Migration und Ankommen - Ludger Pries - E-Book

Migration und Ankommen E-Book

Ludger Pries

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Beschreibung

Der Herbst 2015 setzte eine Zäsur in Deutschland. Wie kein anderes Ereignis hat die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge die Solidarbereitschaft vieler Menschen vor Augen geführt - ebenso wie die jahrelange "organisierte Nichtverantwortung " der Europäischen Union. Doch spätestens seit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht ist die "Willkommenskultur" hitzigen Debatten und explosiven Stimmungen gewichen. Rechtsradikale Gruppen überall in Europa nutzen die komplizierte Situation, um rückwärtsgewandte und vermeintlich einfache Lösungen anzubieten. Von der Flucht über das Ankommen bis zur gesellschaftlichen Teilhabe ist es ein weiter Weg. Ludger Pries vollzieht in seinem Buch die einzelnen Etappen nach. Dabei hat er die Flüchtlinge als Akteure, die Engagierten in der Zivilbevölkerung sowie die nationalen und europäischen Flüchtlingssysteme im Blick. Die "Flüchtlingskrise" bedeutet eben nicht nur eine Zerreißprobe für Europa, sie birgt auch die Chance, in einer globalisierten Welt ein europäisches Gesellschaftsprojekt zu schärfen. Für die Flüchtlinge und für die in Deutschland bereits lebenden unterschiedlichen Gruppen ist es die historische Gelegenheit, besser in Deutschland, in Europa und bei sich selbst anzukommen.

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Ludger Pries

Migrationund Ankommen

Die Chancen der Flüchtlingsbewegung

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Der Herbst 2015 setzte eine Zäsur in Deutschland. Wie kein anderes Ereignis hat die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge die Solidarbereitschaft vieler Menschen vor Augen geführt – ebenso wie die jahrelange »organisierte Nichtverantwortung » der Europäischen Union. Doch spätestens seit den Übergriffen in der Kölner Silvesternacht ist die »Willkommenskultur« hitzigen Debatten und explosiven Stimmungen gewichen. Rechtsradikale Gruppen überall in Europa nutzen die komplizierte Situation, um rückwärtsgewandte und vermeintlich einfache Lösungen anzubieten. Von der Flucht über das Ankommen bis zur gesellschaftlichen Teilhabe ist es ein weiter Weg. Ludger Pries vollzieht in seinem Buch die einzelnen Etappen nach. Dabei hat er die Flüchtlinge als Akteure, die Engagierten in der Zivilbevölkerung sowie die nationalen und europäischen Flüchtlingssysteme im Blick. Die »Flüchtlingskrise« bedeutet eben nicht nur eine Zerreißprobe für Europa, sie birgt auch die Chance, in einer globalisierten Welt ein europäisches Gesellschaftsprojekt zu schärfen. Für die Flüchtlinge und für die in Deutschland bereits lebenden unterschiedlichen Gruppen ist es die historische Gelegenheit, besser in Deutschland, in Europa und bei sich selbst anzukommen.

Vita

Ludger Pries ist Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum. Von 2011 bis 2015 war er Mitglied und stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Zurzeit hat er den Wilhelm und Alexander von Humboldt-Lehrstuhl an El Colegio de México in Mexiko-Stadt inne.

Inhalt

Einleitung

Globalisierung und die neue transnationale soziale Frage

Flüchtlinge als Akteure, Flüchtlingsbewegung als soziale Bewegung

Auf dem Weg zu einem europäischen Flüchtlingsschutz

Aufbau des Buches

1 Ankommen der Flüchtlinge im ›heißen Herbst‹ 2015

1.1 ›Flüchtlingskrise‹ und ›Wunder‹ im September 2015

1.1.1 Flüchtlings- und Migrationsbewegungen im 21. Jahrhundert

1.1.2 Sozialer Wandel in Nordafrika ab 2010 und neue Flüchtlingsbewegungen

1.1.3 Die ›Flüchtlingskrise‹ wandert weiter nach Osten

1.2 Wer sind die Flüchtlinge und warum kommen sie?

1.2.1 Flüchtlinge und Arbeitsmigranten

1.2.2 Typische Muster von Fluchtmigration

1.2.3 Fluchtkontexte in verschiedenen Regionen

1.2.4 Die transnationale Dimension der Fluchtursachen

1.3 Wie kommen die Flüchtlinge nach Europa?

1.3.1 Fluchtmigration ist in soziale Netzwerke eingebunden

1.3.2 Flüchtlinge als Akteure

1.3.3 Die neue und transnationale soziale Frage

2 ›Flüchtlingskrise‹ und soziale Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl

2.1 Der Handlungszusammenhang des ›Wunders vom September‹

2.1.1 Flucht als einziger und nachvollziehbarer Ausweg

2.1.2 Stop-and-go und organisierte Nicht-Verantwortung der Politik

2.1.3 Die Macht der Bilder und Worte

2.2 Wer hilft und warum?

2.2.1 Soziale Bewegung für Flüchtlingsschutz

2.2.2 Flüchtlinge als Teil der sozialen Bewegung

2.2.3 Grundkonsens: Flüchtlinge verdienen Schutz, Aufnahme und Ankommen

2.3 Zuflucht gewähren und Hilfe ›von unten‹ als globales Phänomen

2.3.1 Flüchtlingsbezogene Organisationsnetzwerke in Spanien

2.3.2 Zivilgesellschaftliches Engagement in Italien

2.3.3 Europäisch-transnationale Netzwerke und Bewegungen

3 Das Ende nationaler Autonomie und die organisierte Nicht-Verantwortung

3.1 Flucht- und Asylfragen sind europäisch und global

3.1.1 Schengen-Freizügigkeit nicht ohne Dublin?

3.1.2 Das Gemeinsame Europäische Asylsystem

3.1.3 Europäische Vertiefung und Erhöhung formaler Flüchtlingsschutznormen

3.2 Schwächen des GEAS und Vielfalt der Rahmenbedingungen in der EU

3.2.1 Unterschiede in normativer und praktischer Ausgestaltung von GEAS

3.2.2 Migrationsrelevante Unterschiede zwischen EU-Mitgliedsstaaten

3.2.3 Unterschiedliche Entwicklungspfade der Mitgliedsländer

3.3 Organisierte Nicht-Verantwortung in der EU und die Indifferenz anderer Länder

3.3.1 Nicht-Verantwortung und das Zeigen auf andere

3.3.2 Erst Spanien kritisieren, dann Italien, dann Griechenland

3.3.3 Aufbrechen der organisierten Nicht-Verantwortung?

4 Ankommen – in Deutschland, in Europa und bei sich selbst

4.1 Was bedeutet Ankommen?

4.1.1 Ankommen als Teil von Integration und offener Prozess

4.1.2 Ankommen ist interaktiv, Flüchtlinge sind Akteure

4.1.3 Ankommen ist nicht Verschmelzen, sondern Verhandeln

4.2 Ankommen in der eigenen Geschichte: Flucht, Vertreibung, Gastarbeiter

4.2.1 Verdrängte Geschichte: Flüchtlinge und Vertriebene des Zweiten Weltkrieges

4.2.2 Verweigertes Ankommen durch ›Gastarbeiter‹-Politik

4.2.3 Ankommen als Assimilationsdruck für die Spätaussiedler

4.2.4 Ankommen in Europa – eine Aufgabe für alle

4.3 Ankommen als Eröffnung von Teilhabechancen für alle

4.3.1 Integration als stufenförmige Assimilation

4.3.2 Multikulturalismus und Abschaffung des Integrationsbegriffs?

4.3.3 Umgang mit Diversität und streitbare Demokratie

5 Ankommen und Integration als chancengleiche Teilhabe

5.1 Unterschiedliche Modelle der Integration

5.2 Anforderungen an gelingende Integration

5.3 Andere ankommen lassen und bei sich selbst ankommen

Anmerkungen

1 Ankommen der Flüchtlinge im ›heißen Herbst‹ 2015

2 ›Flüchtlingskrise‹ und soziale Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl

3 Das Ende nationaler Autonomie und die organisierte Nicht-Verantwortung

4 Ankommen – in Deutschland, in Europa und bei sich selbst

5 Ankommen und Integration als chancengleiche Teilhabe

Literatur

Einleitung

Was im Herbst 2015 in Deutschland geschah, war mehr als das Wogen großer ›Flüchtlingswellen‹. Zeitweise waren nicht nur die territorialen Außengrenzen, sondern auch die Grenzen der Gastfreundschaft außer Kraft gesetzt. Die herzlichen Begrüßungen im September am Münchner Hauptbahnhof oder bei der Ankunft in anderen großen Städten waren ebenso Teil einer stillen Revolution wie die bereits seit vielen Jahren organisierten Hilfs- und Willkommensaktionen. Hunderttausende engagierten sich beim Kleiderverteilen, beim Herrichten von Unterkünften, in Sprachkursen und bei Amtsgängen, Sportangeboten und Kulturaktivitäten für Flüchtlinge. Sie gaben den Flüchtlingen das deutliche Signal: Ihr seid jetzt in Sicherheit. Ihr seid hier willkommen und angekommen. Seit Jahrzehnten, vielleicht seit den Bürgerinitiativbewegungen der 1980er Jahre, gab es kein so breites öffentliches Engagement. Presse, Fernsehen und Internet waren über Monate vom Flüchtlingsthema beherrscht.

Dieser Empfang der Flüchtlinge durch die Zivilgesellschaft war vor allem eine spontane Geste der Menschlichkeit und der Solidarität. Er verdeutlichte aber auch, dass weder die Politik noch die öffentliche Verwaltung auf die Zahl der Schutzsuchenden vorbereitet waren. Angesichts der enormen Herausforderungen – von der Unterbringung bis hin zur Organisation geordneter Asylverfahren – sowie der spontanen und aus der Mitte der Gesellschaft kommenden Hilfsbereitschaft begann auch das politische System sich zu bewegen. Mutig und konsequent hatte Angela Merkel bereits am 31. August 2015 auf der Bundespressekonferenz erklärt: »Wir haben so vieles geschafft – wir schaffen das!« Hunderte von Bürgermeistern und Tausende von öffentlichen Einrichtungen engagierten sich tatkräftig in diesem Sinne. In kürzester Zeit ging ein neues Bild vom solidarischen Deutschland um die Welt. Das weckte sicherlich auch bei vielen Flüchtlingen Hoffnungen auf ein gelingendes Ankommen.

Schon im Oktober 2015 wurden jedoch auch die mit der Flüchtlingsbewegung verbundenen Schwierigkeiten deutlich. Statt der zuversichtlichen Feststellung »Wir schaffen das« hörte man immer häufiger die skeptische Frage »Schaffen wir das?«. Auch die Zerstrittenheit der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union (EU) zeigte sich deutlich. Länder wie Ungarn und Tschechien machten die deutsche Bundeskanzlerin für den nicht endenden Zuzug von Flüchtlingen verantwortlich. Ihre Politik des »Wir schaffen das« habe die in Syrien, der Türkei oder Griechenland wartenden Flüchtlinge geradezu ermuntert, nach Westeuropa und Deutschland zu kommen. Die Städte und Kommunen formulierten immer lauter, dass sie an die Grenzen einer geordneten Aufnahme und Behandlung der Asylsuchenden gekommen seien. In Flüchtlingsunterkünften kam es zu teilweise gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen. Rechtspopulistische Parteien und Organisationen sahen ihre Chance gekommen und zündelten mit Vorurteilen und Ängsten.

Wie Deutschland mit den Herausforderungen der Flüchtlingseinwanderung des Jahres 2015 umgeht, entscheidet nicht nur über die unmittelbare Zukunft der direkt betroffenen Menschen, sondern auch über das längerfristige Selbstverständnis der Gesellschaft. Denn indem so viele Menschen in Deutschland die Flüchtlinge willkommen hießen und ihnen signalisierten »Ihr seid angekommen«, öffnete sich auch ein historisches Fenster für die Gesellschaft in Deutschland, nachhaltiger bei sich selber anzukommen. Viele Menschen erklärten, sie seien zum ersten Mal stolz auf das Land, in dem sie lebten. Angesichts der Kritik von Politikern aus Deutschland und anderen EU-Mitgliedsstaaten erklärte die Bundeskanzlerin Mitte September 2015: »Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.«

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte ein halbes Jahrhundert lang das »Mantra der defensiven Erkenntnisverweigerung ›Deutschland ist kein Einwanderungsland‹« (Bade 2001: 1) dominiert. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts wurde nach und nach die kognitive Rahmung mehrheitsfähig, dass Deutschland ein plurikulturelles Einwanderungsland sei. Die veränderte Selbstbeschreibung als eines aus vielfältigen kulturellen Strömungen und Wanderungsbewegungen hervorgegangenen gesellschaftlichen Ganzen eröffnet zusammen mit der neuen Flüchtlingsbewegung enorme Chancen des Ankommens – nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für viele der in diesem Land lebenden Gruppen. Denn geht man nur ein bis zwei Generationen zurück, finden sich in fast allen Familien in Deutschland Erfahrungen von Vertreibung, Flucht, Migration und – gelungenem, verwehrten oder verpassten – Ankommen. Die neue Flüchtlingseinwanderung ermöglicht auch eine Art Katharsis für die schon in Deutschland Lebenden, die eigenen (Familien-)Erfahrungen aufzuarbeiten. Denn nach den Verheerungen des NS-Regimes dominierte nicht nur eine »Unfähigkeit zu trauern« (Mitscherlich/Mitscherlich 1976), sondern es herrschte auch ein allgemeines Klima des historischen und biografischen Verdrängens und Vergessens.

Die mehr als eine Million Menschen, die im Jahre 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland kamen und Schutz suchten,1 die Art und Weise, wie die Hunderttausenden Hilfsbereiten sie hier empfingen, könnten die Selbst- und Fremdwahrnehmung des Landes fundamental verändern. Damit sind Chancen, aber auch Herausforderungen der Entwicklung in Deutschland verbunden – und ebenso in einem stärker vereinten oder wieder auseinanderdriftenden Europa. So wird der gesellschaftliche Umgang mit der ›Flüchtlingskrise‹ des Jahres 2015 das Gesicht von Deutschland und Europa im 21. Jahrhundert nachhaltiger prägen als etwa das politische Management von Finanzkrisen einzelner EU-Mitgliedsländer. Indem Zivilgesellschaft, staatliche Strukturen, Nichtregierungsorganisationen und die Politik aushandeln, wie mit den eingewanderten Flüchtlingen umzugehen sei, wird zugleich auch das gesellschaftliche Selbstverständnis neu definiert: Sind die Normen des Flüchtlingsschutzes unverrückbarer Bestandteil des europäischen Projekts oder Spielball politischer Konjunkturen? Finden Deutschland und die EU einen Weg aus der organisierten Nicht-Verantwortung?2 Wie kann das Ankommen nicht nur für die Flüchtlinge, sondern auch für andere, schon länger in Deutschland lebende gesellschaftliche Gruppen erreicht werden?

Das Ziel dieses Buches ist es, ein tieferes Verständnis für diese grundlegenden Veränderungsprozesse und die damit verbundenen Herausforderungen und Weichenstellungen zu vermitteln. Gerade weil es um wesentlich mehr als nur kurzfristiges politisches Krisenmanagement geht, bedarf es weitergehender soziologischer Reflektion.

Globalisierung und die neue transnationale soziale Frage

Drei Hauptgedanken ziehen sich durch dieses Buch. Erstens bildet die Dynamik der Flüchtlingsereignisse des Jahres 2015 den erreichten Grad der Globalisierung und der Transnationalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse ab. Noch immer sehen die meisten Menschen ihr Leben im Rahmen nationalstaatlicher ›Container-Gesellschaften‹. Sie nehmen sich selbst und die Probleme der Welt wie die konzentrisch angeordneten Schalen einer Zwiebel oder wie die ineinandersteckenden Figuren einer Matrjoschka in abnehmender Wichtigkeit als zunächst lokal, dann national und erst danach global eingebettet wahr.

Nach diesem Konzept von ›National-Containern‹ als wichtigsten gesellschaftlichen Bezugsräumen gibt es jenseits dessen zwar noch einige supranationale Verbünde wie die Europäische Union und globale Einrichtungen wie die Vereinten Nationen. Als wichtigster Bezugspunkt der eigenen Verortung und Interessenformulierung wird jedoch die staatlich befriedete Nationalgesellschaft angesehen. Diese liefert den Rahmen für kollektive Identitäten und für die wahrgenommene Ausdifferenzierung von Lebenslagen und Chancen. Die vorherrschend nationalgesellschaftliche Einrahmung des Lebens spiegelt sich auch in den wichtigsten Verfahren der Legitimationsbeschaffung für Politiker wider. Gerade die in allen EU-Mitgliedsstaaten beobachtbaren Tendenzen der (Re-)Nationalisierung von Politik und Gesellschaft im Kontext der Flüchtlingsbewegung verweisen auf die Stabilität des National-Container-Prinzips. Auch rechtspopulistische, nationalistische und xenophobe politische Kräfte stützen sich in der einen oder anderen Weise auf eine solche Weltsicht.

Dieses kognitive Modell nationaler ›Container-Gesellschaften‹ ist, so wurde ausführlich an anderer Stelle argumentiert (Pries 2008), keineswegs völlig verfehlt; es kann tatsächlich vieles erklären. Aber es reicht im 21. Jahrhundert nicht mehr aus und muss ergänzt werden. Globalisierung, Glokalisierung und Transnationalisierung – im Falle des Themas Flucht und Asyl auch die Europäisierung – sind tiefgreifende Veränderungstendenzen, die die nationalen Container aufweichen. Glokalisierung bezeichnet die zunehmende Verschränkung globaler Problemlagen und Entwicklungen mit spezifisch lokalen und regionalen gesellschaftlichen Verhältnissen. Das Konzept ist für das Verständnis der jüngeren Flüchtlingsbewegung ebenso bedeutsam wie Transnationalisierung, worunter die Zunahme sozialer Beziehungen, Netzwerke und Sozialräume über mehrere Nationalstaaten hinweg verstanden wird.

Die lokalen bewaffneten Auseinandersetzungen in Syrien lassen sich nur im Rahmen einer solchen Mehrebenenperspektive entschlüsseln, in der globale Klimaveränderungen, Ressourceninteressen und fundamentalistische Mobilisierungen mit regionalen Machtstrukturen, transnationalen Beziehungen und lokalen Bedingungen verwoben sind. In Syrien wird das Globale lokal und das Lokale global (etwa durch die sich ausbreitende Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat). Gleichzeitig haben transnationale Sozialbeziehungen eine wachsende Bedeutung, zum Beispiel in Form ethnisch-politisch-kultureller Beziehungen zwischen Kurdengruppen in der Türkei, Irak und Syrien oder als transnationale familiäre Beziehungen zwischen Orten in Syrien, den Flüchtlingscamps im Libanon und europäischen Städten, in denen Familienmitglieder mit Flüchtlingsstatus leben.

Umgekehrt sind das lokale Handeln der Flüchtlinge und die lokalen Unterstützungsaktivitäten für sie in Deutschland nur zu verstehen, wenn die globalen, transnationalen und regionalen Bedingungen und Beziehungen berücksichtigt werden, innerhalb derer sich die Flüchtlingsdynamik abspielt. Sowohl die Zivilgesellschaft als auch die staatlichen Behörden, die Politiker und die Medien handeln im Rahmen von kognitiven Mehrebenen-Deutungsmustern, wobei der Nationalstaat und die ›eigene‹ Nationalgesellschaft den meisten als Orientierungsmarke dienen. Sie wissen, dass ein baldiges Ende des Krieges in Syrien unwahrscheinlich ist. Auch die Flüchtlinge haben sich aus genau diesem Grund auf den Weg gemacht, sie orientieren sich an transnationalen ›mentalen Landkarten‹ über die Aufnahmebedingungen in verschiedenen Ländern und an vielfach bereits bestehenden transnationalen sozialen Beziehungen zu Verwandten und Bekannten.

Insgesamt ist die Flüchtlingsbewegung nur zu verstehen vor dem Hintergrund der Problemkonstellation, die als neue transnationale soziale Frage charakterisiert werden kann. Im Gegensatz zur sozialen Frage, die in den sich industrialisierenden Gesellschaften des 19. Jahrhunderts virulent war, geht es bei der neuen sozialen Frage nicht in erster Linie um Armut, Hunger und Kinderarbeit, um Gesundheits- und Arbeitsschutz – auch wenn Millionen Menschen heute noch von diesen Problemen unmittelbar betroffen sind. Neu ist an der gegenwärtigen sozialen Frage, dass sie vor dem Hintergrund bewaffneter Konflikte und organisierter Gewalt (als zwischenstaatliche Kriege im traditionellen Sinne, vor allem aber als innerstaatliche oder transnationale kollektive und organisierte Gewaltausübung von Banden, Milizen, Kartellen oder selbsternannten politischen Verbänden) bestimmt ist vom Fehlen minimaler öffentlicher Sicherheit und der Berechenbarkeit des Lebens überhaupt. Legal-reguläre Erwerbsmöglichkeiten fehlen ebenso wie der Glaube an staatliche Autoritäten und an die Selbstgestaltung der eigenen Lebensperspektive. Diese neue soziale Frage ist transnational, weil sowohl die Ursachen als auch die Lösungsstrategien grenzüberschreitend sind beziehungsweise sein müssen. Wenn für die neue transnationale soziale Frage keine Lösung in den Regionen gefunden wird, wo diese besonders virulent ist, dann machen sich die davon betroffenen Menschen dorthin auf den Weg, wo sie sich ein besseres Leben erhoffen.

Flüchtlinge als Akteure, Flüchtlingsbewegung als soziale Bewegung

Ein zweiter Hauptgedanke dieses Buches ist, dass die Dynamik der jüngsten Flüchtlingsbewegung auch im Zusammenhang von Netzwerken flüchtlings- und asylbezogener Organisationen und einer entsprechenden transnationalen sozialen Bewegung gesehen werden muss. Ganz im Sinne des transnationalen Charakters der neuen sozialen Frage handelte es sich nicht nur um die räumliche Bewegung zahlreicher Individuen etwa aus Syrien über die Balkanroute nach Deutschland. Vielmehr waren diese Raumbewegungen Einzelner und kleiner Familiengruppen eingebunden in breitere transnationale Kommunikations- und Unterstützungsstrukturen, die sich um menschen- und völkerrechtliche sowie humanitäre Forderungen und Aktivitäten im Zusammenhang von Flucht und Asyl gruppieren. Soziale Bewegungen stellen allgemein »soziale Gebilde aus miteinander vernetzten Personen, Gruppen und Organisationen dar, die mit kollektiven Aktionen Protest ausdrücken, um soziale bzw. politische Verhältnisse zu verändern oder um sich vollziehenden Veränderungen entgegenzuwirken« (Rucht/Neidhardt 2001: 540).

Zwar war und ist das primäre Ziel der meisten Flüchtlinge sicherlich, sich in Sicherheit zu bringen und bestimmten politischen Verhältnissen zu entfliehen – nicht, sie zu verändern. Die klassische formalrechtliche Definition eines Flüchtlings bestimmt diesen eindeutig als Getriebenen, dem keine andere Wahl bleibt. Flüchtlinge können demnach eigentlich nicht Teil einer sozialen Bewegung sein, die ja auf Veränderungen bestehender Verhältnisse abzielt. Wie später (Kapitel 1.3) gezeigt wird, sind Flüchtlinge aber trotz der Zwangslagen, denen sie entfliehen, als Akteure zu sehen, die sich auch kollektiv für ihre Interessen einsetzen.

In einem erweiterten sozialwissenschaftlichen Sinn werden unter dem Begriff Flüchtling auch Menschen gefasst, die sich als Binnenflüchtlinge im eigenen Land befinden sowie diejenigen, die aus anderen als den genannten Gründen aus ihrem Land fliehen müssen (zum Beispiel Umweltflüchtlinge). Als Flüchtlinge können dann auch Menschen bezeichnet werden, die aufgrund unmittelbarer Verfolgung und Bedrohung ihres Lebens aus einem Land geflohen sind, aber in anderen Ländern (noch) nicht formal als Flüchtling oder Asylberechtigter anerkannt wurden. Wesentlich ist, dass Flüchtlinge nicht in erster Linie als Objekte und Opfer, sondern als Akteure, als eigenständig und immer in sozialen Zusammenhängen Handelnde angesehen werden. Sie haben die Lebensbedingung, fliehen zu müssen, nicht selbst gewählt, gestalten aber dennoch ihren Lebenslauf selbst.

Erweitert man den Blick auf die sozialen Beziehungen und Sozialräume, in denen sich die Flüchtlinge während ihrer Flucht und nach ihrem Ankommen bewegen, dann gehören zu dem, was hier als zivilgesellschaftlich-soziale Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl oder abgekürzt als Flüchtlingsbewegung bezeichnet wird, auch die Nichtregierungsorganisationen sowie die nationalen staatlichen und internationalen Organisationen, die sich für die Rechte und Interessen von Flüchtlingen einsetzen. Charles Tilly (2004: 3f.) definierte soziale Bewegungen als dauerhafte und organisierte öffentliche Bestrebungen und kollektive Forderungen an bestimmte Autoritäten und Behörden. In diesem Sinne kann durchaus von einer transnationalen sozialen Flüchtlingsbewegung als einer Form des neuen transnationalen Aktivismus (Tarrow 2005) gesprochen werden. In diese Flüchtlingsbewegung als transnationale soziale Bewegung sind individuelle und kollektive Akteure eingebunden, die nicht eine abgeschlossene und kohärente Organisationseinheit bilden, sondern eher ein loses Kooperationsnetzwerk.

Gemeinsame Forderungen etwa nach legalen Einreisemöglichkeiten für Flüchtlinge, nach fairen Asylverfahren und menschenwürdiger Unterbringung werden an nationalstaatliche Stellen wie Migrationspolitiker und Einwanderungsbehörden, an europäische Einrichtungen wie die Europäische Kommission und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) sowie an internationale Organe wie die Internationale Organisation für Migration (IOM) und den UN-Flüchtlingskommissar (UNHCR) gerichtet. Die transnationale zivilgesellschaftlich-soziale Bewegung für Flüchtlingsschutz und Asyl zeichnet sich durch ereignisbezogene Mobilisierungsfähigkeit und wirksame Druckausübung im öffentlichen Raum aus. Sie ist in der Lage, die Legitimationserwartungen an Politiker, die Medien und flucht- und asylbezogene Organisationen zu beeinflussen, indem sie sowohl auf die kognitiven Rahmungen des Flucht- und Asylthemas im öffentlichen Diskurs als auch auf die normativen Handlungsorientierungen einwirkt. Schließlich strebt diese soziale Bewegung die Veränderung persönlicher und gesellschaftlicher Verhältnisse an, indem der transnationale Charakter der Fluchtursachen hervorgehoben wird. Die Zukunft von Flüchtlingsbewegungen und von Flüchtlingsschutz in Deutschland und Europa können nicht angemessen erörtert werden, ohne das politische System, die Flüchtlinge und ihre sozialen Netzwerke sowie die flüchtlingsbezogenen Organisationen zusammenzudenken.

Auf dem Weg zu einem europäischen Flüchtlingsschutz

Hier schließt sich die dritte in diesem Buch zu stärkende These an: Seit den 1990er Jahren begann sich ein europäisches Flüchtlingsregime zu entwickeln. Auch deshalb kann die Frage von Flucht und Asyl nicht nur in den nationalstaatlichen Containern verhandelt werden. Insgesamt lassen sich auf der Ebene der rechtlich-regulativen Rahmenordnung der EU substanzielle Verbesserungen des Flüchtlingsschutzes und eine Harmonisierung ›nach oben‹, also ein Upgrading im Vergleich zu den in den einzelnen Mitgliedsländern geltenden Bestimmungen festmachen. Europäische Netzwerke wie das Europäische Netzwerk Migration (EMN) und Behörden wie EASO wurden eingerichtet und haben seit einigen Jahren ihre Arbeit aufgenommen. Damit wurden Schritte einer EU-bezogenen Professionalisierung und normativen Orientierung der für Asyl- und Flüchtlingsfragen verantwortlichen Handelnden in Politik und Verwaltung eingeleitet. Allerdings bewegen sich – jenseits der im engeren Sinne fachlich Verantwortlichen – auf der kognitiven Ebene der Problemwahrnehmung die meisten Politiker und ein nach Mitgliedsländern und spezifischer Situation variierender Teil der Zivilgesellschaften in nationalstaatlichen Deutungsmustern von Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten.

Die Beispiele national variierender Politiken und Praktiken zur Flüchtlingsaufnahme, zur Asylanerkennung, zur Bestimmung sicherer Herkunftsstaaten und eines fehlenden Lastenausgleichs zeigen, dass die EU von einer tatsächlichen Institutionalisierung eines europäischen Flüchtlingsschutzes noch weit entfernt ist. Auf der formalen regulativen Ebene wurde im Jahr 2013 das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) verabschiedet. Es enthält im Hinblick auf den Flüchtlingsschutz weiter reichende Bestimmungen, als ob es sie in den EU-Mitgliedsstaaten gibt. Allerdings klafft – und das hat die sogenannte Flüchtlingskrise deutlich gemacht – zwischen dem Normengerüst, dem talk dieses GEAS und der action (dem tatsächlichen Verhalten) der entsprechenden Akteure auf lokaler, nationaler und EU-Ebene eine große Lücke. Wie ist dieser offensichtliche Widerspruch zwischen dem recht ausdifferenzierten regulativen Rahmen eines europäischen Flüchtlingsschutzes einerseits und einer dominanten organisierten Nicht-Verantwortung der meisten politischen Akteursgruppen andererseits zu erklären?

Das Spannungsverhältnis zwischen talk und action und der sehr unterschiedliche Grad der Institutionalisierung eines GEAS lässt sich mithilfe des soziologischen Neoinstitutionalismus bearbeiten.3 Demnach ist davon auszugehen, dass in die entsprechenden asyl- und flüchtlingsbezogenen Maßnahmen viele Organisationen als kollektive Akteure (Interessenverbände, Nichtregierungsorganisationen etc.) und korporative Akteure (Staaten, Unternehmen etc.) mit divergenten Zielen und Strategien auf lokaler, nationaler, supranationaler und transnationaler Ebene einbezogen sind. Diese Organisationen verhalten sich einerseits gemäß eigener, mehr oder weniger rational kalkulierter Ziele, andererseits aber auch entsprechend der von ihnen wahrgenommenen Legitimitätserwartungen ihres organisationalen Feldes (als des jeweils kommunikations- und handlungsrelevanten Kontextes aller kollektiven und korporativen Akteure). In diesem organisationalen Feld werden die entsprechenden Legitimitätserwartungen durch soziale Institutionen als stabile Wahrnehmungs-, Normen- und Handlungsprogramme bestimmt.

Die institutionellen Einflüsse wirken dabei in Form von Zwang (als regulative Anweisungen oder staatliche Auflagen), von Normen (als internalisierte geteilte Leitbilder und Vorstellungen) oder von kulturell-kognitiven Rahmungen (als für selbstverständlich gehaltene Deutungsmuster und Erwartungshaltungen). Einige neoinstitutionalistische Organisationsforscher gehen davon aus, dass Legitimationsstrategien im organisationalen Feld (talk) nur zeitlich und inhaltlich begrenzt vom tatsächlichen Verhalten (action) entkoppelt werden können. Andere argumentieren, dass kollektive und korporative Akteure auch dauerhaft ein falsches Spiel von opportunistischer Legitimationsfassade nach außen und völlig anders gestalteten Strukturen und Praktiken nach innen durchhalten können (Oliver 1991; Scott 1991).

Unabhängig davon, ob man eine dauerhafte strukturelle Entkopplung zwischen talk und action für wahrscheinlich hält, ist entsprechend der neoinstitutionalistischen Sichtweise eine nachhaltige Stabilisierung sozialer Institutionen nur möglich, wenn deren regulative, normative und kognitive Säulen ausgebaut sind und das organisationale Feld als die relevante Umwelt der involvierten Akteursgruppen tatsächlich strukturieren.4 Bezogen auf die Europäisierung des Flüchtlingsschutzes und die Institutionalisierung des GEAS bedeutet dies, dass sich alle relevanten korporativen Akteure (lokale, nationale und europäische staatliche beziehungsweise offizielle Agenturen und Stellen wie Polizei, Asylentscheidungsagenturen, Monitoring- und Beratungs-Agenturen wie EASO; internationale Regierungsorganisationen wie UNHCR etc.) und kollektiven Akteure (lokale, nationale und europäische flüchtlingsbezogene NROs wie Flüchtlingsräte, Pro Asyl, ECRE etc.) wechselseitig als Teil eines asyl- und flüchtlingsbezogenen EU-weiten organisationalen Feldes wahrnehmen und ihre Strategien und Strukturen an den damit verbundenen Legitimitätserwartungen ausrichten müssten.

Wie im Verlauf dieses Buches zu zeigen sein wird, ist die rechtlich-regulative Rahmenordnung des GEAS trotz aller Widersprüchlichkeiten bereits relativ stark. Jedoch sind die normative und die kognitive Säule dieses europäischen Flüchtlingsschutzes noch sehr brüchig. Das wird besonders an der organisierten Nicht-Verantwortung innerhalb und zwischen den EU-Mitgliedsländern deutlich. Die normativen Grundlagen eines gemeinsamen Flüchtlingsschutzes im Sinne einer Professionalisierung und normativen Orientierung der für Asyl- und Flüchtlingsfragen verantwortlichen Handelnden in Politik und Verwaltung befindet sich erst – wie im Kapitel 3.1 gezeigt wird – seit den 2010er Jahren im Aufbau. Die kognitive Säule geteilter europäischer Deutungsmuster hat sich in den zivilgesellschaftlichen Aktivitäten der Flüchtlingsbewegung zwar deutlich geäußert, von einer europäischen Wahrnehmung und Rahmung der flüchtlingsbezogenen Herausforderungen und Lösungsmöglichkeiten sind die meisten Politiker und auch große Teile der europäischen Zivilgesellschaft weit entfernt. Insgesamt war die Institutionalisierung des GEAS noch zu wenig entwickelt und zu labil, um die ›Flüchtlingskrise‹ des Jahres 2015 europäisch zu meistern.

Aufbau des Buches

Eine Rekonstruktion der Ereignisse des Herbstes 2015 im ersten Teil wird zeigen, dass diese nur verstanden und erklärt werden können als ein komplexes Wirkungsgeflecht rationaler Entscheidungen, spontanen Verzweiflungshandelns, beherzter Aktionen und taktischen Verhaltens von individuellen und kollektiven Akteuren: Flüchtlingen, Fluchthelfern, staatlichen Organen, Nichtregierungsorganisationen (NROs) und Politikern auf der lokalen, nationalen und europäischen Ebene. Hilfreich für eine sozialwissenschaftliche Durchdringung der Abläufe sind dabei einige soziologische Regeln wie beispielsweise die der ›nicht beabsichtigten Folgen absichtsvollen Handelns‹ oder die des Thomas-Theorems, wonach die Wirklichkeitsdeutungen der Akteure – auch unabhängig von möglichen ›objektiven Tatsachen‹ – eine realitätswirksame Kraft haben.

Im zweiten Teil wird das zivilgesellschaftliche Engagement näher analysiert, das dem Handeln der staatlichen Organe und Politiker vorausging und einen gewissen Zugzwang der Handlungsabläufe generierte. Welche Menschen und Organisationen haben sich seit dem Spätsommer 2015 für die Aufnahme und Unterbringung der Flüchtlinge so stark engagiert? Welche Vorläufer gibt es dafür in Europa? Wer engagierte sich aus welchen Gründen? Von der Beantwortung dieser Fragen wird abhängen, wie nachhaltig dieses Engagement in der Zukunft sein kann.

Ein dritter Teil behandelt aus einer politisch-soziologischen Perspektive das Verhalten wichtiger Akteursgruppen in Politik und Verwaltung. Im Hinblick auf Flüchtlings- und Asylpolitik zeigt sich dabei seit den 1990er Jahren eine organisierte Nicht-Verantwortung durch Kompetenzverschiebung. In diesem Verwirrspiel konnte die eigene Untätigkeit oder Ineffizienz über viele Jahre zwischen der lokalen, Länder-, Bundes- und EU-Ebene durch Hinweis auf die Defizite anderer Akteure und Ebenen erfolgreich hin- und hergeschoben werden – auf dem Rücken der Betroffenen. Aufgebrochen wurde diese wechselseitige Lähmung erst durch das Zusammenspiel von in sozialen Netzwerken agierenden Flüchtlingen und von NROs als soziale Bewegung.

Teil vier behandelt die großen Chancen des Ankommens der Gesellschaft in Deutschland bei sich selbst in einem dreifachen Sinne. Zunächst ermöglicht die ›Flüchtlingskrise‹ des Jahres 2015, die Erfahrungen von Verfolgung, Vertreibung und Flucht während und nach dem NS-Regime aufzunehmen und für die ›kognitive Rahmung‹ der gegenwärtigen Situation zu nutzen. Zweitens eröffnet sich die Möglichkeit, die Behandlung der ›Gastarbeiter‹-Generation von den 1960er bis 1990er Jahren kritisch aufzuarbeiten: Welche Lehren lassen sich für das Ankommen und die Integration der Flüchtlinge ziehen? Drittens ergibt sich für Deutschland (und auch die anderen EU-Mitgliedsländer) die historische Gelegenheit, nachhaltiger in Europa anzukommen. Die ›Flüchtlingskrise‹ birgt die große Chance, in der globalisierten Welt ein europäisches Gesellschaftsprojekt zu schärfen (Teil fünf).

1 Ankommen der Flüchtlinge im ›heißen Herbst‹ 2015

In der öffentlichen Diskussion über die ›Flüchtlingskrise‹ entstand der Eindruck, als sei unerwartet – gleichsam wie Phönix aus der Asche – eine ›Flutwelle von Flüchtlingen‹ nach Deutschland geschwappt.1 Dabei wird argumentiert, es handele sich um sehr ›gemischte Ströme‹ von tatsächlich Verfolgten und auch vielen sogenannten Wirtschaftsflüchtlingen. Als Push-Faktoren, die die Menschen aus ihren Regionen fliehen lassen, werden die unmittelbare Verfolgung aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen, das Entkommen aus von bewaffneten Gruppen dominierten Konfliktherden sowie das wirtschaftliche Elend genannt. Die am häufigsten erwähnten Gründe, die die Menschen gerade nach Europa und Deutschland ziehen, also die Pull-Faktoren, sind der vergleichsweise hohe Lebensstandard, das Niveau der öffentlichen Hilfeleistungen und die weitgehend geordneten Asylverfahren. Gerade seit dem September 2015 argumentierten nicht wenige Politiker auch, dass Deutschland durch übertriebene Willkommensgesten den Zustrom nach Deutschland geradezu befeuert habe.

Der Herbst 2015 markiert eine historische Ausnahmesituation: für die Flüchtlinge selbst, für die nationalen Regierungen und Gesellschaften und ebenso für die Europäische Union sowie die internationale Gemeinschaft. Die Ereignisse forderten sowohl die gesellschaftlichen Ordnungen der Nationalstaaten und der Europäischen Union heraus als auch – angesichts von allein im Jahr 2015 etwa 3.500 im Mittelmeer ertrunkenen Flüchtlingen – die moralische Ordnung der Weltgemeinschaft. Alle bestehenden nationalen, europäischen und internationalen Normen bezüglich Flucht und Asyl, seien sie formal-legaler Art oder einfach auf einem bis dahin unbestrittenen ethischen Legitimationsanspruch basierend, wurden in der Bewährungsprobe zum Spielball kleinkarierter Egoismen und absichtsvoller Instrumentalisierung. Wie lässt sich die Dynamik der Flüchtlingswanderung 2015 wissenschaftlich, vor allem soziologisch beschreiben? War die ›Flüchtlingswelle‹ überhaupt nicht vorhersehbar? Wer sind eigentlich die Menschen, die nach Deutschland gekommen sind? Welche Faktoren haben zu dem enormen Anstieg der Zahl ankommender Flüchtlinge in der EU und in Deutschland beigetragen? Welche Rolle spielen internationale Schlepperorganisationen? Warum wollten so viele Menschen nicht in Griechenland, Ungarn oder auch Italien bleiben – in den Ländern also, in denen sie zum ersten Mal den Boden eines EU-Mitgliedslandes betreten haben und formalrechtlich ihren Asylantrag hätten stellen müssen? Warum ist Spanien, obwohl geografisch doch ähnlich leicht wie Griechenland und sogar besser als Italien über den Seeweg zu erreichen, so wenig von der ›Flüchtlingswelle‹ betroffen?

Im Folgenden wird gezeigt, dass die Ereignisse des Jahres und vor allem des Herbstes 2015 zeitlich weiter zurückliegende und vielschichtige Problemlagen erkennen lassen. Herausforderungen und ungelöste Aufgaben, die über viele Jahre und sogar Jahrzehnte verdrängt worden waren, klopften gleichsam mit den Flüchtlingen unüberhörbar an die Tür Deutschlands und Europas. Die ›Flüchtlingskrise‹ sollte deshalb nicht als Ergebnis des Fehlverhaltens der Flüchtlinge selbst oder einzelner Politiker (der deutschen Bundeskanzlerin oder des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán) abgetan, sondern als Weckruf verstanden werden. Allzu lange wurden die für Deutschland erfreulichen Seiten der beschleunigten Globalisierung – etwa die steigenden Exporte, die vergleichsweise starke Währung und entsprechende wirtschaftliche Prosperität – angenommen. Für die mit der zunehmenden Vernetzung von Geld-, Waren- und Informationsströmen einhergehenden Probleme nicht eingelöster Entwicklungsversprechen, ökologischer Krisen und ungelöster regionaler Krisen und Kriege fühlten sich aber weder Deutschland noch Europa wirklich zuständig.

Die Flüchtlingswanderung ist – so wird in diesem Kapitel argumentiert – vor allem als Teil einer breiteren Migrationsbewegung zu verstehen. Bewegung ist dabei nicht nur geografisch-räumlich, sondern auch sozial gemeint. Migration im 21. Jahrhunderts ist als emergierende transnationale, zivilgesellschaftlich-soziale Bewegung vergleichbar mit den nationalen Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts, die im Kampf zwischen Kapital und Arbeit auf die Lösung der sozialen Frage zielten. Sie zwingt die reichen, früh industrialisierten Länder des Nordens, einen jahrzehntelangen Selbstbetrug aufzugeben, der sich nationalstaatlich wie global als Problem der sozialen Ungleichheit präsentiert: Es ist der Glaube, offenkundige ausgeprägte soziale Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ließen sich über längere Zeiträume aufrechterhalten, ohne dass breiter Protest und soziale Bewegungen entstünden. Alexander von Humboldt schreibt 1804 nach seiner berühmten Lateinamerika-Reise – beeindruckt von Demokratie und Liberalität in den Vereinigten Staaten von Amerika, aber abgestoßen von dem System der Sklaverei – an den Präsidenten Jefferson: »Es ist mit dem Reichtum der Nationen wie mit dem der einzelnen Personen. Er ist nur die Nebensache unseres Glücks. Bevor man frei ist, muss man gerecht sein, und ohne Gerechtigkeit gibt es kein dauerhaftes Wohlergehen« (Humboldt 2004: 225). In diesem Sinne sind die jüngeren Migrations- und Flüchtlingsbewegungen zuallererst als Hinweis auf aufgeschobene und verdrängte Strukturprobleme und Gerechtigkeitsherausforderungen zu lesen, die nun in der Verlaufsdynamik ›nicht beabsichtigter Folgen absichtsvollen Handelns‹ zum Ausdruck kommen.2

1.1 ›Flüchtlingskrise‹ und ›Wunder‹ im September 2015

Der Anstieg der Flüchtlingsmigration in die EU und besonders nach Deutschland hat viele Ursachen und war – wenn auch nicht in Details – vorhersehbar. Wie ausführlicher in Kapitel 3.3 gezeigt wird, wuchs schon seit Beginn des 21. Jahrhunderts zunächst in Spanien und Italien, später auch in Griechenland die Anzahl der dort ankommenden Flüchtlinge deutlich. Den Hintergrund dafür bilden sich zuspitzende Krisen in verschiedenen Regionen Afrikas und des Nahen Ostens. Grob gesprochen lassen sich drei Wellen von Umbrüchen und gewaltsamen Konflikten, die mit der Verfolgung bestimmter Gruppen aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen einhergehen, unterscheiden. Sie führten zu drei entsprechenden, vorwiegend irregulären Einwanderungsschüben in die EU, die sich schrittweise von Westen (Kanarische Inseln und Spanien) über die Mitte (Italien) bis zu den südöstlichen EU-Ländern (Griechenland, Bulgarien, Rumänien) verschoben. Alle drei Schübe waren den Gesellschaften und Staaten Europas bekannt, auch die für die EU sich ergebenden Konsequenzen konnten zumindest in groben Umrissen abgeschätzt werden. Die Art, wie die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten darauf reagierten, lässt sich als ›organisierte Nicht-Verantwortung durch Wegducken und Auf-Andere-Zeigen‹ charakterisieren.

1.1.1 Flüchtlings- und Migrationsbewegungen im 21. Jahrhundert

Als erste größere Krisenregion, in der politische und soziale Turbulenzen zu massiven Wanderungen führten, lässt sich das subsaharische Afrika ausmachen. Erinnert sei an die ethnischen Konflikte zwischen Hutu und Tutsi, die Mitte der 1990er Jahre zu einem Genozid und zur Massenflucht aus Ruanda führten.3 Eritrea ist seit seiner Unabhängigkeit 1993 ein Einparteienstaat mit einer zeitlich nicht begrenzten Militärdienstpflicht. Von einer Sonderbeauftragten der Vereinten Nationen wurden schwere Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Tötungen und Verhaftungen, Verschwindenlassen und Folter sowie fehlende Meinungs-, Religions- und Versammlungsfreiheit festgestellt. Menschen, die aus der Armee oder aus dem Land fliehen und in einem anderen Land um Asyl bitten wollten, wurden laut Amnesty International inhaftiert.4 In Somalia herrscht seit über zwei Jahrzehnten Bürgerkrieg, in dem die islamistische Terrormiliz Al-Shabaab eine führende Rolle spielt. Somalia wird auch als zerfallener Staat (failed state) bezeichnet, in dem allgegenwärtige Furcht um Leib und Leben, vor sexueller Gewalt und Zwangsrekrutierung auch von Minderjährigen herrschen. In Eritrea wie in Somalia werden junge Männer für das Militär oder bewaffnete Gruppen zwangsrekrutiert. Nigeria hat eine der kulturell vielfältigsten, größten und am schnellsten wachsenden Bevölkerungen Afrikas. Der Norden des Landes wird von der islamistischen Terrorgruppe Boko Haram kontrolliert, deren Macht die dortige Regierung, die vielfältiger Korruption bezichtigt wurde und wird, nicht einschränken konnte oder wollte.

Eine Folge der landesinternen Probleme sowie regionaler Konflikte war das Anwachsen von mixed migration flows