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In dieser Geschichte geht es um die junge Katze Minka, die eine Hexenkatze werden will. Auf ihrem weg zu diesem Ziel muss sie viele Hürden meistern, Rätsel lösen, dunkle Magie benutzen und ihre Freunde belügen. Doch zu welchem Preis? Und was erfährt sie auf dieser Reise vorallem über sich selbst? Begleite Minka in eine Welt voller Magie und Zauberei.
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Seitenzahl: 505
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Alle Rechte liegen bei Claudia Heimann
Deutsche Erstausgabe Oktober 2023
©Claudia Heimann
Lektorat: ©Laura-Madeleine Waldenmaier
Korrektorat: ©Nadine Manz │[email protected]
Umschlagillustration und -gestaltung: ©Melanie Korte
Innenillustrationen: ©Melanie Korte
https://melanie-korte.com/
Buchsatz: ©Claudia Heimann
Impressum:
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: tredition GmbH, Abteilung "Impressumservice", Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland. Kurze Ausschnitte dürfen als Zitate
zur Verwendung in Kritiken und Rezensionen verwendet werden.
https://www.claudia-heimann.com
ISBN: 978-3-384-01604-1
Die Autorin
Claudia Heimann schreibt über sich selbst:
Die Idee für Minka flüsterte mein inneres Kind mir zu. Eines Tages wachte ich auf, mein jüngeres Ich saß gefühlt auf der Bettkante und strahlte mich an: „Bist du endlich wach? Ich habe eine tolle Geschichte und du wirst sie schreiben!“
Damit begann meine Reise mit Minka und ich war erstaunt, was alles auf mich zukam.
Ich wünsche mir, dass diese Geschichte die Leser ebenso verzaubert, wie sie auch mich verzaubert hat.
Nur ein Traum?
Minkas rechtes Ohr zuckte kaum spürbar. Was war das für ein Geräusch? Ihr leerer, grummelnder Magen klang jedenfalls anders. Vorsichtig lugte sie aus einem umgefallenen Holzfass hervor und stellte die Schnurrhaare auf. Niemand war zu sehen. Neugier packte sie. Mucksmäuschenstill setzte sie eine Pfote vor die andere: vorbei am roten Backsteinhaus, einem kaputten Blumentopf und dem halb zerfallenen Holzzaun.
„Warte“, flüsterte ein zartes Stimmchen verzweifelt.
Minka blieb stehen. Leichter Regen fiel auf sie herab und sickerte in ihr rot-weißes Fell. Ihre Ohren huschten in sämtliche Richtungen.
Dicke Tropfen platschten von der löchrigen Regenrinne des Hauses in eine Pfütze. Weit entfernt hörte sie eine Eule im Dunkel der Nacht kreischen.
Wieder erklang das fremde Geräusch. Es musste aus dem verwilderten Garten auf der anderen Seite des Zauns kommen.
Minka drehte sich um, ging ein paar Schritte zurück und fädelte sich bei einem lockeren Brett durch den Gartenzaun. Das Gras, welches hier wuchs, war mindestens dreimal so hoch wie sie selbst. Kein Tier wagte es, hierher zu kommen, da Herr Gromhild, der Besitzer des Hauses, sie stets mit geladener Schrotflinte vertrieben und einige Tiere so bereits ins Totenreich befördert hatte. Ein fast perfekter Ort für Minka. Immerhin wurde sie hier von den anderen Katzen in Ruhe gelassen. Selbst in der Nacht wagte sich kaum jemand an diesen Ort. Auch Minka hatte Angst. Wer lässt sich schon gerne von einer Schrotflinte durchlöchern? Aber es gab keinen Platz, an dem sie sich vor ihren Artgenossen sicher fühlte.
Grashalme raschelten.
„Hier drüben!“, hörte sie das Stimmchen ein weiteres Mal flehen.
Minka starrte ins Dunkel. Plötzlich sah sie ein bläuliches Licht am Boden durch das Gras schimmern. Sie spähte nach oben zum Haus der Gromhilds. Das Fenster in Richtung Garten war dunkel. Somit konnte Minka es wagen, in selbigen hineinzuschleichen. Mucksmäuschenstill und behutsam tastete sie sich auf ihren Pfoten voran. Langsam bahnte sie sich ihren Weg durch das dichte Gras zu dem bläulichen Leuchten.
Schließlich, vor der Quelle des Lichts angekommen, blinzelte sie ungläubig. Alle Angst war in diesem Moment aus ihrem Inneren verflogen. Was sah sie da? Einen kleinen, schwach leuchtenden Menschen – nur wenig größer als ihre Pfote. Eine winzige Menschenfrau mit Flügeln lag vor ihr auf dem Boden.
„Bitte, hilf mir!“, klagte das Wesen nun ein drittes Mal.
Minka senkte den Kopf und schnupperte. Die blau leuchtende Frau roch angenehm nach frischem Morgentau. Minka neigte den Kopf zur Seite und stupste sie sanft mit ihrer Pfote. „Etwas wie dich habe ich noch nie gesehen.“
„Bitte, hilf mir. Ich werde verfolgt. Sie sind mir dicht auf den Fersen und ich habe kaum noch Magie. Bitte versteck‘ mich vor ihnen, dann erklär ich dir auch alles. Wir müssen schnell fort von hier“, antwortete sie mit müder Stimme. Ihr Körper zitterte leicht. Ein Windstoß fegte durch das Gras und ließ sie noch einmal erschaudern. „Bitte“, flehte die kleine Menschenfrau ein weiteres Mal. „Sie dürfen mich nicht …“, doch dann verlor sie ihr Bewusstsein.
Nun zuckte Minkas linkes Ohr. Sie hörte das Tröpfeln winziger, von zitternden Grashalmen herabfallender Wasserperlen. Heute Nacht waren die beiden nicht die einzigen Besucher dieses unfreundlichen Gartens. Ihr Gefühl trieb sie an, die Beine in die Pfoten zu nehmen, als wäre der alte Gromhild selbst hinter ihr her.
Unwillkürlich duckte sie sich und versuchte, ihre Angst zu bändigen. Die kleine Frau hatte recht. Sie musste fort von hier. Aber dann bliebe das kleine Wesen zurück, das doch Hilfe brauchte. Würden sie beide fliehen, würde das Leuchten auch beide verraten.
Erneut raschelte es im Gras. Diesmal kam es gleich von mehreren Seiten.
Minkas Herz pochte wie wild in ihrer Brust. Das Herzklopfen raubte ihr den Atem.
Etwas huschte so nah an ihnen vorbei, dass sie einen Windhauch verspürte.
Behutsam nahm sie die kleine Frau in ihr Maul, in der Hoffnung, sie in der Panik nicht auch noch zu verschlucken.
Der Regen wurde stärker. Er trommelte gegen die Fensterscheiben und spritzte in alle Pfützen. Er verschluckte sämtliche Geräusche und ließ prasselnd sein Lied auf die Erde fallen.
Der passende Moment für Minka, sich mitsamt der kostbaren Fracht unscheinbar davonzuschleichen. Erst durch das halb lose Brett im Holzzaun, dann am kaputten Blumentopf und dem roten Backsteinhaus vorbei.
Sie sah sich um. Niemand war ihr gefolgt. Schnell huschte sie hinter das Haus der Gromhilds. Ein Haufen Gerümpel diente ihnen als Versteck. Ein umgefallenes leeres Holzfass war seit einigen Monaten Minkas Zuhause.
Sie streckte den Kopf in das Fass und ließ vorsichtig das kleine Wesen aus ihrem Maul gleiten.
Dann ging sie drei Schritte zurück und schüttelte sich das Wasser aus ihrem Fell.
Anschließend sah sie nach der kleinen Frau. Sie atmete und ihre Flügel zitterten leicht. Ein Glück, sie lebte noch, doch das bläuliche Licht, das von ihr ausging, schien Minka weiterhin zu verräterisch.
Sie rollte sich beschützend ein und umschloss mit ihren Beinen das zarte Ding. Behutsam leckte Minka die kleine Frau weitestgehend trocken. Dabei achtete sie ganz besonders darauf, die zerbrechlich wirkenden Flügel unberührt zu lassen.
Danach legte sie ihren struppigen Schwanz ganz sanft auf das Wesen, damit das Licht verborgen blieb. Minka wollte bis zum Morgengrauen wach bleiben, um über die Fremde zu wachen, doch bald schon wurden ihre Augen schwer und immer schwerer, und irgendwann holte sie der Schlaf ein.
Im Morgengrauen riss Minka ihr Maul auf, streckte ihre Zunge heraus und gähnte ausgiebig. Sie war immer noch müde und öffnete langsam die Augen. Ein seltsamer Traum kam ihr in den Sinn. Der Traum eines kleinen, blau leuchtenden Menschen, der obendrein Flügel hatte. Was für ein Unsinn, ging es ihr durch den Kopf.
Doch dann bewegte sich plötzlich etwas unter ihrem Schwanz. Sie stellte ihr Fell auf und erstarrte vor Schreck.
Eine kleine Menschenhand schob den struppigen Schwanz sanft zur Seite. „Guten Morgen“, wurde Minka nun freundlich von der kleinen Frau begrüßt.
Minka sprang auf und starrte sie überrascht an. „Dann war es doch kein Traum?!“, fragte sie sich selbst. Sie schüttelte ihren Kopf, blinzelte einige Male, doch die blau leuchtende Frau verschwand nicht. Sie saß direkt vor ihr auf dem Boden und wirkte immer noch schwach.
Die kleine Menschenfrau lächelte müde. „Du hast aber schöne Augen. Ich bin Minella.“
Minka setzte sich. „Miii-nelll-laaa“, wiederholte sie laut und etwas gedehnt. Zudem konnte sie die Bemerkung über ihre Augen kaum ernst nehmen, die unterschiedliche Farben hatten. Und das sollte ‚schön‘ sein.
„Ja, genau“, antwortete die kleine Menschenfrau und unterbrach ihre Gedanken. „Gefällt dir mein Name?“
Minka riss erschrocken die Augen auf. „Heißt das etwa, du verstehst, was ich sage?“
„Ja, natürlich. Schließlich bin ich eine Fee. Es tut mir leid, dass wir uns unter diesen widrigen Umständen kennengelernt haben. Wie heißt du, wenn ich fragen darf?“
Minka starrte sie fassungslos an. Erst nach einigen Sekunden der Stille fand sie ihre Stimme wieder. „I-ich b-bin Minka“, stotterte sie.
Minella räusperte sich, rappelte sich auf und machte einen reizenden Feenknicks vor ihr. „Danke, Minka. Danke, dass du mir das Leben gerettet hast.“
Minka schaute verlegen auf den Boden. „Dir das Leben gerettet? Übertreibst du da nicht etwas?“
„Nein“, antwortete Minella ernst und setzte sich wieder. „Schatten waren hinter mir her. Und Schatten sind dafür bekannt, dass sie niemanden am Leben lassen, wenn sie erst mal ihre Beute erwischt haben.“
„Schatten?“ Minka war verwirrt. Wie konnten Schatten gefährlich sein?
„Ja, Schatten. Beschworene Kreaturen, die verschiedene Gestalten annehmen können und nur im Dunkeln wandeln.“
Minka hörte, was die Fee sagte, doch wie sollte sie all das glauben können? Träumte sie vielleicht immer noch? Vorsichtig biss sie sich auf die Zunge. Autsch!, sie verzog leicht das Gesicht, gab aber keinen Mucks von sich. Das hier war definitiv kein Traum. „Was sind denn beschworene Kreaturen? Und warum waren sie hinter dir her?“
Die Fee gähnte ausgiebig und rieb sich die Augen. „Du hast von der magischen Welt wohl keine Ahnung, oder? Weißt du denn überhaupt etwas?“
Minka nickte. „Ich weiß, dass es Hexen gibt und dass sie Hexenkatzen haben. Einmal kam eine Hexe durch die Stadt. Ich hörte von den anderen, dass nur Hexenkatzen ein schwarzes Fell und leuchtend grüne Augen bekommen. Als Hexenkatze bist du etwas Besonderes und keiner würde es auch nur wagen, dich zu ärgern.“ Sie seufzte und setzte hinzu: „Wie schön wäre es, eine Hexenkatze zu sein.“
„Ach ja?“, fragte die Fee. „Was hält dich davon ab?“
Minka setzte einen skeptischen Blick auf. „Na, ich wüsste gar nicht, wie ich eine Hexenkatze werden kann.“
Minella verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich verstehe. Was, wenn ich dir da weiterhelfen kann?!“
Minka wandte sich von ihr ab. „Wie willst du mir denn helfen können? Du kannst dir ja kaum selbst helfen. Und wie sollte eine zerzauste Katze wie ich jemals eine Hexenkatze werden?“
„Wer sagt denn, dass du keine werden kannst? Du hast selbst gesagt, dass Hexenkatzen ein schwarzes Fell bekommen. Und das stimmt auch. Wenn sie die Hexenkatzenschule erfolgreich bestanden haben, bekommen sie ein schwarzes Fell, grüne Augen und dürfen sich eine Hexe oder einen Druiden aussuchen, bei dem sie leben wollen.“
„Einen Druiden? Gibt es dann auch Druidenkatzen?“
Minella kicherte. „Aber nicht doch. Nicht alle Druiden haben eine Katze. Manche Leben mit anderen Tieren oder auch mit Feen. Einige unter ihnen haben gar keinen Begleiter. Doch eine Hexe ist nie lange allein unterwegs. Deshalb hat sich die Bezeichnung Hexenkatze eingebürgert.“
Minka dachte nach. „Warum ist das bei Hexen anders als bei Druiden?“
Die Fee runzelte die Stirn. „Also, soweit ich das weiß, sind Hexen meist geselliger als Druiden. Viele Druiden streifen allein durch die Welten. Und so, wie mir es beigebracht wurde, können Druiden auch von normalen Tieren und Pflanzen Magie beziehen. Mit Hexenkatzen oder Feen geht das allerdings einfacher. Meine Theorie ist aber, dass Frauen besser dafür geeignet sind, die Geschicke der Welt zu lenken. Weshalb sonst liegt diese Aufgabe überwiegend bei den Hexen? Womöglich haben sie schlichtweg das nötige Feingefühl.“
„Das macht Sinn, ja.“ Abgesehen davon hatte Minella mit dem Teil eine Hexenkatze zu werden nicht ganz unrecht. Ihr zerzaustes Erscheinungsbild würde mit der Verwandlung in eine Hexenkatze vermutlich verschwinden. Die Aussicht auf ein festes Dach über dem Kopf und keine Futtersorgen mehr war ebenfalls sehr verlockend. „Und wie könntest du mir helfen?“
„Ganz einfach, indem du mir hilfst. Ich muss zu einer befreundeten Hexe. Sie lebt hinter der Stadt in einem Wald. Doch ich bin immer noch schwach. Die Flucht vor den Schatten hat beinahe meine ganze Magie aufgebraucht. Ich kann mich nicht lange unsichtbar machen und schaffe den Weg nicht, ohne entdeckt zu werden. Wenn du mich zu ihr bringst, kann sie dir bestimmt dabei helfen, eine Hexenkatze zu werden.“
Minka schaute gebannt zu Minella. Sie hatte vielleicht die Chance, eine waschechte Hexenkatze zu werden und von hier fortzukommen. Keiner würde sie mehr ärgern und jagen. Alles, was sie dafür tun musste, war, Minella zu einer Hexe zu bringen. Wie schwierig konnte das schon werden?!
Ein Grummeln erfüllte das Fass. Minkas Magen meldete sich zu Wort. Seit drei Tagen hatte sie nichts zu essen auftreiben können.
„Kann es sein, dass du Hunger hast?“ Minella schaute sie fragend und mitfühlend zugleich an.
Minka nickte. „Schon seit ein paar Tagen. Der ständige Regen macht die Futtersuche auch nicht leichter. Die Menschen sind bei Regenwetter ungern draußen.“ Sie seufzte, ging ein paar Schritte an der Fee vorbei und schaute aus dem Versteck: „Aber heute scheint das Wetter besser zu sein.“ Sie streckte die Nase in die Luft und schnupperte, als ein Windstoß zwischen den Häusern an ihr vorbei pfiff. Sie roch geräucherten Fisch, getrocknetes Fleisch und verschiedenes Geflügel. Verträumt wandte sie sich wieder der Fee zu. „Heute ist Markt. Vielleicht habe ich Glück und finde dort etwas. Aber wenn die anderen Katzen mich erwischen …“ Sie wagte kaum daran zu denken, was dann mit ihr geschehen würde.
„Was passiert dann?“, hakte Minella nach.
Minka stieß einen tiefen Seufzer aus. „Sie mögen mich nicht. Warum, weiß ich selbst nicht so genau. Sie tun das, was Bartos ihnen sagt. Und Bartos ist der Anführer der Katzen in dieser Stadt. Er hat mir nur allzu deutlich befohlen, mich nicht mehr blicken zu lassen.“
Minella stemmte die Hände in ihre Hüften. „Versprichst du mir, dass du mich zu Ravella bringst, helfe ich dir, etwas zu essen zu bekommen. Mit Bartos werden wir schon irgendwie fertig. Allerdings darf niemand erfahren, wohin wir unterwegs sind. Was sagst du dazu?“
Minka schaute sie fragend an. „Und wie willst du das anstellen?“
Minella grinste. „Lass mich das nur machen. Das ist doch das Mindeste, was ich für dich tun kann. Schließlich hast du mir das Leben gerettet.“ Gähnend streckte sie sich. „Aber lass mich noch ein kleines Nickerchen machen. Danach können wir los.“
Frischer Fisch
Minkas Ohren huschten unentwegt von einer Seite zur anderen. Ihre Augen suchten jeden Spalt und jede Nische ab, in der sich eine Katze hätte verstecken können. Auf keinen Fall wollte sie Bartos oder einer der anderen Katzen in die Pfoten laufen, die mit ihm befreundet waren.
Sie schlich von einem Blumentopf zu Holzkisten, Bänken, Karren und lief auch ein Stückchen neben einer Kutsche her, die durch die vielen Menschen auf den Straßen gezwungen war, dicht an den Häusern entlang zu fahren.
Unmittelbar vor dem Marktplatz, versteckt zwischen einer Hauswand und einem Regenfass, blieb Minka stehen. Ein großes Grasbüschel, das hier wuchs, machte ihr Versteck perfekt.
„So weit so gut. Und was schlägst du nun vor?“, flüsterte sie Minella zu, die dicht neben ihr flog.
Tagsüber war das Leuchten der Fee so schwer zu erkennen, dass zumindest die Menschen Mühe hatten, sie überhaupt zu sehen. Bei Tieren war das schon etwas anderes.
„Was hättest du denn gerne?“, wollte Minella wissen.
Minka schaute zu den Ständen, die nicht weit weg waren. Je schneller sie sich wieder verstecken konnte, umso besser. „Der Stand da drüben hat frischen Fisch aus dem Fluss.“ Sie streckte die Nase in die Luft und schnupperte. Das Wasser lief ihr im Maul zusammen. „Der duftet immer so lecker.“
Minella flog ein Stück an Minka vorbei und wandte sich dann zu ihr um. „Also, hör‘ zu. Ich werde diesen Menschen verzaubern. Sobald ich das getan habe, wird er in deine Richtung schauen und dir einen Fisch entgegenstrecken. Dann weißt du, dass du aus deinem Versteck kommen kannst.“
Minka setzte sich. „Bist du dir auch wirklich sicher? Ich weiß, dass Bartos und seine Bande hier herum schleichen. Das tun sie immer, wenn Markt ist. Ich würde es echt gerne vermeiden, ihnen in die Pfoten zu laufen.“
„Mach dir keine Sorgen.“ Minella flog zu Minka und streichelte ihr über die Nase. „Der Händler wird sie verjagen, wenn sie in deine Nähe kommen. Und anschließend gehen wir sowieso zu Ravella und du wirst diese Rabauken vermutlich so schnell nicht mehr zu Gesicht bekommen.“
Minka seufzte. Sie schielte, als sie Minella vor ihrer Nase in die Augen schaute. „Also gut. Du hast recht. Ich muss einfach nur daran denken, dass ich eine Hexenkatze werden kann.“
„Ganz genau.“ Minella lächelte. „Dann pass jetzt mal gut auf.“
Plötzlich wurde die Fee durchsichtig, und im nächsten Augenblick war sie verschwunden. „Achte du nur auf den Händler“, hörte Minka die Stimme der Fee noch rufen. Dann war nichts mehr von ihr zu hören.
Aufmerksam beobachtete sie den Mann. Mit einem Mal schaute er verwirrt um sich. Anschließend stand er wie erstarrt da. Wenige Augenblicke später schielte er zu dem Regenfass hinüber und nickte kurz. Dann suchte er sich einen der dicksten Fische aus und streckte ihn in Minkas Richtung.
Minka war verblüfft. Wie viel Magie wohl nötig war, um einen Menschen zu verzaubern? Mut stieg in ihr auf und der Gedanke, Bartos in die Pfoten zu laufen, war plötzlich wie weggeblasen.
Nun vollständig aus ihrem Versteck gelockt, rief der Fischverkäufer lächelnd ihren Namen.
Minka freute sich auf den Fisch und konnte es kaum erwarten, als ein nur allzu vertrautes Gesicht vor ihr auftauchte.
Bartos stellte sich ihr in den Weg.
Minka erstarrte und riss panisch die Augen auf. Sie spürte, wie sich jedes Haar an ihrem Körper aufstellte.
„Minka, Minka, Minka …“, begann Bartos. „Ich hätte nicht gedacht, dass du so dumm bist und dich noch mal hierherwagst.“ Er war mindestens einen Kopf größer und seine gelben Augen verrieten nichts Gutes, als sie auf Minka herabblickten und sie durchbohrten.
„Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?“, wagte sie es, ihn kleinlaut zu fragen.
„Das weißt du immer noch nicht? Du bist …“
„Verschwinde, du räudiges Mistvieh!“, brüllte der Händler und warf seinen Schuh nach Bartos. Erfolgreich traf er ihn an dessen Hinterteil.
„Das wirst du mir büßen, Minka“, rief Bartos ihr noch zu, während er floh und zwischen den Marktständen verschwand.
Minka stand da wie angewurzelt. Ihr Herz pochte. Erst der Geruch des Fisches, den der Mann ihr direkt vor die Pfoten legte, löste sie aus ihrer Starre.
Er lächelte ihr zu. „Lass ihn dir schmecken und richte Ravella einen schönen Gruß von mir aus.“ Dann drehte er sich um und kümmerte sich wieder um seine Kundschaft.
Minka sah sich kurz um, schnappte den Fisch und huschte zurück zum Regenfass.
Am liebsten hätte sie dieses Festmahl genossen und sich Zeit dafür genommen, doch sie hatte Angst, dass Bartos oder einer seiner Lakaien sie finden und ihr nicht einfach nur den Fisch stehlen würden. Also verschlang sie ihn, so schnell sie nur konnte.
„War das eben Bartos?“, fragte Minella, die plötzlich neben ihr auftauchte.
Minka fiepte kurz auf und drückte sich gegen die Hauswand. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die Fee. „Hast du mich erschreckt“, platzte es aus ihr heraus. Sie seufzte, um die Anspannung in ihrem Körper zu vertreiben. „Ja, das war er.“
„Entschuldige, dass ich dich erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Bitte iss weiter.“
Nachdem sich Minka wieder beruhigt hatte, aß sie den Rest des Fisches auf. Nur der Kopf, die Flossen und die Gräten blieben übrig. Mit vollem Bauch fing sie an, sich zu putzen.
„Ist er eigentlich dein Vater?“, wollte Minella wissen.
Minka lachte trocken. „Nein, nein. Aber das dachte ich auch mal.“
„Das wundert mich nicht.“ Minella setzte sich auf den Boden. „Seine Augen sind genauso gelb wie dein linkes. Und deine rotbraun gestreiften Fellflecken sehen wie sein gesamtes Fell aus. Die gleiche Farbe und genauso langhaarig. Nur deine weißen Flecken sind kurzhaarig. Das ist schon sehr ungewöhnlich.“
„Ja, ist es.“ Minka seufzte. „Jedes Mal, wenn ich mich in einer Pfütze oder einer Fensterscheibe sehe, könnte ich losheulen. Und als wäre die unterschiedliche Felllänge nicht schon genug, ist auch noch mein rechtes Auge auf der weißen Seite meines Kopfes blau und nicht gelb. Ich weiß echt nicht, warum ich so gestraft bin.“
Minella verschränkte die Arme vor der Brust. „Und warum mögen die anderen Katzen dich nicht? Vor allem dieser Bartos scheint ja nicht gerade der netteste Zeitgenosse zu sein.“
Minka leckte sich die letzten Fischreste von der Pfote. „Das weiß ich auch nicht. Vorhin wollte er mir etwas sagen, doch dann traf ihn bereits der Schuh des Händlers.“
Minella lachte. „Ja, das war ein Volltreffer.“
Auch Minka musste lachen. „Ja, das stimmt. Das hat er sich wirklich verdient.“
Als sie sich fertig geputzt hatte, bahnte sie sich erneut ihren Weg durch die Straßen. Wieder suchten ihre Augen alles ab und ihre Ohren zuckten wild von links nach rechts.
Minellas Zauber musste sie ihre letzten Kräfte gekostet haben, denn sie hatte Minka gebeten, auf ihr reiten zu dürfen.
Bereits drei Querstraßen weiter hörte Minka ein verdächtiges Geräusch hinter sich.
„Zwei Katzen folgen uns“, flüsterte Minella ihr zu.
Minka beschleunigte ihren Schritt. Immer mehr Katzen hefteten sich an ihre Pfoten, bis sie schließlich panisch zu rennen begann. Da waren bestimmt zwanzig Katzen hinter ihr her. Allesamt vermutlich sogenannte Freunde von Bartos.
Fast hatten die anderen Katzen sie eingeholt, als sie plötzlich langsamer wurden. Ging etwa allen gleichzeitig die Puste aus? Doch Minka war das eigentlich egal. Sie rannte weiter. Jetzt musste sie nur noch um eine Ecke. Dann würde sie die Brücke über den Fluss erreichen, die aus der Stadt führte.
Kaum war sie auf der Brücke, hielt sie abrupt an und stolperte fast über ihre Pfoten. Beinahe wäre sie in den dicken Bartos gedonnert. Entsetzt wich sie zurück. Hinter ihm standen fünf weitere Katzen, die ihr den Weg versperrten. Die Meute, die sie verfolgt hatte, war auch längst hier. Sie war umzingelt.
„Minka, Minka, Minka …“, begann Bartos erneut. Dann riss er die Augen auf und wandte sich an die anderen. „Seht ihr die Fee auf ihrem Rücken? Habe ich es euch nicht gesagt? Sie ist das Kind eines Dämons. Wieso sollte sie sich sonst mit einer Fee herumtreiben?“
Die anderen pflichteten ihm lautstark bei. Ein ohrenbetäubendes Katzengejaule erfüllte die Straßen.
Bartos sah Minka in die Augen, während sich sein Fell in alle Richtungen aufstellte.
Minka kauerte sich zusammen. Ihr ganzer Körper zitterte vor Angst. „Ich bin kein Dämon“, sagte sie wimmernd. „Lasst mich doch einfach gehen. Ihr werdet mich nie wieder sehen.“
„Damit du Unheil in der Welt anrichtest? Nein, ganz bestimmt nicht“, fauchte Bartos sie an. „Genau hier bist du vor einem halben Jahr aufgetaucht. Nebel stieg aus dem Fluss empor und kroch über die Brücke. Und als er sich verzog, lagst du auf dem Boden. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Seit du hier bist, regnet es öfter. Du bist nicht nur das Kind eines Dämons, sondern auch verflucht. Sieh dich doch nur an. Und solange du lebst, wird dieser Fluch auf unserer Stadt liegen.“
Minka sah in seinen Augen puren Hass und Abscheu. So hatte er sie noch nie angesehen. Ihr Herz pochte so wild, dass es kurz davor war, aus ihrer Brust zu springen.
Plötzlich verdunkelte sich der Himmel. Nebel stieg vom Fluss auf und hüllte die Brücke damit ein. Verwirrtes Maunzen erklang.
„Lasst euch nicht in die Irre führen“, brüllte Bartos. Er klang auf einmal so nah.
Plötzlich baute sich eine dunkle Gestalt vor Minka auf. Sie erstarrte. Eine Tatze mit messerscharfen Krallen zeigte sich im Nebel. War das ihr Ende? Doch dann hörte sie ein Krächzen.
Kurz darauf flog ein Rabe auf die Gestalt zu und warf sie zu Boden.
„Lauf, Minka“, drängte Minella. „Lauf aus der Stadt, so schnell du kannst.“
Das musste man ihr nicht zweimal sagen. So schnell sie ihre Beine trugen, rannte sie los. Drei Mal versperrte ihr eine der Katzen den Weg, doch der Rabe kam ihr stets zu Hilfe.
Selbst als die Brücke längst hinter ihr lag, wollte sie nicht stehen bleiben. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter und ihre Sicht verschwamm. War sie wirklich das Kind eines Dämons? War sie vielleicht selbst einer? Wo kam der Nebel plötzlich her? Und was war an einer Fee so schlimm? Minella schien freundlich und hilfsbereit zu sein.
„Minka, pass auf!“, warnte die Fee.
Doch es war zu spät. Minka rannte quer über den Friedhof und steuerte geradewegs auf ein ausgehobenes Grab zu. Sie versuchte, rechtzeitig stehen zu bleiben, doch sie stolperte und stürzte. Bis sie unten ankam, überschlug sie sich zwei Mal. Sie spürte einen harten Schlag auf ihren Kopf. Dann war alles schwarz um sie herum.
Nur ein Schatten
„Minka! Minka, mach die Augen auf.“
War das nicht eben Minellas Stimme? Langsam öffnete Minka die Augen.
„Oh, Neflar sei Dank, du lebst.“ Minella wirkte erleichtert. Tränen flossen über ihre Wangen. „Kannst du aufstehen?“
Minka schüttelte noch leicht benommen ihren Kopf, um vollständig zu sich zu kommen. „Ich versuch‘s.“ Vorsichtig rappelte sie sich auf. „Autsch!“, schrie sie auf, als sie versuchte, das linke vordere Bein zu belasten.
„Was ist? Hast du dir wehgetan?“ Minellas Stimme war mit Besorgnis erfüllt.
„Mein linkes Bein. Es tut so weh.“ Minka schluchzte. „Ich glaube, du musst allein weiter. Lass‘ mich einfach zurück.“ Sie kauerte sich zu einem kleinen zitternden Häufchen zusammen und legte ihren struppigen Schwanz dicht an ihren Körper. Sie war bereit, ihren großen Traum vom Leben als Hexenkatze aufzugeben.
„Du glaubst doch nicht, dass ich dich hier zurücklasse. Komm schon. Bis zum Wald ist es nicht mehr weit. Ravella wird dein Bein wieder heilen. Das verspreche ich dir.“
Minka reagierte nicht und vergrub den Kopf in ihrem Fell.
„Minka, bitte. Wir haben schon Abend. Bald wird es dunkel und dann werden die Schatten wieder auftauchen.“
Minka blieb still. Alles, was sie von sich gab, war ein leises Schluchzen.
Dann ertönte ein lautes, energisches Krächzen.
Minka schaute vor Schreck nach oben.
Ein Rabe saß oberhalb des Grabes und blickte auf sie herab.
„Minka, ich glaube, das ist der Rabe, der uns vorhin geholfen hat.“
Konnte das sein? Aber wieso sollte ausgerechnet ein Rabe ihr helfen?
Wieder krächzte er und flatterte dabei mit den Flügeln.
„Willst du etwa auch, dass ich weitergehe?“, fragte Minka ihn.
„Krääääh, krääääh“, bekam sie von ihm zur Antwort.
Sie sah sich um. Das Grab, in das sie gestürzt war, war tief. Nie im Leben würde sie es dort allein wieder hinaus schaffen. Schon gar nicht mit einem verletzen Bein.
„Und wie soll ich hier wieder heraus kommen?“, fragte sie den Vogel. Sie rappelte sich erneut auf und versuchte nun, mit drei Beinen aus dem Grab zu klettern – vergebens.
Nach einigem schmerzerfüllten Maunzen gab sie auf.
Der Rabe krächzte und flog zu ihr herab. Er packte sie im Genick und schaffte es gerade so, sie aus dem Loch zu bekommen. Dann setzte er sie auf dem Boden ab, ließ los und flog davon.
Minka stand da wie begossen. „Was war denn das gerade?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete ihr Minella. „Doch lass uns jetzt weitergehen. Wir müssen vor Anbruch der Nacht unbedingt den Wald erreichen.“
Die Sonne war bereits kurz davor, den Boden zu berühren, als Minka endlich die beiden Felsen erblickte, zwischen denen der Weg in den Wald führte. Mit ihrem verletzten Bein konnte sie nur humpeln.
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als die Steinwände immer höher wurden. Doch es lag nicht an ihnen. Sie witterte instinktiv Gefahr.
„Lauf, Minka!“, hörte sie Minella rufen. „Lauf! Dort drüben ist ein Schatten. Versuch, nur dort zu laufen, wo die Sonne den Boden berührt.“
Minka sammelte ihre letzten Kräfte und beschleunigte ihren Schritt. Überall im dichten Gestrüpp hörte sie es auf einmal rascheln. Sie sah, wie Minella bereits den schützenden Wald erreicht hatte und ihr ermutigend zurief. Doch was sie genau sagte, konnte Minka nicht verstehen. Zu laut pochte der Schmerz durch die Knochen bis in ihre Ohren.
Endlich hatte auch sie den Waldrand mit ihrer Vorderpfote erreicht, als an ihrem linken Hinterbein gezerrt wurde. Sie schrie auf, stürzte und versuchte, sich mit aller Macht nach vorne zu bewegen – erfolglos.
Minella zog an ihrer Vorderpfote, doch wie hätte das ausreichen sollen?
Minka drehte ihren Kopf nach hinten.
Vor ihr bäumte sich eine dunkle Kreatur auf. Ein größerer Stein erschuf genug Dunkelheit, damit ein Schatten sich manifestieren konnte.
„Ahhh, Minellaaaa. Hilf mir! Was soll ich tun?“, schrie Minka verzweifelt.
Der Schatten zog sie immer näher zu sich.
Plötzlich sah Minka etwas Schwarzes im Himmel. Ein Rabe flog mit rasanter Geschwindigkeit auf den Schatten zu. Im nächsten Moment stieß er ihn nach vorne zu Minka.
Der Schatten glitt über sie hinweg und als er über die Grenze des Waldes kam, zerbarst er in tausend kleine Fetzen, die in der Luft verglühten.
Minka ignorierte die Schmerzen in ihrem Bein und kroch hinter den ersten Baum, so schnell sie nur konnte. Völlig erschöpft blieb sie auf dem Boden liegen.
„Gönn dir erst mal eine Pause, Minka.“ Minella streichelte ihr sanft über die Nase. „Hier sind wir sicher. Wie du gesehen hast, sind die Schatten nicht mächtig genug, um in Ravellas Wald einzudringen.“
Minka hörte zwar, was die Fee sagte, doch sie war zu müde, um zu antworten. Ihr Bein pochte vor Schmerz, aber selbst das schien im Moment nicht wichtig. Die Müdigkeit, die schon seit einer ganzen Weile in ihren Gliedern steckte, kam nun zum Vorschein und schlug mit voller Wucht zu.
Zuhause bei einer Hexe
„… einfach unsichtbar gemacht … gesagt, dass … dir komme. Danach … ohne zu zögern, den Fisch … er … was gut bei dir.“
War das nicht eben Minellas Stimme? Mit wem redete sie nur? Minka blinzelte noch leicht benommen, entschied dann aber, die Augen vorerst zuzulassen.
„… ist gut … nie gedacht … so viel durchmachen müsst … hierher zu gelangen. Gut … Callidus geschickt…“
Minkas linkes Ohr zuckte. Das eben war sicher nicht Minellas Stimme. Außer, sie war von jetzt auf gleich stark gealtert. „Wer ist das?“, murmelte sie vor sich hin.
„Ich … froh, dass du … leicht überzeugen … mit dir zu kommen. Das macht vieles leichter. Bist … wirklich sicher …“
„Schhhh … ist wach“, erklang nun auch eine männliche Stimme.
Plötzlich war alles still. Nur das Knistern von brennendem Holz war zu hören. Der dezente Rauchgeruch eines Feuers hing in der Luft.
Dann hörte Minka, wie ein Stuhl über einen Holzboden schabte, woraufhin auch schon eine Tür aufging. Schritte erklangen und wurden immer lauter. Der wohlige Duft von Morgentau stieg ihr in die Nase. Sie öffnete benommen die Augen und sah Minella direkt vor sich.
Die Fee kam dicht an sie heran und streichelte ihr über die Nase. „Wie geht es dir?“
„Ich fühle mich irgendwie seltsam.“ Minka sah sich um. Sie war in einem fremden Haus und lag auf einer weichen Decke. Hinter ihr brannte ein Feuer im Kamin und vor ihr, in einem Sessel, saß eine alte grauhaarige Frau. War das etwa die Hexe, von der Minella gesprochen hatte? Aber wie war sie hierhergekommen? Dann fiel ihr Blick auf zwei leuchtend grüne Augen. Neben der Frau saß eine schwarze Katze auf der Lehne des Sessels. Minka stockte der Atem: eine Hexenkatze.
Alle drei sahen sie lächelnd an.
Minella zeigte auf die Frau. „Das ist Ravella, die Hexe, von der ich dir erzählt habe.“ Dann zeigte sie auf die Katze. „Und das hier ist ihr Hexenkater Callidus.“
„Hallo, Minka“, begrüßte Ravella sie. „Tut es dir irgendwo weh?“
Minka stutzte. Hatte sie ihr gerade eine Frage gestellt?
„Schon gut, Minka, du kannst ihr antworten. Hexen können Katzen verstehen“, erklärte ihr Minella.
Minka sah an sich hinab. Erst jetzt bemerkte sie, dass ihr linkes Bein dick mit einer Stoffbinde eingewickelt war. Vorsichtig versuchte sie, es zu bewegen. Alles, was sie spürte, war ein dumpfes Gefühl. Sie setzte sich auf und sah zu Ravella. „Nein, es tut nichts weh, aber es fühlt sich seltsam an.“
Ravella nickte. „Das ist normal. Ich habe dir etwas gegen die Schmerzen gegeben. Dein Bein ist gebrochen. Ich musste es schienen.“ Sie stand auf, ging zu einem Schrank und holte ein Glasfläschchen heraus.
Danach bückte sie sich zu Minka hinunter. „Mach doch bitte mal deinen Mund auf. Ich habe hier etwas für dein gebrochenes Bein. Einen Trank, der deine Knochen schneller heilen lässt.“
Minka blickte flüchtig zu Minella, die nur mit dem Kopf nickte. Daraufhin wandte sie sich Ravella zu und öffnete den Mund.
„Das machst du sehr gut, Minka“, lobte die Hexe. „Und jetzt streck deine Zunge bitte weit heraus. Du brauchst nur ein paar Tropfen davon.“
Minka tat, was die alte Frau von ihr wollte und streckte die Zunge so weit heraus, wie sie nur konnte.
Ravella tropfte ihr ein klein wenig davon in den Rachen. „Und jetzt musst du es hinunterschlucken. Versuch nicht, es wieder auszuspucken. Ich weiß, dass es kein Gaumenschmaus ist.“
Als sich ein undefinierbarer Geschmack auf Minkas Zunge ausbreitete, hatte sie alle Mühe, nicht zu würgen. Sie schaffte es gerade so, dieses nach Holz, bitterem Laub, stinkenden Pilzen und fauligen Beeren schmeckende Gebräu hinunter zu schlucken. Angewidert ließ sie den Mund offen, sodass die Zunge ein Stückchen heraus schaute.
Ravella streichelte ihr über den Kopf. „Diese Nachricht hörst du jetzt vermutlich nicht gerne, aber das werde ich dir dreimal am Tag geben müssen.“
Minka schaute sie entsetzt an. Sie sollte dreimal am Tag dieses widerwärtige Zeug schlucken?
„Du musst natürlich nicht“, fuhr Ravella fort. „Aber wenn du dein Bein auf normale Weise heilen lassen willst, wirst du mindestens zwei Wochen die Schiene tragen müssen, wenn nicht noch länger. Schluckst du hingegen tapfer meinen Zaubertrank, kannst du in nur drei Tagen wieder herumtollen.“ Sie sah Minka tief in die Augen. „Und? Was ist dir lieber? Möchtest du in drei Tagen wieder richtig laufen können?“
Minka brauchte gar nicht lange zu überlegen. Für mindestens zwei Wochen nicht richtig laufen zu können, kam ihr viel zu lange vor. Zögerlich nickte sie.
Ravella klatschte in ihre knöchrigen Hände. „Sehr gut. Dann ist es entschieden.“ Sie blickte zu ihrem Kater. „Callidus, könntest du Knochenpilze für mich suchen? Ich habe die letzten verbraucht und die heutige Nacht sollte genau richtig für sie sein.“
„Kann ich machen“, antwortete er.
„Bring einfach so viel mit, wie du findest.“
Minka erstarrte verblüfft, als sich Callidus vor ihren Augen verwandelte. Sein schwarzes Fell wurde zu Gefieder, die Vorderbeine zu Flügeln und aus seinem Gesicht wuchs ein Schnabel hervor. Nach der Verwandlung hatte er nichts mehr von einer Katze an sich. Er war zu einem echten Raben geworden.
Callidus schnappte sich einen kleinen Korb und flog auf das Fenster zu, welches sich wie von Zauberhand öffnete und wieder verschloss, sobald er hindurch geflogen war.
Ravella grinste: „Also, Minka, du hast bestimmt Hunger.“ Sie ging in eine Ecke des Zimmers und holte ein kleines Schälchen. Dieses stellte sie Minka direkt vor die Nase. „Das ist Fisch aus dem Fluss mit ein paar Kräutern. Aber keine Angst, das schmeckt gut. Zumindest laut Callidus. Damit kommst du schnell wieder zu Kräften.“
Minka schaute erst zu Ravella, dann zu Minella und anschließend auf das Schälchen. Vorsichtig schnupperte sie daran. Es roch hauptsächlich nach Fisch. Die Kräuter rundeten zumindest den Geruch ab. Sie nahm einen Happen in den Mund und ein angenehmer Geschmack verteilte sich darin. Es war wirklich lecker. Und dieses Mal konnte sie sich alle Zeit der Welt lassen, um das Essen zu vertilgen. Kein Bartos oder einer seiner Freunde würden sie dabei stören. Sie fühlte sich hier zwar fremd, doch gleichzeitig sicher und beschützt.
Nachdem sie alles aufgegessen hatte, wurde sie schläfrig. Gähnend streckte sie die Zunge heraus und rollte sich wieder ein.
Sanftes Morgenlicht schien durch das Fenster und erhellte den Raum.
Minka blinzelte ein paar Mal, bevor sie die Augen zur Gänze aufschlug. Sie lag auf der Seite und streckte im Liegen ihre Pfoten weit von sich. „Aua.“ Schmerzhaft wurde ihr bewusst, dass ihr linkes Bein verletzt war.
Minella, die neben ihr auf der Decke lag, zuckte mit einem kurzen „Ah“ zusammen und schreckte auf. „Minka, ist alles in Ordnung?“
„Oh, guten Morgen, Minella“, begrüßte sie Minka. „Ja, alles gut. Ich habe nur vergessen, dass mein Bein verletzt ist.“ Auf drei Beinen rappelte sie sich auf und wölbte ihren Rücken zu einem Buckel. Dann streckte sie abwechselnd eines ihrer Hinterbeine in die Länge und setzte sich im Anschluss hin.
Sie schaute um sich. So sah es also im Haus einer Hexe aus: Seltsame Pflanzen wuchsen in Blumentöpfen und fremde Gerüche mischten sich in der Luft. Zudem wunderte sie sich über einen kleinen, ja geradezu winzigen Sessel mit passendem Tisch, die beide neben dem Kamin standen. Niemals hätte Ravella in den Sessel hinein gepasst. Wozu er wohl diente? Doch sie dachte nicht lange darüber nach, denn schließlich wirkte hier alles seltsam auf sie.
Nachdem sie sich umgesehen hatte, wandte sie sich zur Fee. „Minella, wie bin ich eigentlich hierher gekommen? Ich kann mich nicht erinnern.“
Minella streckte sich und gähnte: „Woran kannst du dich denn überhaupt noch erinnern?“
Minka überlegte: „Da war diese dunkle Kreatur …“
„Ein Schatten“, unterbrach Minella.
Minka stutzte. „Das war ein Schatten?“
„Ja. Ich sagte ja, dass sie verschiedene Gestalten annehmen können. Und du hattest Glück. Das war nur ein kleiner.“
Minka nickte. „Nur ein kleiner also. Na, meinetwegen. Ich weiß noch, dass uns ein Rabe geholfen hat, der … warte mal. Diese Hexenkatze gestern …“
„Callidus, meinst du?“, unterbrach Minella erneut.
Wieder nickte Minka. „Ja, genau. Hat er uns die ganze Zeit geholfen?“
„Ja, das habe ich“, erklang eine fremde Stimme hinter Minka.
Ein eiskalter Schauer überzog ihren Rücken und sorgte dafür, dass sich ihre Haare aufstellten.
Dann trat Callidus in ihr Sichtfeld. „Guten Morgen, Minka. Ich hatte gestern keine Gelegenheit mehr, mich mit dir zu unterhalten. Als ich wieder zurückkam, schliefst du bereits tief und fest.“
Minka schaute ihn verlegen an. „Danke, dass du uns geholfen hast“, sagte sie schüchtern. Sie wagte es kaum, in seine grünen Augen zu blicken.
„Das hab ich gern getan. Besonders du hattest es gestern nicht einfach. Wie geht es deinem Bein?“, wollte er wissen.
Minka sah an sich herab: „Es tut weh und pocht ein wenig.“
Die Tür schwang auf und Ravella kam herein: „Diese vermaledeiten Mistbiester“, schimpfte sie und stellte einen großen Weidenkorb auf den Esstisch. „Ah, Minka. Wie ich sehe, bist du wach.“ Sie band ihren Umhang auf, der daraufhin von selbst und ohne jedes Zutun zu einem Kleiderhaken schwebte. Im nächsten Moment hing er daran herab.
Minka riss die Augen auf. Das war also Zauberei?
Ravella stellte ihren Besen neben die Eingangstür, schnappte sich die beiden Glasfläschchen, die auf dem Tisch standen, und kam zu Minka. „Also, meine Liebe. Einmal der Trank für deine Heilung und da du wach bist, auch etwas gegen die Schmerzen.“ Erwartungsvoll schaute Ravella sie an. „Was ist? Mach den Schnabel auf, oder hast du es dir anders überlegt?“
Minka erstarrte und wusste nicht, was sie tun sollte. Dann spürte sie etwas an ihrer Pfote.
„Ist schon gut, Minka. Du schaffst das“, hörte sie Minella beruhigend sagen. „Mach es einfach genauso wie gestern.“
Daraufhin öffnete Minka weit ihren Mund und streckte die Zunge heraus. Erst, als sich das widerliche Gebräu darauf verteilte, kamen die Erinnerungen vom Vorabend wieder glasklar in ihr Gedächtnis zurück. Sie schluckte und würgte, schluckte und würgte, bis alles erfolgreich in ihrem Bauch war.
„Was ist da draußen los?“, fragte Callidus.
Ravella seufzte. „Ach, diese leuchtenden Flügelpupser.“
„Hey!“, beschwerte sich Minella. „Ich bin auch hier, falls Du das vergessen hast.“
Ravella setzte eine entschuldigende Miene auf. „Verzeih mir, Minella. Aber deine Artgenossen waren heute Nacht fleißig damit beschäftigt, meine Schutzzauber zu sabotieren. Irgendwer muss ihnen verraten haben, dass ich wegen dir den Schutz gegen Feen vorübergehend außer Kraft gesetzt habe. Deshalb konnten heute Nacht Schatten in meinen Wald eindringen.“
„Tut mir leid, das wusste ich nicht“, entgegnete Minella.
Ravella setzte sich in ihren Sessel. Sie streckte ihre Hand aus und sofort machte eine Teekanne sich daran, frischen Tee in eine Tasse zu gießen. Ein kleiner Löffel mit Honig sprang in das heiße Getränk, welches daraufhin dampfend zur Hexe hinüber schwebte.
Ravella rührte ein paarmal in der Tasse herum und nahm schlürfend einen Schluck. Dann lehnte sie sich in den Sessel zurück und schnaufte einmal tief durch. „Ich habe die Zauber wieder aktiviert. Von Feen droht uns keine Gefahr mehr, aber ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob auch alle Schatten fort sind. Fürs Erste ist es besser, wenn ihr im Haus bleibt. Hier kann euch nichts geschehen. Minella hat durch den aktivierten Zauber eh keine andere Wahl, als hierzubleiben.“
„Soll ich wegen der Schatten noch mal nachschauen?“, fragte Callidus.
Doch Ravella winkte ab. „Nein, nein, das wird jetzt erst mal genügen. Dafür ist auch später noch Zeit.“ Sie sah Minka direkt in die Augen. „Ich glaube, es ist nur fair, wenn wir Minka sagen, was hier los ist.“
Minka stockte der Atem. Was wollten sie ihr sagen? Sie wollte doch nur Minella hierher bringen und eine Hexenkatze werden. Jetzt aber verriet ihr Instinkt, dass sie viel mehr erfahren würde, als ihr lieb war.
Ravella schlürfte etwas Tee, während Callidus ihr auf den Schoß sprang. Dort kauerte er sich leicht zusammen und war sichtlich über die Streicheleinheiten erfreut, die er von ihr bekam. Sein sanftes Schnurren erfüllte den Raum.
„Also, Minka“, erklärte die Hexe, „du bist nicht zufällig hier. Doch bevor wir dir Näheres erklären, möchte ich wissen, was deine frühesten Erinnerungen sind.“
Minka sah einen nach dem anderen an und starrte dann irgendwo ins Leere hinein. „Das ist alles verschwommen.“
„Lass Dir Zeit“, sagte Ravella. In ihrer Stimme schwang etwas Beruhigendes mit. „Jede Kleinigkeit kann von Bedeutung sein.“
„Was ist mit der Brücke, die Bartos erwähnte?“, fragte Minella nach einigen Sekunden.
„Die Brücke, ja.“ Minka schloss die Augen und versuchte, diese Erinnerung wieder aufleben zu lassen. „Ich kann mich an dichten Nebel erinnern. Und obwohl es nicht geregnet hat, war ich für einen Moment patschnass. Ich meinte, eine Melodie zu hören. Wenn da eine war, dann war sie sehr leise und verstummte wieder.“
Minella streichelte über ihre Pfote. „Kannst du dich noch an irgendetwas erinnern, was davor passiert ist?“
Minka schüttelte den Kopf.
„Du sagtest, dass du für einen Moment patschnass warst. Warst du es dann etwa nicht mehr?“, fragte Callidus verwundert.
Minka nickte zögerlich. „Vielleicht war es aber nur Einbildung.“
„Das glaube ich nicht“, äußerte sich Ravella dazu. „Ist das Wasser einfach so aus deinem Fell verdunstet? Wurde es dir vielleicht warm oder kam ein starker Wind auf?“
Wieder schüttelte Minka den Kopf. „Ich glaubte bisher, dass ich mir das nur eingebildet habe. Aber nachdem ich jetzt gesehen habe, was mit Magie möglich ist ...“ Sie stockte.
„Was, Minka?“, hakte Minella nach. „Was hast du gesehen?“
Minka schluckte und hoffte, dass die anderen sie nicht auslachen würden. „Unzählige Wassertropfen schwebten aus meinem Fell und verschwanden zusammen mit dem Nebel im Fluss.“
Eine eigenartige Stille legte sich nieder. Sie kroch über den Holzboden und sammelte sich im erloschenen Kamin.
„Das ist alles wirklich sehr seltsam“, beendete Ravella die Stille.
Fragend schaute Minka zu ihr.
Ravella nahm einen letzten Schluck aus ihrer Tasse, bevor diese zur Spüle schwebte. „Was ist mit deinem Halsband und dem Glöckchen daran? Ich habe es bisher noch nicht klingeln gehört.“
„Das weiß ich nicht“, gestand Minka. „Das hatte ich schon von Anfang an.“
Ravella kratzte sich am Kinn. „Hmmm“, murmelte sie. „Gibt es sonst noch irgendetwas? Ganz gleich, was es ist. Vielleicht ein Gefühl, ein Geruch oder ein anderes Geräusch?“
Minka blickte auf. „Jetzt, da du es sagst. Ich glaube, es roch nach Morgentau.“
Die unsichtbare Stille, die sich im Kamin versteckt hielt, kroch erneut über den Boden und sickerte durch die Holzdielen.
Ravella, die einen Moment lang wie erstarrt war, streckte eine Hand nach Minka aus und murmelte etwas. Nichts geschah. Sie zog die Augenbrauen zusammen, nahm die Hand wieder zurück und streichelte Callidus. „Also, Minka“, begann sie. „Dass Feen und Hexenkatzen im Streit sind, hast du vermutlich schon mitbekommen.“
„Im Streit?“, unterbrach Callidus. „Das war aber sehr freundlich ausgedrückt.“
„Schhhh“, ermahnte ihn Ravella. „Unterbrich mich nicht.“ Sie seufzte. „Feen und Hexenkatzen befinden sich regelrecht im Krieg. Und da Hexenkatzen bei uns Hexen oder Druiden leben, werden auch diese automatisch in den Krieg mit hineingezogen.“
„Nicht nur die Hexen und Druiden, die Hexenkatzen haben“, korrigierte sie Callidus.
Verwirrt schaute Minka abwechselnd zu Minella, Callidus und Ravella.
„Jaja, schon gut. Es gibt auch Hexen und Druiden, die mit Feen zusammen leben. Doch auch diese bleiben nicht davon verschont. Allerdings gibt es unter den Katzen, Hexen, Druiden und Feen auch welche, die diesen Krieg beenden wollen. Minella, Callidus und ich zählen ebenfalls dazu. Und ob es dir gefällt oder nicht, so bist vermutlich auch du darin verwickelt.“
„Ich?!“, platzte es aus Minka heraus. „Wie soll ich damit etwas zu tun haben, wenn ich bis jetzt noch nicht einmal was darüber wusste?!“
„Ich verstehe dich, Minka. Aber hör mir gut zu. Du bist wie aus dem Nichts aufgetaucht, eingehüllt in Wasser und Nebel. Dein Halsband ist magisch versiegelt und hat noch nicht einmal einen Verschluss. Ich wollte sehen, ob ich es mit Magie von dir runter bekomme, doch es ließ sich kein bisschen bewegen. Das Glöckchen daran klingelt nicht. Und selbst das Wetter ist dieses Jahr verregneter als jemals zuvor. Hinzu kommt, dass du zur Festnacht Beltane aufgetaucht bist. Ich weiß nicht, was für eine Magie auf oder durch dich wirkt. Doch ich würde es gerne mit dir gemeinsam herausfinden.“
Minka stockte der Atem. Sie wusste nicht recht, was sie darauf sagen sollte. Ravellas Worte kreiselten durch ihren Kopf, wie ein herab fallendes Blatt im Wind. „Beltane?“, entschlüpfte es ihrem Mund.
„Ja, Beltane.“ Ravella nickte. „In dieser Nacht feiern wir Hexen nicht nur den Frühlingsanfang. Die Menschen wissen nicht, dass wir bei diesem Fest auch die Magie zum Fließen bringen. Nur so kann die Natur im Frühjahr erwachen und gedeihen.“
Minka überlegte. Was hatte das nur mit ihr zu tun? „Du sagtest, ich bin nicht zufällig hier. Was soll das genau heißen?“ Minkas rechtes Ohr zuckte, als Minella losflog und wenige Zentimeter vor ihr in der Luft schwebte.
„Ich glaube, vor allem ich bin dir eine Erklärung schuldig.“ Sie sah Minka verlegen an. „In der Nacht, als du mich gerettet hast, war ich auf dem Weg zu dir. Wärst du nicht gekommen, würde ich vermutlich nicht mehr leben.“
„Du warst auf dem Weg zu mir?“, wunderte sich Minka.
„Ja“, bestätigte ihr Minella. Sie wandte sich kurz Ravella zu, die nur knapp mit dem Kopf nickte. „Vor ziemlich genau einem halben Jahr, in der Nacht an Beltane, gab es einen magischen Zwischenfall. Die gesamte magische Welt hat es gespürt. Doch wir Wasserfeen am allermeisten, da dieses Etwas mit dem Element Wasser zu tun hatte. Etwas Mächtiges ist von der magischen Welt in diese Welt gelangt. Ravella spürte, dass es nicht weit weg von hier war.“
Minka starrte Minella an. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was sie damit zu tun haben sollte. Sie schüttelte den Kopf. „Aber an mir ist doch nichts magisch.“
„Das stimmt so nicht“, widersprach Ravella. „Ich konnte den Ursprung dieser Magie auf die Stadt eingrenzen. Doch ich wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Ich schickte Callidus, sodass er als Rabe den Ursprung ausfindig machen sollte.“
„Und dabei habe ich Dich gefunden“, ergänzte der Kater.
Jetzt starrte Minka auf Callidus. Ihr Kopf war mit einem Mal leer. Hätte sie jemand angestupst, wäre sie vermutlich einfach umgekippt.
Ravella hingegen schaute sie mit leicht zugekniffenen Augen an. „Das Eigenartige dabei ist, dass von dir keinerlei Magie auszugehen scheint. Um ehrlich zu sein, geht nichts von dir aus. Ich kann noch nicht einmal deine Lebensenergie wahrnehmen. Als würdest du gar nicht existieren. Deshalb hat es auch so lange gedauert, dich zu finden. Wir konnten zwar die Brücke als eindeutigen Ort für den Eintritt der Magie ausfindig machen, doch dann war es, als wäre nie etwas passiert. Das ungewöhnliche Wetter hat allerdings meinen Verdacht bestätigt, dass hier doch etwas war. Schwache Magie und ohne einen Zauber nicht wahrnehmbar. Callidus hat Monate gebraucht, um es aufzuspüren: dein Halsband. Eine mir unbekannte Macht geht davon aus. Vielleicht liegt es genau daran, dass ich keinerlei Energie von dir wahrnehme, aber sicher bin ich mir nicht. Wenn ihr mich fragt, haben wir es hier mit uralter Magie zu tun.“
Minka schluckte und ihr wurde schwindelig. Leicht benommen legte sie sich wieder hin, den Blick weiterhin auf Ravella gerichtet. Die Erklärungen klangen bis auf einen Punkt schlüssig. Minka war damit gemeint, doch sie mussten sich täuschen.
Draußen vor dem Haus polterte etwas. Alle wandten die Blicke zur Tür. Ein kratzendes Geräusch erklang.
Callidus und Ravella sprangen auf.
„Ein Schatten“, fauchte der Kater.
Die Hexe sah zu Minka und Minella. „Bleibt im Haus, hier seid ihr sicher.“ Während sie mit Callidus nach draußen eilte, schnappte sie ihren Besen und zog die Tür hinter sich zu.
Minella landete wieder vor Minkas Pfote und legte eine Hand auf diese. „Verzeih mir bitte, dass ich dir nicht von Anfang an die Wahrheit sagen konnte.“
Minka schaute zu ihr hinunter. „Wieso eigentlich nicht?“, wollte sie wissen.
Minella hob die Schultern. „Wärst du denn mitgekommen, wenn ich dir gesagt hätte, dass irgendetwas magisch an dir ist?“
Minka überlegte, woraufhin sie ihren Kopf schüttelte. „Vermutlich nicht.“
„Dann bist du mir nicht böse, dass ich etwas geflunkert habe?“ Minellas Unbehagen war deutlich zu erkennen.
„Ich kann es verstehen“, antwortete Minka.
Ein Rumpeln und lauteres Fluchen von Ravella ließ Minka zum Fenster schauen. Allmählich verschwamm die Welt vor ihren Augen. „Minella, mir wird plötzlich ganz komisch. Was ist hier los?“ Angst breitete sich unter ihrem Fell aus.
„Keine Sorge“, beruhigte die Fee sie. „Das wird das Mittel gegen die Schmerzen sein. Das macht einen gern müde. Du kannst etwas schlafen, wenn dir danach ist. Ich pass auf dich auf, solange die beiden draußen sind.“
Minka konnte gar nicht anders, legte ihren Kopf auf die Decke und schlief kurz darauf ein.
Was Minka erwartet
Ein beißender Geruch stieg Minka in die Nase und ließ sie hochschrecken. Von Minella und der Hexe fehlte jede Spur, jedoch hörte sie leise Stimmen aus einem anderen Raum. Sie sah Callidus, wie er eingerollt auf dem großen Sessel lag.
Minka stand auf und belastete vorsichtig ihr Bein. Ein dumpfes Gefühl breitete sich darin aus. Das Schmerzmittel wirkte. Wie spät es wohl war? Ein Blick aus dem Fenster verriet ihr nicht viel. Alles, was sie im dichten Wald erkennen konnte, war, dass es Tag sein musste.
So leise ihre Pfoten sie nur trugen, ging sie in Richtung Tür, hinter der das Gemurmel zu hören war. Weit kam sie allerdings nicht, als sie erschrocken Callidus‘ Stimme vernahm.
„Na, geht es dir schon etwas besser?“
Abrupt blieb Minka stehen und drehte sich zu ihm um. „Ähm, ja. Ich denke schon.“
„Freut mich, zu hören.“ Er lächelte. „Schone dein Bein heute aber noch. Morgen solltest du es wieder belasten können.“
Minka nickte. „Ist gut. Ich werde darauf achten.“
Callidus streckte sein Hinterteil in die Luft, die Vorderpfoten so weit er konnte nach vorn und gähnte. „Ich nehme mal an, du hast Hunger?“
Jetzt, da er es erwähnte, spürte sie, wie ihr Magen bereits grummelte. Sie war bisher so daran gewöhnt, einen leeren Bauch zu haben, dass sie es gar nicht mehr bemerkte, wenn ihr Magen ein hungriges schwarzes Loch war. Verlegen schaute sie zu ihm hoch. „Vielleicht ein bisschen, ja.“
„Dachte ich‘s mir doch. Immerhin haben wir schon Nachmittag.“ Er sprang vom Sessel. „Ach, und siehst du da drüben das kleine braune Tuch an der Wand, das unten am Boden aufkommt?“
Minka folgte seinem Blick und nickte.
„Dahinter ist ein Loch in der Wand. Wenn du dich erleichtern musst, gehst du einfach durch. Dort findest du den Ort dafür. Du bist schon seit gestern hier. Ich kann mir gut vorstellen, dass du zumindest mal pinkeln musst. Am besten, du schaust es dir gleich mal an. Ich kümmere mich derweil um das Essen.“
Wieder nickte Minka, doch diesmal etwas zaghafter. Hier gab es tatsächlich einen festen Ort dafür? Sie war gespannt, was sie erwartete. Neugierig tapste sie zu dem versteckten Loch in der Wand.
Dort angekommen drückte sie sanft ihren Kopf gegen den Stoff. Er gab nach und drei Schritte weiter fand sie sich in einem kleinen Raum wieder, der etwas größer war als das Holzfass, in dem sie sich bisher in der Stadt versteckt hatte. Weiche Walderde lag zu ihren Füßen.
Minka wunderte sich. Sie roch ausschließlich die Erde. Aber wenn Callidus hier regelmäßig sein Geschäft verrichtete, musste sie doch noch mehr riechen. Behutsam grub sie ein kleines Loch, um sich danach zu erleichtern. Dann schob sie frische Erde darüber, um den Geruch zu verdecken.
Gerade, als sie die erste Pfote auf den Holzboden des Hauses gesetzt hatte, hörte sie ein seltsames Geräusch hinter sich. Als sie sich umdrehte, sah sie eine Art Tür, die sich öffnete. Diese war so klein, dass vielleicht eine Maus hindurch gepasst hätte. Winzige grün leuchtende Lichter schwebten herein und brachten neuen Waldboden mit. Minkas Geschäft nahmen die Wesen mit nach draußen. Wie schafften sie das nur ohne Arme und Beine? Dann waren sie auch schon wieder verschwunden.
Danach war die kleine Tür wieder zu, und der aufgelockerte Waldboden sah genauso unberührt aus wie zuvor. Völlig verblüfft schlüpfte Minka wieder unter dem Stoff hindurch. Gedankenverloren ging sie zu Callidus und traute ihren Augen kaum, was sie da gerade sah. Er saß vor dem erloschenen Kamin in dem kleinen Sessel. Doch er saß nicht da wie eine Katze, sondern wie ein Mensch. Die Hinterbeine überkreuz und in seiner Vorderpfote hielt er eine Tasse – in Katzengröße.
Callidus sah sie an und runzelte die Stirn: „Was ist? Hast du etwa einen Geist gesehen?“
„Du …“, fing Minka verunsichert an. „Du sitzt wie ein Mensch in dem Sessel.“ Mehr brachte sie nicht heraus. Und das, obwohl ihr Kopf vor Fragen förmlich überquoll.
„Ach, das. Ja, das sind alte Gewohnheiten. Aber komm nur, ich habe dir ein Schälchen mit Fisch hingestellt.“
Zögerlich ging Minka weiter und folgte dem Geruch des Fisches.
„Was gibt es denn sonst noch, was du wissen willst?“, hakte Callidus nach. „Ich kenne diesen fragenden Blick.“
Minka stand vor dem Schälchen mit Fisch, setzte sich und schaute zu Callidus. „Wie kann es eine Gewohnheit sein wie ein Mensch zu sitzen und aus einer Tasse zu trinken? Was waren das eben für leuchtende Lichter, die frischen Waldboden brachten und … na ja, das Verschmutzte hinaus trugen? Sind das Ravella und Minella nebenan? Und wenn ja, worüber reden sie?“, platzte es aus ihr heraus.
Callidus stellte die Teetasse beiseite. „Ist das etwa schon alles? Da hatte ich tatsächlich mit mehr gerechnet.“ Er grinste. „Aber sei‘s drum. Es ist deshalb eine Gewohnheit, da meine ganze Familie aus Hexenkatzen besteht. Und wenn du auf die Hexenkatzenschule kommst, wirst du sehen, dass man auch dort oft auf zwei Beinen geht. Ich kenne es von klein auf, deshalb bin ich es gewohnt, mich wie ein Mensch zu bewegen.“
Minkas Augen weiteten sich. Sie musste in dieser Hexenkatzenschule auf zwei Beinen laufen? Was würde wohl noch alles auf sie zukommen?
„Diese leuchtenden Lichter, die du gesehen hast“, fuhr Callidus fort, „sind kleine beschworene Silvaluxe, die unseren Unrat mitnehmen, als Dünger im Wald verteilen und neue frische Erde bringen. Eine andere Aufgabe haben sie in diesem Fall nicht.“ Er sah zur Tür, hinter der das Gemurmel von Frauen zu hören war. „Worüber Ravella und Minella reden, ist im Moment nicht wichtig. Sie haben sich schon lange nicht mehr gesehen und daher vermutlich einen großen Austauschbedarf.“
Minka starrte ihn an. Diese kleinen Lichtgestalten waren also sogenannte Silvaluxe. Und es waren, so wie die Schatten, beschworene Kreaturen. Doch diese hier wirkten nützlich und keinesfalls gefährlich. Trotz der Faszination von alledem folgte ihre Nase dem Geruch des Fisches, und sie begann zu futtern.
Nachdem Minka in aller Ruhe ihr Schälchen leer gegessen hatte und sie gerade dabei war, sich ausgiebig zu putzen, ging die Tür zum Nebenzimmer auf.
„Minka, du bist wach.“ Minella schien ernsthaft erfreut, denn sie kam direkt zu ihr geflogen. „Wie geht es dir? Was macht dein Bein?“
Minka lächelte und kämpfte sich gerade durch etliche Knoten in ihrem langen Fell. „Ich fühle mich schon viel besser.“ Dann wurde ihr Blick wieder ernst, und sie schaute zu Ravella, die sich in den großen Sessel setzte. „Was ist mit dem Schatten?“, fragte sie etwas ängstlich.
Ravella keuchte hörbar, als sie sich in den Sessel gleiten ließ. Ihr Alter war nur allzu deutlich zu erkennen. „Der macht uns keinen Ärger mehr.“ Sie faltete ihre Hände und schaute zu Minka. „Mir scheint, als könntest du etwas Hilfe mit deinem Fell gebrauchen.“
Verlegen starrte Minka auf den Boden. Ihr war bewusst, wie zerzaust sie aussah. Doch so viel sie sich auch putzte, die Knoten in ihrem langen Fell wollten sich einfach nicht bändigen lassen.
„Ich werde dir ein bisschen helfen.“ Mit ihrem Finger zeichnete sie drei Kreise in die Luft und murmelte etwas. Augenblicklich kam eine Bürste herbei geflogen und strich Minka behutsam durch ihr Fell.
Überrascht hielt sie einfach nur still und ließ die Bürste ihre Arbeit machen.
Ravella lächelte. „Während du geschlafen hast, war ich so frei, dir weitere Tropfen für deine Heilung zu geben. Somit musst du sie heute nur noch am Abend einnehmen.“
Eine Nachricht, die Minka etwas erleichterte. Schlimm genug, dass sie freiwillig dieses widerliche Gebräu schluckte. Einmal weniger sollte ihr nur recht sein.
„Also, Minka“, begann Ravella erneut. „Während du geschlafen hast, habe ich mich außerdem intensiv mit Minella unterhalten.“ Ihr weiches Gesicht wurde mit einem Mal ernst. „Nach dem, was du jetzt alles erfahren hast, willst du da immer noch eine Hexenkatze werden?“
Da war sie wieder. Diese eigenartige Stille, die aus sämtlichen Ritzen hervorquoll und sich für einen Moment im Raum verteilte. Nur das Ratschen der Bürste war zu hören, die sich durch Minkas Fell kämpfte.
Betrübt schaute Minka zu Boden, seufzte tief und wandte ein: „… aber ich kann noch nicht mal auf zwei Beinen laufen.“
Ravella brach in schallendes Gelächter aus. „Das ist deine größte Sorge?“ Sie kicherte und gluckste wenige Augenblicke vor sich hin. „Dann hat Callidus dir vermutlich noch nicht verraten, dass das dort ganz von selbst geht. Du wirst schon sehen. Aber wir können es gerne üben, wenn du möchtest. Bis zum neuen Schuljahr ist noch etwas Zeit.“ Nach ein paar weiteren Glucksern wurde sie wieder ernst. „Bisher hast du dich nicht eindeutig entschieden, ob du das auch wirklich willst. Ein paar Dinge solltest du vorher jedenfalls noch wissen.“
Ein flaues Gefühl breitete sich in Minkas Bauch aus, doch sie war sich sicher, dass das nicht am Fisch lag. „Und was sind das für Dinge?“ Ihr Herz begann zu pochen, und sie blickte aufmerksam zu Ravella.
„Was die meisten Katzen nicht wissen, ist, dass man ein magisches Talent braucht, um überhaupt in einer Hexenkatzenschule aufgenommen zu werden. Und da Magie bei den Katzen in der Regel vererbt wird, stammen die meisten Hexenkatzen aus Familien mit entsprechender Vorgeschichte.“
Minkas Blick wanderte zu Callidus. „Heißt das, dass deine ganze Familie aus Hexenkatzen besteht?“, fragte sie aufgeregt.
Callidus nickte. „Ja, so wie ich es vorhin bereits gesagt habe. Allerdings bekommen Katzen mit Magie nicht so viel Nachwuchs, wie normale Katzen. Ich habe gerade mal zwei jüngere Geschwister.“
„Wieso denn das?“, wunderte sich Minka.
„Weil es sonst zu viele Hexenkatzen auf zu wenig Hexen geben würde. Wenn ich mich gut halte, werde ich bestimmt vierzig Jahre alt. Ravella ist aber schon 172. Je nachdem, wie alt Ravella wird, werde ich nicht ihre letzte Hexenkatze sein. Und ich bin auch nicht die erste.“
Ravella ist schon 172 Jahre alt?, schoss es Minka durch den Kopf. Sie staunte und bekam große Augen. „Ich wusste gar nicht, dass Menschen so alt werden.“