Minoritäre Technologien - Christoph Hubatschke - E-Book

Minoritäre Technologien E-Book

Christoph Hubatschke

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Beschreibung

Erstmals beleuchtet ein Forschungsband die bisher kaum beachteten technikphilosophischen Aspekte im Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In einer systematischen Darstellung werden zentrale Begriffe wie Maschine, Gefüge, Kontrollgesellschaft und Post-Media sowie wichtige Referenzautoren wie Spinoza, Marx, Simondon, Leroi-Gourhan und Foucault diskutiert. Mit seinem Konzept der »minoritären Technologien« aktualisiert Christoph Hubatschke die deleuzo-guattarische Techniktheorie und bezieht unter anderem auch feministische Einsätze mit ein. Deutlich stellt sich heraus, dass eine von Deleuze und Guattari informierte Technikphilosophie auch heute noch Antworten auf höchst relevante technopolitische Fragen gibt.

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Christoph Hubatschke

Minoritäre Technologien

Eine deleuzo-guattarische Technikphilosophie

Campus VerlagFrankfurt/New York

Über das Buch

Erstmals beleuchtet ein Forschungsband die bisher kaum beachteten technikphilosophischen Aspekte im Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In einer systematischen Darstellung werden zentrale Begriffe wie Maschine, Gefüge, Kontrollgesellschaft und Post-Media sowie wichtige Referenzautoren wie Spinoza, Marx, Simondon, Leroi-Guorhan und Foucault diskutiert. Mit seinem Konzept der »minoritären Technologien« aktualisiert Christoph Hubatschke die deleuzo-guattarische Techniktheorie und bezieht unter anderem auch feministische Einsätze mit ein. Deutlich stellt sich heraus, dass eine von Deleuze und Guattari informierte Technikphilosophie auch heute noch Antworten auf höchst relevante technopolitische Fragen gibt.

Vita

Christoph Hubatschke, Dr. phil., ist Philosoph und Politikwissenschaftler und forscht an der Universität Wien.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

Inhalt

Impressum

Inhalt

Siglen

1.

Von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, immer mittendrin

2.

Die Genese der Maschine

2.1

Die Maschine, ein blasphemisch-ironischer Mythos

2.2

Guattaris frühe psychoanalytische Schriften

R.A., Analysemaschinen

Der Bruch mit Lacan, Zeichenmaschinen

Institutionelle Psychotherapie, Institutionsmaschinen

2.3

Guattaris frühe politische Schriften

Transversalität, Gruppenmaschinen

Durchbrochene Linearität, Ereignismaschinen

2.4

Maschine und Struktur

Die revolutionäre Maschine, Organisationsmaschinen

Ein neues Maschinenvokabular

2.5

Maschinenpluralismus

Von revolutionären Einschnitten und Strömen

Maschine und Technik

2.6

Konklusion – Maschinen jenseits der Struktur

3.

Maschinengeschichten oder die Technik in der Maschine

3.1

Die vielen Linien zur Maschine

3.2

Wider das »klassische Schema«

3.3

Werkzeug oder Maschine

Marx I: Die Fabrik als Maschine

Marx II: Für eine rhizomatische Technikgeschichte

3.4

Das Unbewusste der Technik

3.5

Konklusion – Maschine als Kampfplatz

4.

Gefüge der Technik

4.1

Linien zum Gefüge

4.2

Mechanosphäre oder die ontologische Revue einer Geologie der Moral

Schichtungen

Die Logik der Gefüge

4.3

Eine nomadologische Technikphilosophie

Was das Werkzeug von der Waffe unterscheidet

4.4

Maschinelles Phylum und technologische Abstammungslinien

Leroi-Gourhan: Das technische Milieu

Simondon: Die Individuation des technischen Objekts

Metallurgie und technische Innovation

4.5

Involution, Symbiose und Technik

Sympoiese

4.6

Konklusion – Der kollektive Tanz mit Technologien

5.

Spinoza – Conatus und Maschine

5.1

Spinoza als Techniker – Spinoza in der Technikphilosophie

5.2

Was vermag ein Körper?

5.3

Körperkompositionen und Affektzirkulationen

Menschen unter Menschen

Menschen unter Nicht-Menschen

Der technische Körper mittendrin

5.4

Das Problem des Ausdrucks in der Technikphilosophie

Gesellschaft und Maschinentypen – Eine Beziehung immanenter Kausalität

5.5

Konklusion – Experimente eines Wurms

6.

Kontrolle und Störung

6.1

»Präskriptum« – Die Genese der Disziplinarmacht

6.2

Die neuen Formen der Macht

Permanente Flexibilität als Ausbeutung

Gouvernementalität und Biomacht

Die dividuelle Logik der Kontrollgesellschaften

6.3

Burroughs: Kontrolle, elektronische Revolution und die Methode der cut-ups

6.4

Vakuolen der Nicht-Kommunikation

6.5

Konklusion – Plädoyer für schöpferische Unterbrechungen

7.

Post-mediale Polyphonie

7.1

Eine kurze Geschichte unterschiedlicher Kapitalismen

Die a-signifikanten Semiotiken des Kapitals

Technik und Kapitalismus

7.2

Das post-mediale Zeitalter

Molekulare Revolutionen

Polyphonie – Freie Radios als post-mediale Praxis

7.3

Konklusion – Wider die »Einbahnstraßenkausalität«

8.

Minoritäre Technologien als technopoetische Fluchtlinien

8.1

Fragmente einer politischen Technikphilosophie

Minoritär-Werden

Minoritäre Sprache – Das Stottern der Sprache

Minoritäre Technologien – Technologien des Stotterns

8.2

Erste Fluchtlinie: Technopoetische Fabulationen

8.3

Zweite Fluchtlinie: Ökosophie und Mechanosphäre

8.4

Dritte Fluchtlinie: Gesichter der Maschine

9.

Zehn Thesen für eine kritisch-spekulative Technikphilosophie der minoritären Technologien

Dank

Bibliographie

Siglen

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1977a [1972]): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt/M: Suhrkamp.

Bilan

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1977b): »Appendix: Programmatische Bilanz für Wunschmaschinen«, in: dies.: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt/M: Suhrkamp, 497-521.

C

Guattari, Félix (2014 [1992]): Chaosmose. Wien: Turia + Kant.

D

Deleuze, Gilles / Parnet, Claire (2019 [1977]): Dialoge. Berlin: August Verlag.

Guattari, Félix (2012 [1989]): Die drei Ökologien. Wien: Passagen.

DW

Deleuze, Gilles (2007a [1968]): Differenz und Wiederholung. München: Wilhelm Fink Verlag.

Ethik

Spinoza, Baruch de (2010): Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Lateinisch – Deutsch (Sämtliche Werke, Bd. 2). Hamburg: Meiner.

F

Deleuze, Gilles (1992b [1986]): Foucault. Frankfurt/M: Suhrkamp.

K

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1976 [1975]): Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt/M: Suhrkamp.

KuW

Deleuze, Gilles (1993d): »Kontrolle und Werden«, in ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt/M: Suhrkamp, 243-253.

LdS

Deleuze, Gilles (1993a [1969]): Logik des Sinns. Frankfurt/M: Suhrkamp.

MuS

Guattari, Félix (1976i [1969]): »Maschine und Struktur«, in: ders.: Psychotherapie, Politik und die Aufgaben der institutionellen Analyse. Frankfurt/M: Suhrkamp,127-138.

PT

Spinoza, Baruch de (2006c [1677]): Politischer Traktat. (Werke in drei Bänden, Bd. 3). Hamburg: Meiner.

PüK

Deleuze, Gilles (1993e): »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in ders.: Unterhandlungen 1972-1990. Frankfurt/M: Suhrkamp, 254-262.

SAP

Deleuze, Gilles (1993b [1968]): Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie. München: Wilhelm Fink Verlag.

SPP

Deleuze, Gilles (1988 [1981]): Spinoza. Praktische Philosophie. Berlin: Merve.

TP

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (1992 [1980]): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II. Berlin: Merve.

TPT

Spinoza, Baruch de (2006a [1670]): Theologisch-politischer Traktat. (Werke in drei Bänden. Bd. 1). Hamburg: Meiner.

ÜM

Guattari, Félix (1995): »Über Maschinen«, in: Schmidgen, Henning (Hg.): Ästhetik und Maschinismus. Texte zu und von Félix Guattari. Berlin: Merve, 115-132.

UIQ

Guattari, Félix (2016b): A Love of UIQ. Minneapolis: Univocal.

WiP

Deleuze, Gilles / Guattari, Félix (2000 [1991]): Was ist Philosophie? Frankfurt/M: Suhrkamp.

Zeit-Bild

Deleuze, Gilles (1991 [1985]): Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt/M: Suhrkamp.

1.Von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, immer mittendrin

Wohin geht ihr? Woher kommt ihr? Was wollt ihr erreichen? Das sind unnütze Fragen. Reinen Tisch machen, bei Null anfangen oder neu beginnen, einen Anfang oder eine Grundlage suchen – all das sind falsche Vorstellungen von Reise und Bewegung (methodische, pädagogische, initiatorische oder symbolische Vorstellungen). Kleist, Lenz oder Büchner haben eine andere Art zu reisen und sich zu bewegen, von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, eher gehen und kommen als aufbrechen und ankommen. (TP, 41)

In einem kurzen Text mit dem Titel »A Rant about ›Technology‹« (2004) reflektiert die feministische Science Fiction-Autorin Ursula LeGuin über die Frage der Technik. Der Text ist eine Antwort auf einen Rezensenten, der ihre Arbeit als »soft science fiction« kategorisiert, weil LeGuin angeblich nicht über Technologien schreibe, ja das Reden über Technologien gar vermeide. Während »hard science fiction«, so die verbreitete Annahme, vor allem mit Fragen der Technik beschäftigt ist, sich für zukünftige und fremde Technologien und das genaue Funktionieren neuer Technologien interessiere, ist »soft science fiction« in LeGuins sarkastischen Worten mehr an »psychology and emotions and squashy stuff like that« (LeGuin 2004) interessiert. LeGuin weist diese problematische Unterscheidung scharf zurück. Denn es ist unmöglich, so LeGuin, Science Fiction zu schreiben, ohne gleichzeitig immer – implizit oder explizit – über Technologien und technische Objekte zu schreiben: »[H]ow can anybody make a story about a future or an alien culture without describing, implicitly or explicitly, its technology?« (LeGuin 2004) Wie Gesellschaften funktionieren und organisiert sind, wie Lebewesen, welcher Art auch immer, sich ernähren, fortpflanzen, und kommunizieren, wie sie sich kleiden und wie und was sie arbeiten, all dies hat immer schon, so LeGuin, mit Technologien zu tun. Woher dann der Vorwurf, sie sei nicht an Technologie interessiert? Dieser Vorwurf, so LeGuin, verweist auf ein grundsätzlich falsches Verständnis von Technologien:

But the word [technology] is consistently misused to mean only the enormously complex and specialised technologies of the past few decades, supported by massive exploitation both of natural and human resources. […] »Technology« and »hi tech« are not synonymous, and a technology that isn’t »hi,« isn’t necessarily »low« in any meaningful sense. We have been so desensitized by a hundred and fifty years of ceaselessly expanding technical prowess that we think nothing less complex and showy than a computer or a jet bomber deserves to be called »technology« at all. As if linen were the same thing as flax – as if paper, ink, wheels, knives, clocks, chairs, aspirin pills, were natural objects, born with us like our teeth and fingers – as if steel saucepans with copper bottoms and fleece vests spun from recycled glass grew on trees, and we just picked them when they were ripe… (LeGuin 2004)

Was also als Technologie, als technisches Objekt wahrgenommen wird, und welche Objekte nicht als Technologie, als komplex, als Teil einer technischen Welt gesehen werden, diese Grenzen sind, so LeGuin, mehr als verschwommen. Zu gerne wird Technik auf »neue Technologien« reduziert – sei es zu Zeiten der Industriellen Revolution die Dampfmaschine, oder große automatisierte Webmaschinen, oder heute Computer, Internet, AI und Robotik. Derart werden alltäglich gewordene Objekte oft nicht mehr als etwas Technisches wahrgenommen. Die Unterscheidung zwischen Hochtechnologien und vermeintlich »einfachen« oder »primitiven« Technologien ist jedoch nicht nur eine problematische, sie ist eine grundsätzlich irreführende. LeGuin lässt jedenfalls das Argument der vermeintlich komplexeren Hochtechnologie nicht gelten:

One way to illustrate that most technologies are, in fact, pretty »hi,« is to ask yourself of any manmade object, Do I know how to make one? […] I don’t know how to build and power a refrigerator, or program a computer, but I don’t know how to make a fishhook or a pair of shoes, either. I could learn. We all can learn. That’s the neat thing about technologies. They’re what we can learn to do. (LeGuin 2004)

Für LeGuin ist Technik also immer schon mit dabei. Ihre Science Fiction, und dies ist ein Grund, warum sie als Vorreiterin der feministischen Science Fiction gilt, stellt jedoch keine innertechnischen Logiken und funktionalen Erklärungen in den Mittelpunkt der Geschichte, sondern fokussiert auf die Mannigfaltigkeit der Technologien, auf deren soziale und politische Dimensionen. Damit impliziert sie, dass es Technik an sich nicht gibt, sondern wir es vielmehr immer mit einer Verwobenheit von sehr unterschiedlichen und höchst komplexen Technologien zu tun haben. Die Komplexität betrifft dabei nicht bloß das technische Objekt selbst, sie ist vielmehr eine des Gefüges, in das das technische Element eingebunden ist, ja aus dem das technische Element überhaupt erst entsteht.

Mit LeGuin wird deutlich, dass es nicht nur geboten ist, die Kategorien hi-tech und low-tech transversal zu durchkreuzen, sondern dass Technik losgelöst von konkreten Kontexten nichts aussagt – zu viel beschreibt und gleichzeitig zu wenig. Zu viel, weil alles Mögliche, sehr Verschiedene in eine homogene und vor allem von anderen Bereichen fein säuberlich getrennte Kategorie zusammengefasst wird; zu wenig, weil nichts Konkretes über die jeweiligen Technologien und technischen Objekte gesagt werden kann, diejenigen Kontexte und Gefüge ignoriert werden, in denen Technologien entwickelt, technische Objekte produziert, angewandt, weiterentwickelt aber auch gehackt werden. Technologien und technische Objekte, so legt LeGuin nahe, werden überhaupt erst durch je konkrete Zusammenhänge und Verhältnisse zu etwas Technischem. Über Technik kann nichts Allgemeines gesagt werden. Was als komplex und was als einfach erscheint, was als abgeschlossenes technisches Objekt und was als komplexes technisches System gilt, all dies wird von den Gefügen bestimmt. Es ist eben diese Bresche, in welche auch die in dieser Arbeit nachgezeichnete und weitergedachte deleuzo-guattarische Technikphilosophie schlägt.

Alfred Nordmann stellt in seiner Einführung zur Technikphilosophie (2008) die These auf, dass die Technikphilosophie ein Fachgebiet ohne »eigene Fragestellung« ist: »Im Grunde ist die Technikphilosophie die ganze Philosophie noch einmal von vorn – diesmal unter Einbeziehung der Technik.« (Nordmann 2008, 10) Die Technikphilosophie stelle die großen philosophischen Fragen noch einmal neu: Was können wir wissen, was sollen wir tun, was ist der Mensch? All diese Fragen müssen unter Einbeziehung der Technik und fortwährend neuer Technologien immer und immer wieder neu gestellt und verhandelt werden, so Nordmann. Doch wenn wir LeGuins Bemerkungen ernst nehmen, müssen wir uns ebenso fragen, ob Technik nicht in vielen philosophischen Entwürfen – implizit oder explizit – mitgedacht wurde und wird. Denn wie, so könnten wir mit LeGuin fragen, lassen sich große philosophische Fragen überhaupt stellen, geschweige denn beantworten, ohne Technik miteinzubeziehen? Was wir zum Beispiel wissen können, hängt maßgeblich mit konkreten Technologien und technischen Objekten zusammen. Wie Mona Singer bezüglich der erkenntnistheoretischen Dimension der Technik schreibt, sieht man durch technologische Mittel »nicht bloß genauer oder mehr«, sondern »mit ihnen auch anders und Anderes« (Singer 2015, 7). Technologien und technische Objekte sind nicht nur ein Zusatz, eine Erweiterung, etwas, das uns zwingt, bestimmte Fragen »neu zu stellen«; vielmehr sind sie integraler Bestandteil jeglichen sozialen Handelns. Es gilt daher nicht nur philosophische Probleme »mit Technik neu« zu denken, sondern ebenso nach jenen konkreten Technologien zu fragen, die philosophische Fragen angeleitet, beeinflusst oder überhaupt erst ermöglicht haben, jenen Technologien, die Antworten gegeben haben sowie jenen Technologien und philosophischen Fragen, die ausgelassen und ignoriert wurden beziehungsweise nicht als Technologien wahrgenommen wurden. Es gilt nach den Gefügen zu fragen, von denen je konkrete Technologien immer schon ein wesentlicher Teil sind.

Technik kann daher nicht abstrakt erklärt, verstanden und theoretisiert werden, wie Gilles Deleuze und Félix Guattari in den Tausend Plateaus insistieren: »Aber es ist das Prinzip jeder Technologie, zu zeigen, dass ein technisches Element abstrakt und völlig unbestimmt bleibt, wenn man es nicht auf ein Gefüge bezieht, das es voraussetzt.« (TP, 549) Oder wie Deleuze in seinem Buch über Foucault schreibt: »Die Technologie ist folglich eher sozial als technisch.« (F, 60) Eine kritische Technikphilosophie ist folglich nicht synonym mit einer bloßen Technikkritik, einer kritischen Haltung gegenüber Technik. Eine kritische Technikphilosophie hinterfragt vielmehr den Begriff der Technik selbst, die Sicherheit zu wissen, was Technik ist, was nicht oder nicht mehr technisch ist. Eine kritische Technikphilosophie interessiert sich dafür, wer wie Technologien entwickelt und produziert und gegen wen oder was bestimmte Technologien eingesetzt wurden und werden. Dementsprechend impliziert eine kritische Technikphilosophie eine historisch-materialistische wie kritisch-diskursive, das heißt auch dekoloniale Aufarbeitung und Problematisierung nicht nur von Technologien, sondern auch westlicher Technikphilosophien. Eine kritische Technikphilosophie verschiebt daher den Fokus von der Frage nach der Technik an sich hin zu den konkreten maschinellen Gefügen.

Die in diesem Buch nachgezeichnete und weiterentwickelte deleuzo-guattarische Technikphilosophie versteht sich in diesem Sinne als kritisch-politische Technikphilosophie, weil sie stets zuerst nach den Gefügen fragt und sich aus konkreten Gefügen heraus in verschiedene Gefüge involviert. Es handelt sich nicht um eine Technikphilosophie, die die immer gleiche Philosophiegeschichte unter Berücksichtigung der Technik oder stets neuer Technologien von vorne neu denken möchte, sondern nach den impliziten und oftmals auch problematischen Verständnissen von Technik in der Philosophiegeschichte fragt, die Leerstellen aufzeigt und nach anderen Philosophiegeschichten sucht, sich also dem Bild der einen immer gleichen Philosophiegeschichte entzieht und insofern problematisiert. Kein klarer Anfangspunkt, kein Beginn der Technik, keine Definition der Technik können eine kritisch-politische Technikphilosophie anleiten. Es ist eine Technikphilosophie der Mitte, aus der Mitte heraus, die Mitte ausweitend, mitten in zahllosen Technologien und technischen Objekten, mitten in zahlreichen Gefügen, mitten in heterogenen Maschinenkoppelungen und Stromeinschnitten, mitten in Affektzirkulationen. Eine Technikphilosophie also, die, mit Donna Haraway gesprochen, »immer schon mittendrin ist« (Haraway 1995c). Das Kredo einer solchen Technikphilosophie lautet daher: »Technology is not neutral. We’re inside of what we make, and it’s inside of us. We’re living in a world of connections – and it matters which ones get made and unmade.« (Haraway in Kunzru 1997)1

Deleuze, Guattari und die Technikphilosophie

Während die Arbeit von Deleuze und Guattari in zahlreichen Disziplinen sowie Teilbereichen der Philosophie große Rezeption erfuhr und erfährt, fand ihre Philosophie in technikphilosophischen Arbeiten erstaunlicherweise bisher kaum Anklang. In Klassikern der Technikphilosophie sowie den einschlägigen Einführungen beschränkt sich die Rezeption ihrer Arbeit, im Gegensatz zu anderen poststrukturalistischen Autor*innen wie u.a. Jacques Derrida, Michel Foucault, Donna Haraway, Paul Virilio, lediglich auf Randbemerkungen und Fußnoten.2 Dies ist umso erstaunlicher, insofern in der Medientheorie,3 den Science and Technology Studies4 sowie den Cyberculture-Studies5 Deleuze und Guattari wichtige Referenzpunkte darstellen. Dennoch beschränken sich auch in diesen Feldern die Verweise zumeist nur auf ihr Spätwerk, insbesondere Deleuzes »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, sowie engführende Interpretationen des Rhizoms als Netzwerkmetapher.6 Über diese Kontexte hinaus werden Deleuze und Guattari jedoch, weder als technikphilosophisch relevante Denker gelesen, noch wird ihre Arbeit als Beitrag zur Untersuchung der Frage der Technik wahr- und ernstgenommen.

Auch in der ständig anwachsenden Sekundärliteratur zu Deleuze und Guattari widmet sich kaum jemand den technikphilosophischen Spuren und Elementen des deleuzo-guattarischen Werkes. Einschlägige Arbeiten zur Frage der Technik bei Deleuze und Guattari fokussieren auch in den Deleuze/Guattari-Studies oftmals auf medienphilosophische Fragestellungen und beschäftigen sich zu einem großen Teil mit »neuen Technologien« in Bezug auf das deleuzo-guattarische Werk, besonders deren Spätwerk. Ein Beispiel dafür ist der Sammelband Deleuze and New Technologies (Poster/Savat 2009), der zwar eine der wenigen Arbeiten darstellt, die sich explizit der Frage der Technik bei Deleuze und Guattari widmen, jedoch weist auch dieser Band weitestgehend eine Engführung auf die Untersuchung digitaler Technologien und das Spätwerk von Deleuze auf. Die wenigen umfassenderen Untersuchungen zur Frage der Technik bei Deleuze und Guattari beschränken sich daher auch in der Sekundärliteratur nur auf wenige Artikel und Kapitel in einschlägigen Büchern,7 jedoch stellt eine umfassende und das Gesamtwerk in Betracht ziehende Systematisierung der Bemerkungen zur Technik bei Deleuze und Guattari nach wie vor ein Desiderat dar. Das hier vorliegende Buch versucht diese Forschungslücke zumindest teilweise zu schließen und eine deleuzo-guattarische Technikphilosophie nachzuzeichnen, diese zu aktualisieren und weiterzudenken.

Inwiefern im Werk von Deleuze und Guattari überhaupt eine Technikphilosophie zu finden ist, also welche Rolle die Frage der Technik in ihrem Werk einnimmt, darüber sind sich viele Interpret*innen uneinig. So merkt Ronald Bogue in seinem Werk Thinking with Deleuze an, dass Deleuze und Guattari nicht an »machines in the ordinary sense of the term, wether high-tech or primitive, which they label ›technical machines‹« (Bogue 2019, 384) interessiert sind und begründet diese Einschätzung damit, dass in den beiden Bänden von Kapitalismus und Schizophrenie »the specifics of modern technology« (Bogue 2019, 384) kaum adressiert würden. Arthur Kroker argumentiert in seiner Studie The Possessed Individual. Technology and the French Postmodern in seinem Kapitel zu Deleuze und Guattari in eine ganz ähnliche Richtung, wenn er schreibt, »[i]ndeed, Deleuze and Guattari are not writers of technology.« (Kroker 2001, 107)8 David Savat formuliert hingegen in der Einleitung zum bereits erwähnten Sammelband Deleuze and New Technologies eine durchaus gegenteilige These, wenn er schreibt: »In short, while Deleuze may not have devoted that much attention to so-called ›new‹ technology and especially ›new‹ media – certainly less so and more negatively so than Guattari – his conceptualisation of technology and the machine, in both its material and its more abstract forms, is careful and considered, and plays a significant role in much of his work.« (Savat 2009, 1) Ob Deleuze notwendigerweise weniger und negativer über neue Technologien schrieb als Guattari, kann durchaus bezweifelt werden und ist in den späteren Kapiteln auch Thema. Darüber hinaus scheint mir eine der zentralen Einsichten einer deleuzo-guattarischen Technikphilosophie darin zu liegen, Technologien eben genau nicht allgemein positiv oder negativ zu bewerten, sondern vielmehr auf die je konkreten Gefüge, die diese Technologien überhaupt erst hervorbringen, zu fokussieren. Was sich jedenfalls in meiner Analyse zeigt, ist, dass die Beschäftigung mit Technologien und technischen Objekten sowohl im Werk von Deleuze wie von Guattari eine zentrale Rolle einnimmt und dass eine Trennung ihrer beiden Werke in den Reflexionen über Technologien nicht sinnvoll ist. Zu sehr sind die Arbeiten miteinander verschränkt und treten gerade in der Frage nach der Technik ständig in gegenseitigen Austausch. Zentral ist jedoch die Einschätzung, dass Deleuze und Guattari sich durchaus umfassend und genau mit technikphilosophischen Fragestellungen beschäftigt haben und zwar nicht erst in ihrem jeweiligen Spätwerk, sondern quer durch ihr gesamtes Oeuvre. Diese Einschätzung teilt auch Henning Schmidgen, wenn er in der Konklusion von Das Unbewusste der Maschinen (1997) die zentrale Rolle der Frage nach der Technik bei Deleuze und Guattari als Charakteristikum ihres Werkes hervorhebt: »Die Betonung der unauflöslichen Verwobenheit von Technischem, Sozialem, Psychischem und Biologischem hat sich als Charakteristikum der Theorie von Deleuze und Guattari erwiesen.« (Schmidgen 1997, 167) Die Verwobenheit des Technischen mit dem Sozialen, Psychischen, Biologischen – und wir können ergänzen Politischen –, diese zentrale Verschränkung zeichnet die deleuzo-guattarische Philosophie aus. Technik, so Schmidgen, ist für Deleuze und Guattari immer schon mit dabei: »Was in den Werken von Deleuze und Guattari abgebildet wird, ist vielmehr die fundamentale Mitgegebenheit der Technik in unserer Welt. Überall und immer schon sind wir in technisch bestimmten Zusammenhängen tätig, stets haben wir es schon mit der Technik zu tun.« (Schmidgen 1997, 167) Die Verschränkung des Technischen mit anderen Bereichen verweist jedoch nicht nur darauf, dass Technik immer schon mit dabei ist, es setzt auch ein durchaus anderes Verständnis von Technik, Technologien und technischen Objekten voraus, es verweist auf die heterogenen Gefüge und Maschinen, die immer zuerst kommen, welche die konkreten technischen Maschinen überhaupt erst konstituieren und bestimmen. Wie ich zeigen werde, wenden sich Deleuze und Guattari mit diesem Verständnis von Technik nicht nur gegen das, was sie das »klassische Schema« in Bezug zu technikphilosophischen Diskussionen nennen, sondern in gewissem Sinne gegen die Idee der Technik als abgeschlossene und separat benennbare Sphäre. Nicht Mensch gegen Technik, auch nicht Mensch plus Technik leitet ihre Erzählung an, sondern die ständige und prozessuale Ko-Konstitution dieser vermeintlich getrennten Bereiche durch maschinelle Verschränkungen.9 Technik wird hier weder als das Andere des Menschen oder der Natur verstanden, noch wird Technik auf ein bloßes Werkzeug oder Instrument reduziert, das neutral und beliebig verwendbar wäre. Die Fokussierung auf die Gefüge verwehrt sich all diesen zu einfachen Erzählungen, die letztlich derselben Logik folgen, wie Latour anmerkt: »Die beiden Mythen vom neutralen Werkzeug unter vollständiger menschlicher Kontrolle und vom autonomen Geschick der Technik ohne jede Chance menschlicher Beherrschbarkeit sind symmetrisch.« (Latour 2002, 217)

Die deleuzo-guattarische Technikphilosophie ist insofern höchst originell und relevant, weil sie genau solchen zu einfachen Mythen ein komplexes Verständnis von Technologien und technischen Objekten als in je konkreten maschinellen Gefügen situiert entgegenstellt. So verwehrt sich die deleuzo-guattarische Technikphilosophie einem allgemeinen Philosophieren über die Technik und ganz besonders jeglichem Versuch, eine Essenz des Technischen auszumachen, etwas, das aller Technik zu Grunde liegt. Wie William Bogard formuliert, ist Technik für Deleuze und Guattari vielmehr eine »Mannigfaltigkeit ohne Essenz« (vgl. Bogard 2009, 15),10 entzieht sich essentialistischen Verallgemeinerungen und wendet sich damit vor allem gegen Technikphilosophien von und im Gefolge von Martin Heidegger (vgl. 1962).11 Statt darüber zu rätseln, was »der Technik« eigen ist, verwerfen Deleuze und Guattari Fragen dieser Art wie auch alle allgemeinen Annahmen über Technik.12 Sie interessieren sich vielmehr für die konkreten Gefüge, in denen Technologien und technische Objekte überhaupt erst als solche auftreten. Schmidgen spricht hierbei von einer doppelten Öffnung des technischen Objekts: »Zugleich werden die technischen Objekte durch diesen Maschinenbegriff in zwei Richtungen geöffnet: ›Nach unten‹, auf die Anhäufung der heterogenen Teile, die der Konstruktion der technischen Objekte vorausgehen, und ›nach oben‹, auf den Kontext, in den sie aufgenommen oder von dem sie ausgeschlossen werden.« (Schmidgen 1997, 161)

Gefragt wird demnach nach konkreten Zusammensetzungen von Körpern, technischen und nicht-technischen, nach den konkreten maschinellen Gefügen also, den konkreten Affektzirkulationen in diesen Gefügen. Technologien und technische Objekte spielen hier als je konkrete eine wichtige Rolle, aber nicht als Ursache, sondern als Ergebnis maschineller Prozesse. Technik kann in diesem Sinne weder per se gut noch schlecht sein, da sie immer nur in je konkreten Zusammensetzungen in Bezug auf je konkrete Körper beurteilt werden kann. Technologien und technische Objekte können aber auch niemals neutral sein, da sie immer schon involviert sind, immer schon Teil von Gefügen sind. Die deleuzo-guattarische Technikphilosophie verwehrt sich damit nicht nur zu einfacher Erklärungen und Schlussfolgerungen, sondern bietet, wie in dieser Arbeit nachgezeichnet wird, ein umfassendes Begriffsinstrumentarium, mit dem die Involviertheit je konkreter Technologien und technischer Körper in den Blick rückt und so die »Maschinisierung« von technischen Elementen in je konkreten Gefügen nachgezeichnet werden kann und dabei auch erklärt wird, wie das Gefüge selbst sich verändert und überhaupt erst konkret konstituiert. »Technik und Mensch«, »Technik und Gesellschaft« sowie »Technik und Geschichte«, all diesen viel zu großen und abstrakten Kategorien setzen Deleuze und Guattari, so meine These, eine Logik der »immanenten Kausalität« entgegen, die die Ko-Produktion von Technik und Gesellschaft beschreibt, eine »Sympoiese« im Sinne Haraways darstellt. Der Fokus auf die spinozistisch verstandenen Affektzirkulationen der involvierten Körper und Ideen verweist darauf, dass jegliche Technikphilosophie immer grundlegend politisch ist und sein muss.

Damit hinterfragt die deleuzo-guattarische Technikphilosophie grundsätzlich das Konzept der Technik, ja macht die Frage nach den technischen Maschinen zu einer Subfrage der Frage nach den Maschinen (vgl. ÜM, 118). Dies impliziert jedoch nicht, wie einige Autor*innen annehmen, dass Deleuze und Guattari nicht oder sehr wenig über Technik reflektieren würden, ja sich für diese Frage gar nicht interessieren, vielmehr zeigt dies, dass sie die Frage nach der Technik »neu zu formulieren« (Schmidgen 1997, 168) suchen, wie Schmidgen betont. Wie Deleuze und Guattari diese Frage neu formulieren, zeichne ich in diesem Buch nach.

Ziel dieser Studie ist daher einerseits den vielfältigen Reflexionen technikphilosophischer Fragestellungen und den zahlreichen Diskussionen konkreter Technologien und technischer Objekte im Werk von Deleuze und Guattari nachzugehen. So zeige ich, dass Technologien, technische Objekte und die Frage nach der Rolle der Technik im deleuzo-guattarischen Werk omnipräsent sind und eine zentrale Rolle in Bezug zu den wichtigsten Konzepten ihrer Arbeit einnehmen. Doch über ein bloßes Nachzeichnen technologischer Referenzen hinaus geht es mir darum zu zeigen, dass mit dem Werk von Deleuze und Guattari durchaus eine explizite Technikphilosophie entwickelt werden kann, die originäre und höchst relevante Einsichten, Begriffe und Perspektiven liefert, auch und gerade für aktuelle technikphilosophische Diskussionen. Es soll nicht behauptet werden, dass Deleuze und Guattari in ihren gemeinsamen wie in ihren jeweils eigenen Schriften selbst so etwas wie eine kohärente Technikphilosophie entwickelt hätten. Vielmehr stellen ihre Gedanken zur Frage der Technik, ihre Überlegungen zu einzelnen Technologien, ihre Kommentare zu technikphilosophischen Positionen, kurz die Fragmente einer Technikphilosophie einen möglichen Pfad durch deren vielgestaltiges und mannigfaltiges Werk dar.

Es geht in dieser Arbeit nicht darum, eine vollständige Systematisierung einer vermeintlich kohärenten Technikphilosophie im deleuzo-guattarischen Werk nachzuzeichnen. Nicht nur, weil eine solche im deleuzo-guattarischen Werk nicht zu finden ist, sondern auch und besonders, weil eine solche Systematisierung nicht notwendigerweise im Sinne des philosophischen und politischen Projekts von Deleuze und Guattari wäre. Vielmehr skizziere ich zentrale Überlegungen zur gesellschaftlichen, ökologischen, psychologischen, sozialen, künstlerischen und vor allem politischen Rolle von Technik, oder besser je konkreten Technologien im Werk von Deleuze und Guattari und versuche diese für gegenwärtige Fragestellungen und Problembereiche zu aktualisieren. Dies soll nicht nur über ein close reading zentraler Begriffe und Konzepte der deleuzo-guattarischen Philosophie, sondern ebenso über eine Situierung dieser Begriffe sowie eine Kontrastierung zu einigen aktuellen Debatten innerhalb der Technikphilosophie erreicht werden. Hierzu müssen auch einige zentrale Punkte der deleuzo-guattarischen (Technik-)Philosophie gegen sich selbst und über eine werkinhärente Perspektive hinaus gelesen werden. Im Nachzeichnen der technikphilosophischen Überlegungen von Deleuze und Guattari skizziere ich hier folglich eine ebenso von Deleuze und Guattari inspirierte wie auch eigenständige und über sie hinausweisende Technikphilosophie.

Deleuzes und Guattaris Philosophie stellt einen so interessanten wie wichtigen Beitrag zur Technikphilosophie dar, weil sie sich, immer die Komplexität und Mannigfaltigkeit jeder Problematik im Blick, einfachen Antworten verweigert. Sie vermeidet simple Erklärungen in Form von linearen Kausalitäten und Entwicklungen, Einordnungen in Kategorien wie künstlich/natürlich, lebendig/nicht-lebendig sowie datierbaren Entwicklungsanfängen und -enden. Schon gar nicht versucht sie, Wesenheiten von Dingen und Lebewesen ausfindig zu machen. Die deleuzo-guattarische Philosophie und, so soll gezeigt werden, auch ihre Technikphilosophie, geben keine einfachen Antworten auf technikphilosophische Fragen. Dennoch, oder gerade deshalb ermöglichen ihre technikphilosophischen Überlegungen, die Komplexität, Verwobenheit und Schwierigkeit der Frage nach der Technik fassbar zu machen. Eine deleuzo-guattarische Technikphilosophie stellt sich vor allem gegen verallgemeinernde und vereinfachende Analysen. Die vielen Spitzfindigkeiten und Nuancen einzelner Technologien, technischer Objekte und deren Anwendungen können, so muss im Sinne einer deleuzo-guattarischen Perspektive festgehalten werden, nicht auf einem verallgemeinernden Begriff von Technik aufbauen. Was der frühe Guattari für die politische Theorie fordert, muss daher auch für die Technikphilosophie gelten, nämlich die Theorie von der »tödlichen Krankheit […] der Allgemeinheit« zu befreien (Guattari 1967j, 142).

Die Pfade/Stimmen einer deleuzo-guattarischen Technikphilosophie

Zu Beginn seines Buches Schizonalytic Cartographies, bevor er eine kurze Geschichte des modernen Kapitalismus und dessen Zusammenhang mit technologischen Entwicklungen skizziert, verweist Guattari darauf, dass es ihm hier nicht um eine lineare Geschichtsschreibung geht. Vielmehr möchte Guattari verschiedene Pfade/Stimmen vorschlagen, die nebeneinander, miteinander und durcheinander durch diese Geschichten führen. Im französischen Original nennt Guattari dies »voie/voix«, zieht also Pfad und Stimme zusammen. Er schreibt dazu »French here allows a homophonic link between path and enunciation« (Guattari 2013, 3). Dieses einfache Wortspiel soll die Vermischung, das Zusammenwirken heterogener Elemente transversal durch Geschichte und Bereiche thematisieren und dabei auch die für Guattari so essentiellen semiotischen Aspekt ansprechen. Frei nach Guattari können die einzelnen Kapitel dieses Buches gleichermaßen als Pfade/Stimmen verstanden werden, die nur vordergründig unterschiedliche Perioden und Aspekte im deleuzo-guattarischen Werk aufzeigen und darstellen. Die Technikphilosophie, die hier nachgezeichnet wird, ist dann ein rhizomatisches Bündel an Pfaden/Stimmen, unterschiedlichen Wegen, die sich manchmal treffen und manchmal in vermeintlich verschiedene Richtungen verlaufen, und sie ist ein Stimmengewirr, eine Kakophonie an Stimmen, eine »Polyphonie«. Die Pfade/Stimmen, denen die folgenden Kapitel nachgehen wirken manchmal zusammen, manchmal ineinander und manchmal gar gegeneinander und doch kreuzen sie sich immer wieder in der Frage der Technik. Es gibt eine Vielzahl anderer Pfade/Stimmen, denen es sich nachzugehen und zuzuhören lohnen würde, die jedoch in diesem Buch nicht oder nur am Rande vorkommen können. Ich habe versucht, die für mich am relevantesten erscheinenden Pfade/Stimmen zu sammeln und darzustellen, um so zumindest ein erstes Bild jener komplexen Technikphilosophie zu skizzieren, die Deleuze und Guattari quer durch ihr Werk entwickeln.

In Kapitel 2 »Die Genese der Maschine« beschäftige ich mich mit der Genese des für Deleuze und vor allem für Guattari so wichtigen und quer durch ihr Werk relevanten Begriffs der Maschine in den Frühwerken von Guattari. In seinen politischen und psychoanalytischen Texten der späten 1950er und frühen 1960er Jahre bildet sich schrittweise ein Konzept der Maschine heraus, das den revolutionären und unbestimmbaren Einschnitt in starre Strukturen theoretisieren soll. Mit der Abkehr von seinem Mentor Jacques Lacan und damit auch vom Strukturalismus, schlägt Guattari den »Mythos der Maschine« als einen möglichen Ausweg aus strukturalistischen Engführungen von Geschichte, Politik und Unbewusstem vor. Es sind die Begegnungen mit konkreten Technologien und technischen Objekten, u.a. Druckmaschinen in der Pädagogik, Aufnahmegeräten und Schreibmaschinen in der psychoanalytischen Praxis und einer Tabelle in der Organisation einer Institution wie La Borde, die Guattari anleiten, ein anderes Verständnis von Technologien zu entwickeln. Dieses Verständnis, so argumentiere ich, hat sich in die Konzeption der Maschine eingeschrieben und stellt einen zentralen Aspekt dieses Konzepts dar. Die Maschine, zuerst bei Guattari und später in Zusammenarbeit mit Deleuze, stellt unter anderem auch den Versuch dar, Technologien und technische Objekte anders zu denken, um deren zentrale Rolle in Gruppenprozessen beschreiben zu können. Die Weiterentwicklung des frühen Maschinenbegriffs zum Maschinenpluralismus des Anti-Ödipus ist dabei ebenso von der Auseinandersetzung mit technikphilosophischen Fragen mitbestimmt. Auch wenn der Begriff der Maschine bei Deleuze und Guattari weit über technische Maschinen hinausweist, ist die Frage der Technik dennoch eine zentrale im Konzept der Maschine.

In Kapitel 3 »Maschinengeschichten oder die Technik in der Maschine« gehe ich dieser Beziehung zwischen technischen Maschinen und den sie bestimmenden sozialen oder gesellschaftlichen Maschinen genauer nach. Hierfür werden zunächst einige der wichtigsten Einflüsse auf das spezielle Verständnis der Maschine, wie es Deleuze und Guattari entwickeln, nachgezeichnet und in aller Kürze dargestellt. Dabei soll deutlich werden, in welchen Traditionen des »erweiterten Maschinenverständnisses« sich Deleuze und Guattari bewusst verorten und von welchen sie sich abgrenzen wollen. Den Kern dieses Kapitels stellt die darauf anschließende Lektüre eines grundlegend technikphilosophischen Textes dar, nämlich des Appendix des Anti-Ödipus, die »Programmatische Bilanz für Wunschmaschinen«. In diesem Text konkretisieren Deleuze und Guattari ihren Maschinenbegriff in direkter Auseinandersetzung mit der Frage nach den technischen Maschinen. Dabei positionieren sie sich klar gegen das, was sie das »klassische Schema« innerhalb der Technikphilosophie nennen, nämlich Erzählungen vom Menschen und seinem (im Sinne der Organprojektionsthese) projizierten Werkzeug und der damit einhergehenden Trennungen von Mensch/Gesellschaft und Technik. In einem Exkurs zum Technikverständnis bei Marx und der Frage, inwiefern dieser einen Technikdeterminismus vertrat, wird deutlich, dass Deleuze und Guattari vor allem die zu großen, weil abstrakten, Kategorien von Technik, Mensch und Gesellschaft kritisieren, und es die Vielfalt der Maschinen ist, die diese Kategorien transversal durchkreuzt. Weder leitet Technik die Entwicklung der Gesellschaft an, noch ist Technik völlig neutral oder vollends bestimmt von gesellschaftlichen Prozessen, vielmehr geht es um eine komplexe Ko-Konstituierung, eine »immanente Kausalität«.

In Kapitel 4 »Gefüge der Technik« widme ich mich dem Begriff des Gefüges. Es wird gezeigt, inwiefern der Maschinenpluralismus des Anti-Ödipus in den darauffolgenden Schriften, vor allem in Tausend Plateaus, dem Konzept der maschinellen Gefüge weicht. Das Gefüge stellt dabei ein hochkomplexes Konzept der Ko-Konstituierung sehr heterogener Elemente dar, darunter eben auch Technologien. Deleuze und Guattari greifen dabei, wie ich zeige, auf eine ganze Reihe technikphilosophischer, -geschichtlicher und -anthropologischer Konzepte zurück. Durch Exkurse zu André Leroi-Gourhan und Gilbert Simondon werden die Begriffe des »Phylums« und des »Milieus« sowie die Prozesse der »Individuierung« auf ihre Rolle in der deleuzo-guattarischen Technikphilosophie hin befragt. Es ist vor allem eine Auseinandersetzung mit evolutionären Perspektiven auf Technikentwicklung, die Deleuze und Guattari hier diskutieren. Im Rahmen ihrer Überlegungen zur Nomadologie und Metallurgie wird gezeigt, inwiefern das Konzept des Gefüges technologische Entwicklung nicht durch lineare Abstammungslinien versteht, sondern durch »Involution« beziehungsweise das, was ich mit Haraway als Prozesse der »Sympoiese« bezeichne. Zentrales Ziel ist zu zeigen, dass das Konzept des Gefüges noch radikaler als der Begriff der Maschine vermeintlich getrennte Kategorien wie Gesellschaft, Mensch, Natur und vor allem Technik in Frage stellt und dynamische, symbiotische, prozessuale und vor allem transversale Konnektionen in den Blick nimmt.

In Kapitel 5 »Spinoza – Conatus und Maschine« frage ich nach den spinozistischen Elementen in der deleuzo-guattarischen Technikphilosophie. Dabei wird zunächst Spinozas eigenen Auseinandersetzungen mit der Frage der Technik nachgegangen und nach den Verschränkungen seines Brotberufs als Linsenschleifer, seiner wissenschaftlichen Expertise im Feld der Optik und seiner Philosophie gefragt. Auf Deleuzes Interpretation Spinozas aufbauend, werden schließlich zwei zentrale Aspekte aus Spinozas Theorie herausgegriffen. Zunächst wird Spinozas Körper-Konzept und damit verbunden sein Verständnis von Affekten dargestellt. Dabei zeigt sich, dass für Spinoza Technologien und technische Objekte keine grundlegenden Unterschiede zu anderen Körpern aufweisen, all diese Körper und ihre vielfältigen Zusammensetzungen durch eine Ontologie beschrieben werden. Dies ermöglicht, das Verständnis von Kompositionen heterogener Körper, wie sie das maschinelle Gefüge beschreibt, zu rekonzeptualisieren und nach den je konkreten Affektzirkulationen zu fragen. Der zweite Aspekt der spinozistischen Philosophie, der für die deleuzo-guattarische Technikphilosophie relevant ist, betrifft das »Problem des Ausdrucks«, wie es Deleuze diskutiert. So zeige ich, wie sich mit dem Konzept des Ausdrucks, verstanden als immanente Kausalität, das Verhältnis von Gesellschaft und Technik in seiner gegenseitigen Konstituierung und Aktualisierung fassen lässt.

In Kapitel 6 »Kontrolle und Störung« widme ich mich schließlich dem Spätwerk von Deleuze und hier vor allem dem Text »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«. Im Zentrum des Kapitels stehen jedoch keine medientheoretische Auseinandersetzung und auch keine reine Analyse »neuer Technologien«, vielmehr soll die Lektüre dieses Textes als konkrete Anwendung des sympoietischen Verhältnisses von Technologien und Gesellschaft verstanden werden. In Exkursen zu Foucaults Machtkonzeption sowie dessen Begriffe Biomacht und Gouvernementalitätsmacht sollen politische Fragestellungen eröffnet werden, die schließlich durch einen Exkurs zu William Burroughs Kontrollbegriff auf ihr Potential für widerständige, emanzipative Prozesse hin befragt werden. Deleuze beschreibt in dieser Spätphase seines Werkes, so zeige ich, nicht bloß eine neue Machttechnologie, sondern verweist auch auf die minoritären Widerstände, die er als primär versteht und auf die Kontrollgesellschaften reagieren zu scheinen. Dazu diskutiere ich Deleuzes Überlegungen zu den Möglichkeiten solcher emanzipativen Praktiken anhand seines Begriffs der »Vakuolen der Nichtkommunikation«.

In Kapitel 7 »Post-mediale Polyphonie« wende ich mich Guattaris Spätwerk zu. So wird zunächst nach seiner Kapitalismus-Konzeption gefragt und der Rolle, die Technologien in dieser Konzeption spielen. Doch auch Guattaris Spätwerk, so wird argumentiert, ist vor allem den Möglichkeiten des Widerstands und der emanzipativen Kämpfe von Minoritäten gewidmet, fragt nach den Potentialen neuer Räume der Freiheit und nach der Aktivierung des minoritären Wissens für eben diese Kämpfe, nach dem also, was Guattari »molekulare Revolutionen« nennt. Im Zentrum dieser Überlegungen steht Guattaris Konzept der »Post-Media«, das nicht nur medientheoretische Fragestellungen eröffnet, sondern auch in vielfacher Weise an die deleuzo-guattarische Technikphilosophie anschließt. Besonderer Fokus wird schließlich auf Guattaris Praxis in den freien Radios gelegt, die Guattari politisch stark beeinflussten und auch seine Techniktheorie informierten.

In Kapitel 8 »Minoritäre Technologien als technopoetische Fluchtlinien« greife ich die zuvor entwickelten Überlegungen zur Rolle von Technologien und technischen Objekten auf, um angelehnt an das deleuzo-guattarische Konzept der »minoritären Literatur« das Konzept der »minoritären Technologien« zu entwickeln. Aufbauend auf den Überlegungen zum »Minoritär-Werden«, soll die deleuzo-guattarische Technikphilosophie mit Deleuze und Guattaris expliziteren politischen Überlegungen verbunden und so erweitert und aktualisiert werden. Schließlich wird mein Konzept der »minoritären Technologien« eingeführt und anhand dreier »Fluchtlinien« nachgezeichnet wie näher exemplifiziert. Dazu wird Guattaris Science Fiction-Filmskript A Love of UIQ nach seiner technikphilosophischen Fabulationskraft befragt, die Frage der Ökologie auf ihre Verschränkung mit der Technik untersucht und schließlich die AI-getriebene Technologie der Gesichtserkennung problematisiert. In allen drei Bereichen stehen jedoch vor allem Prozesse des Widerstands, der emanzipativen Kämpfe und deren Verwendung von »minoritären Technologien« im Fokus.

Im finalen Kapitel 9 »Zehn Thesen für eine kritisch-spekulative Technikphilosophie der minoritären Technologien« werden abschließend die Eckpunkte der in diesem Buch nachgezeichneten und weiterentwickelten deleuzo-guattarischen Technikphilosophie anhand von zehn Thesen rekapituliert.

2.Die Genese der Maschine

Es funktioniert überall, bald rastlos, dann wieder mit Unterbrechungen. Es atmet, wärmt, isst. Es scheißt, es fickt. Das Es … Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. Angeschlossen eine Organmaschine an eine Quellemaschine: der Strom, von dieser hervorgebracht, wird von jener unterbrochen. (AÖ, 7)

Diese oft zitierte Eingangspassage des ersten von Gilles Deleuze und Félix Guattari gemeinsam verfassten Werkes, Anti-Ödipus (Deleuze/Guattari 1977a; zitiert als AÖ), ist aus vielerlei Gründen charakteristisch für das gesamte Buch. Gleich in den ersten Sätzen schlagen Deleuze und Guattari einen ungewohnten und für eine akademische Publikation durchaus provozierenden Ton an, der das gesamte Buch durchzieht. Darüber hinaus sind es vor allem zwei zentrale Aspekte, die zuvorderst auffallen: Erstens die kritische, nahezu ironisierende Verwendung von psychoanalytischem Vokabular, und zweitens der prominent platzierte Begriff der Maschine. Von Wunschmaschinen und Kriegsmaschinen über abstrakte Maschinen bis zu maschinellen Gefügen und Literaturmaschinen, um nur einige Maschinenarten zu nennen; für die Philosophie von Deleuze und Guattari scheint zu gelten: »Überall sind Maschinen«. Bei dieser Omnipräsenz des Maschinenbegriffs liegt die Frage nach der Technik, nach dem, was Deleuze und Guattari die »technische Maschine« nennen, nahe. Welche Rolle also spielt nun diese Frage nach der Technik in einer Philosophie, die wie keine andere rund um den Begriff der Maschine aufgebaut ist, einem Begriff, der nicht nur im Alltagsverständnis, sondern auch in zahllosen philosophischen Schriften als genuin technisch verstanden wird.

Wie ich im Folgenden zeigen werde, sind die Maschinen im Werk von Deleuze und Guattari sehr viel breiter konzipiert als die bloß technisch verstandene Maschine. Denn Deleuze und Guattari gehen mit ihrem Verständnis der Maschine über metaphorische Verwendungen einer sozialen, gesellschaftlichen oder ökonomischen Maschinerie hinaus, entwickeln einen offenen Maschinenbegriff. Um der Komplexität und Vielfältigkeit des Maschinenkonzepts gerecht zu werden, kann es nicht genügen, bloß verschiedene Definitionen zu zitieren oder verschiedene Maschinentypen, die Deleuze und Guattari entwickeln, zu erklären. Vielmehr werde ich in diesem Kapitel die Anfänge der Maschine, die ersten Schriften, in denen dieser Begriff zunächst im Werk von Guattari auftaucht, nachzeichnen und historisch wie theoretisch in seinen damaligen Schriften sowie seinen psychoanalytischen wie auch politischen Praktiken situieren. Dieses close reading der früheren Texte ermöglicht in einem zweiten Schritt ein umfassenderes Verständnis der Komplexität und Breite dieses Begriffs. Schließlich werde ich sowohl im letzten Teil dieses Kapitels als auch besonders im darauf folgenden Kapitel nachzeichnen, was die technikphilosophischen Implikationen dieses Begriffs sind.

Diese Nachzeichnung des Maschinenbegriffs im deleuzo-guattarischen Werk kann und soll keine erschöpfende Erklärung aller Aspekte des Maschinenkonzepts leisten, sondern die Darstellung wird mit ständigem Fokus auf die, für dieses Buch zentralen Fragen, nach den Spuren einer Technikphilosophie und dem Zusammenhang von Technik und Politik vorgenommen. Wie bereits eingangs erläutert, geht die Maschine weit über die Frage von Technik hinaus, gleichzeitig wird sie aber von Deleuze und Guattari – wie ich zeigen werde – in einer ständigen Auseinandersetzung mit der Frage der Technik entwickelt, und so stellen die politischen wie technikphilosophischen Aspekte eine zentrale Dimension des Maschinenbegriffs dar. Gleichzeitig muss im Umkehrschluss aber auch die Frage nach der Technik als eine maschinische verstanden werden. Diese Umkehrung der Technik als maschinisch wird von Guattari in seinem 1990 gehaltenen Vortrag »Über Maschinen« (Guattari 1995; zitiert als ÜM) klar formuliert, wenn er ausführt:

In der Geschichte der Philosophie hält man das Problem der Maschine allgemein für einen zweitrangigen Bestandteil einer allgemeineren Frage, jener der techne, der Techniken. Ich möchte hier eine Umkehrung der Sichtweise vorschlagen, in der das Problem der Technik zur Teilmenge einer viel umfassenderen maschinischen Problematik wird. Diese »Maschine« ist auf das Außen und auf ihre maschinische Umwelt geöffnet und unterhält alle Arten von Beziehungen zu sozialen Komponenten und individuellen Subjektivitäten. Es geht also darum, das Konzept der technologischen Maschine zu dem der maschinischen Gefüge zu erweitern, eine Kategorie, die alles umfasst, was sich als Maschine auf den verschiedenen ontologischen Registern und Trägern entwickelt. Statt einer Opposition zwischen dem Sein und der Maschine, dem Sein und dem Subjekt, impliziert diese neue Konzeption der Maschine, dass das Sein sich qualitativ differenziert und in eine ontologische Pluralität mündet, die selbst die Verlängerung der Schöpfungskraft maschinischer Vektoren ist. (ÜM, 118 f)

In diesem vielfältigen und hochkomplexen Zitat finden sich bereits nahezu alle Elemente einer möglichen deleuzo-guattarischen Technikphilosophie, wie ich sie in den folgenden Kapiteln entwickeln werde, auf einige wenige Sätze verdichtet. Es wird nun in diesem und den folgenden Kapiteln versucht, das Primat der Maschine gegenüber den konkreten technischen Maschinen zu erläutern. Zunächst und zuerst soll die Genese des Maschinenbegriffes zeigen, inwiefern technische Maschinen immer schon ein nicht unbedeutender Teil des Maschinenkonzepts und seiner unterschiedlichen Ausformungen waren.

2.1Die Maschine, ein blasphemisch-ironischer Mythos

Im November 1990 in Valence auf einer Tagung zum Thema »Cinéma et littérature: Les temps des machines« hielt Félix Guattari also jenen Vortrag, aus dem oben zitiert wurde, und der den gleichermaßen einfachen wie bezeichnenden Titel »Über Maschinen« trägt (publiziert 1993 unter dem französischen Originaltitel: »A propos des machines«). Knappe zwei Jahre vor seinem frühen Tod im August 1992 blickt Guattari in diesem Text auf den wohl unbestritten wichtigsten theoretischen Begriff, ja auf das zentrale Konzept seines Denkens, die Maschine, zurück. Der Begriff der Maschine taucht bereits in Frühschriften Guattaris in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre auf, wird zunehmend präsenter und spätestens in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu dem zentralen Konzept seiner philosophischen, psychoanalytischen wie politischen Texte. Wie Guattari im oben erwähnten Vortrag selbst resümiert, stellt die Maschine so etwas wie den »Kern« (ÜM, 115) seiner Überlegungen dar, sei es in seiner theoretischen Arbeit, seiner psychoanalytischen Praxis oder auch seines politischen und militanten Aktivismus, die Maschine spielt in all diesen Feldern eine tragende Rolle.

»Das Thema der Maschine beschäftigt mich seit geraumer Zeit, und vielleicht ist sie für mich eher ein affektives als ein konzeptuelles Objekt. Wie viele von Ihnen bin ich von der Maschine immer schon angezogen und fasziniert gewesen.« (ÜM, 115) Mit diesen einleitenden Worten blickt Guattari nicht nur auf sein Lebenswerk zurück, sondern verdeutlicht auch seine Methode. Guattaris Schriften entziehen sich jeglicher fixen Einordnung, kreuzen die Disziplinen und Stile transversal, verbinden verschiedenste Fachgebiete, von Molekularphysik, Biologie, Chemie, Psychoanalyse und Philosophie über Aktivismus, und Ingenieurswissenschaften, Architektur bis hin zu Kunst und Science Fiction. Dieses breite Interesse ist einerseits seinem eigenen fachlichen Hintergrund geschuldet. Guattari studierte zunächst Pharmakologie, brach dies nach ein paar Jahren jedoch zu Gunsten eines Philosophiestudiums an der Sorbonne ab, arbeitete schließlich an der experimentell und politisch ausgerichteten psychiatrischen Klinik La Borde gemeinsam mit Jean Oury und ließ sich zum Psychoanalytiker ausbilden, darüber hinaus war er seit seiner Jugend in zahlreichen politischen Bewegungen aktiv.13 Andererseits hat die disziplinäre Vielfalt in seinen Texten auch Methode, sind seine Konzepte schließlich stets transversal angelegt und daher notwendigerweise transdisziplinär. Wie Guattari im obigen Zitat selbst betont, geht er in seinen Texten und in der Entwicklung von Konzepten oftmals weniger konzeptionell als affektiv vor. Er übernimmt Begriffe vor allem, weil die Begegnung mit diesen Begriffen ein Denken ausgelöst hat, eine Dynamik, die ihn affiziert, und so sind viele seiner Texte ein affektives Patchwork an Konzepten, indirekten Zitaten, Beispielen, Kritiken und Assoziationen. So formuliert Guattari bezüglich seiner Methode weiter: »Viel eher als das Recht auf ein Denken, das vorgibt, eine wissenschaftliche, axiomatische Deskription zu liefern, beanspruche ich das Recht auf eine Form des Denkens, das entlang affektiver Achsen, also über Affekte vorgeht.« (ÜM, 115 f)

Dieses affektive Vorgehen ist es auch, das Guattari schon früh zum Begriff der Maschine führt. Es scheint vor allem eine Faszination für diesen Begriff zu sein, eine Faszination für die Vielfalt und Möglichkeiten, die der Maschinenbegriff bereits in der Alltagssprache aufweist, aber darüber hinaus auch in philosophischen und anderen theoretischen Texten. Diese Faszination wird besonders deutlich in einer Episode aus Guattaris Zeit als Student an der Sorbonne, die er in oben erwähntem Vortrag erzählt und als erste wichtige Begegnung mit dem Begriff der Maschine anführt. Guattari sollte ein Referat über Grenzen der Arbeitsteilung von Georges Friedmann (1959) halten und noch 1990 erinnert er sich, an den »erschrockenen Blick des Professors, als ich über Friedmann schimpfte.« In Kohärenz mit seinem philosophischen Denken der Maschine erklärt Guattari seine harsche Friedmann-Kritik von damals weiter: »Damals war ich sehr deutlich gegen alle mechanistischen Sichtweisen der Maschine eingestellt. Vielleicht mit einem Hang zum Szientismus dachte ich, dass man eine Art Rettung von der Maschine erwarten dürfte.« (ÜM, 115)

Diese Faszination mit dem Begriff der Maschine ist keineswegs außergewöhnlich, denn gerade in den 1950er Jahren, als Guattari seine ersten theoretischen Texte verfasst, sind es vor allem zwei Theorien, die die französischen Universitäten und die diversen fachlichen Diskurse beherrschen. Auf der einen Seite ist es der Strukturalismus, der in allen möglichen Disziplinen vorherrschend wurde, nicht nur in der Philosophie, sondern auch in anderen für Guattaris Denken zentralen Feldern, nämlich der Psychoanalyse, der marxistischen Theorie und der Semiotik. Andererseits ist es weit über den französischen Diskurs hinaus die Theorie der Kybernetik, von der Guattari zumindest teilweise ebenfalls sehr fasziniert war und auf deren diverse Entwicklungen er trotz vehementer Kritik auch immer wieder Bezug nahm. Besonders in kybernetisch gefärbten Untersuchungen ist der Begriff der Maschine häufig zu finden, es darf also nicht verwundern, dass gerade zu dieser Zeit Guattari, wie er selbst sagt, vom Begriff der Maschine fasziniert war.

Die späten 1950er Jahre, in denen Guattari zu schreiben beginnt, sind geprägt von den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und der faschistischen Machtübernahme auch in Frankreich, der zu dieser Zeit vorherrschenden Situation des Kalten Krieges zwischen sowjetischem Totalitarismus und imperialem Kapitalismus sowie den antikolonialen Befreiungsbewegungen, wie dem Algerienkrieg. In dieser angespannten Situation wird Technik unter dem Eindruck der industriellen Massenvernichtung von Millionen von Menschen hauptsächlich in Bezug zum militaristisch-industriellen Komplex verhandelt. Auch Guattari ist vor allem in seinen politischen Schriften an dieser Perspektive interessiert. Im Gegensatz jedoch zu technikkritischeren Philosoph*innen wie Theodor Adorno, Max Horkheimer, Martin Heidegger oder auch Günther Anders ist Guattari weniger gegen Technologien wie die Atomkraft engagiert, sondern interessiert sich vielmehr, von der Kybernetik befeuert, für eine andere, sich bereits abzeichnende massive technische Revolution, nämlich der digitalen Wende. Schon in frühen Schriften ist Guattari aus kritischer Distanz an den Gefahren und Möglichkeiten dieser Informationsmaschinen interessiert. Guattari ist also bei Weitem nicht der Einzige, der gerade zu jener Zeit den Begriff der Maschine als fruchtbares Konzept zu entdecken meint. Es ist auffällig, dass die Maschine als Begriff, Metapher und Konzept immer genau dann besonders häufig auftaucht, wenn tiefgreifende technologische Umwälzungen oder Transformationen stattfinden. Gerade in Zeiten des technologischen Umbruchs scheint der Begriff der Maschine ein nützlicher, weil eingängiger Begriff zu sein. Die Maschine kann dabei gleichermaßen eine deterministische und immer übermächtiger werdende Maschinerie beschreiben als auch die innovative Zusammensetzung unterschiedlicher nicht nur technischer Komponenten. Die Maschine kann sowohl eine wahrgenommene Eigenmächtigkeit der Technologien, also eine zunehmende Autonomie der Technologie, wie auch die fundamentale Verwobenheit von technischen Objekten und nicht technischen Elementen in ihrem Zusammenspiel beschreiben. Ein Auftauchen des Maschinenbegriffs ist also gerade in den späten 1950er und frühen 1960er Jahren keine Seltenheit.

So ist es also auch zu jener Zeit, in der Guattari studiert und seine ersten theoretischen Texte verfasst, nicht ungewöhnlich, mit dem Begriff der Maschine zu arbeiten, sei es ein mechanistischer oder ein offener Maschinenbegriff. Wenn Guattari allerdings beschreibt, dass er schon früh überzeugt war, »dass man eine Art Rettung von der Maschine erwarten dürfte« (ÜM, 115), so ist das, wenn vielleicht auch nicht gerade falsch, doch eine Übertreibung. Denn ganz besonders in den frühen Texten, bevor er also konkret am Konzept der Maschine gearbeitet hat, taucht der Begriff selbst bereits einige Male auf, interessanterweise aber vor allem in einem mechanistischen und deterministischen Verständnis – also gerade jenem Maschinen-Verständnis, das er bei Friedmann als Student kritisiert haben will. Wie Henning Schmidgen (1997) in seiner detaillierten Studie Das Unbewusste der Maschinen. Konzeptionen des Psychischen bei Guattari, Deleuze und Lacan aufzeigt, verbleibt noch in den Schriften der frühen 1960er Jahre »der Begriff der Maschine bei Guattari in einer oft konventionellen Metaphorik« (Schmidgen 1997, 54). Taucht in diesen Frühschriften die Maschine auf, so meist eher als Metapher denn als eigenes Konzept. Schmidgen spricht hier von einem »metaphorischen Maschinenbegriff, in dem die Maschine für das Starre, das Anonyme und das blind Funktionierende steht.« (Schmidgen 1997, 54) So finden sich in den unterschiedlichen kürzeren Texten dieser Zeit Formulierungen, die eine – so Guattari – kaum Freiraum gebende Gesellschaft als »sozial[e] Mechanik« (Guattari 1976e, 86) beschreiben, diese Mechanik sei maßgeblich bestimmt vom Kapitalismus und dessen »Ideal von ›Produktivmaschinen fressenden Konsummaschinen‹« (Guattari 1976b, 43),14 dem also, was er noch genereller und verallgemeinernder an anderen Stellen die »economic machine(s)« nennt (Guattari 2015c, 126 sowie 131). Dieses ökonomische System, so Guattari, kreiert Institutionen »that transform individuals into the cogs of a vast machine« (Guattari 2015c, 129). Zu diesen Institutionsmaschinen zählt Guattari z.B. psychiatrische Anstalten, für ihn nur weitere »giant imprisoning machines [that] increase the opacity of disturbances, the solitude of the patients, the nonsense of their existence« (Guattari 2015c, 126 f). Auch der Nationalstaat wird an mehreren Stellen in dieser Zeit als determinierende Maschine beschrieben, so spricht Guattari von Staaten als »machine bureaucratique« (Guattari zitiert nach Schmidgen 1997, 54) sowie überhaupt von der Koppelung der »state machine and the machine of repression« (Guattari 2015e, 220). Diese Staatsmaschinen sind jedoch, so gibt sich Guattari in den 1960er Jahren – changierend zwischen trotzkistisch-marxistischer und von Lacan geprägter psychoanalytischer Sprache – überzeugt, niemals losgelöst von den wesentlich wirkmächtigeren ökonomischen Maschinen. In Bezug auf die Zuspitzung des Kalten Kriegs stellt Guattari dar, dass auf beiden Seiten (dem »Westen« und dem »Osten«) das, was er »integratives Vater-König-Gott-Modell« nennt, sprich traditionelle Herrschaftsstrukturen, zwar ihre Aggressivität und Repression steigern, jedoch gleichermaßen machtlos gegen globale ökonomische Entwicklungen zu sein scheinen. Man beachte auch hier wieder den Bezug zum Begriff einer selbstlaufenden, kontinuierlichen und autonomen Maschine. Der zunehmende Machtverlust dieses Modells also, so Guattari,

wird besonders deutlich in Phasen sozialer Regression, zum Beispiel wenn ein faschistisches, diktatorisches Regime mittels persönlicher, präsidialer Macht bei den Massen pseudo-phallische Bilder erzeugt, eine plebiszitäre Totemisierung eines Führers, der im übrigen ohne wirklichen Einfluss auf die signifikante Maschine des ökonomischen Apparats bleibt, die im Gegenteil, kontinuierlich ihre eigene Macht und Funktionsautonomie verstärkt. (Guattari 1976b, 42)

In dem erstmals 1966 publizierten Text »Reflections on Institutional Psychotherapy for Philosophers« (Guattari 2015c) verfolgt er oben angeführte Überlegungen weiter. Das traditionelle Herrschaftsmodell wurde ersetzt, an Stelle des religiösen Gottes ist für Guattari nun »the supreme economic God« (Guattari 2015c, 128) getreten. Der Staat ist Teil der signifizierenden ökonomisch Maschinen geworden, wie Guattari gleichermaßen als psychoanalytischer Theoretiker wie als Praktiker beobachtet: »The state, as an institutional object, has become a signifying machine, systematically reifying social processes.« (Guattari 2015c, 128) Später in diesem Text stellt Guattari daher die Frage, wie Subjektwerdung in einer Zeit funktioniert, in der sich die traditionellen Herrschaftsstrukturen verschieben, was also ist die Subjektivierung im Kapitalismus? Den herkömmlichen psychoanalytischen Theorien, die, so Guattari, damals noch zu sehr auf den traditionellen »großen Anderen«, wie Familienvater, Kirche, Staat, Gott, fokussiert sind, entgehe, dass Subjektivierungsprozesse in einem konsumorientierten globalen Kapitalismus völlig anders agieren würden:

Without a respectable army, church and recognized god, or a stable social order, can the passage to adulthood only take place by indulging in the drugs of consumer society? The type of car, partner or role I covet determines the way in which »I« escapes me. I is an other. But this other is not a subject. It is a signifying machine that predetermines what will be good or bad for me and those like me in a potential area of consumption. (Guattari 2015c, 129)

Nicht zufällig könnte diese Beschreibung einer immer mehr auf Konsumation denn auf Produktion orientierten Ökonomie, auch eine Definition aktueller Algorithmen sein, wie sie bei jedem größeren Onlinedienst, von Amazon bis Facebook, zu finden sind. Ein Algorithmus, der zu wissen meint, was gut und was schlecht für einen ist, der um Interessen, Vorlieben und bisherige Konsumhistorie »weiß«. In der Logik dieser signifizierenden Maschine ist, wie Guattari weiter ausführt, selbst eine demokratische Wahl bloß noch eine Konsumentscheidung, und der Austausch des »Father President« Teil des Spektakels der Maschine. (vgl. Guattari 2015c, 129 f) Das »Ich«, so schreibt Guattari, entflieht dabei, nicht mehr ein Subjekt wird angerufen, sondern eine »signifying machine«. »I is an other«, denn nicht eine akkurate Repräsentation des Ich steht im Zentrum des (Markt)Interesses, sondern damals wie auch heute im Zeitalter von Big Data geht es vielmehr um passende aussagekräftige Datensätze, um das, was Deleuze 25 Jahre später in seinem Postskriptum über die Kontrollgesellschaften (Deleuze 1993e; zitiert als PüK) als »Dividuum« bezeichnen wird.15

Es ist diese signifizierende Maschine, die also immer wieder in den Texten dieser Zeit beschworen wird. Die Metapher der Maschine scheint in den zitierten Stellen für all das zu stehen, was es aus Guattaris Sicht zu bekämpfen gilt, für die Allmacht eines schrittweise globalisierenden (in den Worten Guattaris eines »integrierten weltweiten«) Kapitalismus, sowie für Staatssysteme, die gegen diese ökonomische Macht gleichermaßen ratlos wie machtlos scheinen und trotzdem oder gerade deswegen durch die verschiedensten Institutionen, von Gefängnissen über geschlossene psychiatrische Anstalten bis hin zu Schulen, Universitäten und Krankenhäusern repressiv agieren. Diese Ohnmacht gegenüber einem repressiven Staat, seinen Institutionen und einem weltweiten Kapitalismus beschreibt Guattari, wie zitiert, als das Gefühl, eine Schraube in der maschinellen Mechanik zu sein, einer Maschine also, die immerzu gnadenlos weiterläuft. So zeitgemäß manche dieser zitierten Stellen angesichts heutiger Verhältnisse auch erscheinen mögen, so bekannt und allgemein sind sie. Doch Guattaris Bezug zur Maschine, so möchte ich hier argumentieren, ist mehr als nur allzu bekannte Metaphern wieder aufzuwärmen und sich vereinfachender Bilder der Maschine zu bedienen. Denn so ungenau die Verwendung der Maschinenmetapher in dieser frühen Phase noch zu sein scheint, lässt sich doch erkennen, dass Guattari mit dem immer direkteren Bezug auf diese Metapher eine ganz konkrete politische, gesellschaftliche und psychische Situation anzusprechen und zu analysieren versucht. Ähnlich wie Lacan, versucht Guattari nämlich von herkömmlichen psychoanalytischen Tropen Abstand zu nehmen, Tropen, die, so gibt er sich überzeugt, weder die Lebensrealität noch die Problemlage im Frankreich der frühen 1960er Jahre widerspiegeln. Besonders deutlich wird dies in seinem Text »Die Übertragung« (Guattari 1976 f) von 1964. In diesem noch in vielerlei Aspekten lacanianischen Text unternimmt Guattari bereits erste Versuche, die Konzeption des Unbewussten zu verändern (vgl. Schmidgen 1997, 56), ein Unternehmen, das viele seiner Bücher und Texte antreibt, vor allem aber The Machinic Unconscious, das erstmals 1979 veröffentlicht wurde (siehe Guattari 2011a). Um zeitgemäße Psychoanalyse zu betreiben, aber auch um relevante psychoanalytische Theorie zu produzieren, gilt es für Guattari, die in der Psychoanalyse vorherrschenden Rückbezüge auf Mythen nicht bloß zu hinterfragen, sondern loszuwerden. Die Psychoanalyse, so gibt sich Guattari überzeugt, sei im damaligen Frankreich deswegen so populär, weil sie allzu gut mit den Herrschaftsstrukturen zusammenarbeitet. Schließlich sei das Ziel der meisten Psychoanalytiker*innen, den*die Analysand*in wieder als funktionierendes Glied in die Gesellschaft zurückzuführen. »Wie auch die analytische Richtung aussehen mag, die Berufung auf ein prädeterminiertes Modell der Normalität ist immer darin enthalten.« (Guattari 1976 f, 103) Da sich diese Norm – so Guattari weiter – nicht in dieser Allgemeinheit in modernen kapitalistischen Gesellschaften findet, greift die Psychoanalyse auf antike Mythen zurück. So mache

der Psychoanalytiker Anleihen bei den Mythen früherer Gesellschaften und bietet uns dann ein Triebmodell an, einen zugleich neuen und zusammengesetzten Typ von Subjektivität und Familienbeziehungen, einen Synkretismus aus archaischen und hochmodernen Elementen. Wichtig für die herrschende soziale Ordnung ist allein die Tatsache, dass das Modell in der gegenwärtigen Gesellschaft funktioniert. (Guattari 1976 f, 104)

Es mag nun nicht weiter überraschen, dass es gerade der Ödipusmythos und dessen Bezug auf die Kleinfamilie ist, die Guattari hier ganze acht Jahre vor der Veröffentlichung des Anti-Ödipus kritisiert. Dabei geht es Guattari vor allem um die Dominanz des Ödipusmythos in den Freud nachfolgenden psychoanalytischen Schriften, wo Ödipus nahezu »vergöttlicht« (Guattari 1976 f, 102) wird. Der Vorwurf ist wesentlich mehr auf die Entwicklung der Psychoanalyse nach Freud gerichtet, denn auf Freud selbst. Denn der, so betont Guattari an einer anderen Stelle, hätte sich einfach dessen bedient, was er als passend empfunden hätte, sei es griechische Mythologie oder anderes. Die Weiterentwicklung der »Freudschen Ideologie« (vgl. Guattari 1976e, 93) hingegen hätte sich, so kritisiert Guattari, immer mehr auf die antiken Mythen fixiert.16 So resümiert Guattari also bereits 1964: »Aber man sollte keinen Mythos des Mythos produzieren! Die antiken Bezugsmythen, beispielsweise über das Ödipus-Thema, haben weder etwas mit den imaginären Bereichen und symbolischen Gliederungen der heutigen Kleinfamilie zu tun, noch mit unserem sozialen Koordinatensystem.« (Guattari 1976 f, 102)

Anstatt sich der antiken Mythen als Bezugsmodelle zu bedienen, schlägt Guattari vor, dass sich die Psychoanalyse einem neuen »Mythos« zuwenden könnte, nämlich jenem Mythos, der soziale Verhältnisse und das Unterbewusste zunehmend zu dominieren scheint. Wie zuvor bereits erwähnt, zeigt sich hier abermals der große Einfluss der Kybernetik, denn es sind für Guattari vor allem die »kybernetischen Maschinen« die das Soziale, Politische und Psychische beeinflussen.17 Statt antiker Mythen ist es für Guattari also der »Mythos der Maschine«, dem sich eine zeitgemäße Psychoanalyse widmen sollte. Diese Ersetzung des einen durch einen anderen Mythos ist – wie in Guattaris Texten oftmals – durchaus als ironisch zu verstehen. So schreibt er selbst: »Ich erinnere an diesen Mythos der Maschine, um die Absurdität herauszukehren.« (Guattari 1976 f, 106) So absurd und ironisch der Mythos der Maschine jedoch ist, so sehr gibt sich Guattari dennoch überzeugt, dass dieser Mythos zumindest etwas näher an der Lebensrealität seiner Zeit ist, als antike Mythen. In kritisch-ironischer Distanz schlägt Guattari den Mythos der Maschine als eine, wenn auch nicht perfekte, so doch aktuellere und passendere »Illustration« des Unbewussten im Zeitalter des industriellen Kapitalismus vor.18 Ähnliches unternahm Guattari auch in dem bereits erwähnten Text »Reflections on Institutional Psychotherapy for Philosophers«, in dem er die Cartesischen Meditationen abermals in ironischer Überhöhung als »Maschinenmeditationen« reformuliert:

The subjectivity of industrial society, from a science fiction perspective, once took the form of a giant calculating machine defining a response for each need, not only for existing individuals, but also for future generations! The Cartesian meditation, under these conditions, could have been expressed in this way: »Of course, I think, but in terms of existence, it is best to ask the supreme subject directly, the machine that is the foundation of my desire and producer of every response. Never again will I know, when I think I am, what existence might be, and even I claim to know that I exist from the fact that I say I think I am, I will not grasp anything more than a refrain that comes from somewhere else and that speaks about me in terms of many other gadgets … Never again will I have a guarantee of truly existing, outside the universal machine.« (Guattari 2015c, 127)

In all diesen Überlegungen ist Guattari, wie Henning Schmidgen bemerkt, »noch weit entfernt von dem Maschinen-Unbewussten« des Anti Ödipus