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Diplomarbeit aus dem Jahr 1995 im Fachbereich Soziale Arbeit / Sozialarbeit, Note: 1,2, Fachhochschule Kiel (Sozialwesen), Sprache: Deutsch, Abstract: [...] Die außerordentlich bedrückende Lage, daß zunehmend Kinder und Jugendliche sich zu Übergriffen auf Ausländer hinreißen lassen und Gefahr laufen, rechtsextreme Konzepte zu übernehmen, gebietet geradezu eine Veränderung des Blickwinkels. In der weiteren Betrachtung dürfen nicht nur die bisherigen Opfer, sondern müssen vielmehr die Täter und Tatursachen im Zentrum des Interesses stehen, und das gerade, weil es gilt, die Opfer zu schützen und rechtsradikale Gewalt zu stoppen. Das grundsätzliche Ignorieren und Ausgrenzen von Jugendlichen mit derartigen Orientierungen ist ein sträflicher Fehler. Die Ausgrenzung gerade der Jugendlichen, deren Einstellungen sich noch nicht verfestigt haben und die noch für pädagogisches Handeln erreichbar sind, würde die Situation unbedingt verschärfen. Obwohl Gefahr im Verzuge ist, wäre an dieser Stelle falscher Aktionismus, der vermeintliche Handlungsfähigkeit signalisiert und doch nur planloses und unkoordiniertes Reagieren darstellt, unangemessen. Rufe nach verschärfter Heimerziehung und einer verschärfenden Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes werden laut und spiegeln doch nur die Kurzsichtigkeit und Überforderung der Menschen wieder. Gerade angesichts der derzeitigen Exzesse erfordert die Situation eine genaue und zutreffende Problem- und Ursachenanalyse, aus der adäquate Interventionsstrategien und Präventionskonzepte gewonnen werden können. Die wachsende Zahl involvierter Jugendlicher und gewaltbereiter Kinder lenkt die Aufmerksamkeit der Wissenschaften auf die ernstzunehmenden Probleme der Heranwachsenden. Eine Einordnung des jugendlichen, rechtsextremistischen Handelns als ein von der Norm abweichendes Verhalten führt zu den Ergebnissen der Verwahrlosungsforschung, die sich schon seit langem mit den verschiedenen Ursachen delinquenten Verhaltens von Jugendlichen beschäftigt. In dieser Arbeit werden Forschungsergebnisse der Verwahrlosungsund der Extremismusforschung zusammengeführt, verglichen und hinsichtlich der Entstehung und der Ausprägung von abweichendem Verhalten Rückschlüsse auf mögliche Übereinstimmungen und Zusammenhänge gezogen. Mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen sollen Wirkungs- und Entstehungszusammenhänge transparent und nachvollziehbar gemacht werden, um so der Kriminalisierung von Jugendlichen entgegenzuwirken und Zugänge zu adäquaten Präventionskonzepten anzubieten.
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DIPLOMARBEIT
RECHTSEXTREMISMUS UND JUGENDVERWAHRLOSUNG
Eine Darstellung möglicher Zusammenhänge zwischen rechtsextremistischen Orientierungen Jugendlicher und
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3. THEORIEN ZUR ERKLÄRUNG VON ABWEICHENDEM35VERHALTEN353.1 Biologische Theorien3.1.1 Der biologische Ansatz in der Verwahrlosungs-forschung 35 3.1.2 Der biologische Ansatz in der Rechtsextremismus-forschung 37 383.2 Psychologische Erklärungstheorien3.2.1 Der psychoanalytische Ansatz 38 3.2.1.1 Der psychoanalytische Ansatz in der Verwahrlosungsforschung 42 3.2.1.2 Der psychoanalytische Ansatz in der Rechtsextremismusforschung 47
603.2.2 Das lerntheoretische Erklärungsmodell
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814. KRISENBEWÄLTIGUNGSSTRATEGIEN
4.1 Problembewältigungsversuche81durch den Jugendlichen4.1.1 Die Instrumentalisierungsthese 81 4.1.2 Das Phänomen der Gewaltakzeptanz 83 4.1.3 Die Theorie der Bandendelinquenz oder die besondere Bedeutung der Gruppe 86 914.2 Bewältigungsstrategien der Gesellschaft4.2.1 Therapie und Präventionsansätze in der Verwahrlosungsforschung 91 4.2.2 Prävention im Kontext von Kriminaltätstheorien 94 4.2.3 Projekte und Konzeptionen zur Eindämmung
rechtsextremistischer Orientierungen 96 1015. SCHLUßBETRACHTUNG
1036. LITERATURVERZEICHNIS
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Seit dem Frühjahr 1989 rückt das Thema Rechtsextremismus wieder in das Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit. Der seit 1991 fremdenfeindliche Terror im Land verlangt nach Bearbeitung und aktuellen Lösungen.
Längst überwunden geglaubtes Gedankengut bricht erneut wieder auf und tyrannisiert Staat und Gesellschaft. Erschrocken und betroffen nehmen wir Kenntnis von einer zunehmenden und sich ausweitenden Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft. Vermehrte rechtsextremistische Ausschreitungen gegen Randgruppen der Gesellschaft prägen das Bild der heutigen gesellschaftlichen Situation und die große Zahl der beteiligten Jugendlichen erfüllt die Menschen mit Sorge und Angst. Die außerordentlich bedrückende Lage, daß zunehmend Kinder und Jugendliche sich zu Übergriffen auf Ausländer hinreißen lassen und Gefahr laufen, rechtsextreme Konzepte zu übernehmen, gebietet geradezu eine Veränderung des Blickwinkels. In der weiteren Betrachtung dürfen nicht nur die bisherigen Opfer, sondern müssen vielmehr die Täter und Tatursachen im Zentrum des Interesses stehen, und das gerade, weil es gilt, die Opfer zu schützen und rechtsradikale Gewalt zu stoppen. Das grundsätzliche Ignorieren und Ausgrenzen von Jugendlichen mit derartigen Orientierungen ist ein sträflicher Fehler. Die Ausgrenzung gerade der Jugendlichen, deren Einstellungen sich noch nicht verfestigt haben und die noch für pädagogisches Handeln erreichbar sind, würde die Situation unbedingt
verschärfen. Obwohl Gefahr im Verzuge ist, wäre an dieser Stelle falscher Aktionismus, der vermeintliche Handlungsfähigkeit signalisiert und doch nur planloses und unkoordiniertes Reagieren darstellt, unangemessen.
Rufe nach verschärfter Heimerziehung und einer verschärfenden Novellierung des Jugendgerichtsgesetzes werden laut und spiegeln doch nur die Kurzsichtigkeit und Überforderung der Menschen wieder.
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Ursachenanalyse, aus der adäquate Interventionsstrategien und Präventionskonzepte gewonnen werden können. Die wachsende Zahl involvierter Jugendlicher und gewaltbereiter Kinder lenkt die Aufmerksamkeit der Wissenschaften auf die ernstzunehmenden Probleme der Heranwachsenden. Eine Einordnung des jugendlichen, rechtsextremistischen Handelns als ein von der Norm abweichendes Verhalten führt zu den Ergebnissen der Verwahrlosungsforschung, die sich schon seit langem mit den verschiedenen Ursachen delinquenten Verhaltens von Jugendlichen beschäftigt.
In dieser Arbeit werden Forschungsergebnisse der Verwahrlosungs-und der Extremismusforschung zusammengeführt, verglichen und hinsichtlich der Entstehung und der Ausprägung von abweichendem Verhalten Rückschlüsse auf mögliche Übereinstimmungen und Zusammenhänge gezogen.
Mit Hilfe wissenschaftlicher Erkenntnisse aus unterschiedlichen Disziplinen sollen Wirkungs-und Entstehungszusammenhänge
transparent und nachvollziehbar gemacht werden, um so der Kriminalisierung von Jugendlichen entgegenzuwirken und Zugänge zu adäquaten Präventionskonzepten anzubieten.
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1.1 Begriffliche Grundlagen zum Thema Jugendverwahrlosung
Als"Verwahrlosung"dargestellte Sachverhalte sind Gegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen. Deshalb ist es nötig, dieses Phänomen aus unterschiedlichen Sichtweisen zu betrachten.
Ursprünglich aus dem althochdeutschen"wara"hergeleitet, was als "(Be)achtung" und "Achtgeben" übersetzt werden kann, signalisierte das Grundwort eine Haltung, die eingenommen oder jemandem entgegengebracht wird.
Deutlicher bringt dies das mittelhochdeutsche Verb "verwarlôsen" zum Ausdruck. Der Begriff wurde als "zielendes Zeitwort" benutzt, was den Erziehenden die Verantwortung für die Verwahrlosung ihrer Kinder zukommen ließ: Eltern verwahrlosen ihre Kinder.
Im Laufe der Zeit wurde der Begriff Verwahrlosung in ein "zielloses Zeitwort" überführt, so daß die Schuldhaftigkeit der Erziehungspersonen in den Hintergrund trat. Um der ursprünglichen, weiteren Bedeutung von Verwahrlosung gerecht zu werden, wird im heutigen Sprachgebrauch der verwahrloste Mensch als ein sich in einer Mangelsituation befindlicher Mensch betrachtet. Es mangelt ihm an "Wahrung", Betreuung und Erziehung, was ihm eine gesunde Entwicklung seiner Persönlichkeit unmöglich macht. Solche und ähnliche Definitionen erachtet HARTMANN als
angemessen, da sie sowohl das Individuum als auch seine vergangenen und aktuellen Lebensbedingungen berücksichtigen."Wer dies tut, wird eine Verwahrlosung besser erkennen, weil seine Untersuchung nicht bei dem verwahrlosten Kind beginnt, besser behandeln, weil seine Betreuung nicht auf das
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Angesichts der vielfältigen Sachverhaltsstrukturen hat der Gesetzgeber auf eine Konkretisierung und Präzisierung des Begriffes verzichtet.
Eingebunden in den rechtlichen Regelungszusammenhang ist zwar der durch den Gesetzgeber diktierte Normzweck zu beachten, doch erst durch Rechtssprechung und Rechtslehre wird der Begriff zu einem bestimmten Sachverhalt in Beziehung gesetzt. Dies ermöglicht eine Individualisierung des Begriffes, die immer dann sinnvoll erscheint, wenn die zu beurteilende Materie komplex und vielschichtig ist und Wandlungstendenzen zu erwarten sind (Vent, 1979).
Den rechtlichen Rahmen der Jugendhilfe bilden das Grundgesetz (GG) und das Kinder- und Jugendhilfe Gesetz (SGB 8), das 1991 das Jugendwohlfahrtsgesetz abgelöst hat. Artikel 2 Abs.2 GG betont das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden Menschen.
Weiterhin wird in §1 Abs.1 und Abs.2 des Kinder- und Jugendhilfe Gesetzes (KJHG) das Recht des Kindes auf Erziehung beschrieben.
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Im Artikel 6 Abs.3 GG taucht der Begriff derVerwahrlosungauf: Demnach darf der Staat in die elterliche Sorge eingreifen, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher von Verwahrlosung bedroht ist. Dieser staatliche Eingriff in die Privatssphäre der Familie und die möglicherweise nötige Fremdunterbringung des Kindes bedeutet einen massiven Eingriff in die Freiheitssphäre des Menschen und macht die Problematik der Wertausfüllung des Begriffes Verwahrlosung deutlich.
Infolgedessen wirft sich die Frage nach einem möglichen Beurteilungsspielraum der ermittelnden Instanzen und des Vormundschaftsgerichtes auf. Gegen die Annahme eines dem Jugendamt eingeräumten
Beurteilungsspielraumes spricht jedoch nach VENT, daß die abschließende Entscheidung über eine vorliegende Verwahrlosung dem Vormundschaftsgericht in eigener Verantwortung obliegt. Um jedoch richterliche Entscheidungen nachvollziehbar und überprüfbar zu machen, müssen die vom Gericht angewendeten Bestimmungskriterien für die Wertausfüllung von Verwahrlosung betrachtet werden. Das Wohl des Kindes, das es zu schützen gilt, liegt allen richterlichen Erwägungen und Entscheidungen zugrunde.
Die Orientierung am Wohl des Kindes in Bezug auf elterlichen Umgang und die Erziehung des Kindes, zieht eine Konkretisierung der anzustrebenden Erziehungsziele und Erziehungsideale und der Stile oder Techniken nach sich.
Da sich diese den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen und sich ebenfalls wandeln, entsteht die Schwierigkeit, daß verschiedene Rechtsanwender an unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben und Toleranzgrenzen anknüpfen. So geschieht es, daß gleichartige Lebenssachverhalte unterschiedlich bewertet werden. In den Kommentaren zum inzwischen veralteten Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) definieren DALLINGER und LACKNER Verwahrlosung als ein "...erhebliches,nicht erkennbares, vorübergehendes
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Zustandes unter den Normalzustand"(Dallinger & Lackner, 1955). Eine weitere Begriffsbestimmung gibt RIEDEL in seinem Kommentar zum JWG: "Verwahrlosung... ist ein erhebliches ... Sinken des
leiblichen, geistigen, sittlichen und bzw. oder seelischen Zustandes des Kindes unter das Erziehungsziel"(Riedel, 1965). Beide Begriffsbestimmungen heben auf psychische Befindlichkeiten der betroffenen Personen im Zusammenhang mit vorgegebenen Erziehungszielen und der sozialen Umwelt ab, so daß die Nähe der juristischen Interpretationsversuche von Verwahrlosung zu
pädagogischen Definitionen deutlich wird.
Verwahrlosung als ein Produkt der fehlgeschlagenen familiären Sozialisation, wie RIEDEL es 1965 formulierte. Die pädagogische Definition von MOLLENHAUER (1964) beschreibt die Verwahrlosung als ein:
"...akutesZurückbleiben eines Verhaltens hinter einer gesetzten und dem Individuum angemessenen Erziehungsaufgabe"und weist damit auf die mögliche Wandlung des begrifflichen Inhaltes, bzw. auf die Wandlung der Erziehungsaufgaben hin. Es wird eine allgemeine Erziehungsbedürftigkeit formuliert, die die Grundlage einer gelungenen kindlichen Entwicklung bildet. In der pädagogischen Fachliteratur wird eine negative Besetzung des Ausdruckes Verwahrlosung unterstellt, so daß Versuche unternommen werden, diesen Begriff in andere Begriffe überzuleiten, die weniger etikettierend erscheinen. Der Terminus der "Verhaltensstörung" wird diskutiert und erweist sich als relativ wertneutral.
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Zwar beschreibt KLINK damit ein abweichendes Verhalten, doch ist nichts über den erziehungs- und entwicklungsbedingten Aspekt der Verwahrlosung gesagt.
Daher ist auch der Begriff der "Entwicklungsstörung" anzutreffen, der im pädagogischen Sinne alle Störungen umfaßt, die sich nicht aus Anlagemängeln, sondern aus erzieherisch, seelisch oder gesundheitlich ungünstigen Umwelteinflüßen ergeben. Der Begriff "Erziehungsnotstand" findet sich ebenfalls in der Literatur. Er deutet auf die maßgeblichen sozialen und erzieherischen Strukturen hin, die eine Verwahrlosung bedingen und beschreibt die besondere Konfliktkonstellation in den "versagenden" Erziehungsverhältnissen. Der pädagogische und soziale Rahmen, in dem sich Sozialisation und Entwicklung abspielen, bedingen die Faktoren für die Entstehung abweichenden Verhaltens. Losgelöst von gesellschaftlichen Veränderungen, denen die Erziehungsziele folgen, bietet ERIKSON (1968) eine allgemeine pädagogische Richtschnur an, die angemessene Erziehung operationalisiert.
Er fordert, dem Kind diejenigen erzieherischen Hilfestellungen zu geben, die es ihm ermöglichen, im Laufe seiner phasenspezifischen Entwicklung solche Qualitäten zu erwerben, die für eine positive Lebensgestaltung im Rahmen des gegenwärtigen soziokulturellen Zusammenhanges konstitutiv sind. Verwahrlosung definiert ERIKSON folglich alsnegative Identität,als mißlungene Lebensgestaltung, was an dieser Stelle zu den psychologischen Begriffsbestimmungen führt.
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Verwahrlosung ist in der Literatur nicht zu finden. Innerhalb der Psychologie sind eine Vielzahl von Forschungsrichtungen entstanden, die Verwahrlosung unterschiedlich definieren.
Nach FREUD (1923) handelt es sich bei der Verwahrlosung um den Problemlösungsversuch einer Person. Die Dissozialität eines Menschen ist als Äußerung von inneren Konflikten aufzufassen. AICHHORN (1987) sieht Verwahrlosung als eine Störung des Über-Ichs, welches soziales Handeln bedingt. Das Fachlexikon der Sozialen Arbeit folgt ebenfalls dem psychoanalytischen Ansatz und beschreibt Verwahrlosung als dadurch gekennzeichnet, "...daßein sozial gerichtetes Über-Ich als Steuerungs- und Kontrollinstanz der Triebimpulse nicht angemessen ausgebildet ist"(Fachlexikon der Sozialen Arbeit, 1986, S. 895). KÜNZEL führt zu einer anderen Betrachtungsweise von Verwahrlosung, die eine frühkindliche Deprivation als
Entstehungsursache für Verwahrlosung annimmt: "Verwahrlostesind Menschen, bei denen in ihrer frühesten und späteren Kindheit das vitale Bedürfnis nach "Verwahrtsein", d.h. nach Sicherung und Geborgenheit in einer schützenden, liebend zugewandten, zugleich aber auch die notwendigen Versagungen auferlegenden Umgebung nicht in einer der kindlichen Entwicklung angemessenen und notwendigen Weise befriedigt wurde"(Künzel, 1965, S.23).