Modernisierungs- und dependenzorientierte Ansätze in der Entwicklungstheorie im Vergleich - Michael Neureiter - kostenlos E-Book

Modernisierungs- und dependenzorientierte Ansätze in der Entwicklungstheorie im Vergleich E-Book

Michael Neureiter

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  • Herausgeber: GRIN Verlag
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2010
Beschreibung

Studienarbeit aus dem Jahr 2010 im Fachbereich Politik - Politische Theorie und Ideengeschichte, Note: 1,0, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt, Veranstaltung: Moderne Politische Theorie, Sprache: Deutsch, Abstract: Der kürzlich erschienene Millennium Development Goals Report der Vereinten Nationen bietet nur wenig Grund zur Freude: So konnten während der letzten Jahre Armut und Hunger in vielen Ländern der sog. „Dritten Welt“ zwar verringert werden, jedoch besteht nach wie vor ein immenses Wohlstandsgefälle zwischen den reichen Industrienationen des Nordens und den weniger entwickelten Staaten des Südens. Derzeit leben rund 1,5 Milliarden Menschen in Südostasien, Lateinamerika und Afrika von weniger als $1,25 am Tag und ganze 800 Millionen von ihnen gelten als stark unterernährt. Bei der Betrachtung solcher Zahlen drängt sich automatisch folgende Frage auf: Welche Ursachen sind dafür verantwortlich, dass bestimmte Staaten weniger entwickelt sind als andere, und wie lässt sich dieser Zustand der Unterentwicklung überwinden? Theorien, die sich solchen und ähnlichen Fragen widmen, bezeichnet man als „Entwicklungstheorien“. Jedoch sind verschiedene Entwicklungstheoretiker zu unterschiedlichen Antworten auf besagte Fragen gelangt, weshalb sich heute diverse theoretische Strömungen gegenüberstehen, die allesamt verschiedene Erklärungsansätze und Lösungsstrategien für das Problem der Unterentwicklung bieten. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die entwicklungstheoretische Diskussion aber fast ausschließlich durch zwei von ihnen dominiert, nämlich die sog. „Modernisierungstheorie“ einerseits und die sog. „Dependenztheorie“ andererseits. Ziel dieser Arbeit ist es daher, dem/der Leser/-in sowohl die Modernisierungs- als auch die Dependenztheorie in ihren Grundzügen zu erläutern. Dazu soll zunächst noch einmal kurz umrissen werden, worum es sich bei den Entwicklungstheorien genau handelt, bevor dann die Ursprünge und der Entstehungskontext sowie die zentralen Annahmen und Argumente beider Theorierichtungen vorgestellt werden. Darüber hinaus sind die wichtigsten Kritikpunkte, die verschiedene Autoren sowohl gegen die Modernisierungs- als auch gegen die Dependenztheorie vorgebracht haben, Gegenstand dieser Arbeit, da es für das Verständnis und die Bewertung einer Theorie durchaus förderlich sein kann, deren wesentliche Schwachstellen zu kennen. Der vierte und letzte Punkt dient zur Gegenüberstellung beider Paradigmen, um so die wesentlichen Unterschiede zwischen Modernisierungs- und Dependenztheorie herauszuarbeiten, bevor ich dann in einem abschließenden Fazit Stellung beziehe zur Brauchbarkeit beider Strömungen sowie zum derzeitigen Stand der Entwicklungstheorie allgemein.

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Inhaltsverzeichnis

 

A.   Einleitung

B.    Entwicklungstheorie, Modernisierungstheorie, Dependenztheorie

1. Was sind Entwicklungstheorien?

2. Die Modernisierungstheorie

2.1 Ursprünge und Entstehung

2.2 Annahmen und Argumentation

2.3 Zur Kritik an modernisierungsorientierten Ansätzen

3. Die Dependenztheorie

3.1 Ursprünge und Entstehung

3.2 Annahmen und Argumentation

3.3 Zur Kritik an dependenzorientierten Ansätzen

4. Zum Vergleich zwischen Modernisierungs- und Dependenztheorie

C.    Fazit

D.   Anhang

E.    Literaturverzeichnis

A.  Einleitung

 

Der kürzlich erschienene Millennium Development Goals Report der Vereinten Nationen bietet nur wenig Grund zur Freude: So konnten während der letzten Jahre Armut und Hunger in vielen Ländern der sog. „Dritten Welt“ zwar verringert werden, jedoch besteht nach wie vor ein immenses Wohlstandsgefälle zwischen den reichen Industrienationen des Nordens und den weniger entwickelten Staaten des Südens. Derzeit leben rund 1,5 Milliarden Menschen in Südostasien, Lateinamerika und Afrika von weniger als $1,25 am Tag und ganze 800 Millionen von ihnen gelten als stark unterernährt. Zudem sind in besagten Regionen die Arbeitsproduktivität sowie der Grad an Technisierung und medizinischer Grundversorgung um ein Vielfaches geringer als in den Ländern Europas und Nordamerikas.[1]

 

Bei der Betrachtung solcher Zahlen drängt sich automatisch die Frage auf, wie es überhaupt möglich ist, dass bestimmte Regionen über immensen Reichtum und Wohlstand verfügen, während weite Teile dieser Welt unter Armut, Hunger und Krankheit leiden. Oder anders formuliert: Welche Ursachen sind dafür verantwortlich, dass bestimmte Staaten weniger entwickelt sind als andere, und wie lässt sich dieser Zustand der Unterentwicklung überwinden? Theorien, die sich solchen und ähnlichen Fragen widmen, bezeichnet man als „Entwicklungstheorien“. Jedoch sind verschiedene Entwicklungstheoretiker zu unterschiedlichen Antworten auf besagte Fragen gelangt, weshalb sich heute diverse theoretische Strömungen gegenüberstehen, die allesamt verschiedene Erklärungsansätze und Lösungsstrategien für das Problem der Unterentwicklung bieten. In den vergangenen Jahrzehnten wurde die entwicklungstheoretische Diskussion aber fast ausschließlich durch zwei von ihnen dominiert, nämlich die sog. „Modernisierungstheorie“ einerseits und die sog. „Dependenztheorie“ andererseits.[2]

 

Ziel dieser Arbeit ist es daher, dem/der Leser/-in sowohl die Modernisierungs- als auch die Dependenztheorie in ihren Grundzügen zu erläutern. Dazu soll zunächst noch einmal kurz umrissen werden, worum es sich bei den Entwicklungstheorien genau handelt, bevor dann die Ursprünge und der Entstehungskontext sowie die zentralen Annahmen und Argumente beider Theorierichtungen vorgestellt werden. Darüber hinaus sind die wichtigsten Kritikpunkte, die verschiedene Autoren sowohl gegen die Modernisierungs- als auch gegen die Dependenztheorie vorgebracht haben, Gegenstand dieser Arbeit, da es für das Verständnis und die Bewertung einer Theorie durchaus förderlich sein kann, deren wesentliche Schwachstellen zu kennen. Der vierte und letzte Punkt dient zur Gegenüberstellung beider Paradigmen, um so die wesentlichen Unterschiede zwischen Modernisierungs- und Dependenztheorie herauszuarbeiten, bevor ich dann in einem abschließenden Fazit Stellung beziehe zur Brauchbarkeit beider Strömungen sowie zum derzeitigen Stand der Entwicklungstheorie allgemein.

B.  Entwicklungstheorie, Modernisierungstheorie, Dependenztheorie

 

1. Was sind Entwicklungstheorien?

 

Wie in der Einleitung bereits angedeutet, handelt es sich bei Entwicklungstheorien um jene Theorien, „welche den Entwicklungsprozeß [sic] der aus der Dekolonisation hervorgegangenen Staaten der Dritten Welt in seinen Voraussetzungen, darunter den Ursachen der Unterentwicklung, und in seinen Merkmalen zu erklären versuchen“.[3] Anhand dieser Definition wird zum einen deutlich, welcher Gegenstand – oder besser gesagt: welche Gegenstände – den Entwicklungstheorien zugrunde liegen: Sie befassen sich einerseits mit dem Prozess der Entwicklung und wollen in diesem Zusammenhang v. a. definieren, worum es sich bei dem Phänomen der Entwicklung überhaupt handelt (= Operationalisie-rung des Entwicklungsbegriffs) und welche Bedingungen gegeben sein müssen, damit sich Gesellschaften (adäquat) entwickeln. Sie behandeln andererseits die Ursachen, welche dafür verantwortlich sind, dass sich bestimmte Gesellschaften nur unzureichend oder überhaupt nicht entwickeln und folglich in einem Zustand der sog. „Unterentwicklung“ verweilen. Zum anderen wird deutlich, dass sich Entwicklungstheoretiker einem bestimmten, geographisch abgegrenzten Gebiet widmen, nämlich den Staaten der sog. „Dritten Welt“, die auch als Entwicklungsländer o. Ä. bezeichnet werden. Unterentwicklung im Sinne der Entwicklungstheorie bezeichnet also immer Armut und sonstige Mängel bzw. Defizite in den ärmeren Staaten Südostasiens, Lateinamerikas und Afrikas. Armut, wie sie bspw. in strukturschwachen Regionen innerhalb der Industrienationen Nordamerikas und Europas weit verbreitet ist, fällt hingegen nicht unter besagten Unterentwicklungsbegriff und ist damit auch nicht Gegenstand der Entwicklungstheorie. Die Entwicklungstheorie als eigenständige akademische Disziplin etablierte sich folglich erst zu Beginn der 1950er Jahre, da zu dieser Zeit die letzten Kolonien der ehemaligen europäischen Großmächte in Südostasien, Lateinamerika und Afrika in die Unabhängigkeit entlassen wurden und dies – in Verbindung mit Beginn des Kalten Krieges – die Entstehung der „Dritten Welt“ markiert.[4]

 

Daneben verfügen Entwicklungstheorien über drei besondere Merkmale bzw. Charakteristika, welche sie von vielen anderen sozialwissenschaftlichen Theorien unterscheiden: Zum einen sind sie stark praxisorientiert, da sie „in Form von Entwicklungsmodellen und Entwicklungsstrategien auf [eine] Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit abzielen“.[5] Entwicklungstheorien enthalten i. d. R. also nicht „nur“ Aussagen über die Merkmale und Voraussetzungen von Entwicklung sowie die Ursachen für deren Abwesenheit bzw. Ausbleiben, sondern auch Strategien, mit deren Hilfe die Unterentwicklung in den Ländern der „Dritten Welt“ überwunden werden soll. Diese können dann von der Politik aufgegriffen werden und als Grundlage für entwicklungspolitische Entscheidungen dienen. Ein zweites Merkmal der Entwicklungstheorien ist eng mit dem ersten verbunden: Dadurch, dass sie die Prozesse der Entwicklung und der Unterentwicklung nicht nur zu erklären und zu beschreiben versuchen, sondern darüber hinaus auch Aussagen über das Gesollte und Gewünschte (die Überwindung von Unterentwicklung) treffen, gelten sie als normative Theorien. Entwicklungstheorien unterscheiden sich von rein deskriptiven („objektiven“, „wertfreien“) Theorien also dadurch, dass sie ein in der Zukunft liegendes, aus Sicht ihrer Urheber erstrebenswertes Ziel postulieren, das es mittels der in ihnen enthaltenen Handlungsanweisungen zu erreichen gilt.[6] Ein drittes, erwähnenswertes Charakteristikum der Entwicklungstheorien ist, dass sie in hohem Maße multidisziplinär sind. Da sich der Entwicklungsprozess in mehreren gesellschaftlichen Teilbereichen vollzieht, darunter bspw. die der Ökonomie, der Kultur und der menschlichen Psyche, stammen Entwicklungstheorien auch aus den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Fachrichtungen.[7] Daher gilt die Entwicklungstheorie – wie bereits erwähnt – zwar als eigenständige akademische Disziplin, stellt im Endeffekt aber eher eine Ansammlung bzw. Akkumulation verschiedener Theorien dar, die von auf den Entwicklungsprozess in der „Dritten Welt“ spezialisierten Wissenschaftlern unterschiedlicher Fachbereiche, unter ihnen Entwicklungsökonomen, Entwicklungssoziologen und Entwicklungspsychologen, aufgestellt wurden. In vielen Fällen sind Entwicklungstheorien sogar das Werk der direkten oder indirekten Zusammenarbeit mehrerer, aus verschiedenen Disziplinen stammender Theoretiker.

 

Wie für eine etablierte akademische Disziplin üblich, herrscht auch in der Entwicklungstheorie eine immense Theorienvielfalt, d. h. verschiedene Entwicklungstheoretiker haben unterschiedliche Erklärungsansätze und Lösungsstrategien für das Problem der Unterentwicklung entworfen. Deshalb ist man dazu übergegangen, Theorien bzw. Ansätze mit ähnlichen Annahmen und Aussagen unter bestimmten Labels zusammenzufassen. Auf diese Weise entstanden innerhalb der Entwicklungstheorie zahlreiche Paradigmen bzw. Strömungen, zu denen u. a. der Strukturalismus, die Imperialismustheo-rie, die Weltsystemanalyse, der Neoliberalismus, der Post-Development-Ansatz sowie die feministische Entwicklungstheorie zählen.[8] Während der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war jedoch keine von eben genannten Strömungen von gesteigerter Bedeutung für die entwicklungstheoretische Diskussion, da diese ausschließlich durch zwei Paradigmen dominiert wurde: die Modernisierungstheorie einerseits und die Dependenztheorie andererseits. Daher sollen diese beiden Strömungen, die auch als die sog. „Metatheorien“ oder „großen Theorien“ der Entwicklungstheorie bezeichnet werden und deren Anhänger sich v. a. in der Vergangenheit recht unversöhnlich gegenüber standen, auf den folgenden Seiten etwas näher erläutert werden.[9] Den Anfang machen die modernisierungsorientierten Ansätze.

 

2. Die Modernisierungstheorie

 

2.1 Ursprünge und Entstehung

 

Modernisierungsorientierte Ansätze bauen in erster Linie auf zwei theoretischen Vorläufern auf: Zum einen liegen ihnen evolutionstheoretische Überlegungen zugrunde, wie sie bspw. von Max Weber, Ferdinand Tönnies und v. a. von Emile Durkheim in seinem Werk „The Division of Labour in Society“ formuliert wurden, d. h. Modernisierungstheoretiker gehen davon aus, dass sich Gesellschaften – ebenso wie Organismen – im Laufe der Zeit immer besser an ihre Umwelt anpassen und dadurch differenzierter, komplexer und fortschrittlicher werden. Zum anderen fußen sie insbesondere auf dem Strukturfunktionalismus von Talcott Parsons, was sich v. a. in der modernisierungstheoretischen Annahme zeigt, dass Gesellschaften aus mehreren, relativ beziehungslos nebeneinander existierenden Teilsystemen bestehen, die allesamt auf das Überleben des Gesamtsystems ausgerichtet sind und zu diesem Zwecke bestimmte Funktionen erfüllen.[10]

 

Auf diesem theoretischen Fundament aufbauend, erschienen Anfang der 1950er Jahre erste modernisierungstheoretische Ansätze in den USA. Deren Entstehung war jedoch nicht zufällig, sondern politisch gewollt und von der Politik, in diesem Fall der Regierung der Vereinigten Staaten, gefördert.[11] Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lösten sich die europäischen Kolonialreiche auf und deren Kolonien in Asien, Afrika und Lateinamerika wurden nach und nach in die Unabhängigkeit entlassen. Da zu dieser Zeit ein weiterer bedeutender historischer Prozess seinen Anfang nahm, nämlich der Kalte Krieg, wurden die durch die Dekolonisation neu entstehenden Staaten mehr oder weniger vor die Wahl gestellt, sich entweder an den liberal-kapitalistischen Westen oder an den kommunistischen bzw. sozialistischen Osten anzunähern. Die USA befürchteten, die marxistische Ideologie mit ihren entwicklungstheoretischen Implikationen könnte einen gewissen Reiz auf die neu entstandenen Staaten der „Dritten Welt“ ausüben, sodass diese das sowjetische Gesellschaftsmodell übernehmen, was es aus amerikanischer Sicht natürlich zu verhindern galt. Daher beauftragte die Regierung der Vereinigten Staaten die renommiertesten Wissenschaftler des Landes, eine eigene Gesellschaftstheorie als entwicklungstheoretische Alternative zum Marxismus bzw. zum Kommunismus zu entwerfen;[12] die Modernisierungstheorie war geboren. Zu deren wichtigsten Vertretern dieser Jahre zählen der Ökonom Walt Whitman Rostow, der Soziologe Daniel Lerner, der Psychologe David McClelland sowie die Politikwissenschaftler Gabriel A. Almond, Stein Rokkan, Seymour Martin Lipset und Karl W. Deutsch.[13]

 

2.2 Annahmen und Argumentation

 

Ausgangspunkt sämtlicher modernisierungsorientierter Ansätze ist die These, dass Unterentwicklung hauptsächlich – wenn nicht sogar ausschließlich – auf endogene, d. h. interne Faktoren zurückzuführen ist, also in den Entwicklungsländern selbst begründet liegt. Zu besagten Faktoren zählen in erster Linie traditionelle Denk- und Verhaltensweisen wie z. B. eine unzureichende oder gänzlich fehlende Säkularisation, aber auch Phänomene wie eine mangelnde Investitionsneigung, Korruption und Misswirtschaft sowie ungünstige geoklimatische Gegebenheiten sind für die Rückständigkeit der nichtindustrialisierten Gesellschaften verantwortlich.[14] Die auf diese Weise verursachte Unterentwicklung wird jedoch als relativer Zustand angesehen, der früher oder später unweigerlich überwunden wird. Entwicklung ist demnach ein Prozess, der irgendwann einmal jede Gesellschaft erfasst und als unausweichlich gilt. Unterentwickelte Gesellschaften können daher als Übergangsgesellschaften angesehen werden, die sich auf dem Weg von der Tradition zur Moderne und damit hin zu einem entwickelten Zustand befinden.[15]

 

Tradition und Moderne sind auch die beiden zentralen Kategorien innerhalb der Modernisierungstheorie, die einen diametralen Gegensatz bilden. Als modern gelten v. a. ein weit verbreiteter Alphabetis-mus, ein abstraktes und formelles Rechtssystem, eine ausgeprägte Säkularisierung, Staatenbildung und Nationenbildung sowie ein hohes Maß an Rationalisierung, Verwissenschaftlichung, Demokratisierung, Bürokratisierung, Technisierung, Mobilität (sowohl räumlich als auch sozial und kommunikativ) und sozialer Differenzierung. Als traditionell hingegen gilt alles, was nicht modern ist, d. h. Tradition ist als eine Art „Restkategorie“ zu verstehen.[16] Dementsprechend wird die interne Struktur der unterentwickelten „Drittweltländer“ von Modernisierungstheoretikern als dualistisch angesehen, d. h. in ihnen existieren sowohl traditionelle als auch moderne Denk- und Verhaltensweisen bzw. Sektoren und Bereiche, die relativ beziehungslos nebeneinander stehen. Da traditionelle Denk- und Verhaltensweisen wie bereits erwähnt ein zentrales Hemmnis für den Prozess der Entwicklung darstellen, gilt es für die Entwicklungsländer, ihre modernen Sektoren auszudehnen und im Gegenzug ihre traditionellen Bereiche zu reduzieren und später ganz zu beseitigen.[17]

 

Auch die heutigen westlichen Industrienationen waren nicht immer modern im Sinne der o. g. Kriterien, sondern weit bis in das 18. und 19. Jahrhundert hinein traditionell geprägt. Erst durch einschneidende Errungenschaften wie die Aufklärung, die industrielle Revolution und die Ausdehnung ihres internationalen Handelspotentials schafften in einem Jahrhunderte dauernden Prozess den Sprung von der Tradition zur Moderne, womit eine Überwindung ihrer eigenen Unterentwicklung und das Erreichen eines entwickelten Zustandes verbunden waren. Für die unterentwickelten Länder der „Dritten Welt“ gilt es nun, denselben Schritt zu vollziehen, d. h. ebenfalls alles Traditionelle hinter sich zu lassen und in den Zustand der Moderne einzutreten, den die westlichen Nationen bereits erreicht haben. Das Modell der westlichen Industriegesellschaft stellt demnach das Entwicklungsvorbild für die Staaten der „Dritten Welt“ dar.[18]