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Eine Ballade über das mythologische Ungeheuer, den Minotaurus, eine Novelle, die gleichzeitig ein supermodernes Gruselmärchen und eine Kriminalgeschichte ist, Der Auftrag, und ein Film zum Lesen, in dem eine denkbar einfache Geschichte mit so viel hintergründiger Bosheit erzählt wird, daß einem nach fünf Minuten der Kopf raucht: Midas.
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Seitenzahl: 188
Friedrich Dürrenmatt
Minotaurus | Der Auftrag | Midas
Diogenes
Eine Ballade [1984/85]
Für Charlotte
Das Wesen, das die Tochter des Sonnengottes,
Pasiphae, geboren hatte, nachdem sie auf ihren
Wunsch hin eingeschlossen in eine künstliche Kuh
von einem dem Poseidon geweihten weißen Stier
bestiegen worden war, fand sich, von den
Knechten des Minos hineingeschleppt, die lange
Ketten bildeten, um sich nicht zu verlieren, nach
langen Jahren eines wirren Schlafs, währenddessen
es in einem Stall zwischen Kühen heranwuchs,
auf dem Boden des Labyrinths vor, das von
Daidalos erbaut worden war, um die Menschen
vor dem Wesen und das Wesen vor den
Menschen zu schützen, einer Anlage, aus der
keiner, der sie betreten hatte, wieder herausfand
und deren unzählige in sich verschachtelte Wände
aus Glas waren, so daß das Wesen nicht nur seinem
Spiegelbild gegenüberkauerte, sondern auch
den Spiegelbildern seiner Spiegelbilder: Es sah
unermeßlich viele Wesen, wie es eines war, vor sich,
und wie es sich herumdrehte, um sie nicht
mehr zu sehen, unermeßlich viele ihm gleiche
Wesen wiederum vor sich. Es befand sich in
einer Welt voll kauernder Wesen, ohne zu wissen,
daß es selber das Wesen war. Es war wie gelähmt.
Es wußte nicht, wo es war, noch was die kauernden
Wesen rundherum wollten, vielleicht träumte
es nur, auch wenn es nicht wußte, was Traum war
und was Wirklichkeit. Es sprang auf, instinktiv,
um die kauernden Wesen zu vertreiben, gleich-
zeitig sprangen seine Spiegelbilder auf. Es duckte
sich, und mit ihm duckten sich seine Spiegelbilder.
Sie ließen sich nicht vertreiben. Es starrte auf
das Spiegelbild, das ihm am nächsten schien, kroch
langsam zurück, und auch sein Spiegelbild
wich vor ihm weg, sein rechter Fuß stieß an
eine Wand, es warf sich herum und fand sich Kopf
an Kopf mit seinem Spiegelbild, kroch vorsichtig
zurück, sein Spiegelbild kroch zurück. Unwill-
kürlich betastete es seinen Kopf, und wie es ihn
betastete, betasteten auch seine Spiegelbilder
ihren Kopf. Es erhob sich, und mit ihm erhoben
sich auch seine Spiegelbilder. Es sah seinen Leib
hinunter und verglich ihn mit dem Leib seiner
Spiegelbilder, und seine Spiegelbilder sahen
ihren Leib hinunter und verglichen ihn mit ihrem
Leib, und indem es sich und seine Spiegelbilder
betrachtete, erkannte es, daß es wie seine Spiegel-
bilder beschaffen war: Es glaubte, ein Wesen unter
vielen gleichen Wesen zu sein. Sein Gesicht wurde
freundlicher, die Gesichter seiner Spiegelbilder
wurden freundlicher. Es winkte ihnen zu,
sie winkten zurück, es winkte mit der rechten, sie
winkten mit der linken Hand, aber es wußte
weder was rechts noch was links war. Es reckte
sich, streckte die Arme aus, brüllte, mit ihm
reckte sich, streckte die Arme aus und brüllte eine
Unzahl gleicher Wesen, tausendfach scholl sein
Echo zurück, schien endlos zu brüllen. Ein
Glücksgefühl überkam es. Es näherte sich der
nächsten Wand aus Glas, ein Spiegelbild näherte
sich ihm ebenfalls, während gleichzeitig sich andere
Spiegelbilder entfernten. Es berührte sein
Spiegelbild mit der Rechten, berührte die Linke
seines Spiegelbilds, die sich glatt und kalt anfühlte,
vor ihm berührten sich in Spiegelbildern von
Spiegelbildern die anderen Spiegelbilder. Es lief,
den glatten Spiegel berührend, die Wand entlang,
seine rechte Hand die linke seines Spiegelbilds
deckend, mit ihm lief sein Spiegelbild, und wie es
nun die Rückseite der Spiegelwand zurücklief,
lief sein Spiegelbild auch zurück. Es wurde
übermütiger, sprang herum, überschlug sich, und
mit ihm sprang und überschlug sich eine Unermeß-
lichkeit von Spiegelbildern. Aus dem Herumrennen
und dem Sich-Überschlagen, aus den Sprüngen
und dem Auf-den-Händen-Gehen – so groß
wurde sein Übermut, weil die Spiegelbilder ja
gleichzeitig dasselbe taten wie es, so daß es sich
wie ein Anführer vorkam, mehr noch, wie ein Gott,
wenn es gewußt hätte, was ein Gott ist –,
aus dieser kindlichen Freude wurde allmählich ein
rhythmischer Tanz des Wesens mit seinen
Spiegelbildern, die teils spiegelverkehrt, teils als
Spiegelbilder von Spiegelbildern mit dem Wesen
identisch und wiederum als Spiegelbilder von
Spiegelbildern von Spiegelbildern spiegelverkehrt
waren, bis sie sich im Unendlichen verloren.
Das Wesen tanzte durch sein Labyrinth, durch die
Welt seiner Spiegelbilder, es tanzte wie ein mon-
ströses Kind, es tanzte wie ein monströser Vater
seiner selbst, es tanzte wie ein monströser Gott durch
das Weltall seiner Spiegelbilder. Doch plötzlich
hielt es in seinem Tanz inne, stand starr, kauerte sich
nieder, starrte mit aufmerksamen Augen, und mit
ihm kauerten und äugten seine Spiegelbilder:
Tanzend hatte das Wesen zwischen den tanzenden
Spiegelbildern Wesen gesehen, die nicht tanzten
und die keine Spiegelbilder waren, die ihm
gehorchten. Das Mädchen, wie das kauernde Wesen
widergespiegelt, stand unbeweglich, nackt,
mit langen schwarzen Haaren zwischen den
kauernden Wesen, die überall waren, vor ihm,
neben ihm, hinter ihm, so wie es auch überall war,
vor ihm, neben ihm, hinter ihm. Das Mädchen
wagte sich nicht zu rühren, den angstvollen
Blick auf das Wesen geheftet, das vor ihm kauerte
und ihm am nächsten war. Es wußte, daß es nur
ein kauerndes Wesen gab, daß die anderen kauernden
Wesen Spiegelbilder waren, aber es wußte nicht,
wer das Wesen und nicht sein Spiegelbild war.
Vielleicht war es das Wesen, das vor ihm kauerte,
vielleicht sein Spiegelbild, vielleicht ein
Spiegelbild seines Spiegelbilds, das Mädchen
wußte es nicht. Es wußte nur, daß seine Flucht
vor ihm es zu ihm geführt hatte, und neben dem
kauernden Wesen sah es sich selber gespiegelt,
und weiter vor ihm sah es sich selber von hinten
und neben sich ein kauerndes Wesen von hinten,
und so fort durch endlose Räume. Die Hände
über die Brüste gekreuzt, sah es gebannt auf das
immer noch vor ihm kauernde Wesen. Es glaubte,
es berühren zu können. Es glaubte, seinen Atem
zu spüren. Es glaubte, sein Schnauben zu hören.
Sein gewaltiger, mit einem fahlen lichtbraunen Pelz
bedeckter Kopf war der eines Auerochsen,
die Stirn hoch, breit und von verfilzten Wollhaaren
überwuchert, die Hörner kurz und so gebogen,
daß die Spitzen über der Wurzel standen,
die rötlichen Augen schienen eher klein im
Verhältnis zum Schädel, und die Umrandung,
in der sie lagen, war erhöht, die Augen waren
unergründlich. Der sanft geneigte massige Nasen-
rücken führte zu schiefgestellten Nüstern, aus dem
Maul hing eine lange bläulichrote Zunge und
unter dem Kinn ein zopfiger geiferverklebter Bart.
Dies alles wäre zu ertragen gewesen, aber das
Unerträgliche war der Übergang dieses Bullen
zum Menschen. Über dem Auerochsenschädel
wölbte sich ein Gebirge von struppigem und dann
wieder abgeschabtem Fell, aus dessen Grannen
und Strähnen zwei Menschenarme wuchsen,
die sich auf den gläsernen Boden stützten. Es war,
als ob der ungeheure Kopf und der Buckel über
ihm aus dem Leib eines Mannes gewuchert wären,
der sprungbereit vor dem Mädchen kauerte und
dann wieder neben und hinter ihm. Der Mino-
taurus erhob sich. Er war gewaltig. Er begriff
plötzlich, daß es noch etwas anderes als Minotauren
gab. Seine Welt hatte sich verdoppelt. Er sah die
überall widergespiegelten Augen, den Mund,
die langen schwarzen Haare, die über die Schultern
flossen, er sah die weiße Haut, den Hals, die Brüste,
den Bauch, den Schoß, die Schenkel, wie das
alles ineinanderging, ineinanderfloß. Er bewegte
sich zu ihm hin. Es entfernte sich von ihm, während
es sich anderswo auf ihn zu bewegte. Er jagte
ihm durch das Labyrinth nach, es flüchtete. Es war,
als ob ein Sturmwind Minotauren und Mädchen
durcheinandergeblasen hätte, so wirbelten sie
auseinander, durcheinander und einander entgegen,
und als ihm das Mädchen in die Arme lief,
als er mit einem Male den Leib fühlte, das warme,
schweißgebadete Fleisch, und nicht das harte Glas,
das er bis jetzt gefühlt hatte, begriff er – insofern
man beim Minotaurus von Begreifen reden kann –,
daß er bis jetzt in einer Welt gelebt hatte,
in der es nur Minotauren gab, jeder eingeschlossen
in ein gläsernes Gefängnis, und nun fühlte
er einen anderen Leib, fühlte anderes Fleisch. Das
Mädchen entwand sich ihm, er ließ es geschehen.
Es wich zurück, die großen Augen auf ihn
gerichtet, und als er zu tanzen begann, begann
das Mädchen zu tanzen, und die Spiegelbilder der
beiden tanzten mit. Er tanzte seine Ungestalt,
es tanzte seine Schönheit, er tanzte seine Freude,
es gefunden zu haben, es tanzte seine Furcht, von
ihm gefunden worden zu sein, er tanzte seine Er-
lösung, und es tanzte sein Schicksal, er tanzte seine
Gier, und es tanzte seine Neugier, er tanzte
sein Herandrängen, und es tanzte sein Abdrängen,
er tanzte sein Eindringen, es tanzte sein Um-
schlingen. Sie tanzten, und ihre Spiegelbilder
tanzten, und er wußte nicht, daß er das Mädchen
nahm, er konnte auch nicht wissen, daß er es tötete,
wußte er doch nicht, was Leben war und was
Tod. In ihm war nichts als ein ungestümes Glück,
eins mit einer ungestümen Lust. Er brüllte auf,
als er das Mädchen nahm, und in den Spiegeln
nahmen Minotauren Mädchen, und das Brüllen
war ein ungeheuerlicher Schrei, ein unwirklicher
Weltschrei, als wäre nichts als dieser Schrei, der sich
mit dem Schrei des Mädchens vermischte,
und dann lag er da, und in den Spiegeln lagen
Minotauren da, und der weiße nackte Leib des
Mädchens mit den großen schwarzen Augen lag da
und spiegelte sich in den Wänden. Er hob den
linken Arm des Mädchens, er fiel herunter,
den rechten, er fiel herunter, überall fielen Arme
herunter. Er leckte es mit seiner bläulichroten
Riesenzunge, das Gesicht, die Brüste, das Mädchen
blieb unbeweglich, alle Mädchen blieben un-
beweglich. Er wälzte es mit den Hörnern herum,
das Mädchen rührte sich nicht, kein Mädchen
rührte sich. Er erhob sich, sah sich um, überall
standen Minotauren und schauten sich um,
und überall lagen zu ihren Füßen weiße Mädchen-
leiber. Er bückte sich, hob das Mädchen auf, brüllte,
klagte, hob das Mädchen dem dunklen Himmel
entgegen, und überall bückten sich Minotauren,
hoben Mädchen auf, brüllten, klagten, hoben
Mädchen dem dunklen Himmel entgegen, und
dann legte er das Mädchen zwischen die gläsernen
Wände, legte sich zu ihm und schlief ein,
und mit ihm alle Minotauren, hingestreckt auf dem
Boden voller weißer nackter Mädchenleiber.
Er schlief und träumte vom Mädchen mit den
schwarzen Haaren und den großen Augen, jagte
ihm nach, spielte mit ihm, riß es an sich, liebte es,
und als er die Augen öffnete, war auf seiner Brust
etwas in seinem verkrusteten Bart verkrallt.
Es streifte mit seinen Schwingen sein Flotzmaul
und tauchte seinen nackten gelblichweißen Hals mit
dem kleinen Kopf, den roten Augen und dem
seltsam gebogenen mächtigen Schnabel irgend-
wohin neben ihm hinab. Auf den Wänden hockte
ein fettes Dickicht von Federn, Hälsen, Augen,
Schnäbeln, und über ihm kreiste es, den auf-
grauenden Morgen verfinsternd, stieß herab, tauchte,
riß, weidete, fledderte, wühlte, fraß, kreischte,
flog davon, flog heran, stieß wieder herab,
spiegelte sich im Herabfallen und im Hinaufsteigen,
ohne daß er begriff, warum es herabstieß,
hineintauchte, riß, hinaufstieg, herumkreiste,
so sehr war er eingehüllt vom Geflatter und
Flügelschlagen, und als es sich, immer höher
kreisend, im überhellen Nichts des nun gleißenden
Himmels auflöste, brach die Sonne durch die
gläsernen Wände und brannte ihr Bild in sein Hirn
als ein gewaltiges, sich drehendes Rad, das Feuer-
garben in den Himmel stieß zum Zeichen ihres
Zorns über den Frevel ihrer Tochter Pasiphae, die
ein Wesen geboren hatte, das, eine Beleidigung
der Götter und ein Fluch den Menschen, verdammt
war, weder Gott noch Mensch noch Tier,
sondern nur Minotaurus zu sein, schuldlos und
schuldig zugleich. Er sah das unermeßliche, sich
hinaufwälzende Rad, er hielt die Augen geschlossen,
er sah es dennoch, das Rad des Fluches, der auf ihm
lastete, das Rad seines Geschicks, das Rad
seiner Geburt und das Rad seines Todes, das Rad,
das in seinem Hirn brannte, ohne daß er wußte,
was Fluch, Geschick, Geburt und Tod war,
das Rad, das sich über ihn wälzte, das Rad, worin
er gerädert war, und wie er dalag, versengt von der
Sonne und von ihrem endlos widergespiegelten
Licht, bemerkte er schattenhaft einen Fuß, der
seinem Fuß glich. Er dachte, es sei das Mädchen,
es sei wieder beweglich geworden und wolle mit
ihm spielen. Er hob seinen Kopf, und nun sah er
zwei Füße, die zurückwichen. Er erhob sich.
Vor ihm stand ein Wesen, das dem Mädchen glich
und doch nicht das Mädchen war, das in der Linken
einen zerfetzten Mantel und in der Rechten ein
Schwert hielt, und der Minotaurus wußte weder,
was ein Mantel noch was ein Schwert war, er wußte
nur – weil im blendenden Licht der Sonne
die Wände kein Bild mehr zurückwarfen –, daß
die Minotauren und die Mädchen ihn verlassen
hatten, und auch das Mädchen, das er genommen
hatte, mußte wieder beweglich geworden und
fortgegangen sein, war es doch nicht mehr da.
Er war ausgestoßen aus seiner Minotaurenwelt,
allein mit dem Wesen, das, ihn beobachtend,
zurückwich, stehenblieb, ihm entgegenging und
wieder zurückwich. Der Minotaurus näherte
sich ihm voll Wohlwollen, auch wenn er keinen
Begriff für dieses Gefühl hatte, das anders war als
jenes, das er dem Mädchen gegenüber gehabt hatte,
weniger jäh, weniger gierig. Er freute sich,
mit ihm in den Gängen zu spielen und zu jagen,
vielleicht würde das Wesen ihn zu den anderen
Minotauren führen und zu den Mädchen und
zu den Wesen, die so waren wie dieses neue Wesen.
Nur mußte er mit ihm sorgfältiger umgehen,
zärtlicher, sonst würde es unbeweglich.
Der Minotaurus schnaubte freudig, und als das Wesen
wieder den Mantel schwenkte, begann er zu tanzen.
Vor den im Sonnenlicht strahlenden Wänden
bewegten sich die beiden wie Schatten, der tan-
zende und springende, in die Hände klatschende
und dann wieder schnell stampfende Minotaurus,
das sein Tuch schwenkende, vorrückende oder
zurückweichende Wesen, immer wieder mit dem
Schwert angreifend, das es unter dem Mantel
verborgen ins Labyrinth mitgenommen hatte, den
Minotaurus zu töten, und nun, wie es ihm gegen-
überstand und es seine Arglosigkeit sah, schämte
es sich. Der Minotaurus umtanzte es, umklatschte
und umstampfte es. Er tanzte seine Freude, nicht
mehr allein zu sein, er tanzte seine Hoffnung,
die anderen Minotauren zu treffen, die Mädchen
und Wesen, die gleich waren wie jenes, mit dem er
nun tanzte. Er vergaß im Tanzen die Sonne,
er vergaß im Tanzen den Fluch. Er war nur noch
Heiterkeit, Freundlichkeit, Leichtigkeit, Zärtlich-
keit. Er tanzte, und das Wesen umlauerte und
umsprang den Minotaurus, und als die Sonne sank,
wurden mit ihrem tausendfachen Spiegelbild
auch die Spiegelbilder der beiden sichtbar.
Der Minotaurus tanzte, glücklich, die Minotauren
gefunden zu haben und die neuen Wesen, bald
würde er das Mädchen finden, das er genommen
hatte und das unbeweglich geworden und
das dann fortgegangen war, und die anderen
Mädchen, die von den Minotauren genommen
worden waren und dann auch unbeweglich
geworden und fortgegangen waren. Die beiden
tanzten einander entgegen und tanzten einander
auseinander, die Spiegelbilder trafen sich, deckten
sich, durchschossen sich. Überall tanzte ein
Minotaurus herum, drehte sich um sich selber,
und überall sprang der Jüngling vor und sprang
wieder zurück, federnd, dann wieder in Bocksprün-
gen, darauf wartend zuzustoßen, und als die Sonne
hinter dem Labyrinth versank und die Wände
tiefrot aufleuchteten, stieß er zu, sprang
zurück, lehnte sich an eine Wand, starrte auf den
Minotaurus. Der machte noch einige Tanzschritte,
das Schwert in der Brust, blieb stehen, zog sich
mit der rechten Hand das Schwert heraus,
betrachtete es verwundert, griff mit der linken
Hand nach der Brust, aus der es schwarz heraus-
quoll, warf das Schwert von sich, so daß es
über den Boden schlitterte, preßte auch die rechte
Hand vor die Brust, wankte, schien taumeln zu
wollen, stand wieder unbeweglich. Er war verwirrt.
Er begriff nicht, was seine Hände verfärbte,
und nicht den Schmerz, der in seiner Brust wütete.
Er fühlte nur, daß dieses Wesen, das ihn angesprun-
gen und etwas in seinen Leib gestoßen hatte,
ihn nicht liebte, wie ihn vorher alle geliebt hatten,
die Minotauren, das Mädchen, die Mädchen,
und wie er das fühlte, wurde er mißtrauisch, um so
mehr als er nicht denken konnte, zog doch
alles als Bilder in seinem Geiste vorüber und nicht
in Begriffen, als ob er in einer Art Bilderschrift
fühlte: Vielleicht hatte ihn das Mädchen gar nicht
geliebt, und auch die anderen Mädchen hatten
die Minotauren nicht geliebt, darum hatten sie sich
unbeweglich gestellt und waren fortgegangen.
Vielleicht gehörten sie dem neuen Wesen, das
ähnlich wie das Mädchen aussah und doch anders,
mit einem Leib, fast so kräftig wie der seine, und
das ihn angesprungen hatte, wie die anderen
neuen Wesen die Minotauren angesprungen hatten,
die nun wie er die Hände auf ihre Brust preßten,
aus der es schwarz herausquoll; und wie die
sechs anderen Mädchen und die sechs anderen
Jünglinge erschienen, einander die Hände reichend,
so daß in den Spiegeln die Reihe der Herum-
irrenden nicht abzubrechen schien, sich vielmehr
im Lichte des mächtigen Abends verdoppelte,
vervierfachte, vervielfachte, und wie sie den
Gefährten fanden, der an eine Wand lehnte und
hoffte, der Minotaurus würde endlich zusam-
menbrechen, kam es dem Stiermenschen vor
– hätte er den Begriff gehabt –, die ganze
Menschheit bräche über ihn herein, ihn zu vernichten.
Er duckte sich. Er fühlte sich bedroht, und um
sich nicht zu fürchten, setzte er seiner Furcht
den Stolz entgegen, den Stolz, Minotaurus zu sein,
und was nicht Minotaurus war, war sein Feind.
Nur die Minotauren hatten das Recht,
im Labyrinth zu sein, in einer Welt, außer der es
für ihn keine andere Welt gab – mottete doch nur
ein vages Gefühl von Kuhwärme von den Ställen
her, wo er aufgewachsen war, in seiner Erinnerung.
Der Haß kam über ihn, den das Tier gegen den
Menschen hegt, von dem das Tier gezähmt,
mißbraucht, gejagt, geschlachtet, gefressen wird,
der Urhaß, der in jedem Tier glimmt. Seine Augen
wurden voll Wut. Aus seinem Maul trat Schaum,
und wie der Jüngling sich von der Wand löste,
weil er das Sich-Ducken des Minotaurus als dessen
Sterben mißdeutete, überzeugt, ihn tödlich
verwundet zu haben, und wie nun die Menschen,
die Mädchen und die Jünglinge, um den Geduckten,
dessen Wut sie nicht bemerkten, einen Kreis
bildeten und ebenfalls jubelten und im wilden
Ringelreigen um den Minotaurus herumtanzten,
immer schneller, immer übermütiger, als wären
sie gerettet, immer toller, ohne zu bedenken,
daß sie schon allein durch das Labyrinth verloren
waren – hätten sie doch auch beim Tode des
Stiermenschen den Ausgang aus den ineinander-
geschachtelten Spiegelwänden nicht gefunden –,
immer unvorsichtiger im Rausch ihrer vermeint-
lichen Freiheit, immer enger den johlenden Kreis
ziehend, immer bedrohlicher in der hereinbre-
chenden Nacht, in der er nur noch Menschen sah
und nicht mehr seine eigenen Spiegelbilder,
da die herumwirbelnden und herumhopsenden
Menschen ihm die Sicht auf die Wände des Laby-
rinths verdeckten, so daß diese ihn nicht mehr
widerzuspiegeln vermochten, fühlte sich der
Minotaurus auch von den Minotauren im Stich
gelassen und verraten. Er rollte die Augen,
schnaubte, ging tiefer, spannte die Muskeln,
schnellte hoch, rannte an, nahm ein Mädchen auf
die Hörner und verschwand mit ihm, es immer
wieder hochschleudernd, im Labyrinth. Darauf,
wutschnaubend zurückkehrend, mit blutver-
schmierten Hörnern – so oft hatte er zugestoßen –,
fand er die Menschen eng in einem schattenhaften
Knäuel zusammengedrängt, während sich
über ihnen der hungrige Gefiederdschungel auf
den Wänden schon niedergelassen hatte, ein
dunkles Knäuel über einem dunklen Knäuel, ein
Geramsel, dessen Krächzen, Pfeifen, heiseres
Schreien und Schnattern sich mit dem Angstgeheul
der Menschen vermischte. Der Mond war
irgendwo hinter dem Labyrinth am Aufgehen,
die Nacht, nur spärlich von der versunkenen Sonne
getönt, erhellte sich. Der Minotaurus griff an,
stieß zu, in ein weiches Durcheinander von weißen
Leibern, wühlte sich durch, stieß wieder zu,
wälzte sich, trampelte herum, stampfte nieder,
spießte auf, zerfetzte, schlug zu, zerschlitzte,
während es um ihn herum niederstürzte, hackte,
knackte, knirschte, riß, schmatzte, so daß der
schreiende und heulende Menschenknäuel,
in welchem der Minotaurus wütete, von einem
dichten Geflatter kreischender Aasvögel eingehüllt
wurde: Bartgeier, Schmutzgeier, Schopfgeier,
Königsgeier, Kappen-, Kutten-, Ohren-,
Kahlkopf- und Rabengeier, Kondor und Urubu
schnappten, würgten hinunter, tauchten erneut
hinein; ohne Unterlaß zustoßend, riß der wütende
Stiermensch im Menschendurcheinander und
-übereinander Glieder aus, soff Blut, brach
Knochen, wühlte in Bäuchen und Schößen, bis die
struppige Wolke von Flügeln, Federn, Hälsen,
Augen, Schnäbeln, Fängen und Krallen im
Mondlicht sich aufgelöst hatte. Der Minotaurus
war allein. Geblendet vom Mond, sah er auf den
kalten Wänden seine Spiegelbilder wieder als
schwarze Schatten, die sich ineinanderschoben und
zusammenwuchsen zu einem Schattenlabyrinth
im Labyrinth. Er hob die Arme, drohte mit
den Fäusten, schüttelte sie, mit ihm hoben seine
Spiegelbilder die Arme, drohten mit den Fäusten,
schüttelten sie, was seine Wut derart steigerte,
daß er sich mit gesenktem Stierkopf blindlings dem
ersten Schatten entgegenwarf. Er durchbrach die
Wand, suchte wütend in den Glassplittern das
Spiegelbild, das doch das seine war, es schien ihm
unter den Splittern begraben zu sein. Er stieß mit
dem gewaltigen Kopf zu, und als er an der nächsten
Wand sein Spiegelbild erblickte, begriff er immer
noch nicht, griff es erneut aufbrüllend an,
warf sich ihm kopfvoran entgegen, so wie es sich
ihm kopfvoran entgegenzuwerfen schien.
Er prallte zurück, glotzte mit wütenden rötlichen
Auerochsenaugen nach seinem Spiegelbild,
das ihn wie er mit wütenden rötlichen Auerochsen-
augen anglotzte. Er rannte wieder an, noch heftiger,
prallte noch heftiger zurück, kam auf den Rücken
zu liegen. Der Mond war immer noch hinter
dem Labyrinth, aber er schien durch die Wände,
sich in ihnen als Fast-Vollmond widerspiegelnd,
die Zacken der Krater seiner noch nicht
gerundeten Seite grotesk vergrößert, und so oft
spiegelte sich der Mond wider, daß der Minotaurus
in ein Universum aus Stein zu blicken glaubte,
das von Narben durchzogen war. Auf diese
Mondwelt starrend, fürchtete er, sein Feind habe
sich erhoben. Er rollte sich auf den Bauch,
der Verräter hatte sich zwar nicht erhoben,
aber lauerte auch auf dem Bauch zu ihm herüber.
Der Minotaurus rutschte seinem Spiegelbild ent-
gegen, das sich ihm auf die gleiche Weise näherte,
er war bereit, aufzuschnellen und sich über den
andern zu werfen, aber indem er den andern beob-
achtete, spürte er, wollte er aufschnellen, die gleiche
Absicht in den Augen des andern. Er prägte sich das
Gesicht des Verräters ein, pelzbedeckt, die breite
Stirn von verfilzten Wollhaaren überwuchert,
überhäuft von einem Berg von Glassplittern,
die im Mondlicht bläulich funkelten, die kurzen
gebogenen Hörner, der sanft geneigte Nasenrücken,
das nasse Flotzmaul, die lange bläulichrote Zunge.
Der Minotaurus keuchte, so daß der Dampf
seiner Nüstern den Spiegel beschlug, dem er sich
entgegenschob, worauf er sein Spiegelbild nicht
mehr sah, strich, den Nebel zu verscheuchen,
unwillkürlich mit der Hand über die Nässe, und
überrascht, als hinter der glatten kalten Fläche das
riesige Stierengesicht des Verräters unvermittelt
auftauchte, schmetterte er mit der Stirn instinktiv zu,
schlug mit ihr an die Wand statt auf die Stirn des
andern, die an der Wand war und nicht außerhalb.
Er stutzte. Er nahm von der Wand Abstand,
funkelte sein Spiegelbild haßerfüllt an, und es ihn,
schlug mit der rechten Faust zu, das Spiegelbild
mit der linken, die beiden Fäuste trafen sich,
erneuter Schlagwechsel mit dem gleichen Ergebnis,
darauf schlug er mit beiden Fäusten zu, das Spiegel-
bild ebenfalls, schließlich trommelte er an die Wand.