgte er bis an sein Lebensende. 1877 veröffentlichte er eine zweite, erheblich erweiterte Ausgabe seines Orchideenbuchs (die erste Ausgabe war fünfzehn Jahre zuvor erschienen). Mein Freund Eric Korn, ein Antiquar und Darwin-Spezialist, teilte mir mit, er habe einmal ein Exemplar dieses Werkes besessen, in dem sich der Kontrollabschnitt einer Postbestellung aus dem Jahr 1882 befunden habe. Es handelte sich um die von Darwin eigenhändig unterschriebene Quittung über zwei Shilling und neun Pence, den Preis für eine neue Orchidee. Im April desselben Jahres starb Darwin, aber seine Liebe zu Orchideen war ungebrochen, sodass er ihre Sammlung noch wenige Wochen vor seinem Tod zu Studienzwecken ergänzte.

Die Schönheit der Natur hatte für Darwin nicht nur ästhetische Bedeutung; in ihr spiegelte sich stets Funktion und Anpassung. Orchideen waren nicht nur Schmuck, der im Garten oder in einer Vase zur Schau gestellt wurde, sondern auch wunderbare «Einrichtungen», Beispiele für den Einfallsreichtum der Natur und für die fortwährend wirkende natürliche Selektion. Blumen bedurften keines Schöpfers, sondern waren vollständig verständliche Produkte des Zufalls und der Selektion, deren winzige, sich allmählich summierende Veränderungen über einen Zeitraum von vielen hundert Jahrmillionen stattfinden. Das war für Darwin der Sinn von Blumen und Blüten, der Sinn aller Anpassungen, bei Pflanzen und Tieren, der Sinn der natürlichen Selektion.

Häufig begegnet man der Ansicht, Darwin habe mehr als irgendein anderer Mensch den «Sinn» aus der Welt verbannt – das Prinzip eines göttlichen Sinns oder Zwecks. In Darwins Welt gibt es in der Tat kein Design, keinen Plan, keinen Entwurf. Die natürliche Selektion kennt keine Richtung und kein Ziel. Der Darwinismus, so ist häufig zu hören, bedeute das Ende des teleologischen Denkens. Und doch schreibt sein Sohn Francis: