9,99 €
Was geschieht in unserem Kopf, wenn wir – ohne es zu wollen – phantastische Geschichten wahrnehmen oder Muster und Gestalten sehen? Wodurch unterscheiden sich solche Halluzinationen von realen Erfahrungen oder von Träumen? Oliver Sacks beschreibt lauter seltsame, anrührende, rätselhafte und verstörende Fälle, ohne dass er das Abweichende negativ bewertet. Sein Buch ist eine abenteuerliche Reise durch die Bilderwerkstatt unseres Gehirns und ein neuerlicher Beweis seiner großen Erzählkunst. «Oliver Sacks zu lesen ist, als würde man auf einer dünnen Eisfläche über die Untiefen des menschlichen Bewusstseins dahingleiten. Und wer genau hinschaut, erkennt darunter ein Stück seiner selbst.» Gehirn und Geist «Oliver Sacks beweist, dass die Medizin sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft ist.» Siri Hustvedt
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 436
Oliver Sacks
Über Menschen mit Halluzinationen
Was geschieht in unserem Kopf, wenn wir – ohne es zu wollen – phantastische Geschichten wahrnehmen oder Muster und Gestalten sehen? Wodurch unterscheiden sich solche Halluzinationen von realen Erfahrungen oder von Träumen? Oliver Sacks beschreibt lauter seltsame, anrührende, rätselhafte und verstörende Fälle, ohne dass er das Abweichende negativ bewertet. Sein Buch ist eine abenteuerliche Reise durch die Bilderwerkstatt unseres Gehirns und ein neuerlicher Beweis seiner großen Erzählkunst.
«Oliver Sacks zu lesen ist, als würde man auf einer dünnen Eisfläche über die Untiefen des menschlichen Bewusstseins dahingleiten. Und wer genau hinschaut, erkennt darunter ein Stück seiner selbst.»
Gehirn und Geist
«Oliver Sacks beweist, dass die Medizin sowohl eine Kunst als auch eine Wissenschaft ist.»
Siri Hustvedt
Oliver Sacks, geboren 1933 in London, war Professor für Neurologie und Psychiatrie an der Columbia University. Er wurde durch die Publikation seiner Fallgeschichten weltberühmt. Nach seinen Büchern wurden mehrere Filme gedreht, darunter «Zeit des Erwachens» (1990) mit Robert De Niro und Robin Williams. Oliver Sacks starb am 30. August 2015 in New York City.
Bei Rowohlt erschienen unter anderem seine Bücher «Awakenings – Zeit des Erwachens», «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte», «Der Tag, an dem mein Bein fortging», «Der einarmige Pianist» und «Drachen, Doppelgänger und Dämonen». 2015 veröffentlichte er seine Autobiographie «On the Move».
Hainer Kober, geboren 1942, lebt in Soltau. Er hat u. a. Werke von Stephen Hawking, Steven Pinker, Jonathan Littell, Georges Simenon und Oliver Sacks übersetzt.
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel «Hallucinations» bei Alfred A. Knopf, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2023
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2013 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg
«Hallucinations» Copyright © 2012 by Oliver Sacks
Redaktion Heiner Höfener
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München nach einem Entwurf von any.way, Hamburg
Coverabbildung neuebildanstalt/Burghardt
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
ISBN 978-3-644-01404-6
www.rowohlt.de
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
Widmung
Einleitung
Kapitel eins Stumme Menschenmengen: Charles-Bonnet-Syndrom
Kapitel zwei Häftlingskino: Reizentzug
Kapitel drei Ein paar Nanogramm Wein: Geruchshalluzinationen
Kapitel vier Stimmen und andere Dinge hören
Kapitel fünf Parkinson-Illusionen
Kapitel sechs Veränderte Bewusstseinszustände
Kapitel sieben Muster: visuelle Migränen
Kapitel acht Die «heilige» Krankheit
Kapitel neun Zweigeteilt: Halluzinationen im visuellen Habfeld
Kapitel zehn Delirant
Kapitel elf An der Schwelle des Schlafs
Kapitel zwölf Narkolepsie und Nachthexen
Kapitel dreizehn Verhexter Verstand
Kapitel vierzehn Doppelgänger: sich selbst halluzinieren
Kapitel fünfzehn Phantome, Schatten und sensorische Gespenster
Danksagung
Literatur
Personenregister
Nachweise
Für Kate
Als das Wort «Halluzination» im englischen Sprachraum Anfang des 16. Jahrhunderts erstmals in Gebrauch kam, bezeichnete es lediglich einen wandering mind («reizunabhängige Gedanken», «Tagträume»). Erst in den 1830er Jahren verwendete der französische Psychiater Jean-Étienne Esquirol das Wort in seiner heutigen Bedeutung. Immer noch wird das Wort «Halluzination» höchst unterschiedlich definiert, wohl weil es sich nicht immer ohne weiteres gegen «Fehlwahrnehmung» und «Sinnestäuschung» abgrenzen lässt. Doch meist verstehen wir unter Halluzinationen Wahrnehmungsinhalte, die unabhängig von irgendeiner äußeren Wirklichkeit auftreten – das Sehen oder Hören von Dingen, die nicht vorhanden sind.[1]
Wahrnehmungen sind in gewisser Hinsicht teilbar – Sie und ich können uns darauf einigen, dass dort ein Baum steht, aber wenn ich sage: «Ich sehe dort einen Baum», und Sie erblicken nichts dergleichen, werden Sie meinen «Baum» für eine Halluzination halten, etwas, was sich mein Gehirn oder Geist ausgedacht hat und was für Sie oder jemand anders nicht wahrnehmbar ist. Dem Halluzinierenden jedoch erscheinen Halluzinationen sehr real: Sie können Wahrnehmungen in jeder Hinsicht nachahmen, beginnend mit der Art und Weise ihrer Projektion in die Außenwelt.
In der Regel sind Halluzinationen beunruhigend. Manchmal liegt das an ihrem Inhalt – eine Riesenspinne mitten in einem Zimmer oder winzige Menschen, fünfzehn Zentimeter groß –, doch wichtiger ist der Umstand, dass es keine «konsensuelle Validierung» gibt: Niemand sieht, was Sie sehen, und Ihnen wird mit heißem Schrecken klar, dass die Riesenspinne oder die winzigen Menschen «in Ihrem Kopf» sein müssen.
Wenn wir gewöhnliche Vorstellungsbilder abrufen – ein Rechteck, das Gesicht eines Freundes oder den Eiffelturm –, bleiben diese Bilder in unserem Kopf. Im Gegensatz zur Halluzination werden sie nicht in die Außenwelt projiziert, und es fehlt ihnen die Detailgenauigkeit eines Wahrnehmungsinhalts oder einer Halluzination. Solche willkürlichen Vorstellungsbilder können wir uns aktiv vergegenwärtigen und nach Belieben verändern. Doch Halluzinationen sind wir passiv und hilflos ausgeliefert: Sie stoßen uns zu – selbstherrlich kommen und gehen sie, wann es ihnen gefällt und nicht, wann es uns gefällt.
Es gibt noch eine andere Form der Halluzination, manchmal auch als Pseudohalluzination bezeichnet – eine Halluzination, die nicht in die Außenwelt projiziert, sondern gewissermaßen an der Innenseite der Augenlider erblickt wird. In der Regel treten solche Halluzinationen bei geschlossenen Augen in Dämmerzuständen zwischen Schlafen und Wachen auf. Trotzdem weisen diese inneren Halluzinationen alle anderen Merkmale von Halluzinationen auf: Sie sind unwillkürlich, nicht zu kontrollieren und nicht selten durch irreale Farben und Einzelheiten, bizarre Formen oder Verwandlungen gekennzeichnet – ganz anders als normale visuelle Vorstellungen.
Halluzinationen können sich mit Fehlwahrnehmungen oder Sinnestäuschungen überschneiden. Wenn ich jemanden anblicke und nur sein halbes Gesicht sehe, ist das eine Fehlwahrnehmung. In komplexeren Situationen verliert die Unterscheidung jedoch an Klarheit. Wenn jemand vor mir steht, und ich sehe nicht eine Gestalt, sondern fünf in einer Reihe, ist dann diese «Polyopie» eine Fehlwahrnehmung oder eine Halluzination? Wenn ich sehe, wie jemand das Zimmer von links nach rechts durchquert und es dann auf exakt die gleiche Weise viele Male wiederholt, ist dann diese Wiederkehr des Gleichen («Palinopsie») eine Wahrnehmungsstörung, eine Halluzination oder beides? In der Regel sprechen wir von Fehlwahrnehmungen oder Sinnestäuschungen, wenn es einen realen Ausgangspunkt gibt – eine menschliche Gestalt zum Beispiel –, während Halluzinationen aus dem Nichts entstehen. Doch viele meiner Patienten erleben sowohl echte Halluzinationen wie Sinnestäuschungen und komplexe Fehlwahrnehmungen, wobei sich die einen von den anderen nur schwer abgrenzen lassen.
Zwar ist das Phänomen der Halluzination vermutlich so alt wie das menschliche Gehirn, doch sind wir erst in den letzten Jahrzehnten seinem Verständnis wirklich näher gekommen.[2] Die neuen Erkenntnisse verdanken wir in erster Linie unserer Fähigkeit, das Gehirn von halluzinierenden Menschen durch bildgebende Verfahren darzustellen und seine elektrischen und metabolischen Aktivitäten aufzuzeichnen. Dank dieser Techniken – ergänzt durch Studien mittels implantierter Elektroden (bei Patienten mit einer chronischen Epilepsie, die chirurgisch behandelt werden muss) – waren wir in der Lage, die Gehirnregionen zu bestimmen, die für verschiedene Arten von Halluzinationen verantwortlich sind. Beispielsweise kann die extreme Aktivierung eines Areals im rechten inferotemporalen Kortex, das normalerweise an der Gesichtererkennung beteiligt ist, das Halluzinieren von Gesichtern bewirken. In der anderen Hirnhälfte gibt es ein entsprechendes Areal, das wir normalerweise zum Lesen verwenden: das visuelle Wort-Areal im fusiformen Gyrus. Wird diese Region abnorm stimuliert, kann es zur Entstehung von Buchstabenhalluzinationen oder Pseudowörtern führen.
Halluzinationen sind «positive» Phänomene, im Gegensatz zu negativen Symptomen wie Defiziten oder Verlusten durch Unfall oder Krankheit, mit denen die Neurologie im Regelfall befasst ist. Die Phänomenologie der Halluzinationen verweist häufig auf bestimmte Hirnstrukturen und -mechanismen und kann daher – potenziell – direkteren Einblick in die Hirnfunktionen gewähren.
Halluzinationen nehmen seit jeher einen wichtigen Platz in unserem Seelenleben und in unserer Kultur ein. Tatsächlich müssen wir uns fragen, inwieweit halluzinatorische Erfahrungen den Ursprung unserer Kunst, Folklore und sogar Religion bilden. Sind die geometrischen Muster, die man bei Migräne und anderen Störungen sieht, die Urbilder der Motive in der Kunst der Aborigines? Entstand aus liliputanischen Halluzinationen (die nicht selten sind) die Sagenwelt der Elfen, Kobolde, Trolle und Feen? Sind die schrecklichen Halluzinationen der Albträume, in denen uns ein grausiges Wesen heimsucht und die Luft abschnürt, an der Entstehung unserer Vorstellungen von Dämonen, Hexen oder bösartigen Außerirdischen beteiligt? Sind «ekstatische» epileptische Anfälle, wie sie Dostojewski hatte, mitverantwortlich für unser religiöses Empfinden des Göttlichen? Bahnen außerkörperliche Erfahrungen den Weg für das Gefühl, dass der Mensch körperlos sein kann? Fördert die Stofflosigkeit der Halluzinationen den Glauben an Gespenster und Geister? Warum hat jede uns bekannte Kultur nach halluzinogenen Wirkstoffen gesucht und sie gefunden, um sie zuerst und vor allem zu sakralen Zwecken zu verwenden?
Das ist kein neuer Gedanke – 1845 hat Alexandre Brierre de Boismont in der ersten medizinischen Abhandlung, die sich systematisch mit dem Thema beschäftigte, diese Überlegungen in einem Kapitel mit dem Titel «Halluzinationen in ihrer Beziehung zu Psychologie, Moral und Religion» erörtert. Anthropologen – etwa Weston La Barre und Richard Evans Schultes – haben dokumentiert, welche Rolle Halluzinationen in menschlichen Gesellschaften gespielt haben.[3] Im Laufe der Zeit hat sich unsere Auffassung von der weitreichenden kulturellen Bedeutung dieses Phänomens, das zunächst nicht mehr zu sein scheint als eine Funktionsstörung des Gehirns, erweitert und vertieft.
Abgesehen von der traumartigen Beschaffenheit mancher Halluzinationen und den «Traumzuständen», die bei einigen epileptischen Anfällen auftreten, werde ich in diesem Buch kaum auf das weite und faszinierende Gebiet der Träume eingehen (die sich mit Fug und Recht als eine gewisse Form von Halluzinationen beschreiben lassen). Manchmal wird behauptet, Traumzustände und Halluzination bildeten ein Kontinuum (was besonders für hypnagoge und hypnopompe – beim Einschlafen beziehungsweise Aufwachen auftretende – Halluzinationen zutreffen mag), doch im Allgemeinen sind Halluzinationen ganz anders als Träume.
Häufig scheinen Halluzinationen die Kreativität von Vorstellungsvermögen, Träumen oder Phantasie zu besitzen – oder die lebhafte Detailgenauigkeit und den externen Charakter der Wahrnehmung. Doch die Halluzination entspricht keiner dieser Funktionen, obwohl sie einige neurophysiologische Mechanismen mit ihnen gemeinsam haben mag. Die Halluzination ist eine ganz besondere Kategorie des Bewusstseins und des Seelenlebens.
Auch die häufig bei Schizophrenie auftretenden Halluzinationen würden eine gesonderte Betrachtung, ein eigenes Buch verlangen, da sie in der Regel nicht von dem tief veränderten Innenleben und den Lebensumständen dieser Patienten zu trennen sind. Daher werde ich hier kaum auf schizophrene Halluzinationen eingehen und vor allem die Halluzinationen behandeln, die in Verbindung mit «organischen» Psychosen auftreten – die vorübergehenden Psychosen bei Delirium, Epilepsie, Drogenkonsum und bestimmten Erkrankungen.
In vielen Kulturen gelten Halluzinationen – wie Träume – als besondere, privilegierte Bewusstseinszustände – weshalb man sie durch spirituelle Techniken, Meditation, Drogen oder Isolierung gezielt herbeizuführen sucht. In der westlichen Kultur dagegen hält man Halluzinationen häufig für Vorboten des Wahnsinns oder für Anzeichen eines fatalen Geschehens im Gehirn – obwohl die weit überwiegende Mehrheit der Halluzinationen keineswegs Schlimmes zu bedeuten hat. Vielfach werden sie als Stigma erlebt, weshalb die Patienten sich häufig scheuen, Halluzinationen zuzugeben, da sie befürchten, ihre Freunde – oder sogar Ärzte – könnten meinen, sie hätten den Verstand verloren. Ich hatte das große Glück, in meiner Praxis und in der Korrespondenz mit Lesern (die für mich in gewisser Weise eine Erweiterung meiner Praxis sind) viele Menschen kennenzulernen, die bereit waren, mir ihre Erfahrungen mitzuteilen. Oft haben sie die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, sie könnten, indem sie ihre Geschichten erzählten, dazu beitragen, die kränkenden Missverständnisse zu beseitigen, die so charakteristisch für den Umgang mit dem Thema sind.
Daher verstehe ich das vorliegende Buch als eine Art Naturgeschichte oder Anthologie der Halluzinationen, in dem Betroffene beschreiben, wie sie dieses Phänomen erleben und wie es sich auf sie auswirkt, denn die Macht der Halluzinationen lässt sich nur durch Berichte in der Ich-Form begreifen.
Einige der folgenden Kapitel sind nach medizinischen Kategorien geordnet (Blindheit, Reizentzug, Narkolepsie etc.), andere richten sich an den Sinnesmodalitäten aus (Hören, Riechen und so fort). Aber es gibt eine Vielzahl von Überschneidungen und Wechselbeziehungen zwischen diesen Kategorien, das heißt, ähnliche Halluzinationen könnten auch bei zahlreichen anderen Zuständen oder Erkrankungen auftreten. Sie haben es hier also mit einer Stichprobe zu tun, die Ihnen, wie ich hoffe, einen Eindruck von der großen Bandbreite und der ganzen Vielfalt halluzinatorischen Erlebens vermittelt – diesem Erfahrungsbereich, der so wesentlich zur Natur des Menschen gehört.
Eines Tages, Ende November 2006, bekam ich einen dringenden Anruf aus einem Pflegeheim, in dem ich arbeite. Eine der Bewohnerinnen – Rosalie, eine Dame über neunzig – sah plötzlich nicht existente Dinge, das heißt, sie hatte seltsame Halluzinationen von überwältigendem Wirklichkeitscharakter. Die Pflegerinnen hatten den Psychiater gerufen, aber sie fragten sich, ob das Problem nicht auch neurologischer Natur sei – Alzheimer vielleicht oder ein Schlaganfall.
Als ich eintraf und sie begrüßte, bemerkte ich zu meiner Überraschung, dass Rosalie vollkommen blind war. Obwohl sie schon seit Jahren nichts mehr sah, «erblickte» sie jetzt plötzlich Dinge, und zwar direkt vor sich.
«Was für Dinge?», fragte ich.
«Menschen in morgenländischer Kleidung!», rief sie aus. «In wallenden Gewändern, die Treppen hinauf- und hinabgehen … Ein Mann, der sich mir zuwendet und lächelt, aber er hat riesige Zähne an der einen Seite seines Mundes. Auch Tiere. Ich sehe diese Szene mit einem weißen Gebäude, und es schneit – ein weicher, wirbelnder Schnee. Ich sehe dieses Pferd (kein hübsches Tier, ein Arbeitspferd) mit einem Geschirr, es zieht Schnee weg … aber alles wechselt ständig … Ich sehe viele Kinder, sie gehen Treppen hinauf und hinab. Sie tragen leuchtende Farben – Rosa, Blau –, morgenländische Gewänder.» Solche Szenen erblickte sie seit mehreren Tagen.
Bei Rosalie beobachtete ich (wie bei vielen anderen Patienten), dass sie während des Halluzinierens die Augen geöffnet hielt und dass diese sich, obwohl sie nichts sehen konnte, hierhin und dorthin bewegten, als betrachte sie eine reale Szene. Das war den Pflegerinnen zuerst aufgefallen. Ein solcher fokussierter oder suchender Blick stellt sich nicht bei vorgestellten Szenen ein; die meisten Menschen neigen beim Visualisieren oder bei der Konzentration auf ihre Vorstellungsbilder dazu, die Augen zu schließen oder abwesend ins Leere zu blicken. Wie Colin McGinn in seinem Buch Das geistige Auge erläutert, hoffen wir nicht, in unserer Vorstellung irgendetwas Überraschendes oder Neues zu entdecken, während Halluzinationen höchst Unerwartetes bringen können. Oft sind sie detaillierter als Vorstellungen und fordern förmlich dazu auf, genauer betrachtet und untersucht zu werden.
Wie Rosalie sagte, glichen ihre Halluzinationen eher «einem Film» als einem Traum; und wie bei einem Film war sie manchmal fasziniert und manchmal gelangweilt von ihnen («all dieses Treppauf und Treppab, und diese morgenländischen Gewänder»). Sie kamen und gingen und schienen nichts mit ihr zu tun zu haben. Die Bilder waren stumm, und die Menschen, die sie sah, schienen keine Notiz von ihr zu nehmen. Von ihrem unheimlichen Schweigen abgesehen, erschienen diese Figuren, obwohl gelegentlich zweidimensional, sehr körperlich und real. Aber sie hatte nie zuvor dergleichen erlebt, daher konnte sie nicht umhin, sich zu fragen, ob sie nicht den Verstand verlor.
Eingehend untersuchte ich Rosalie, fand aber nichts, was auf Verwirrung oder Wahn schließen ließ. Als ich sie mit dem Augenspiegel untersuchte, konnte ich zwar die Zerstörung ihrer Netzhäute erkennen, aber darüber hinaus keine Probleme. Neurologisch war sie vollkommen normal – eine willensstarke alte Dame, sehr energisch für ihr Alter. Ich beruhigte sie in Hinblick auf ihr Gehirn und ihren Verstand – sie wirkte geistig völlig gesund. Ich erklärte ihr, dass Halluzinationen, so seltsam sie auch seien, bei Blindheit oder Sehschwäche keine Seltenheit seien. Bestimmt «kein Fall für den Psychiater», sondern eine Reaktion des Gehirns auf den Verlust der Sehfähigkeit. Sie leide unter dem sogenannten Charles-Bonnet-Syndrom.
Rosalie verarbeitete das einen Augenblick, dann sagte sie, sie sei erstaunt, dass sie die Halluzinationen erst jetzt bekommen habe, nachdem sie schon mehrere Jahre blind sei. Aber sie war sehr erfreut und beruhigt, als ich ihr sagte, dass es sich bei ihren Halluzinationen um ein bekanntes Symptom handle, das sogar einen Namen habe. Sie straffte sich und sagte: «Teilen Sie den Pflegerinnen bitte mit, dass ich das Charles-Bonnet-Syndrom habe.» Dann fragte sie: «Wer war dieser Charles Bonnet?»
Charles Bonnet war ein Schweizer Naturforscher des 18. Jahrhunderts, dessen weiter Interessenhorizont von der Insektenkunde über die Fortpflanzung bis hin zur Regeneration von Polypen und anderen winzigen Lebewesen reichte. Als er wegen einer Augenkrankheit sein geliebtes Mikroskop aufgeben musste, wandte er sich der Botanik zu – er führte wegweisende Experimente zur Photosynthese durch –, dann wechselte er zur Psychologie und schließlich zur Philosophie. Als er erfuhr, dass sein Großvater Charles Lullin «Visionen» bekam, nachdem er das Augenlicht weitgehend eingebüßt hatte, forderte Bonnet ihn auf, einen vollständigen Bericht darüber zu diktieren.
In seinem Versuch über den menschlichen Verstand behauptete John Locke, der menschliche Geist sei ein unbeschriebenes Blatt, bis er Informationen von den Sinnen erhalte. Dieser «Sensationalismus», wie er genannt wurde, war sehr beliebt bei Philosophen und Rationalisten des 18. Jahrhunderts, auch bei Bonnet. Nach Bonnets Auffassung war das Gehirn «ein vielschichtig zusammengesetztes Organ oder vielmehr eine Zusammenfügung unterschiedlicher Organe». Diese verschiedenen «Organe» hatten alle ihre besonderen Funktionen. (Solch eine modulare Sichtweise des Gehirns war damals radikal, da es weiterhin als undifferenziert – gleichförmig in Struktur und Funktion – galt.) Daher schrieb Bonnet die Halluzinationen seines Großvaters der fortgesetzten Aktivität jener Regionen zu, die seiner Auffassung nach zum Sehsystem gehörten, wobei diese Aktivität jetzt vom Erinnerungsvermögen zehren musste, da sie nicht mehr auf die Sinneswahrnehmung zurückgreifen konnte.
Bonnet – der später ähnliche Halluzinationen erlebte, als seine eigene Sehfähigkeit nachließ – veröffentlichte 1760 einen kurzen Bericht mit dem Titel Essai analytique sur les facultés de l’âme über Lullins Erfahrungen – ein Buch, das sich mit den physiologischen Grundlagen verschiedener Sinne und Geistesverfassungen beschäftigt. Doch Lullins Originalbericht, der achtzehn Seiten in einem Notizbuch füllte, blieb anschließend fast 150 Jahre verschollen und tauchte erst Anfang des 20. Jahrhunderts wieder auf. Kürzlich hat Douwe Draaisma in seinem Buch Disturbances of Mind Lullins Aufzeichnungen übersetzt und sie durch eine ausführliche Geschichte des Charles-Bonnet-Syndroms ergänzt.[4]
Im Gegensatz zu Rosalie war Lullin noch eine gewisse Sehfähigkeit geblieben, sodass seine Halluzinationen überlagerten, was er in der wirklichen Welt sah. Draaisma fasste Lullins Bericht wie folgt zusammen:
Im Februar 1758 begannen seltsame Objekte in sein Gesichtsfeld zu schweben. Zunächst war es ein Gegenstand, der einem blauen Taschentuch ähnelte, das in jeder Ecke einen kleinen gelben Kreis aufwies … Das Taschentuch folgte seinen Augenbewegungen: Gleich, ob er eine Wand ansah, sein Bett oder eine Tapete, stets verdeckte das Taschentuch alle gewöhnlichen Gegenstände seines Zimmers. Dabei war Lullin ständig bei klarem Verstand und zu keinem Zeitpunkt der Meinung, dort schwebe tatsächlich ein blaues Taschentuch umher …
Eines Tages suchten ihn zwei Enkeltöchter auf. Lullin nahm in seinem Sessel gegenüber dem Kamin Platz, seine Besucherinnen rechts von ihm. Von links erschienen zwei junge Männer. Sie trugen prächtige rote und graue Umhänge, und ihre Hüte waren mit Silber besetzt. «Da habt ihr aber zwei gut aussehende Herren mitgebracht! Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass sie kommen?» Doch die jungen Damen schworen, dass sie niemanden sähen. Wie das Taschentuch lösten sich die Bilder der beiden Männer nach wenigen Augenblicken auf. Ihnen folgten in den nächsten Wochen viele weitere imaginäre Besucher, lauter Frauen, die prächtig frisiert waren und teils eine kleine Schachtel auf dem Kopf trugen …
Einige Zeit später stand Lullin am Fenster und sah eine Kutsche näherkommen. Sie hielt vor dem Haus seines Nachbarn. Während er sie erstaunt betrachtete, wurde sie größer und größer, bis sie die Traufe des gegenüberliegenden Hauses erreichte, etwa zehn Meter über dem Erdboden, wobei sie ihre Proportionen vollkommen bewahrte … Lullin staunte über die Vielfalt der Bilder, die er erblickte: Was zunächst eine Schar von Flecken war, verwandelte sich plötzlich in einen Schwarm Tauben, dann wieder in eine Gruppe tanzender Schmetterlinge. Einmal sah er ein kreisendes Rad in der Luft schweben, wie man es von Hafenkränen kennt. Auf einem Spaziergang durch die Stadt blieb er stehen, um ein gewaltiges Gerüst zu bewundern, und als er nach Hause kam, sah er das gleiche Gerüst im Wohnzimmer stehen, nur in Miniaturausgabe, keine 30 Zentimeter hoch.
Wie Lullin feststellte, kamen und gingen die CBS-Halluzinationen; seine hielten einige Monate an und legten sich dann für immer.
In Rosalies Fall verschwanden die Halluzinationen binnen weniger Tage so rätselhaft, wie sie gekommen waren. Doch fast ein Jahr später erhielt ich einen weiteren Anruf von den Pflegerinnen, die mir berichteten, dass sie sich in einem «schrecklichen Zustand» befinde. Kaum nahm Rosalie mich wahr, sagte sie: «Ganz plötzlich, wie aus heiterem Himmel, ist das Charles-Bonnet wieder da, schlimmer als vorher.» Ein paar Tage zuvor waren «Gestalten hereingekommen, das Zimmer schien sich zu füllen. Die Wände verwandelten sich in große Tore; Hunderte von Menschen strömten herein. Die Frauen waren herausgeputzt, trugen elegante grüne Hüte und goldbesetzte Pelze, aber die Männer waren schrecklich – groß, bedrohlich, finster, wüst, die Lippen ständig in Bewegung, als sprächen sie.»
In diesem Augenblick erschienen Rosalie die Visionen absolut real. Sie hatte fast vergessen, dass sie das Charles-Bonnet-Syndrom hatte. Sie sagte: «Ich war so entsetzt, dass ich in einem fort schrie: ‹Schafft sie aus meinem Zimmer, öffnet die Tore! Schafft sie raus! Dann schließt die Tore!›» Sie hörte eine der Pflegerinnen sagen: «Sie ist nicht ganz bei Verstand.»
Nun, drei Tage später, meinte Rosalie zu mir: «Ich denke, ich weiß, wodurch es wieder ausgelöst wurde.» Sie berichtete mir, dass sie zu Wochenbeginn einen sehr aufreibenden, anstrengenden Tag gehabt hatte – sie hatte eine lange Fahrt bei heißem Wetter unternommen, um einen Gastroenterologen auf Long Island aufzusuchen, und war unterwegs sehr böse auf den Rücken gefallen. Viele Stunden später kam sie geschockt, dehydriert, dem Zusammenbruch nahe, nach Haus. Sie wurde ins Bett gebracht und fiel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Morgen erwachte sie mit schrecklichen Visionen von Menschen, die durch die Wände ihres Zimmers kamen – Halluzinationen, die 36 Stunden anhielten. Dann erholte sie sich etwas und begann zu begreifen, was mit ihr geschah. Woraufhin sie einen jungen Praktikanten anwies, im Internet einen Bericht über das Charles-Bonnet-Syndrom herauszusuchen und Kopien davon an das Pflegepersonal des Heims zu verteilen, damit es über ihr Problem Bescheid wisse.
Im Laufe der nächsten Tage wurden ihre Visionen schwächer und hörten ganz auf, wenn sie mit anderen Menschen sprach oder Musik hörte. Ihre Halluzinationen waren «schüchterner» geworden, wie sie sagte, und traten nur noch abends auf, wenn sie still im Sessel saß. Ich musste an den Abschnitt in Prousts Suche nach der verlorenen Zeit denken, in dem der Erzähler von den Kirchenglocken in Combray berichtet, die tagsüber zu verstummen schienen und erst wieder zu vernehmen waren, wenn die Unruhe und der Lärm des Tages sich gelegt hatten.
Bis 1990 galt das Charles-Bonnet-Syndrom als selten – es gab nur eine Handvoll Fallgeschichten in der medizinischen Literatur.[5] Mir kam das seltsam vor, denn in den mehr als 30 Jahren, die ich nun schon in Alters- und Pflegeheimen arbeitete, hatte ich zahlreiche blinde oder halbblinde Patienten mit komplexen visuellen Halluzinationen des Charles-Bonnet-Typus erlebt (so wie ich auch zahlreiche taube oder fast taube Patienten mit akustischen – meist musikalischen – Halluzinationen kennengelernt hatte). Ich fragte mich, ob CBS tatsächlich so viel häufiger ist, als aus der Literatur hervorging. Neuere Studien haben diese Vermutung bestätigt, obwohl CBS noch immer kaum erkannt wird – auch von Ärzten nicht – und es gute Gründe für die Annahme gibt, dass viele oder die meisten Fälle übersehen oder falsch diagnostiziert werden. Robert Teunisse und seine Kollegen, die in den Niederlanden eine Stichprobe von fast 600 älteren Patienten mit visuellen Problemen untersuchten, fanden bei fast 15 Prozent der Probanden komplexe Halluzinationen – von Menschen, Tieren oder Szenen – und bei 80 Prozent einfache Halluzinationen – Formen und Farben, manchmal auch Muster, aber keine Bilder oder Szenen.
Die meisten Fälle von CBS bleiben wahrscheinlich auf dieser elementaren Stufe einfacher Muster oder Farben. Patienten, die einfache (und vielleicht vorübergehende oder gelegentliche) Halluzinationen dieser Art haben, nehmen möglicherweise nicht viel Notiz von ihnen oder kommen nicht auf den Gedanken, sie bei einem Arztbesuch zu erwähnen. Doch die geometrischen Halluzinationen einiger Menschen sind hartnäckiger. Wie mir eine alte Dame mit Makuladegeneration erzählte, als sie von meinem Interesse an diesem Thema erfuhr, sah sie in den ersten beiden Jahren ihrer Sehbehinderung
einen großen Lichtklecks, der umherkreiste und dann verschwand, gefolgt von einer sehr deutlich zu erkennenden bunten Fahne … sie sah genau wie die britische Flagge aus. Ich weiß nicht, woher sie kam … In den letzten Monaten habe ich Sechsecke gesehen, häufig rosafarbene Sechsecke. Zunächst waren verschlungene Linien in den Figuren und andere kleine Farbkugeln, in Gelb, Rosa, Lavendel und Blau. Jetzt sind es ausschließlich schwarze Rechtecke, die nur noch nach Badezimmerkacheln aussehen.[6]
Zwar ist den meisten Menschen mit CBS bewusst, dass sie halluzinieren (häufig, weil ihre Trugbilder so absurd sind), aber es können auch Halluzinationen auftreten, die plausibel erscheinen und in den Kontext passen – wie die «gutaussehenden Herren», die Lullins Enkeltöchter begleiteten –, und diese können, zumindest anfänglich, für wirklich gehalten werden.[7]
Bei komplexeren Halluzinationen werden in der Regel Gesichter gesehen, wenn sie auch fast nie bekannt sind. In einer unveröffentlichten Erinnerungsschrift beschreibt David Stewart Folgendes:
Ich hatte noch eine andere Halluzination … Dieses Mal waren es Gesichter, das auffälligste gehörte einem Mann, der ein stämmiger Kapitän hätte sein können. Es war zwar nicht Popeye, aber doch etwas in der Art. Er trug eine blaue Mütze mit einem glänzenden schwarzen Schirm. Sein Gesicht war grau, mit rundlichen Wangen, hellen Augen und einer ziemlich knolligen Nase. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er war keine Karikatur, sondern erschien höchst lebendig, wie jemand, den ich vielleicht gerne gekannt hätte. Freundlich und unverwandt sah er mich an und ließ nicht die geringste Neugier erkennen.
Wie Stewart erwähnte, suchte ihn der stämmige Schiffskapitän heim, als er sich ein Audiobuch anhörte – eine Biographie von George Washington, in der auch einige Seeleute vorkamen. Außerdem berichtete Stewart, er habe eine Halluzination gehabt, «die fast eine Reproduktion eines Brueghel-Gemäldes war, dass ich einmal – nur ein einziges Mal – in Brüssel gesehen hatte», ein andermal – kurz nachdem er eine Biographie über Samuel Pepys gelesen hatte – war es eine Kutsche, die, wie Stewart fand, sehr gut Pepys hätte gehören können.
Während einige halluzinierte Gesichter – wie das von Stewarts Kapitän – plausibel und realistisch erscheinen, können andere sehr entstellt oder manchmal nur aus Bruchstücken zusammengesetzt sein – einer Nase, dem Stück eines Mundes, einem Auge, einem riesigen Kopf voller Haare, das alles auf scheinbar zufällige Weise aneinandergefügt.
Einige Patienten mit CBS erblicken in ihren Halluzinationen auch Buchstaben, Drucklinien, mathematische Symbole oder Noten. Für solche Visionen wird die allgemeine Bezeichnung «Texthalluzinationen» verwendet, obwohl sich meist das, was halluziniert wird, weder lesen noch spielen lässt und sogar gänzlich unsinnig sein kann. Derartige Erfahrungen schilderte meine Korrespondentin als eine ihrer vielen CBS-Halluzinationen:
Und dann gibt es die Wörter. Sie stammen aus keiner bekannten Sprache, einige haben keine Vokale, andere zu viele: «Skeeeekkseegsky.» Ich kann sie nur schwer erkennen, weil sie sich rasch von einer Seite zur anderen bewegen oder vorrücken und zurückweichen … Manchmal erhasche ich einen Blick auf einen Teil meines Namens oder eine seiner Abwandlungen: «Doro» oder «Dorthoy».
Gelegentlich ist der halluzinierte Text offenkundig mit der Erfahrungswelt assoziiert, wie bei dem Mann, der mir schrieb, er erblicke jedes Jahr nach Yom Kippur sechs Wochen lang überall auf den Wänden hebräische Buchstaben. Ein anderer Patient, der infolge eines Glaukoms fast erblindet war, berichtete, er sehe häufig Druckzeilen in Sprechblasen – «wie in Comics» –, obwohler die Wörter nicht entziffern könne. Texthalluzinationen sind keine Seltenheit; Dominic ffytche, der Hunderte von Menschen mit CBS untersucht hat, schätzt, dass ungefähr ein Viertel der Betroffenen Texthalluzinationen der einen oder anderen Art haben.
1995 berichtete mir Marjorie J. in einem Schreiben von ihren, wie sie sagte, «musikalischen Augen»:
Ich bin eine 77-jährige Frau mit einem Glaukom, das mir den größten Teil der unteren Hälfte des Gesichtsfelds nimmt. Vor ungefähr zwei Monaten begann ich Partituren zu sehen – Linien, Zwischenräume, Noten, Schlüssel: praktisch alles, was ich anblickte, war mit Noten beschrieben, allerdings nur dort, wo ich erblindet war. Eine Zeit lang beachtete ich es nicht, aber als ich eines Tages ins Seattle Art Museum ging, sah ich die Zeilen auf den Informationsschildern als Notenschrift, da wusste ich, dass ich tatsächlich eine Art Halluzination hatte.
… Bevor die musikalischen Halluzinationen einsetzten, hatte ich Klavier gespielt und mich wirklich auf die Musik konzentriert … Das war kurz bevor mein grauer Star entfernt wurde, da musste ich mich sehr konzentrieren, um die Noten zu erkennen. Gelegentlich sehe ich auch die Quadrate von Kreuzworträtseln … aber die Noten verschwinden nicht. Man hat mir gesagt, das Gehirn wolle nicht anerkennen, dass es visuelle Ausfälle gibt, und fülle deshalb die Leere aus – in meinem Fall mit Noten.
Arthur S., ein Chirurg, der sehr gut Klavier spielt, verliert infolge einer Makuladegeneration sein Sehvermögen. 2007 begann er Noten zu erblicken. Sie sahen äußerst realistisch aus – die Notenlinien und -schlüssel waren kräftig auf einen weißen Untergrund gedruckt, «genau wie auf einem echten Notenblatt». Im ersten Augenblick überlegte Arthur, ob irgendein Teil seines Gehirns jetzt eigene Musik komponiere. Doch als er genauer hinschaute, erkannte er, dass es sich um eine unlesbare und unspielbare Partitur handelte. Sie war viel zu kompliziert, mit vier oder sechs Linien, lächerlich komplexen Akkorden, die sechs oder mehr Noten an einem einzigen Hals hatten, und horizontalen Reihen, die eine Vielzahl von Erhöhungs- und Erniedrigungszeichen aufwiesen. Es war, wie er schrieb, «ein Potpourri von Noten ohne die geringste Bedeutung». So ein Blatt mit Pseudokompositionen sah er einige Sekunden lang, dann verschwand es plötzlich und wurde durch ein anderes, ebenso unsinniges Blatt ersetzt. Manchmal waren die Halluzinationen störend, indem sie etwa eine Seite verdeckten, die er zu lesen versuchte, oder einen Brief, den er gerade schreiben wollte.
Obwohl Arthur schon seit einigen Jahren nicht mehr in der Lage ist, Noten zu lesen, fragt er sich – genau wie Marjorie –, ob seine lebenslange Beschäftigung mit Musik und Partituren die Art seiner Halluzinationen geprägt haben könnte.[8]
Er fragt sich auch, ob seine Halluzinationen noch zunehmen könnten. Ungefähr ein Jahr bevor er Noten zu sehen begann, halluzinierte er etwas sehr viel Einfacheres: ein Schachbrettmuster. Werden auf seine Noten noch komplexere Halluzinationen folgen – etwa Menschen, Gesichter oder Landschaften –, wenn sein Sehvermögen noch stärker abnimmt?
Es gibt offenbar eine große Vielfalt, ein weites Spektrum visueller Störungen, die bei Verlust oder Beeinträchtigung des Sehvermögens auftreten können. Ursprünglich war die Bezeichnung «Charles-Bonnet-Syndrom» den Halluzinationen vorbehalten, die mit Augenkrankheiten oder -problemen zusammenhingen. Doch ganz ähnliche Störungen können auch auftreten, wenn die Schädigung nicht im Auge, sondern höher im Sehsystem angesiedelt ist, vor allem in den für die visuelle Wahrnehmung zuständigen Kortexarealen – den Okzipitallappen und deren Projektionen in die Temporal- und Parietallappen des Gehirns. Was beispielsweise bei Zelda der Fall zu sein scheint.
Zelda war Historikerin und suchte mich 2008 auf. Sie berichtete mir, sie sei mit ihrer Welt seltsamer visueller Phänomene zum ersten Mal sechs Jahre zuvor in einem Theater in Berührung gekommen, als der sandfarbene Vorhang sich plötzlich mit roten Rosen zu bedecken schien – wobei die Rosen dreidimensional waren und aus dem Vorhang herausragten. Als sie die Augen schloss, konnte sie die Rosen noch immer sehen. Diese Halluzination dauerte wenige Minuten und verschwand. Davon verwirrt und erschreckt, suchte sie ihren Augenarzt auf, der jedoch weder eine Beeinträchtigung des Sehvermögens noch eine krankhafte Veränderung in einem der Augen feststellte. Sie konsultierte anschließend ihren Internisten und Kardiologen, aber auch die konnten keine plausible Erklärung für diese Episode liefern – oder für die zahllosen Episoden, die folgten. Schließlich ließ sie einen PET-Scan (Bilder mit einem Positronen-Emissions-Tomographen) machen, der einen verringerten Blutfluss in ihrem Okzipital- und Parietallappen zeigte, vermutlich die Ursache oder zumindest eine mögliche Ursache ihrer Halluzinationen.
Zelda hatte sowohl einfache wie komplexe visuelle Halluzinationen. Die einfachen traten manchmal auf, wenn sie las, schrieb oder fernsah. Einer ihrer Ärzte schlug ihr vor, ihre Visionen drei Wochen lang in einem Tagebuch festzuhalten; darin notierte sie: «Während ich diese Seite schreibe, bedeckt sie sich zunehmend mit einem blassgrünen und rosafarbenen Gittermuster … Die Garagenwände, die mit weißen Schlackensteinen bedeckt sind, befinden sich in ständigem Wandel … mal ähneln sie Ziegelsteinen oder Schindeln, mal scheinen sie mit Damast oder verschiedenfarbigen Blumen bedeckt zu sein … Im oberen Bereich der Dielenwände sind Tierformen, die aus blauen Punkten bestehen.»
Komplexere Halluzinationen – Zinnen, Brücken, Mehrfamilienhäuser – treten besonders häufig auf, wenn sie im Auto mitfährt (sie selbst hat das Autofahren nach ihrem ersten Anfall vor fünf Jahren aufgegeben). Als sie einmal mit ihrem Mann auf einer schneebedeckten Straße entlangfuhr, erblickte sie zu ihrer Überraschung zu beiden Seiten der Straße glänzende grüne Büsche, an deren Blätter glitzernde Eiszapfen hingen. An einem anderen Tag bot sich ihr ein ziemlich schockierender Anblick:
Als wir von dem Schönheitssalon fortfuhren, sah ich eine Gestalt auf der Motorhaube unseres Autos, die aussah wie ein Halbwüchsiger, der sich auf die Arme stützte und die Beine in die Luft streckte. Dort blieb er ungefähr fünf Minuten lang. Selbst wenn wir abbogen, hielt er sich auf der Motorhaube. Als wir auf den Parkplatz des Restaurants fuhren, stieg er in die Luft auf, hoch hinauf am Gebäude, und blieb dort, bis ich aus dem Auto gestiegen war.
Ein andermal «sah» sie eine ihrer Enkeltöchter, die nach oben schwebte, bis zur Decke aufstieg und verschwand. Außerdem erblickte sie drei «hexenartige» Gestalten, bewegungslos und hässlich, mit krummen Nasen, vorspringenden Kinnen und bösen Augen – auch die verschwanden nach wenigen Sekunden. Zelda sagte, sie habe keine Ahnung gehabt, wie viele Halluzinationen sie hatte, bis sie anfing, Tagebuch zu führen; viele von ihnen hätte sie sonst wohl vergessen.
Auch berichtete sie von vielen seltsamen visuellen Erlebnissen, die keine echten Halluzinationen waren in dem Sinn, dass sie gänzlich neu erfunden oder erzeugt wurden, sondern offenbar nur die Fortdauer, Wiederholung, Entstellung oder Ausschmückung tatsächlicher visueller Wahrnehmungen. (Charles Lullin hatte zahlreiche solcher Wahrnehmungsstörungen, sie sind keine Seltenheit bei Menschen mit CBS.) Einige von ihnen waren relativ einfach, beispielsweise schien einmal mein Bart, als sie mich anblickte, wild zu wuchern, bis er Gesicht und Kopf vollständig bedeckte, um dann wieder sein tatsächliches Aussehen anzunehmen. Gelegentlich sah sie auch, wenn sie in den Spiegel blickte, wie ihr Haar sich zu einer Höhe von 30 Zentimetern über ihrem Kopf auftürmte, sodass sie sich erst mit einer Handbewegung davon überzeugen musste, dass alles an seinem Platz war.
Gelegentlich waren ihre Wahrnehmungsentstellungen allerdings verstörender – etwa wenn sie ihrer Briefträgerin in der Eingangshalle ihres Wohnblocks begegnete: «Als ich sie anblickte, schwoll ihre Nase an, bis sie eine groteske Wucherung in ihrem Gesicht war. Nach ein paar Minuten, während wir dort standen und uns unterhielten, nahm ihr Gesicht wieder sein normales Aussehen an.»
Häufig sah Zelda Objekte doppelt oder vielfach, was ungewohnte Probleme verursachen konnte. «Kochen und Essen waren ziemlich schwierig», sagte sie. «Ständig sah ich mehrere Bissen, wo es nur einen gab. So ging es fast während der ganzen Mahlzeit.»[9]
Eine solche visuelle Vervielfältigung – Polyopie – kann noch dramatischere Formen annehmen. In einem Restaurant beobachtete Zelda einmal einen Mann in einem gestreiften Hemd, der an der Kasse bezahlte. Während sie ihn betrachtete, teilte er sich in sechs oder sieben identischen Kopien seiner selbst auf, alle mit gestreiften Hemden, alle mit den gleichen Gesten – um dann wieder zu einer einzigen Person zu schrumpfen. Bei anderen Gelegenheiten kann ihre Polyopie ziemlich erschreckend oder gefährlich werden, beispielsweise als sie vom Beifahrersitz ihres Wagens aus sah, wie sich die Straße vor ihr in vier identische Versionen aufspaltete. Das Auto schien alle vier gleichzeitig zu befahren.[10]
Der Anblick bewegter Bilder (auch auf dem Fernsehschirm) kann zu halluzinatorischen Perseverationen führen. Als Zelda sich einmal eine Fernsehsendung anschaute, in der Menschen ein Flugzeug verließen, begann sie winzige Figuren zu halluzinieren, die ihren Abstieg aus dem Flugzeug fortsetzten, indem sie am Schirm und am Fernsehschrank hinabkletterten.
Zelda hat jeden Tag Dutzende solcher Halluzinationen oder Fehlwahrnehmungen – und das fast ohne Unterbrechung seit sechs Jahren. Und doch ist es ihr privat und beruflich gelungen, ihr sehr aktives Leben fortzusetzen – den Haushalt zu führen, Freunde zu bewirten, mit ihrem Mann auszugehen und ein neues Buch zu schreiben.
2009 schlug einer von Zeldas Ärzten vor, sie solle Quetiapin nehmen, einen Arzneistoff, der manchmal die Heftigkeit von Halluzinationen dämpfen kann. Zu unserem und vor allem ihrem Erstaunen war sie mehr als zwei Jahre lang vollkommen frei von Halluzinationen.
Doch 2011 musste sie sich einer Herzoperation unterziehen und brach sich bei einem Sturz obendrein noch eine Kniescheibe. Ob es nun an der Angst oder dem Stress infolge dieser Gesundheitsprobleme lag, an der Unberechenbarkeit des CBS oder an zunehmender Toleranz gegenüber dem Medikament – jedenfalls bekam sie wieder einige Halluzinationen.
Allerdings haben diese eine etwas erträglichere Form angenommen. Wenn sie im Auto sei, sagte sie, «sehe ich Dinge, aber keine Menschen. Ich sehe bestellte Äcker, blühende Pflanzen und viele Arten mittelalterlicher Gebäude. Häufig verändern sich auch moderne Gebäude in historisch anmutende Häuser. Jede Episode ist anders.»
Eine ihre neuen Halluzinationen ist nach ihrem eigenen Bekunden «sehr schwer zu beschreiben. Es ist eine Theatervorstellung! Der Vorhang hebt sich und ‹Darsteller› tanzen auf die Bühne – aber keine Menschen. Ich sehe schwarze hebräische Buchstaben in weißen Ballettröckchen. Sie tanzen zu schöner Musik, aber ich weiß nicht, woher sie kommt. Die Buchstaben bewegen ihre oberen Teile wie Arme und tanzen voller Anmut mit den unteren. Dabei kommen sie von rechts auf die Bühne und treten nach links ab.»
Gewöhnlich werden die CBS-Halluzinationen zwar als angenehm, freundlich, unterhaltsam und sogar inspirierend beschrieben, aber sie können manchmal auch einen ganz anderen Charakter annehmen. Das erlebte Rosalie, als Spike, ihr Zimmernachbar im Pflegeheim, starb. Spike war ein lustiger, stets zum Lachen aufgelegter Ire, der, in den Neunzigern wie Rosalie, mit dieser seit Jahren eng befreundet war. «Er kannte all die alten Lieder», sagte Rosalie; stundenlang sangen, scherzten und plauderten sie miteinander. Als er plötzlich starb, war Rosalie tief verstört. Sie verlor den Appetit, nahm an den sozialen Aktivitäten nicht mehr teil und verbrachte viel Zeit allein in ihrem Zimmer. Ihre Halluzinationen kehrten zurück, doch anstelle der fröhlich gekleideten Gestalten, die sie zuvor gesehen hatte, erblickte sie jetzt fünf oder sechs hochgewachsene Männer, die, schweigend und bewegungslos, ihr Bett umstanden. Stets trugen sie braune Anzüge und dunkle Hüte, die ihr Gesicht verschatteten. Obwohl sie ihre Augen nicht «sehen» konnte, spürte Rosalie, dass sie sie anblickten – rätselhaft und feierlich. Sie hatte das Gefühl, ihr Bett sei zum Totenbett geworden und diese fatalen Gestalten seien die Vorboten ihres Todes. Sie erschienen ihr überwältigend real, und obwohl sie wusste, dass sie durch sie hindurchgreifen konnte, wenn sie die Hand ausstreckte, vermochte sie sich nicht dazu aufzuraffen.
Drei Wochen lang wurde Rosalie von diesen Visionen heimgesucht, dann begann sie, ihre Melancholie abzuschütteln. Die düsteren, schweigenden Männer in Braun verschwanden, und ihre Halluzinationen fanden jetzt überwiegend im Tagesraum statt, einem Ort voller Musik und Gespräche. Zunächst waren es Muster – rosafarbene und blaue Vierecke, die den Fußboden bedeckten, dann auf die Wände übergriffen und sich schließlich über die Decke ausbreiteten. Sie sagte, die Farben dieser «Kacheln» hätten sie an einen Kindergarten erinnert. Passend dazu erblickte sie jetzt kleine Menschen, nur ein paar Zentimeter groß, wie Elfen oder Trolle, mit kleinen grünen Mützen, die an den Seiten ihres Rollstuhls emporkletterten. Es waren auch Kinder zugegen, «die Papierfetzen vom Boden aufhoben» oder in einer Ecke des Raums halluzinierte Treppen hochstiegen. Rosalie fand die Kinder «hinreißend», obwohl ihr Verhalten sinnlos und, wie sie sagte «albern» erschien.
Die Kinder und kleinen Menschen blieben zwei Wochen, dann verschwanden auch sie so rätselhaft, wie es bei Halluzinationen üblich ist. Obwohl Rosalie Spike vermisst, hat sie andere Freunde im Pflegeheim gefunden und ist zu ihren alten Gewohnheiten zurückgekehrt: plaudern, Audiobücher hören und italienische Opern genießen. Jetzt ist sie selten allein, und ihre Halluzinationen sind – Zufall oder nicht – seit einiger Zeit ausgeblieben.
Wenn das Sehvermögen, wie bei Charles Lullin und Zelda, teilweise oder ganz erhalten ist, kann es nicht nur zu visuellen Halluzinationen, sondern auch zu verschiedenen Störungen der visuellen Wahrnehmungen kommen: Menschen oder Gegenstände können zu groß oder zu klein, zu nah oder zu fern erscheinen, zu wenig oder zu viel Farbe und Tiefe haben; Bilder weisen perspektivische Verzerrungen auf, sind entstellt oder stehen auf dem Kopf; Bewegungen werden nicht richtig wahrgenommen.
Wenn der Patient aber, wie Rosalie, vollkommen blind ist, treten nur Halluzinationen auf, aber auch diese können Anomalien in Hinblick auf Farbe, Tiefe, Transparenz, Bewegung, Größenordnung und Detailgenauigkeit aufweisen. Laut Beschreibung sind CBS-Halluzinationen häufig intensiver in den Farben und Formen, genauer im Detail als alles, was wir mit den Augen sehen. Es gibt eine ausgeprägte Tendenz zu Wiederholung und Vervielfältigung, sodass die Betroffenen Reihen oder Gruppen von Menschen sehen, die alle gleich gekleidet sind und sich gleich bewegen (einige frühe Beobachter sprachen in diesem Zusammenhang von «Numerologie»). Auch ein starker Hang zu kunstvoller Ausgestaltung ist erkennbar: Halluzinierte Gestalten scheinen häufig «exotische Gewänder», kostbare Kleider und seltsame Kopfbedeckungen zu tragen. Nicht selten fallen bizarre Ungereimtheiten auf: zum Beispiel Blumen, die sich nicht auf dem Hut einer Figur befinden, sondern mitten aus ihrem Gesicht wachsen. Manchmal sehen die Personen wie Comicfiguren aus. Besonders Zähne und Augen können grotesk entstellt sein. Unter Umständen werden auch Texte oder Noten halluziniert. Doch die bei weitem häufigsten Halluzinationen sind geometrischer Natur: Quadrate, Schachbrettmuster, Parallelogramme, Vierecke, Sechsecke, Ziegel, Wände, Kacheln, Parkettierungen, Waffelmuster, Mosaiken. Am einfachsten – und vielleicht am häufigsten – sind Phosphene, Licht- oder Farberscheinungen in Form von Klecksen oder Wolken, aus denen sich komplexere Figuren entwickeln können. Kein Betroffener erlebt alle diese perzeptiven und halluzinatorischen Erscheinungen, obwohl bei einigen Menschen, wie zum Beispiel Zelda, eine Vielzahl von ihnen auftreten können, während andere, wie Marjorie mit ihren «musikalischen Augen», vorwiegend bei einer bestimmten Form der Halluzination bleiben.
In den letzten ein oder zwei Jahrzehnten haben Dominic ffytche und seine Kollegen in London Pionierarbeit bei der Erforschung der neuronalen Grundlage visueller Halluzinationen geleistet. Anhand eingehender Berichte von Dutzenden Befragten entwickelten sie eine Taxonomie der Halluzinationen, in der unter anderem Kategorien berücksichtigt wurden wie Figuren mit Hüten, Kinder oder kleine Menschen, Landschaften, Fahrzeuge, groteske Gesichter, Text und Comicgesichter. (Diese Taxonomie wird beschrieben in einem Artikel von Santhouse et al. aus dem Jahr 2000.)
Anhand dieser Klassifikation führte ffytche dann sorgfältige Neuroimaging-Studien durch (Studien mittels bildgebender Verfahren zur Darstellung des Gehirns), in denen ausgewählte Patienten mit visuellen Halluzinationen verschiedener Kategorien aufgefordert wurden, während des Scans den Anfang und das Ende ihrer Halluzinationen zu signalisieren.
1998 beschrieben ffytche et al. in einem Artikel «eine auffällige Übereinstimmung» zwischen bestimmten halluzinatorischen Erlebnissen und der Aktivierung einiger Regionen der Sehrinde. Beispielsweise aktivierten Halluzinationen von Gesichtern, Farben, Texten oder Objekten bestimmte Areale, die bekanntermaßen an spezifischen visuellen Funktionen beteiligt sind. Wenn es sich um farbige Halluzinationen handelte, waren Areale der Sehrinde aktiv, die für die Farbverarbeitung zuständig sind; bei Halluzinationen von skizzenhaften oder comicartigen Gesichtern feuerten Neuronen im fusiformen Gyrus. Zeigten die Visionen deformierte, fragmentarische oder groteske Gesichter mit übertriebenen Augen oder Zähnen, war eine erhöhte Aktivität im superioren temporalen Sulcus zu beobachten – einer Region, die für die Repräsentation von Augen, Zähnen und anderen Teilen des Gesichts zuständig ist. Texthalluzinationen sind von einer ungewöhnlichen Aktivierung im visuellen Wortformareal begleitet, einer hochspezialisierten Region in der linken Hemisphäre.
Zudem beobachteten ffytche und Kollegen einen deutlichen Unterschied zwischen normaler visueller Vorstellung und tatsächlicher Halluzination – beispielsweise führte die Visualisierung eines farbigen Objekts nicht zur Aktivierung des Areals V4, wohl aber eine farbige Halluzination. Diese Ergebnisse bestätigen nicht nur subjektiv, sondern auch physiologisch, dass Halluzinationen weit mehr Ähnlichkeit mit Wahrnehmungen als mit Vorstellungen haben. In seiner Schrift über Halluzinationen aus dem Jahr 1760 erklärte Bonnet: «Der Verstand wäre nicht in der Lage, Visionen von der Wirklichkeit zu unterscheiden.» Die Arbeit von ffytche und seinen Kollegen zeigt, dass auch das Gehirn nicht zwischen ihnen unterscheidet.
Noch nie zuvor gab es direkte Belege für eine Korrelation zwischen den Inhalten einer Halluzination und der Aktivierung bestimmter Kortexareale. Wir wissen zwar seit langem aus Beobachtungen an Menschen mit spezifischen Verletzungen oder Schlaganfällen, dass verschiedene Aspekte der visuellen Wahrnehmung (Farbensehen, Gesichtererkennung, Bewegungswahrnehmung und so fort) von Hirnarealen abhängen, die nur für diese Funktionen zuständig sind. Wird beispielsweise die Region V4 geschädigt, ein winziges Areal der Sehrinde, kann dadurch die Farbwahrnehmung und keine andere Funktion ausfallen. Ffytches Arbeit bestätigt zum ersten Mal, dass sich Halluzinationen derselben visuellen Areale und Bahnen bedienen wie die Wahrnehmung selbst. (Unlängst hat ffytche in seinen Aufsätzen über die «Hodologie» der Halluzinationen dar auf hingewiesen, dass der Versuch, bestimmten Hirnregionen Halluzinationen oder andere zerebrale Funktionen zuzuordnen, Grenzen habe, da man den Verbindungen zwischen diesen Arealen ebenso viel Aufmerksamkeit schenken müsse.)[11]
Visuelle Halluzinationen mögen sich zwar neurologisch definierten Kategorien zuordnen lassen, doch sicherlich gibt es auch persönliche und kulturelle Determinanten. Beispielsweise kann niemand Noten, Zahlen oder Buchstaben halluzinieren, wenn er diese nicht irgendwann in der Wirklichkeit gesehen hat. Solche Erfahrungen und Erinnerungen können sowohl Vorstellungen wie Halluzinationen beeinflussen – allerdings werden bei CBS Erinnerungen nicht vollständig oder buchstäblich halluziniert. Wenn CBS-Patienten Menschen oder Orte halluzinieren, geschieht dies fast nie in erkennbarer, sondern nur in plausibel erfundener oder nachempfundener Form. CBS-Halluzinationen vermitteln den Eindruck, dass es auf einer tieferen Ebene, auf einer frühen Stufe der visuellen Verarbeitung, ein nach Kategorien geordnetes Verzeichnis von Bildern oder Teilbildern gibt – von typischen «Nasen» beispielsweise, «Kopfbedeckungen» oder Vögeln und nicht von bestimmten Nasen, Kopfbedeckungen oder Vögeln. Das sind sozusagen die visuellen Ingredienzen, die bei der Erkennung und Repräsentation komplexer Szenen abgerufen werden – Elemente oder Bausteine, die ohne Kontext oder Beziehung zu unseren Sinnesmodalitäten sind, ohne Emotionen oder bestimmte Assoziationen zeitlicher oder räumlicher Art. (Einige Forscher haben sie als «Proto-Objekte» oder «Proto-Bilder» bezeichnet.) Auf diese Weise erscheinen CBS-Bilder roher, neurologischer, nicht so persönlich wie die Inhalte von Vorstellungen oder Erinnerungen.
In dieser Hinsicht sind Halluzinationen von Texten oder Noten besonders faszinierend, denn obwohl sie ursprünglich wie echte Noten oder Texte aussehen, stellen sie sich rasch als unlesbar heraus, insofern sie weder Form noch Melodie, Syntax oder Grammatik besitzen. Zwar dachte Arthur S. zunächst, er könne seine halluzinierten Noten tatsächlich spielen, erkannte dann aber rasch, dass er nur «ein Potpourri von Noten ohne die geringste Bedeutung» vor sich hatte. Entsprechend fehlt es Texthalluzinationen an Bedeutung; unter Umständen zeigt sich bei näherem Hinsehen, dass sie noch nicht einmal aus echten Buchstaben, sondern nur buchstabenähnlichen Runen bestehen.
Wir wissen (aus Untersuchungen von ffytche und seinen Kollegen), dass Texthalluzinationen mit Hyperaktivität im visuellen Wortform-Areal einhergehen; wahrscheinlich gibt es ähnliche (wenn auch diffuser verteilte) Aktivierungen bei Halluzinationen von Noten, wenn es diese auch erst noch in der fMRT (funktionellen Magnetresonanztomographie) «einzufangen» gilt. Beim normalen Lesen von Texten oder Noten werden die Signale zunächst in frühen Phasen der visuellen Verarbeitung entziffert und dann an die höheren Ebenen übermittelt, wo sie syntaktische Struktur und Bedeutung erhalten. Doch beim Halluzinieren von Texten oder Noten, die durch eine anarchische Hyperaktivität auf frühen Stufen des Sehsystems verursacht werden, erscheinen Buchstaben, Proto-Buchstaben oder Noten ohne die üblichen Zwänge von Syntax und Bedeutung – weshalb sie Einblick in die Kraft und die Einschränkungen der frühen visuellen Verarbeitung gewähren.
Arthur S. sah kunstvoll ausgeführte Noten, die allerdings in weit höherem Maße kunstvoll als echt waren. CBS-Halluzinationen haben sehr oft diesen bizarren oder phantastischen Charakter. Was für einen Grund gab es, dass Rosalie, eine blinde alte Frau aus der Bronx, Gestalten in «morgenländischen Gewändern» sah? Dieser ausgeprägte Hang zum Exotischen, aus Gründen, die wir noch nicht verstehen, ist sehr charakteristisch für CBS. Es wäre hochinteressant, zu wissen, ob es da interkulturelle Unterschiede gibt. Angesichts dieser seltsamen, manchmal surrealen Bilder von Schachteln und Vögeln auf den Köpfen von Menschen oder von Blumen, die aus ihren Wangen wachsen, fragt man sich, ob das nicht eine neuronale Fehlschaltung ist, eine gleichzeitige Aktivierung verschiedener Hirnregionen, die eine unwillkürliche, abwegige Kollision oder Verschmelzung hervorruft.
Die Bilder bei CBS sind schablonenhafter als die von Träumen und gleichzeitig weniger verständlich, weniger bedeutungshaltig. Als Lullins seit 150 Jahren verschollenes Notizbuch wiederentdeckt und 1901 in einer Psychologiezeitschrift veröffentlicht wurde (nur ein Jahr nach Freuds Traumdeutung), fragten sich einige Forscher, ob die Halluzinationen bei CBS nicht, wie es Freud von den Träumen meinte, einen «Königsweg» zum Unbewussten darstellten. Doch alle Versuche, die CBS-Halluzinationen in diesem Sinne zu «deuten», blieben fruchtlos. Natürlich hatten Menschen mit CBS ihre eigene Psychodynamik, wie wir alle, aber es zeigte sich, dass, von trivialen Dingen abgesehen, wenig aus der Analyse ihrer Halluzinationen zu gewinnen war. Ein religiöser Mensch mochte unter anderem betende Hände halluzinieren, ein Musiker Noten, doch diese Bilder vermittelten wenig Einsicht in die unbewussten Wünsche, Bedürfnisse oder Konflikte der Betroffenen.
Träume sind sowohl neuronale wie auch psychische Erscheinungen, haben aber nur geringe Ähnlichkeit mit CBS-Halluzinationen. Schläfer sind gänzlich eingebunden in ihre Träume und gewöhnlich aktiv an ihnen beteiligt, während Menschen mit CBS ihr normales, kritisches Wachbewusstsein bewahren. CBS-Halluzinationen zeichnen sich, obwohl in die Außenwelt projiziert, durch einen Mangel an Interaktion aus; immer sind sie stumm und neutral – und vermitteln oder evozieren nur selten irgendein Gefühl. Dabei bleiben sie auf das Sehen beschränkt, ohne die Modalitäten Hören, Riechen oder Tasten einzubeziehen. Sie sind fern, wie Bilder auf einer Leinwand in einem Kino, in das man zufällig eingetreten ist. Das Kino ist im eigenen Kopf, und doch scheinen die Halluzinationen in einem tieferen, persönlichen Sinn wenig mit dem Patienten zu tun zu haben.
Eines der charakteristischen Merkmale der Charles-Bonnet-Halluzinationen ist die Einsicht in die Situation, das Bewusstsein, dass die Halluzination nicht real ist. Zwar lassen sich Menschen mit CBS gelegentlich von einer Halluzination täuschen, besonders wenn sie plausibel oder kontextgemäß ist. Doch ein solcher Fehler wird rasch erkannt und die Einsicht wiederhergestellt. Fast nie führen CBS-Halluzinationen zu dauerhaft falschen oder wahnhaften Vorstellungen.
Allerdings kann die Fähigkeit, die eigenen Wahrnehmungen oder Halluzinationen richtig einzuschätzen, beeinträchtigt werden, falls andere Hirnfunktionen gestört sind, besonders wenn sie die Frontallappen betreffen, die der Sitz von Urteilsvermögen und Selbsteinschätzung sind. Das kann vorübergehend sein, etwa bei einem Schlaganfall oder einer Kopfverletzung, bei Fieber oder Delirium, verschiedenen Medikamenten, Giften oder Stoffwechselstörungen, bei Dehydrierung oder Schlafmangel. In diesen Fällen wird die Einsicht zurückkehren, sobald sich die zerebralen Funktionen normalisiert haben. Doch falls eine chronische oder progressive Demenz wie Alzheimer oder Lewy-Körperchen-Demenz vorliegt, kann die Fähigkeit, Halluzinationen als solche zu erkennen, stark eingeschränkt werden – was möglicherweise erschreckende Wahnvorstellungen und Psychosen hervorruft.
Marlon S. ist Ende siebzig, hat ein fortschreitendes Glaukom und leidet unter leichter Demenz. Er kann seit zwanzig Jahren nicht mehr lesen und ist seit fünf Jahren praktisch blind. Er ist ein gläubiger Christ und noch immer als Laienseelsorger in Strafanstalten unterwegs, eine Tätigkeit, die er seit dreißig Jahren ausübt. Zwar lebt er allein in seiner Wohnung, führt aber ein sehr aktives soziales Leben. Jeden Tag geht er mit einem seiner Kinder oder einer Pflegerin aus, besucht Familientreffen oder das Seniorenzentrum, wo man Spiele veranstaltet, tanzt, in Restaurants geht oder andere Aktivitäten anbietet.
Obwohl Marlon blind ist, lebt er in einer sehr visuellen und manchmal sehr seltsamen Welt. Er berichtete mir, dass er seine Umgebung häufig «sieht» – den größten Teil seines Lebens hat er in der Bronx verbracht, doch was er sieht, ist eine hässliche, trostlose Version der Bronx (er beschreibt sie als «schäbig, alt, viel älter als ich»), was ihm wohl ein Gefühl der Desorientierung vermittelt. Er «sieht» seine Wohnung, kann sich aber trotzdem leicht in ihr verlaufen oder in Verwirrung geraten. Manchmal werde seine Wohnung, sagt er, «so groß wie ein Busbahnhof», dann wieder schrumpfe sie auf die Größe «eines Zugabteils». Im Allgemeinen wirkt die halluzinierte Wohnung schäbig und chaotisch: «Mein ganzes Haus ist heruntergekommen und sieht nach Dritter Welt aus … dann wieder macht es einen ordentlichen Eindruck.» (Tatsächlich ist seine Wohnung nur dann unaufgeräumt, wie mir seine Tochter erzählte, wenn Marlon sich von seinen Möbeln «eingeengt» fühlt und anfängt, sie umzuräumen, indem er sie hin und her schiebt.)
Seine Halluzinationen begannen vor fünf Jahren und waren zunächst harmlos. «Anfangs», berichtete er mir, «habe ich viele Tiere gesehen.» Dann folgten Halluzinationen von Kindern – einer Menge von ihnen, wie es zuvor auch immer eine Menge Tiere gewesen war. «Ganz plötzlich», sagte Marlon, «sah ich alle diese Kinder hereinkommen und herumgehen; ich dachte, es seien echte Kinder.» Die Kinder waren stumm, «aber sprachen mit den Händen»; offenbar waren sie sich seiner nicht bewusst und «ganz mit sich selbst beschäftigt» – sie gingen umher und spielten. Er war verblüfft, als er herausfand, dass niemand außer ihm sie sah. Erst da begriff er, dass ihm seine Augen «einen Streich spielten».
Marlon hört gerne Talkshows, Gospel und Jazz im Radio, dann kann es ihm passieren, dass sein Wohnzimmer mit halluzinierten Menschen überfüllt ist, die ebenfalls zuhören. Manchmal bewegen sich ihre Münder, als sprächen oder sängen sie mit. Diese Visionen sind nicht unangenehm und scheinen ihm eine Art halluzinatorischen Trost zu gewähren. Es ist ein soziales Geschehen, das ihm zusagt.[12]
Seit zwei Jahren sieht Marlon auch einen geheimnisvollen Mann, der immer einen braunen Ledermantel, eine grüne Hose und einen Cowboyhut trägt. Marlon hat keine Ahnung, wer er ist, aber hat das Gefühl, dass er eine besondere Botschaft oder Bedeutung hat, obwohl sie ihm verborgen bleibt. Er sieht die Gestalt immer nur aus der Ferne, nie von nahem. Der Mann scheint durch die Luft zu schweben und nicht zu gehen, und sein Erscheinungsbild kann enorme Ausmaße annehmen, «groß wie ein Haus». Außerdem hat Marlon ein kleines, finsteres Trio von Männern entdeckt, «wie FBI