Mit den Elefanten tanzen - Jarem Sawatsky - E-Book

Mit den Elefanten tanzen E-Book

Jarem Sawatsky

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Beschreibung

Als bei Jarem Sawatsky die ersten Symptome einer unheilbaren Nervenerkrankung auftreten, die mit fortschreitenden Bewegungsstörungen, kognitivem und psychischem Abbau verbunden ist, muss er seine Arbeit aufgeben und sich damit abfinden, dass sich sein Gesundheitszustand stetig verschlechtern wird. Mithilfe von Achtsamkeit, Liebe und Mitgefühl gelingt es ihm, sich mit seinem Schicksal zu arrangieren: die Angst vor dem, was kommt, zu überwinden, immer wieder liebevoll loszulassen, was nicht mehr geht, und das zu schätzen und zu würdigen, was (noch) möglich ist. Seine berührende Geschichte zeigt, wie es möglich ist, mit den Elefanten zu tanzen – der Schwere, den Ängsten und dem Leiden mit Leichtigkeit zu begegnen, um auf positive Weise mit dem umzugehen, was wir am meisten fürchten.

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JAREM SAWATSKY

MIT DENELEFANTENTANZEN

Liebe, Lachen, Leichtigkeitin schweren Zeiten

Aus dem Englischen vonUlla Rahn-Huber

Originaltitel: »Dancing with Elephants« © Jarem Sawatsky, 2017; first published by RED CANOE PRESS, www.redcanoepress.com. Arranged through Sylvia Hayse Literary Agency LLC, www.sylviahayseliterary.com. All rights reserved.

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1. eBook-Ausgabe 2020

© der deutschsprachigen Ausgabe 2020

Scorpio Verlag in Europa Verlage GmbH, München

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München

Lektorat: Désirée Schoen

Layout und Satz: BuchHaus Robert Gigler, München

Aufmacherseiten: Foto © Robert Gigler, München

Gesetzt aus der Sabon

Konvertierung: Bookwire

ePub-ISBN: 978-3-95803-270-5

Alle Rechte vorbehalten.

www.scorpio-verlag.de

Für Rhona, Koila und Sara. Indem ich mitden Elefanten zu tanzen lerne, so meine Hoffnung,werde ich auch herausfinden, wie ich meineLiebe zu euch noch vertiefen kann.Ihr seid meine ganze Freude.

INHALT

Den Elefanten ins Gesicht schauen

TEIL 1 – EHRFURCHT VOR DEM LEBEN

Das Unbequeme akzeptieren

Liebe statt Angst

Über das Loslassen

Die Feste feiern, wie sie fallen

Lebe das Leben, das du hast – mit Jon Kabat-Zinn

TEIL 2 – WAHRES GLÜCK

Die Schönheit erwecken

Die Staubhaftigkeit akzeptieren

Auf dem urbanen Pilgerweg

Glück auf vier Pfoten

In einen Ozean von Dankbarkeit tauchen – mit Patch Adams

TEIL 3 – WAHRE LIEBE

Gemeinsam sind wir stark

In Liebe sterben und trauern

Mit den Vorfahren ins Reine kommen

Mit Kindern spielen

Entwaffnende Freude – mit Lucy Kalanithi

TEIL 4 – LIEBEVOLLE REDE UND ECHTES ZUHÖREN

Über die Weigerung, gegen meine Krankheit anzukämpfen

Eine eigene Namensgebung

Mit der Dunkelheit Freundschaft schließen

Vergessen Sie nicht, dass vergessen normal ist

In die Wut hineinatmen

Mit Ehrfurcht gegen den Winter-Blues – mit John Paul Lederach

TEIL 5 – NÄHREN UND HEILEN

Die Schwäche annehmen

Achtsam stürzen

Das Leben wertschätzen

Wie ein Buddha essen

Einen Gesundheitsplan für die Familie aufstellen

Gärtnern wie Nelson Mandela

Selbstmitgefühl praktizieren – mit Toni Bernhard

Zum Schluss

ANHANG

Die fünfteilige Video- und Audioserie

Andere Bücher von Jarem Sawatsky

Bitte um Rezension

Danksagungen

DEN ELEFANTEN INS GESICHT SCHAUEN

Liebe Elefantentänzer,

ich habe weder von Elefanten noch vom Tanzen irgendeine besondere Ahnung, und doch ist dies hier ein Übungshandbuch und zugleich Liebesbrief für Elefantentänzer wie Sie.

Den Elefanten ins Gesicht zu schauen ist etwas, was wir oft vermeiden. Die meisten von uns haben den einen oder anderen Dickhäuter im Schrank versteckt; vielleicht springt er sogar vor aller Augen herum. Elefanten – das sind unsere großen, uneingestandenen Ängste.

Welches sind Ihre Elefanten? Wovor haben Sie Angst? Von wem haben Sie Ihre Elefanten bekommen? Und wie können Sie lernen, sie zu lieben und mit ihnen zu tanzen?

In diesem Buch will ich Ihr Lehrer sein und Sie in die Kunst einführen, mit Elefanten zu tanzen. Einer meiner großen Elefanten ist die Chorea Huntington, eine unheilbare, erblich bedingte, progressiv fortschreitende und letztlich tödliche Erkrankung des Gehirns, die man früher Veitstanz nannte. Man könnte sie als eine Art Kombination von Parkinson, Alzheimer und Schizophrenie beschreiben. Stellen Sie sich einmal bildlich einen Elefanten vor, der so drauf ist! Heute bringt mich der Gedanke zum Lachen, aber das war nicht immer so.

Es gab keine Zeit in meinem Leben, in der die Chorea Huntington nicht in irgendeinem Winkel gelauert hätte. Die Krankheit ist genetisch bedingt, wird also von Generation zu Generation weitervererbt. Sie erwischt dich wie ein Zugunglück, nur in extremer Zeitlupe. Manchmal vergehen bis zu fünfundzwanzig Jahre vom Auftreten der ersten Symptome bis zum Tod. Früher hieß es: »Halt dich von diesen Familien fern. Sie werden im Alter verrückt, und zwar auf unschöne Weise.« Während meiner Kindheit hatte Huntington die Generation meiner Großmutter im Griff. Auch einige entferntere Verwandte waren davon betroffen. Einige wurden in psychiatrische Anstalten eingewiesen, weil man damals über die Krankheit noch nicht viel wusste. Man sagte mir, ich solle mir keine Gedanken machen – mit Sicherheit würde es wirksame Therapiemöglichkeiten geben, bis die Krankheit – wenn überhaupt – bei mir ausbreche! Während meiner Jugend erwischte es die Generation meiner Mutter – sie selbst und ihre sämtlichen Geschwister mit Ausnahme zweier Brüder, von denen der eine adoptiert war. Huntington wirkte wie ein massives Erdbeben, das eine Spur der Verwüstung hinter sich herzog, und ich war mittendrin in dieser zerstörten Welt. Als ich mit dem Studium begann, fing ich an, mich intensiv mit Konflikt- und Friedensforschung zu befassen. Ich interessierte mich für Möglichkeiten, auf positivere Weise mit Ungerechtigkeit, Verletzung, Angst und Gewalt umzugehen. Dann hatte ich das große Glück, mich in Rhona Hildebrand zu verlieben. Sie war Musiklehrerin an einer Grundschule. Bevor wir heirateten, tasteten wir uns in mehreren Gesprächen vorsichtig an das Thema Huntington heran: Ja, ich kann dich meiner Mutter vorstellen, aber es geht ihr nicht gut, und sie hat ein ziemlich explosives Temperament. Nein, ich würde nicht sagen, dass sie mich wie einen Sohn behandelt … Ich warnte Rhona, es sich gut zu überlegen, ob sie wirklich in eine Huntington-Familie einheiraten wolle, und wartete nervös auf ihre Antwort. Rückblickend ist mir klar geworden, dass mir damals zwei Dinge in die Hände spielten. Erstens: Rhona war von Menschen erzogen worden, die ihr vorgelebt hatten, einander durch alle Höhen und Tiefen in Liebe beizustehen. Zweitens: Ich küsse sehr, sehr gut, und damit hatte ich Rhona am Haken. Also heirateten wir. Rhona bestand darauf, in unser Eheversprechen die Worte »in Krankheit und Gesundheit« aufzunehmen, was wir dann auch taten. Ein paar Jahre später zogen wir für ein Jahr nach Virginia, damit ich meinen Master in Konflikttransformation machen konnte. In dieser Zeit wurde Rhona mit eineiigen Zwillingen schwanger. Unsere wunderbaren Töchter, Sara und Koila, wurden nach unserer Rückkehr nach Kanada geboren. Ich lehrte Konfliktstudien an zwei Universitäten in Winnipeg. Zu unterrichten lag mir sehr, aber mir war klar, dass ich meinen Doktor machen musste, um längerfristig auf Universitätsniveau lehren zu können. Also bewarb ich mich um ein Vollstipendium an der Universität von Hull in England, was mir auch gewährt wurde. Die Mädchen waren drei, als wir dorthin umzogen. In meiner Zeit dort begann ich mit der Erforschung von Gemeinschaften, die nach dem Prinzip der »heilenden Gerechtigkeit« leben. Ich reiste um die Welt und besuchte Thich Nhat Hanhs buddhistische Gemeinschaft in Frankreich, Hollow Water, eine Ureinwohner-Gemeinschaft in Kanada, sowie die christliche Iona-Gemeinschaft in Schottland. Sie alle sind lebende Beispiele für ein gesellschaftliches Miteinander, in dem man Ungerechtigkeiten mit Liebe und dem Wunsch nach Heilung begegnet statt mit Strafe, Verurteilung und Angst. Während dieser Zeit erlag meine Mutter im Alter von achtundfünfzig Jahren ihrem Huntington. Wir mussten auf die Schnelle nach Kanada zurück, um sie ein letztes Mal zu sehen und bei der Beerdigung dabei zu sein. Zwei Jahre später war ich mit dem Studium fertig und bekam erneut eine Stelle als Assistenzprofessor an der Canadian Mennonite University. Ich veröffentlichte zwei Bücher – eins über meine Forschungen zur »heilenden Gerechtigkeit« und Friedensstiftung, das ich in Virginia geschrieben hatte, und ein weiteres über die drei nach dem Prinzip der heilenden Gerechtigkeit lebenden Gemeinschaften, mit denen ich mich während meiner Zeit in England befasst hatte. Meine Karriere als Lehrer, Wissenschaftler und Autor lief ausgezeichnet. Man gewährte mir einen staatlichen Zuschuss zur Finanzierung von Forschungsreisen zu weiteren Gemeinschaften, die ebenfalls »heilende Gerechtigkeit« praktizierten. Die Mädchen gingen zur Schule, und Rhona hatte wieder halbtags zu arbeiten angefangen. Das Leben war gut, aber da meine Mutter von Huntington betroffen war, wussten wir, dass mein eigenes Erkrankungsrisiko bei 50/50 lag. Die Bewältigungsstrategie meiner Mutter hatte im Wesentlichen darin bestanden, die Augen vor der Realität zu verschließen, was bedeutete, dass es sehr viele Elefanten gab, die in dunklen Ecken lauerten. Es bestand schon damals die Möglichkeit, mithilfe eines DNA-Bluttests herauszufinden, ob man Träger des defekten Gens war oder nicht. Meine Mutter hätte ihn zehn Jahre früher machen lassen können, als sie es schließlich tat. Die Krankheit zu verleugnen mag für sie der einfachere Weg gewesen sein, aber für uns andere, die wir sie auf ihrem Weg begleiteten, machte es die Sache extrem schwierig. Ich wollte einen anderen Weg einschlagen. Also bewarb ich mich an der Uni für eine vorgezogene Professur. Sobald die Ernennung durch war, ließen mein Bruder und ich uns testen. Ich war positiv. Er nicht. Ich würde die Krankheit bekommen. Damit hatten meine Töchter nun ebenfalls ein 50/50-Risiko, Trägerinnen des Defekts zu sein.

Für mich war das Ergebnis zugleich schockierend und nicht schockierend. Ich hatte schon immer das Gefühl gehabt, dass ich die Krankheit bekommen würde. Diese Ahnung hatte mich veranlasst, mein Leben im Hier und Jetzt zu genießen. Aber wenn ein Arzt dir sagt, dass du die Krankheit bekommen wirst, ist das natürlich etwas anderes, als wenn deine innere Stimme es dir sagt. Die Mitarbeiterin der genetischen Beratungsstelle musste sicherstellen, dass ich angesichts der Diagnose nicht selbstmordgefährdet war. Sie erkundigte sich, was wir als Nächstes tun würden, und ich antwortete ihr: »Wir laden alle unsere Freunde zu einer Party ein, um den nächsten Abschnitt unserer Reise einzuläuten.« – »Ist das Ihr Ernst?«, fragte sie. Und ob es mein Ernst war! Im Kapitel »Feste feiern, wie sie fallen« können Sie nachlesen, wie wir gefeiert haben.

Noch am selben Tag teilten wir unseren Töchtern das Ergebnis mit und fuhren alle zusammen ein paar Tage weg, um das Ganze zu verarbeiten. Die Ärzte konnten mir nicht sagen, wann die Krankheit ausbrechen würde, aber ich fing an, mich alle acht Monate bei einem Neurologen durchchecken zu lassen. Vier Jahre später, 2014, zeigten sich die ersten Symptome. Als der Termin für den nächsten neurologischen Check-up näher rückte, nahm ich in einer stillen Stunde eine Selbstbewertung vor und verglich das Ergebnis mit den Aufzeichnungen aus dem Vorjahr. Rhona ergänzte meine Liste, und wir gingen sie dann mit dem Neurologen und dem Sozialarbeiter der Huntington Disease Society durch. Hier einige der wichtigsten Punkte:

Körperliche Symptome (Bewegungsapparat)

steife Fußgelenke

zunehmende Schwierigkeiten beim Tippen

unwillkürliche Bewegungen von Füßen und Zehen

Fingerbewegungen

Ellbogenbewegungen, häufiges Kleckern und Verschütten von Speisen/Getränken

verminderte räumliche Wahrnehmung, Anstoßen an Ecken und Kanten

kribbelndes Gefühl im oberen Bereich des Kopfs

schmerzhafte Empfindlichkeit gegenüber lauten Geräuschen

Klingeln in den Ohren

Probleme beim Schlucken

nächtliches Zucken der Beine

mehr krankheitsbedingte Fehltage bei der Arbeit als zuvor

Geistige Symptome (Kognition)

Schwierigkeiten, im Job die nächste Aufgabe in Angriff zu nehmen

sehr ablenkbar, kurze Konzentrationsspanne

Neigung, mich auf eine Idee zu fixieren

verändertes Zeitgefühl – die Zeit scheint sehr langsam zu vergehen, und ich bin ungeduldiger

Schwierigkeiten damit, kurze, einfache Aufgaben im Gedächtnis zu behalten und zu Ende zu führen

Gefühl, von ankommenden E-Mails überfordert zu sein, mache die meisten gar nicht auf

zunehmende Schwierigkeit, Entscheidungen zu treffen

komplexe Zusammenhänge wissenschaftlich zu erfassen ist schwierig

verlangsamte mentale Funktion

kein Ehrgeiz mehr – es fällt mir schwer, mich selbst zu motivieren oder etwas Neues in Angriff zu nehmen

es fällt mir schwer, mir eine kurze Einkaufsliste zu merken

Wortfindungsstörungen

neige dazu, im Job Aufgaben zu übernehmen, die ich dann nicht erledigt bekomme

Nebel im Hirn

Psychische Symptome (Emotionen und Beziehungen)

Depression

In Situationen, in denen ich früher Angst hatte (z.B. Höhenangst), habe ich jetzt keine mehr.

Es fällt mir schwer, wieder aus der Wut herauszukommen.

Ich bin leicht reizbar.

Ich gehe gesellschaftlichen Kontakten aus dem Weg.

Ich habe permanent das Gefühl, im Job zu versagen.

Abends fühle ich mich zunehmend müde und bleibe eher zu Hause, statt mich mit anderen zu treffen.

Fehler machen mir weniger aus.

Verlust der Spontanität. Ich will lieber genau wissen, was als Nächstes auf mich zukommt.

Nach dem ausführlichen Gespräch mit dem Sozialarbeiter und dem Neurologen meinte Letzterer schließlich, es sei wohl für mich an der Zeit, meinen Job aufzugeben. Das war Anfang Juli. Wieder entschlossen wir uns spontan zu einer Reise, diesmal quer durch Kanada, und wir nahmen uns viel Zeit, um mit dieser neuen Entwicklung ins Reine zu kommen.

Auf den Rat von Freunden hin legten wir uns ein neues Familienmitglied zu: einen kleinen Golden Retriever namens Kobi. Meine Töchter Sara und Koila sind inzwischen fünfzehn. Kobi ist zwei. Und ich stolpere im wahrsten Sinne des Wortes lernend durch ein Leben der Liebe, des Loslassens und des Präsentseins im Augenblick.

Ich weiß, wie viel Qual, Schmerz und Kampf es bedeutet, wenn deine Welt von Krankheit und Alter auf den Kopf gestellt wird. Ich habe mit angesehen, wie die Huntington-Krankheit eine Schneise der Zerstörung in drei Generationen meiner Familie riss. Ich schaue meinen Töchtern in dem vollen Bewusstsein ins Gesicht, ihnen den Gendefekt mit einer Wahrscheinlichkeit von 50/50 weitergegeben zu haben. Wenn sie achtzehn werden, müssen sie für sich klären, ob sie den DNA-Test machen lassen wollen oder nicht. Es ist möglich, dass die Krankheit eine weitere Generation dahinrafft – meine Mädchen.

Diesen Gedanken auszuhalten, das ist sehr schwer für uns. Mir ist in meinem bisherigen Leben viel Gutes widerfahren. Ich habe es mir zur Lebensaufgabe gemacht, Konflikte und Möglichkeiten zu deren friedlicher Beilegung zu erforschen. Ich will nicht, dass Leiden zum zentralen Thema meines Daseins wird. In meinen Augen ist Qual und Leiden an sich Gift. Ich möchte Sara, Koila und Rhona kein Bild von Qual, Angst oder Gewalt vermitteln. Darum führe ich Selbstversuche durch, um Möglichkeiten für einen positiveren Umgang mit meiner Erkrankung zu finden.

Seit zwei Jahren befasse ich mich nun mit diesen Experimenten und Forschungen. In diesem Buch werde ich Sie an meinen Erkenntnissen teilhaben lassen. Und damit Sie noch besser verstehen, wie ich mit Huntington zu leben versuche, will ich Sie zunächst an den Geschichten und der Weisheit einiger Menschen teilhaben lassen, die mich auf meinem Weg am stärksten beeinflusst haben.

Wenn Sie wissen, dass Sie an einer unheilbaren Krankheit leiden und an ihr sterben werden, kann eine Art Klarheit entstehen – die Klarheit zu unterscheiden, was wichtig ist und was nicht. Ich habe vier Universitätsabschlüsse gemacht und drei Generationen des qualvollen krankheitsbedingten Leidens erlebt. Da kam einiges zusammen, was ich der einen oder anderen Kategorie zuordnen musste. Dieses Buch ist eine Chronik der Dinge, die ich für wichtig halte. Es ist mein Spickzettel für einen positiven Umgang mit Krankheit und Alter.

Als ich mit einundvierzig Jahren in den »Ruhestand« gehen und meine Arbeit als Professor an der Uni aufgeben musste, besaß ich Hunderte von Büchern. Ich habe sie fast alle weggegeben. Nur eine Handvoll habe ich behalten – die, von denen ich dachte, dass sie mir helfen könnten, die Kunst des Tanzens mit Elefanten zu erlernen.

Der Autor, der in meiner kleinen Bibliothek am häufigsten vertreten ist, ist der buddhistische Zen-Meister Thich Nhat Hanh. Obwohl ich ihn in diesem Buch nicht oft zitiere, ist Thay, wie seine Schüler ihn nennen, das Herz von allem. Ihm ist es zu verdanken, dass eine neu belebte, engagierte Form des Buddhismus in den Westen gelangte. Er wurde von Martin Luther King jr. für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Als ich im Rahmen meiner Recherchen zum Thema der heilenden Gerechtigkeit seine Gemeinschaft in Frankreich, Plum Village, besuchte, hatte ich die Ehre, einige Zeit mit ihm zu verbringen. Thay ist Verfasser von über hundert Büchern. Ich empfinde seine Texte und Lehrreden als überaus wertvoll. Sie sind nicht nur inspirierend, sondern auch ausgesprochen konkret und praktisch. Thays Augenmerk liegt darauf, Weisheit im Alltag zu üben und sie zur Grundlage des Lebens in der Gemeinschaft zu machen. Sein Ansatz hat mich tief geprägt. In diesem Buch versuche ich, diesen Fokus zu bewahren: echte Weisheit, im Alltag gelebt, von der Gemeinschaft getragen. In dem Sommer, den ich mit meiner Familie in Plum Village verbrachte, lehrte Thay die fünf Achtsamkeitsübungen. Die fünf Teile dieses Buchs spiegeln jeweils eine dieser Übungen wider.

Jeder Teil enthält außerdem ein Interview mit einer Leitfigur im Bereich der positiven Lebensgestaltung. Dies sind im Einzelnen:

Jon Kabat-Zinn, Autor von zehn Büchern zu Achtsamkeit, Traumabewältigung und Gesundheit, ist vor allem für seine Kurse in achtsamkeitsbasierter Stressreduktion (MBSR vom Englischen »Mindfulness-based Stress Reduction«) bekannt, die von über 16 000 Teilnehmern erfolgreich absolviert wurden. MBSR ist eine Methode zur Entspannung und Entfaltung von stillem Selbstgewahrsein und bietet ein solides Fundament, um mit kritischen Lebenssituationen wie Stress, Schmerz und Krankheit, ja mit dem Leben selbst, umzugehen. Im Kapitel »Lebe das Leben, das du hast« fordert uns Jon Kabat-Zinn auf, uns auf das Dasein im Jetzt zu konzentrieren, statt uns von dem Leben lähmen zu lassen, das schlicht unlebbar für uns ist.

Patch Adams, M.D., wurde durch seinen Erfolgsfilm mit Robin Williams in der Hauptrolle berühmt. Er ist dabei, eine ganz besondere Klinik aufzubauen, die wie eine Art Ökodorf funktioniert. Ärzte und Patienten leben darin unter einem Dach, und die Ärzte verdienen das Gleiche wie das Reinigungspersonal. Patch schätzt, dass er am Totenbett von über 10 000 Sterbenden saß. In unserem Interview im Kapitel »In einen Ozean von Dankbarkeit tauchen« spricht er über gutes Leben und Sterben.

Lucy Kalanithi hat gemeinsam mit ihrem Mann, dem Neurochirurgen Paul Kalanithi, den Bestseller Bevor ich jetzt gehe: die letzten Worte eines Arztes an seine Tochter geschrieben, als dieser mit metastasierendem Lungenkrebs im IV. Stadium im Sterben lag. Lucy, die selbst Ärztin und Professorin ist, sprach mit mir über wahre Liebe im Angesicht von Krankheiten wie Krebs.

John Paul Lederach ist Verfasser von über zweiundzwanzig Büchern zu Konflikttransformation, Friedensstiftung und Heilung. John Paul – mein früherer Professor – und ich sprechen im Interview darüber, wie seine Berufserfahrung und sein Glaube ihm in der Begleitung seiner an Parkinson erkrankten Frau Wendy zugleich hilfreich und hinderlich sind.

Toni Bernhard war zweiundzwanzig Jahre lang Jura-Professorin an der University of California, Davis, bis eine Art Fibromyalgie sie in den vorzeitigen Ruhestand zwang. Im Kapitel »Selbstmitgefühl praktizieren« sprechen wir über die drei Bücher, die sie seitdem geschrieben hat.

Das übrige Buch bietet Einblicke in mein Ringen, Lachen und Stolpern auf dem Weg der Heilung – nicht jener Art von Heilung, die das Leiden zum Verschwinden bringt, sondern die im Herzen die Liebe erweckt. Ich nenne es »mit den Elefanten tanzen«, weil das Tanzen eine spielerische Möglichkeit darstellt, mit dem umzugehen, was wir am meisten fürchten. Wer mich kennt, weiß, wie wichtig mir das Spielerische ist – genau wie der bewusste Einsatz von Humor. Das Leid ist real und will frontal konfrontiert sein. Doch Leid allein ist nicht genug. Auf der Kehrseite der Medaille kann Freude sein – oder noch mehr Leid. Wir müssen lernen, mit beidem zu tanzen.

Unsere Gesellschaft hält jede Menge Rat für Menschen bereit, die finanziellen und beruflichen Erfolg anstreben, aber nur wenige Bücher beschäftigen sich mit der Frage, wie jemand, der im Begriff steht, den Verstand zu verlieren, die Talfahrt meistern kann. Es gibt Erfolgstipps für Führungskräfte, aber so gut wie keine »Erfolgs«-Tipps für die Millionen von uns, die sich mit Krankheit, Demenz und Alter konfrontiert sehen. An sie alle richtet sich dieses Buch. Gemeinsam werden wir erkunden, wie das geht – mit Elefanten tanzen.

Darf ich bitten?

TEIL 1

EHRFURCHT VOR DEM LEBEN

DAS UNBEQUEME AKZEPTIEREN

Gehen Ihnen Gebete manchmal auf die Nerven? Mir schon. In jungen Jahren führte ich in der kanadischen Wildnis als Outdoor-Guide Kanutouren durch. Manche der Teilnehmer beteten, dass es nicht regnen solle. Schon damals zweifelte ich am Sinn ihres Tuns. Ab und zu fing ich mit den Leuten zu diskutieren an.

»Wollt ihr etwa, dass die Bäume vertrocknen? Dass die Tiere sterben? Sie brauchen den Regen!«

»Natürlich nicht«, gaben die Leute zurück. »Wir wollen bloß nicht selbst in den Regen geraten.«

»Die anderen Gruppen, mit denen ich in diesem Sommer rausfahre, dürfen also ruhig nass werden, nur ihr nicht?«

»Nein«, sagten sie. »Gott kann dafür sorgen, dass die Bäume und Tiere ihr Wasser bekommen, ohne dass die Menschen in den Regen geraten.«

Ich war noch keine zwanzig, aber mir war auf Anhieb klar, dass es schon erheblicher mentaler (und teils auch theologischer) Klimmzüge bedarf, um eine Weltsicht zu rechtfertigen, in der es keinen Raum für Dinge gibt, die uns unbequem oder unangenehm sind.

Die Welle reiten

In diesem Herbst bin ich noch einmal in die Gegend gefahren, in der ich damals unterwegs war – die Region des Kanadischen Schilds mit ihrer unberührten Natur. Mir war, als würde sich ein Kreis schließen. Während ich auf den Spuren der Vergangenheit wandelte, fiel mir wieder ein, wie mir die obige Erkenntnis allein beim Lauschen auf den Herzschlag der Wildnis zuteilgeworden war. Die Versuchung ist groß, uns vor den Härten des Lebens abschirmen zu wollen. So gut wie jeder tut es, und es ist ja auch nur allzu verständlich. Trotzdem will ich nicht vor dem Regen flüchten. Ich will nicht vor unbequemen, unangenehmen Dingen weglaufen. Heilung liegt nicht in der Abwesenheit von Regen. Heilung liegt in der Art und Weise, wie wir unseren Weg gehen.

Ich war auf dem Rückweg von der Beerdigung eines jungen Mannes, und als ich allein durch die Prärie fuhr, fingen meine Gedanken unweigerlich an, um meine eigene chronische Krankheit zu kreisen. Heraus kam das folgende Gedicht:

Regen wünscht sich keiner

Alle Welt liebt grüne Wiesen,

nur Regen wünscht sich keiner.

Alle Welt braucht Nahrungsmittel,

nur Regen wünscht sich keiner.

Alle Welt bestaunt schillernde Regenbogen,

nur Regen wünscht sich keiner.

Alle Welt dürstet nach Wasser,

nur Regen wünscht sich keiner.

Ich fuhr in die Prärie

zur Schöpferin der weiten Horizonte,

um sie nach dem Regen zu fragen.

Und wie von allen Seiten Wolken aufzogen,

dort, am Rand der Welt,

wurde mir eine Vision zuteil:

Wie die Menschen, wann immer Regen vom Himmel fiel,

ängstlich das Weite suchten.

Angst im Herzen aber pervertiert das Dunkle ins Böse,

und das Geschenk des Lebens zieht,

in den Wolken verborgen, ungesehen vorbei.

Lass es regnen!

Regen, fall auf mich herab.

Ich zog in die Berge,

zu den Hütern der Weisheit,

um sie nach dem Regen zu fragen.

Wie ich niederkniete auf uralten Felsen,

stumme Zeugen des Weltgeschehens

seit fünfzig Milliarden Jahren,

sprachen sie zu mir:

Der Regen gibt uns Form und Gestalt

und zerreibt uns schließlich zu Sand.

Vom Regen zu Nahrung für den Boden zermahlen.

Staub wird zu Erde.

Dass mächtige Berge stetig sich wandeln,

ist das Werk winziger Wassertropfen.

Lass es regnen!

Regen, fall auf mich herab.

Alle Welt liebt grüne Wiesen,

nur Regen wünscht sich keiner.

Alle Welt braucht Nahrungsmittel,

nur Regen wünscht sich keiner.

Alle Welt bestaunt schillernde Regenbogen,

nur Regen wünscht sich keiner.

Alle Welt dürstet nach Wasser,

nur Regen wünscht sich keiner.

Ich fuhr zum Ozean,

dem Alpha und Omega,

um nach dem Regen zu fragen.

Und wie ich am Ufer saß,

selbst klein wie ein Sandkorn,

sprach der Ozean zu mir:

Wo ist mein Anfang?

Und wo mein Ende?

Wer könnte sagen, wo die Grenze verläuft?

Am Strand? Am Himmel? Mitten durch meinen Körper?

Wo ich ende, fange ich zugleich an.

Lass es regnen!

Regen, fall auf mich herab.