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Eine schwarze Komödie im New York der 20er-Jahre
Scheinheiligkeit, Scheinmoral, Scheinentrüstung – das ging im Medienzirkus schon immer zusammen und tut es bis heute. Nathanael West zeigt in seiner flammenden Satire, wie dreist im modernen Pressewesen getäuscht und geheuchelt wird. Mit seiner »Miss Lonelyhearts« präsentiert er eine wunderbar ambivalente Schlüsselfigur des großen Bluffs.
»Haben Sie Sorgen? Schreiben Sie an Miss Lonelyhearts!« – Die Leserschaft des New Yorker Post-Dispatch macht regen Gebrauch von der Offerte, und die Briefe in der Redaktion stapeln sich höher und höher. Ob es um Pubertätsnöte geht, um Inzest oder gebrochene Herzen – Miss Lonelyhearts hat garantiert die passenden Worte auf Lager. Dass die beliebte Trostspenderin in Wahrheit eine durch und durch trostlose Existenz ist, wissen nur die feixenden Kollegen.
Schonungslos deckt der Roman den faulen Zauber eines Systems auf, das auf billigsten Illusionismus setzt und Menschen vorsätzlich für dumm verkauft. »‘Miss Lonelyhearts’ ist aus dem Stoff, aus dem unsere Zeitungen sind – bloß dass West die Wahrheit erzählt.« (Dashiell Hammett)
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Seitenzahl: 161
Nathanael West
MISS LONELYHEARTS
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch
übersetzt und herausgegeben
von Dieter E. Zimmer
MANESSE
Für Max
MISS LONELYHEARTS, HILF MIR, HILF MIR
Miss Lonelyhearts, die Briefkastentante des New Yorker «Post-Dispatch»1 («Haben Sie Sorgen? Brauchen Sie Rat? Schreiben Sie an Miss Lonelyhearts, und gewiss hilft sie Ihnen»), saß an seinem Tisch und starrte auf ein Stück weißer Pappe. Darauf hatte Shrike2, der Feuilletonredakteur, in Druckbuchstaben ein Gebet geschrieben:3
Miss L’s Seele, erleuchte mich.
Miss L’s Leib, nähre mich.
Miss L’s Blut, berausche mich.
Miss L’s Tränen, reinigt mich.
O gütige Miss L, vergib mein Flehen
Und birg mich in Deinem Herzen,
Und vor meinen Feinden beschütze mich.
Hilf mir, Miss L, hilf mir, hilf mir.
In saecula saeculorum.4 Amen.
Obwohl in weniger als einer Viertelstunde Redaktionsschluss war, arbeitete er immer noch an seiner Einleitung. Er war bis zu der Stelle gekommen:
Das Leben ist lebenswert, ist es doch voller Träume und Frieden, Sanftmut und Überschwang und voll des Glaubens, der wie eine klare weiße Flamme auf einem unerbittlichen dunklen Altar brennt.
Doch er brachte es nicht über sich, weiterzuschreiben. Die Briefe waren nicht mehr komisch. Er konnte nicht monatelang dreißigmal täglich den gleichen Witz komisch finden. Und an den meisten Tagen bekam er mehr als dreißig Briefe, alle einander ähnlich, mit einer herzförmigen Ausstechform aus dem Teig des Leidens gestanzt.
Auf seinem Schreibtisch lagen jene gestapelt, die er an diesem Vormittag erhalten hatte. Er begann sie abermals durchzulesen, auf der Suche nach einer Idee für eine ehrliche Antwort.
Liebe Miss Lonelyhearts!
Ich habe solche Schmerzen dass ich nicht weiter weiß manchmal glaube ich ich nehme mir das Leben meine Nieren tun so weh. Mein Mann glaubt eine Frau kann keine gute Katholikin sein wenn sie keine Kinder kriegt egal wie stark die Schmerzen sind. Ich bin von unserer Kirche ordentlich getraut worden aber was das Eheleben bedeutet wusste ich nicht weil man mir nie etwas über Mann und Frau gesagt hatte. Meine Großmutter hat mir nichts gesagt und sie war immer meine einzige Mutter aber es war ein großer Fehler von ihr mir nichts zu sagen denn Unschuld bringt nichts und führt nur zu großer Enttäuschung. In 12 Jahren habe ich 7 Kinder bekommen und seit den letzten beiden bin ich so krank. Ich bin zweimal operiert und auf Anraten des Arztes versprach mein Mann keine Kinder mehr weil ich daran sterben könnte doch als ich aus dem Krankenhaus nach Hause kam hat er sein Versprechen gebrochen und jetzt bin ich schwanger und ich glaube ichhalte es nicht aus meine Nieren tun so weh. Ich bin so krank und habe solche Angst weil ich keine Abtreibung machen lassen kann da ich jakatholisch bin und mein Mann so fromm ist. Ich weine die ganze Zeit es tut so weh und ich weiß nicht weiter.
Hochachtungsvoll!
Schnauze voll
Miss Lonelyhearts warf den Brief in eine offen stehende Schublade und zündete sich eine Zigarette an.
Liebe Miss Lonelyhearts!
Ich bin jetzt sechzehn und weiß nicht was ich machen soll und wäre dankbar wenn Sie mir sagen könnten was ich machen soll. Als ich klein war da war es nicht so schlimm weil ich mich daran gewöhnt hatte dass die Kinder aus unserer Gegend sich über mich lustig machten aber jetzt möchte ich Freunde haben wie die anderen Mädchen und am Samstag abends ausgehen, aber kein Junge will sich mit mir abgeben weil ich von Geburt an nämlich keine Nase habe – obwohl ich gut tanze und eine nette Figur habe und mein Vater mir hübsche Kleider kauft.
Ich sitze den ganzen Tag da und sehe mich an und weine. Ich habe ein großes Loch mitten im Gesicht das den Leuten Angst einjagt sogar mir selbst darum kann ich es den Jungs nicht verdenken wenn sie nicht mit mir ausgehen wollen. Meine Mutter hat mich lieb aber sieweint schrecklich wenn sie mich ansieht.
Womit habe ich bloß so ein schreckliches schweres Schicksal verdient? Selbst wenn ich ein paar Dinge ausgefressen habe war das nicht vor meinem ersten Geburtstag und ich bin doch schon so geboren worden. Ich habe Papa gefragt und er sagt, er weiß es nicht, aber vielleicht hätte ich vor meiner Geburt in der anderen Welt etwas verbrochen oder es wäre die Strafe für seine Sünden. Ich glaube das nicht weil er ist ein sehr netter Mann. Soll ich Selbstmord begehen?
Höflichst
Verzweifelt
Mit der Zigarette stimmte etwas nicht, sie wollte nicht ziehen. Miss Lonelyhearts nahm sie aus dem Mund und musterte sie wütend. Mit Mühe unterdrückte er seinen Ärger und steckte sich eine neue an.
Liebe Miss Lonelyhearts!
Ich schreibe Ihnen wegen meiner kleinen Schwester Gracie weil ihr etwas Furchtbares zugestoßen ist und ich mich nicht traue Mutter davon zu erzählen. Ich bin 15 und Gracie ist 13 und wir wohnen in Brooklyn. Gracie ist taubstumm und gröser wie ich aber nicht sehr helle weil sie ja taubstumm ist. Sie spielt auf unserm Flachdach und geht nicht zur Schule außer zweimal die Woche dienstags und donnerstags zur Taubstummenschule. Mutter schickt sie zum Spielen aufs Dach weil wir nicht wollen dass sie überfahren wird weil sie ja nicht sehr helle ist. Letzte Woche ist ein Mann aufs Dach gekommen und hat etwas Schmutziges mit ihr angestellt. Sie hat es mir erzählt und ich weiß nicht was ich machen soll weil ich mich nicht traue es Mutter zu sagen weil sie könnte sie sonst verdreschen. Ich fürchte dass Gracie ein Kind kriegt und habe gestern Abend lange ihren Mahgen abgehorcht um zu sehen ob ich das Baby hören kann konnte ich aber nicht. Wenn ich Mutter Bescheid sage verprügelt sie Gracie schrecklich denn ich bin der Einzige der Gracie gern hat und das letzte Mal als sie ihr Kleid zerrisen hat haben sie sie 2 Tage in die Kleiderkammer gesperrt und wenn die Jungs aus der Gegend davon hören dann sagen sie schmutzige Dinge wie bei Peewee Conors Schwester als die auf dem Müllplatz erwischt wurde. Also bitte was würden Sie tun wenn das Gleiche in Ihrer Familie pasiert.
Mit freundlichen Grüsen
Harold S.
Er las nicht weiter. Die Antwort lautete «Christus», aber wenn ihm nicht übel werden sollte, durfte er sich nicht auf das Christus-Business einlassen. Außerdem war Christus Shrikes privater Witz. «Miss L’s Seele, erleuchte mich. Miss L’s Leib, rette mich. Miss L’s Blut…» Er drehte sich zu seiner Schreibmaschine hin.
Obwohl seine billige Kleidung dafür zu elegant war, sah er immer noch aus wie der Sohn eines Baptistenpastors. Ein Bart würde ihm stehen, würde sein alttestamentarisches Aussehen unterstreichen. Doch selbst ohne Bart musste jeder in ihm den neuenglischen Puritaner erkennen. Seine Stirn war hoch und schmal. Seine Nase war lang und mager. Sein knochiges Kinn war wie ein Huf geformt und gespalten. Als er ihn das erste Mal sah, hatte Shrike gelächelt und gesagt: «Die Priesterinnen Amerikas sind im zwanzigsten Jahrhundert die Susan Chesters5, die Beatrice Fairfaxes6 und die Misses Lonelyhearts.»
Ein Botenjunge kam herauf, um ihm zu sagen, dass Shrike wissen wollte, ob das Zeug fertig sei. Er neigte sich über die Schreibmaschine und begann auf die Tasten zu hämmern.
Doch ehe er noch ein Dutzend Worte geschrieben hatte, lehnte sich Shrike über seine Schulter. «Der gleiche alte Schmus», sagte Shrike. «Warum tischst du ihnen nicht etwas Neues und Hoffnungsvolles auf? Erzähl ihnen was von Kunst. Hier, ich diktiere:
Der Ausweg heißt Kunst.
Lass dich nicht vom Leben unterkriegen. Wenn die alten Pfade mit dem Schutt des Scheiterns verstopft sind, dann sieh dich nach neueren und frischeren Pfaden um. So ein Pfad ist die Kunst. Kunst wird aus Leid destilliert. Wie Mr Polnikoff durch seinen stattlichen russischen Bart ausrief, als er mit sechsundachtzig Jahren sein Geschäft aufgab, um Chinesisch zu lernen: ‹Wir befinden uns erst ganz am Anfang…›
Die Kunst ist eine der reichsten Gaben des Lebens.
Für jene, die nicht die Gabe haben, selber Kunst zu schaffen, bleibt doch der Kunstgenuss. Für jene…
Schreib von hier an selber weiter.»
MISS LONELYHEARTS UND DAS POKERGESICHT
Als Miss Lonelyhearts Feierabend hatte, merkte er, dass das Wetter warm geworden war und die Luft sich anfühlte wie künstlich aufgeheizt. Er beschloss, auf einen Drink in die Flüsterkneipe «Delehanty’s»7 zu gehen. Um dorthin zu gelangen, musste er durch einen kleinen Park8.
Er betrat den Park am Nordtor und schluckte einige Mund voll von dem schweren Schatten, der wie ein Vorhang vor dem Torbogen hing. Er begab sich in den Schatten eines Laternenpfahls, der wie ein Speer auf dem Weg lag. Er wurde wie von einem Speer durchbohrt.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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