Mila in der Luft - Bettina Janis - E-Book

Mila in der Luft E-Book

Bettina Janis

4,9

Beschreibung

Mila klettert gern auf ihren Lieblingsbaum. Dort trifft sie den blauen Jungen Feriz. Er ist ein Luftgeist und nimmt sie mit in das Elfenland über den Wolken. Alles hier ist wunderschön, und am schönsten ist Pranja, die Elfenkönigin. Doch Pranja hat Sorgen. Der Sturmwind Osmolniza entführt die Luftfeen und sperrt sie in einen Berg hinter den Schwarzen Wolken. Er will alle Macht an sich reißen. Dabei dient ihm ein unsichtbarer Dämon. Mila will den Luftwesen helfen und gerät dabei in große Gefahr. Eine spannende und phantasievolle Geschichte.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 153

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,9 (16 Bewertungen)
14
2
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Alles geht schief

Frau Gilcher ist eine Libelle

Der blaue Junge

Die Feuerhexe

In der Luft

Zumelind

Die Elfenkönigin

Osmolniza

Streit

Beim Magier der Lüfte

Nacht im Elfenschloss

Arielas Geschichte

Allein

Mila fasst einen Entschluss

Die Fahrt im Sternenwagen

NIEMANDs Land

Wullewux

Schwarze Stunden

Wullewux mag Noten

Mila kämpft

Elfenhochzeit

Mama und Papa hören zu

Alles geht schief

„Und jetzt bekommt ihr eure Aufsätze zurück.“

Mila sieht zu, wie Frau Gilcher die blauen Hefte aus ihrer Mappe nimmt und sie in einem Stapel aufs Pult legt.

Mila liebt es, Aufsätze zu schreiben. Bekommt sie heute eine Eins? Zum Thema Mein bester Freund ist ihr viel eingefallen. Bis zur letzten Minute hat sie geschrieben, bis Frau Gilcher ihr das Heft weggezogen hat.

Jetzt teilt die Lehrerin die Hefte aus. Zuletzt ist nur noch Milas Heft übrig! Milas Herz schlägt schneller.

„ Du hast deinen Freund lebendig geschildert, Mila.“ Mila freut sich.

„Aber, Mila, du hast das Thema verfehlt. Über einen richtigen Freund solltest du schreiben. Stattdessen hast du dir einen ausgedacht.“

Frau Gilcher schlägt Milas Heft auf und liest vor:

Mein bester Freund ist ein blauer Junge mit blauen Haaren.

Er fliegt manchmal an meinem Fenster vorbei.“

Einige Schüler lachen. Mila fühlt, dass sie rot wird.

„Du hast zu viel Phantasie, Mila. So Leid es mir tut; dieses Mal muss ich dir eine Fünf geben.“

Die Lehrerin legt das hellblaue Heft vor Mila.

„Komm nach der Stunde zu mir.“

Mila hat einen Schock. Eine Fünf! Und dabei ist Deutsch ihr liebstes Fach.

Es klingelt. Schulfrei für heute! Die Schüler springen auf und drängeln nach draußen. Mila stopft das hellblaue Heft in ihre Schultasche und läuft zur Tür.

„Mila!“, ruft Frau Gilcher. Mila tut, als höre sie es nicht. Sie hasst Frau Gilcher!

Manchmal geht Mila mit Clara nach Hause, aber heute will sie mit niemand reden und rennt auf dem Gang an Clara vorbei, die gerade ihre Jacke anzieht.

Mila läuft einen schmalen Weg entlang, vorbei an vielen Gärten. Rot, Gelb, Rosa und Weiß leuchten die Blumen. Mila bemerkt sie nicht. Sie ist wütend. Sie hat den blauen Jungen nicht erfunden! Es gibt ihn wirklich! Zugegeben, er ist nicht Milas bester Freund. Da hat sie ein bisschen gemogelt. Mila hat keinen besten Freund und leider auch keine beste Freundin. Clara mag sie von den Mädchen in der Klasse am liebsten. Aber Clara hatte schon eine beste Freundin, als Mila vor ein paar Wochen neu in die Klasse kam, nachdem sie mit ihren Eltern hierher gezogen war.

Und deshalb hat Mila über den blauen Jungen geschrieben. Der saß eines Abends vor dem Fenster und schaute neugierig in Milas Zimmer. Mila kam gerade aus dem Bad. Alles an dem Jungen war blau: seine Hose, sein Hemd, das im Wind flatterte, seine Augen, sein Gesicht, das an ein Äffchen erinnerte. Seine Haare mit der Igel-Frisur. Als der Junge Mila sah, schnitt er Faxen. Mila rannte schnell zum Fenster. Doch plötzlich war der Junge weg. Als hätte ihn die Luft verschluckt!

Sie wartete jeden Abend auf ihn, aber er kam nicht wieder. Ihren Eltern und Kati erzählte sie nichts. Sie hätten ihr ja doch nicht geglaubt. Fast vergaß sie den Jungen.

Und dann! Mila saß schmökernd in der Sonne auf einer Decke im Garten. Da fiel ihr ein Steinchen in den Schoß! Mila sprang auf und ließ ihr Buch fallen. Sie schaute sich um, aber im Garten war niemand. Ein Windstoß fuhr in die Buche und ließ die Blätter rascheln. Mila schaute hoch, und da blitzte im Hellgrün ein blaues Gesicht! Aufgeregt winkte Mila dem Jungen zu. Und wieder löste er sich in Luft auf: Plötzlich war er weg. Ein heller Ton in der Luft klang wie ein Kichern.

Clara kann sie nichts von dem Jungen erzählen. Sie lacht mich aus, denkt Mila, während sie durch die Mittagshitze läuft. Nur mit Kati kann sie darüber reden.

Aber Kati ist nicht ihre Mutter. Als Mila an ihre Mutter denkt, wird sie traurig. Ihre Beine werden schwer. Sie setzt sich auf ein Mäuerchen. Mama macht sich doch gar nichts aus mir! Und Papa, dem bin ich auch egal.

Oft fahren ihre Eltern fort von zu Hause, in andere Städte, um dort Musik zu machen. Sie müssen es tun, denn Musik machen ist ihr Beruf. Aber trotzdem! Mila kickt gegen einen Stein, der vor ihr auf dem Weg liegt.

Ein Junge aus einem Buch fällt ihr ein. Der ärgerte sich so sehr über seine Eltern, dass er von zu Hause weglief. Er erlebte viele Abenteuer, geriet sogar in Lebensgefahr, und am Ende waren seine Eltern überglücklich, als sie ihn wiederfanden. Soll sie auch weglaufen? Aber wohin? Der Junge im Buch schmuggelte sich als blinder Passagier auf ein Schiff. Aber die Stadt, in der Mila wohnt, liegt nicht am Meer. Einen Bahnhof gibt es zwar, aber Mila weiß nicht mehr, wie man dort hinkommt. Und zu Hause wartet Kati mit dem Essen auf sie.

Jetzt spürt Mila, dass der Hunger ein Loch in ihren Bauch gebohrt hat. Da entdeckt sie hinter einem Zaun einen Kirschbaum. Zwischen den Blättern hängen dunkelrote Früchte. Mila hält sich mit beiden Händen an einem Pfosten des Zaunes fest und bohrt einen Fuß in den Maschendraht. Sie springt rüber und fällt weich auf den Rasen.

Die Kirschen am Baum hängen weit oben. Mila springt in die Luft und erwischt eine Handvoll. Da hört sie plötzlich ein Bellen, und ein schwarzes Wollknäuel schießt auf sie zu. Jetzt sieht Mila erst das Haus, zu dem der Kirschbaum gehört.

Mila hangelt sich zurück über den Zaun und lässt dabei Kirschen fallen. Während das Wollknäuel ihr nach bellt, rennt sie weg. Endlich traut sie sich, langsamer zu gehen. Da sieht sie, dass der Zaun ein Loch in ihre Lieblingsjeans gerissen hat.

Von den Kirschen hat sie nur zwei gerettet. Sie steckt eine davon in den Mund. Iiihhh! Wie sauer! Heute geht aber auch alles schief, denkt Mila.

Frau Gilcher ist eine Libelle

„Dein Aufsatz gefällt mir sehr“, sagt Kati mit ihrer warmen Stimme.

Mila hebt ihr Gesicht aus der Kakaotasse.

„Ja?“

„O ja“, sagt Kati. „Ich mag diesen blauen Jungen!“

Mila und Kati sitzen auf der Veranda beim Frühstück. Auf dem Stuhl neben Mila steht ihre Schultasche. Der wolkenlose Himmel verspricht einen schönen Sommertag. Viel zu schade, um in die Schule zu gehen!

In der Buche zwitschern die Vögel.

Kati klappt das Heft mit Milas Aufsatz zu.

„Du hast viel Phantasie!“

„Aber Phantasie ist schlecht, sagt Frau Gilcher!“

„So ein Unsinn!“ Kati schüttelt energisch den Kopf mit dem kurzen grauen Haar.

„Phantasie ist die Gabe einer guten Fee. Sei immer stolz darauf!“

„Warum hat mir dann Frau Gilcher eine schlechte Note gegeben?“

„Weil du das Thema missverstanden hast. Das kann passieren. Es ist nicht so schlimm.“

Mila läuft hinüber zu Kati und schlingt die Arme um sie. Kati lacht, und viele kleine Fältchen erscheinen um ihre braunen Augen.

„Jetzt bist du nicht mehr traurig, nein?“

„Phantasie, Panthervieh!“, ruft Mila. „Wann kommen Mama und Papa zurück?“

„Morgen“, sagt Kati.

Milas Herz macht einen Sprung. Morgen schon!

„Lauf schnell ins Bad“, mahnt Kati, „und putz dir die Zähne. Du musst zur Schule.“

Im Bad sieht Mila, dass ihr über der Oberlippe ein Schnurrbart aus Kakao gewachsen ist. Sie lacht.

Ein paar Minuten später läuft sie mit ihrer Schultasche auf dem Rücken den Gartenweg hinunter. Vorne am Tor dreht sie sich um und ruft Kati zu, die an der Haustür steht:

„Den blauen Jungen gibt es wirklich! Ich habe ihn schon zweimal gesehen!“

Kati nickt eifrig und winkt. Wenn Frau Gilcher doch wie Kati wäre!

Heute geht Mila die Straße entlang. So früh am Morgen sind die Geschäfte noch geschlossen. Beim Eiscafé schließt ein junger Mann die Kette um die gestapelten Stühle auf. Die Ampel zeigt Rot. Drüben auf der anderen Straßenseite ist ein Laden, den Mila liebt. Dort werden Bücher verkauft, aber es ist keine normale Buchhandlung. Das Schaufenster wird von einer grünen Marquise halb verdeckt. Mila weiß auch, warum: Die Bücher im Fenster sind schon alt und müssen vor der Sonne beschützt werden.

Die Ampel springt auf Grün und Mila überquert die Str aße. Das Schaufenster ist neu dekoriert worden! Neugierig schaut sie durch die Scheibe. Ein hellblauer Samtstoff bedeckt die Auslage, in der die alten Bücher liegen.

Einige haben Einbände aus Seide in Rot oder Orange oder Nachtblau. Andere sind in Leder gebunden, darauf goldene Lettern. Manche Bücher sind so schön, dass Milas Herz bei ihrem Anblick schneller schlägt. Andere sehen abgewetzt aus. Ein Buch liegt aufgeschlagen da und zeigt eine Seite mit einer feinen Zeichnung: ein Insekt. Es ist etwa fünfzehn Zentimeter groß und steht aufrecht wie ein Mensch. Auf einem lang gezogenen Unterleib, dünn wie ein Stock, sitzt ein schmächtiger Oberkörper mit einem runden Kopf und einem Auge. Sechs krakelige Spinnenarme sehen wie lebendig aus. Dünne glasartige Flügel stehen wie Frackschöße ab von der hageren Gestalt. Libelle, entzifferte Mila die Unterschrift.

Mila drückt ihre Nase gegen die Scheibe und betrachtet die Libelle, vor der sie sich ein wenig gruselt. Irgendwie sieht sie aus wie ein Mensch.

Mittags ist es im Klassenzimmer schwül. Draußen hat sich der Himmel mit Wolken zugezogen. Die Jungs in der letzten Reihe lassen heimlich eine winzige rote Maus über die Bank laufen. Mila sitzt neben Clara, die auf ihren Block eine Blume malt. Vorne an der Tafel steht Frau Gilcher und schreibt. Die Kreide quietscht, dass es Mila in den Ohren weh tut. Frau Gilcher ist groß und dünn. Sie hat dürre Arme und Beine. Ihre Haare sind schwarz und kleben glatt auf ihrem Kopf. Sie trägt eine Brille mit dicken Gläsern und über einem schlauchartigen Rock eine seltsame Jacke, deren Schöße nach hinten abstehen. Mila beugt sich zu Clara hinüber.

„Frau Gilcher sieht aus wie eine Libelle!“, flüstert Mila. Clara kichert.

Leider hat die Libelle gute Ohren.

„Was hast du gesagt, Mila?“

„Nichts ...“

Clara kann gar nicht aufhören mit Lachen. Sie presst die Hand auf den Mund und prustet. Sie bekommt einen ganz roten Kopf.

„Clara! Was hat Mila zu dir gesagt?“

Clara bleibt das Lachen im Hals stecken.

„Ich höre! Oder willst du eine Strafarbeit?“

„Sie hat gesagt, dass Sie aussehen wie eine Libelle!“, platzt Clara heraus.

Jetzt lacht die ganze Klasse los. Zu Milas Glück entdeckt Frau Gilcher in diesem Augenblick die rote Maus. Die Jungs müssen sie einfangen und bei Frau Gilcher abgeben. Die arme Maus!

„Und nun zu dir, Mila. Du schreibst bis morgen fünfzig Mal den Satz: Niemand ist eine Libelle.“

Das macht mir nichts aus, denkt Mila. Und sie sieht doch aus wie die Libelle in dem Buch! In diesem Augenblick läutet es. Die Schüler springen auf. Frei! Juhu!

Milas T-Shirt klebt an ihrem Rücken. Sie hat es gerade noch nach Hause geschafft, bevor der Regen losprasselt. Kati hatte den Tisch für das Mittagessen schon im Garten gedeckt, auf dem Rasen neben dem Goldfischteich. Jetzt müssen Kati und Mila schnell wieder alles reinholen. Es gibt Pfannkuchen mit Heidelbeeren. Draußen zucken die Blitze, krachen Donnerschläge. Mila hat gar keine Angst.

Später, als sich das Gewitter längst verzogen hat, sitzt Mila am abgeräumten Esszimmertisch und schreibt: Niemand ist eine Libelle. Und dann noch einmal: Niemand ist eine Libelle. So ein blöder Satz! Mila schaut aus dem Fenster. Es hat aufgehört zu regnen. Wenn doch jetzt der blaue Junge angeflogen käme!

Niemand ist eine Libelle. Mila zählt, wie oft der Satz schon da steht. Siebenundzwanzig Mal. Sie zählt noch einmal und kommt auf achtundzwanzig. Niemand ist eine Libelle. Sie hat keine Lust mehr.

Im Wohnzimmer nebenan läutet das Telefon. Mila hört, wie Kati eilig hin läuft. Katis Mutter ist schon alt und lebt in einem Pflegeheim. Manchmal ruft das Pflegeheim an, und dann muss Kati schnell hinfahren.

„Julia!“, ruft Kati erfreut ins Telefon. „Geht es euch gut?“

Mila rennt rüber ins Wohnzimmer. Ihre Mama ist am Telefon! Ungeduldig trippelt sie von einem Bein aufs andere, während Kati spricht. Mila hängt sich an Katis Arm. Endlich gibt ihr Kati den Hörer.

„Mama!“

„Hallo, hallo, mein Schatz!“

Mila hat Sehnsucht nach ihr.

„Oh, es ist wunderbar hier in Paris! Die Menschen lieben unser Konzert! Stell dir nur vor, gestern war alles ganz ausverkauft und es gab zwanzig Minuten lang Applaus!“ Mila fühlt, wie Enttäuschung in ihr aufsteigt. Manchmal ist ihre Mutter so. Sie redet dann ganz schnell. Dabei will Mila viel lieber von sich erzählen!

„Kann ich mit Papa sprechen?“

„Er ist noch bei den Musikern.“

„Um wieviel Uhr kommt ihr morgen?“

„Mila, Liebes, wir spielen morgen Abend noch ein Konzert. Weil das gestern ausverkauft war. Verstehst du?“ Mila sagt nichts und starrt nur auf die gelben Blumen in der blauen Vase.

„Du kannst stolz auf uns sein, mein Schatz!“

Mila wünscht sich, eine Blumenelfe zu sein und in der gelben Blume zu wohnen.

Endlich merkt Mama, dass etwas nicht stimmt.

„Liebes, sei nicht traurig, bitte, bitte. Wir kommen doch schon übermorgen.“

Blumenelfen haben keine Eltern. Sie leben ganz allein und brauchen niemanden.

„Ich bring dir was ganz Schönes mit“, sagt Mama.

Mila legt einfach den Hörer auf den Tisch. Sie geht zum Sofa und lässt sich darauf fallen, vergräbt ihren Kopf im Kissen. Ihre Eltern sind gemein, so gemein! Kati hat den Telefonhörer wieder aufgenommen. Ihre Stimme klingt beruhigend.

„... ist ja nur ein Tag...“, hört Mila sie sagen.

Sie hält sich die Ohren zu. Nachdem Kati den Hörer aufgelegt hat, kommt sie herüber zum Sofa. Sie nimmt Mila in den Arm. Sie sagt kein Wort, sie wiegt Mila nur sanft hin und her, als ob sie noch ganz klein wäre. Mila fühlt, wie Tränen über ihr Gesicht laufen. Kati hält Mila lange fest. Nach einer Weile fühlt Mila sich besser.

„Deine Mama hat dich sehr lieb“, murmelt Kati in Milas Ohr.

Das Telefon läutet wieder. Mila macht sich schnell aus Katis Armen los und läuft hin. Vielleicht ruft Mama noch einmal an. Oder Papa!

„Hier spricht Mila Gold!“, ruft Mila in den Hörer.

Dieses Mal ist es das Pflegeheim. Mila gibt Kati den Hörer. Katis Stimme klingt angespannt. Sie sieht zu Mila hinüber. Mila wischt schnell ihre Tränen ab.

„Ist deine Mutter krank?“, fragt sie, als Kati aufgelegt hat. Kati schüttelt den Kopf.

„Sie ist sehr erschrocken bei dem Gewitter, und jetzt hat sie Angst.“

„Aber das Gewitter ist doch vorbei!“

„Bei alten Leuten ist das so. Wenn sie über etwas erschrecken, können sie sich gar nicht mehr beruhigen. Nur wenn man ihnen Tabletten gibt. Aber zu viele Tabletten sind nicht gesund.“

„Du musst zu ihr fahren!“, sagt Mila entschlossen.

„Aber ich kann dich doch jetzt nicht allein lassen! “

„Ich bin nicht mehr traurig. Mama und Papa kommen nur einen Tag später. Das ist gar nicht so schlimm.“

Mila bemüht sich, fröhlich auszusehen.

„Meinst du wirklich, ich kann kurz zu meiner Mutter fahren?“

„Natürlich, Kati! Ich muss sowieso noch Hausaufgaben machen und Klavier üben."

„Du bist ein Schatz“, sagt Kati. Sie wirkt sehr erleichtert.

„Wenn ich zurück bin, spielen wir im Garten Federball.“

Die Sonne hat den Regen und die Wolken vertrieben. Kati verspricht, in einer Stunde zurück zu sein.

„Fang schon mal an mit deinen Hausaufgaben!“

Hausaufgaben hat Mila für morgen keine auf. Aber sie muss ihre Strafarbeit für Frau Gilcher schreiben. Sie krabbelt unter den Tisch und sucht nach ihrem Füller. Dann setzt sie sich vor ihr Heft. Sie zählt noch einmal, wie oft sie Niemand ist eine Libelle schon geschrieben hat. Neunundzwanzig Mal. Plötzlich hat Mila eine prima Idee.

Der blaue Junge

In Milas Bauch kribbelt es. Sie weiß, dass Kati ihr das nicht erlauben würde. Aber Kati ist mit ihrer klapprigen Ente zum Pflegeheim gefahren.

Plötzlich hat Mila gute Laune. Sie steckt das hellblaue Heft und ihr Federmäppchen in die Schultasche. Die Schulbücher und die anderen Hefte nimmt sie heraus. Dann geht sie in die Küche, um Proviant zu suchen. Sie nimmt sich einen Apfel aus der Obstschale und findet im Schrank einen Schokoriegel. Sie steckt alles in ihre Schultasche und schon ist sie draußen im Garten.

Sie läuft zu ihrem Lieblingsbaum, der Buche, deren Zweige dunkelgrün im Sonnenlicht glänzen und die im letzten Herbst so viele Blätter abgeworfen hat, dass sich die Nachbarn darüber beschwert haben. Den untersten Ast kann Mila nur mit ausgestreckten Armen fassen. Sie umklammert den Ast, stützt sich mit beiden Beinen am Baumstamm ab und hangelt sich so nach oben, bis sie ein Bein über den Ast schwingen kann. Jetzt ist das Schwierigste geschafft. Behände klettert sie weiter in die Baumkrone hinein. An einer Stelle, wo sich zwei starke Äste gabeln, kann man gut sitzen, fast wie in einem Baumhaus. Hier macht Mila es sich bequem.

Goldene Pünktchen aus Sonnenlicht tanzen auf den Blättern. Durch ein Fenster im zweiten Stock kann Mila in ihr Zimmer sehen. Sie sieht, dass Kati aufgeräumt hat. Mila streift sich die Schultasche vom Rücken und nimmt das hellblaue Heft heraus. Sie legt es neben sich auf den Ast. Dann greift sie sich erst mal den Apfel, poliert ihn mit ihrem T-Shirt und beißt hinein. Hmm!

Ein Vogel hat sich weiter vorne auf den Ast gesetzt und betrachtet Mila neugierig. Sie hält ihm ein Stückchen Apfel auf den Fingerspitzen entgegen. Er flattert davon. Mila verspeist genüsslich den Apfel. Sie betrachtet den Schokoriegel, beschließt aber, ihn für später aufzuheben. Dann nimmt sie mit einem leisen Seufzer ihr Heft und schlägt es auf.

Alles wäre wohl anders gekommen, wenn Mila in diesem Augenblick auf die Stimme der Vernunft in ihrem Kopf gehört hätte. Ein Stimmchen ist es, das ihr vorhält, dass man an einem Tisch besser schreiben kann als auf einem Baum, dass sie hier oben für ihre Arbeit doppelt so lange brauchen wird, dass vielleicht Kati zurückkommen und mit ihr schimpfen wird. Das Stimmchen spricht leise, eigentlich wispert es nur, man kann es mit dem Windhauch verwechseln, der in den Blättern säuselt. Mila hört nicht hin.

Stattdessen nimmt sie ihren Füller und zieht die silberne Kappe herunter. Der Wind weht plötzlich heftiger, er fährt in die Seiten von Milas Heft und lässt sie flattern.

Und dann passiert es! Milas Augen werden kreisrund vor Erstaunen. Die rote Fünf, die Frau Gilcher mit Schwung unter Milas Aufsatz gesetzt hat – sie fällt aus dem Heft heraus und landet in Milas Schoß! Sprachlos starrt Mila auf die Ziffer. Vorsichtig tippt sie mit dem Finger dagegen.