Mona & Lisa - Roland Hanewald - E-Book

Mona & Lisa E-Book

Roland Hanewald

0,0

Beschreibung

dem Halbdunkel jemand an. "Dr. Hagen?" Es war ein ausländisch aussehender Mann von etwa Mitte zwanzig. "Woher kennen Sie mich?", fragte Hagen argwöhnisch. "Was wollen Sie?" "Ihr Fall", sagte der Fremde. Hagen spürte, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. "Übrigens", setzte Hagen matt hinzu. "Verfällt die Wirkung von Antiarin eigentlich nach einiger Zeit?" "Möglich." Roons Stimme klang misstrauisch. "Weshalb fragst du?" "Ach, nichts." "Mach keinen Scheiß, Gern", forderte Roon eindringlich. "Wir brauchen dich jetzt." "Ja." Hagens Stimme klang kläglich, fragte Hagen argwöhnisch. "Was wollen Sie?" "Ihr Fall", sagte der Fremde. Hagen spürte, wie sein Puls schneller zu schlagen begann. "Ich arbeite in der Burgerburg", erklärte der andere. "Hab' jetzt Feierabend. Sie waren eben dort, nicht wahr?" "Ja", bestätigte Hagen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 1000

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Mona & Lisa

Das (fiktive) Tropenland Paragua, zentraler Schauplatz dieses Romans, stemmt sich gegen die Widrigkeiten des Fortschritts. Die Bewahrung der Natur steht als oberstes Gebot auf dem Banner des kleinen Inselstaates. Paraguas Bürger leben auf der Basis des Selbsterhalts, aber dank kluger Politik unter geradezu luxuriösen Verhältnissen. Die durch Verzicht auf Überflüssiges eingesparten Mittel verwendet Paragua nicht zum Bau von Autobahnen und Großstädten, sondern zur Anhebung der allgemeinen Lebensqualität. Mona & Lisa beleuchtet auf spannende Weise beide Seiten der Medaille: Hier „der Westen“ mit seinen zahllosen, unverzichtbar erscheinenden Errungenschaften, dort Paragua mit seiner selbst erwählten Bescheidenheit — aber es gibt nur einen Gewinner.

Der deutsche Journalist Randolf Roon kommt bei einem Flugzeugabsturz in Paragua ums Leben. Seinem Sohn Robert gelingt es nach langen vergeblichen Anläufen, die mysteriösen Umstände des Crashs aufzuklären. Paragua wird darüber zu seiner neuen Heimat und die von dort stammende Biologin Mona zu seiner Frau.

Sein in Deutschland lebender Stiefbruder Gernot Hagen erliegt bei einem Besuch ebenfalls der Faszination Paraguas und verliebt sich zudem unsterblich in Monas Schwester Lisa. Nach der Heirat siedelt sich das Paar in Deutschland an. Dort findet die überaus glückliche Ehe ein tragisches Ende, als die exotisch aussehende Lisa von Skinheads erschlagen wird. Hagen ermittelt auf eigene Faust die Täter, die jedoch aus „Mangel an Beweisen“ freigesprochen werden.

Daraufhin mutiert der friedliche Akademiker Dr. Hagen zum gnadenlosen Racheengel. Er und sein Stiefbruder treiben die Killer in eine tödliche Falle, die die paraguanische Justiz dann zuschnappen lässt . . .

Roland Hanewald, Jg. 1942, erwarb sich als Seefahrer die anfänglichen Konturen seines Weltbildes, das während eines langjährigen Aufenthalts auf den Philippinen an weiterer Internationalität gewann. Die Kenntnis unserer Erde ist mit großer Intensität in seinen Erstlingsroman Mona & Lisa geflossen. Wie realistisch die darin geschilderte „paraguanische“ Existenz sein kann, lebt der Verfasser selbst vor: Er besitzt weder Auto noch Fernseher, nicht einmal ein Fahrrad, und ist dennoch wunschlos glücklich.

Roland Hanewald

Mona & Lisa

Putsch gegen die Zeit

Ein globaler Roman

Ein Geschlecht vergeht, das andre kommt, die Erde aber bleibt ewiglich. Alle Wasser laufen ins Meer, doch wird das Meer nicht voller. An dem Ort, da sie herfließen, fließen sie wieder hin. Was ist, das geschehen ist? Eben das hernach geschehen wird. Was ist, das man getan hat? Eben das man hernach wieder tun wird. Und geschieht nichts Neues unter der Sonne.

Prediger Salomo

1

Der Großvater lachte und rief: „Du bist ein kleiner Teufel!“ - gerade in dem Augenblick, als Regina Roon das Zimmer betrat.

„Weshalb tituliert ihr Männer den Jungen eigentlich immer als ‚Teufel‘?“, erkundigte sie sich verärgert. „Randolf hat auch diese dumme Angewohnheit!“

„Hat er dir nie erzählt, warum?“ Der Alte tat erstaunt. Seine Schwiegertochter warf ihm einen argwöhnischen Blick zu: „Nein.“

Rupert Roon stopfte sich umständlich eine Pfeife und setzte sie unbeeilt in Brand. Aus einer dicken Rauchwolke klang es dann bedeutsam hervor: „Robert der Teufel war eine sehr berühmte historische Figur.“ Der weißhaarige Mann übersah Regina Roons ungeduldige Geste, musterte das Bücherbord, förderte nach kurzer Suche ein schmales Bändchen zutage und blätterte ein wenig darin. „Ah, ja. Ich zitiere: ‚Dem Normannenherzog Hubert und seiner bis dahin kinderlosen Frau wird durch die Macht des Bösen endlich ein Erbe geboren, der sich von klein auf wild und gewalttätig, als Jüngling dann geradezu kriminell gebärdet. Prinz Robert mordet, plündert und vergewaltigt, bis er eines Tages erfährt, dass er schon vor seiner Geburt dem Teufel geweiht wurde. Nun geht Robert in sich und nach Rom, um dort zu beichten und zu büßen. Ein Eremit gibt ihm als Buße auf, sich närrisch und stumm zu stellen und mit den Hunden in den Straßen zu leben...‘“

„Hör auf“, stöhnte Regina Roon. „Das ist ja grässlich!“

„Moment“, wehrte der Alte ab und lächelte maliziös. „Es geht noch weiter. ‚Sieben Jahre vegetiert Robert der Teufel so in Demütigung und Buße, bis sich ihm inkognito die Gelegenheit zu einer ritterlichen Heldentat bietet. Er befreit den römischen Kaiser von einem schurkischen Seneschall und bekommt, nach einigen unvermeidlichen Ritardandi, die zunächst stumme, dann aber wunderbar von der Sprachlosigkeit geheilte Tochter des Kaisers zur Frau.‘ Vorhang.“

„Ich bin auch sprachlos“, stieß Regina Roon hervor. „Wegen dieses historischen Blödsinns nennst du den Kleinen einen Teufel.“

„Nicht nur deshalb“, antwortete der Alte entrüstet, doch in seinem faltigen Gesicht irrlichterte es dämonisch. Jedem, der seinen Sohn Randolf kannte, wäre jetzt die frappante Ähnlichkeit der beiden Männer aufgefallen. „Der teuflische Robert war im ganzen Mittelalter ungeheuer populär, so wie heute etwa ein Filmschauspieler oder, na, Fernsehfritze. Er kommt in Dramen, Balladen und Versromanen vor. Später sogar bei Meyerbeer und Nestroy. Und weißt du, wer Roberts Sohn war?“

„Und du quasselst genau wie dein Sohn“, rief Regina Roon wütend aus. „Ich will’s gar nicht wissen!“ Und damit stürmte sie aus dem Raum und schlug die Tür hinter sich zu.

Rupert Roon schmunzelte und stellte das Buch an seinen Platz zurück, sich selbst die Frage beantwortend: „Wilhelm der Eroberer. Jetzt weißt du, warum du ein Teufel bist“, wandte er sich gut gelaunt an den Jungen, der mit großen Augen der Szene beigewohnt hatte. „Aber ich schlage dir etwas vor: Wir nennen dich ab jetzt ‚Robert der Eroberer’, damit deine Mutter Frieden gibt. Was hältst du davon?“

Der Knabe strahlte. „Au, ja!“ Ein Eroberer wollte er gerne sein, das war besser als mit den Hunden auf der Straße zu leben. „Was ist vergewaltigen?“, fragte er dann neugierig.

Der Großvater antwortete zunächst nichts. Er ging zum Fenster, öffnete es. Baulärm scholl herein. In einiger Entfernung waren Betonmischer aufgefahren, Kräne kreischten, Maschinen rüttelten, eine neue Autostraße entstand. Entlang der Trasse lagen umgesägte Bäume wie tote Tiere, und auf einer fertigen Fahrbahn dröhnte der Verkehr bereits.

Der Alte winkte den Knaben zu sich heran und wies hinaus. „Das“, sagte er leise und schloss das Fenster wieder behutsam.

Ein Kerl mit Ecken und Kanten. Ein Typ wie Schmirgelleinen. So wurde der Erwachsene Randolf Roon wiederholt von Leuten beschrieben, die mehr als eine flüchtige Begegnung mit ihm gehabt hatten. Oder auch als Nagel, der unter vielen hervorstand und sich nicht einklopfen ließ. An Versuchen hatte es nicht gefehlt. Namentlich in der Schule war ausgiebig an der Persönlichkeit des Jünglings herumgehämmert worden. Ohne viel Erfolg; man hätte ebensogut versuchen können, einen eckigen Pflock in ein rundes Loch zu treiben. Randolf Roon ging schon als Kind unbeirrt seinen Weg, und sein Vater bestärkte ihn in dieser Eigenwilligkeit. Rupert Roon und sein Sohn harmonierten in einer Weise, die auf Außenstehende unerklärlich wirkte, waren eines Geistes Kind. Und das, obwohl der Patriarch sich nur selten zu Hause aufhielt. Er befuhr als Seemann, zuletzt als Kapitän, die Ozeane und überließ die Erziehung des Sprösslings zwangsläufig seiner deutschstämmigen Frau Celeste, die er, im Krieg interniert, in Chile kennengelernt hatte und mit der er später zurück in seine Heimat gezogen war. Dennoch bewirkten die mütterlichen Bemühungen wenig Sichtbares. Sowie Rupert Roon von großer Fahrt zurückkehrte, wandte sich der Junge wieder unmissverständlich dem Vater zu und sog dessen pragmatische Lebensweisheit in sich ein, als sei er aus Löschpapier. Wie alle wahrhaft freiheitlich empfindenden Menschen lag Rupert Roon auf dauerhaftem Kollisionskurs zu Bürokraten, Amtsträgern überhaupt, Advokaten, Bankern, Politikern und Managern, die er allesamt als Ausbünde der Hinterhältigkeit bezeichnete, und ließ keinen Anlass aus, seinen Abscheu auszudrücken. Dieses Wesensmerkmal schien sich auf geradem biologischen Wege auf den Sohn übertragen zu haben. Und der, wie sich später des öfteren zeigen sollte, hatte dieses Saatgut ebenfalls auf der Direttissima an den Erbfolger Robert weitergereicht.

Wie sein Vater war Randolf Roon selten daheim. Als Organisator von Expeditionen, privatem Zielfahnder und freiem Journalisten galt ihm die ganze Welt als Wildbahn, und auf seinen Reisen erlebte er mitunter die aberwitzigsten Abenteuer. Er prahlte nicht mit seinen Taten, wenn er nach tage-, mitunter wochenlanger Abwesenheit zurückkehrte, sondern ließ das Erlebte in spannende Fotoreportagen fließen und hob sich einen Rest auf, sozusagen als Nachspeise, um Frau und Sohn damit in funkelnd humoriger Weise zu unterhalten. Der junge Robert war gefesselt von diesen Erzählungen, zumal die Vorträge oft von fremdartig exotischer Musik untermalt waren, die der Vater selbst zu Band gebracht hatte und die dem Jüngling außerordentlich gut gefiel. Von dem modischen und zumeist englischsprachigen Geplärr, das immer mehr die heimatliche Szene bestimmte, hielt er nichts, konnte sich jedoch in höchstem Maß für arabische, indische und malaiische Kompositionen begeistern – was selbst den Vater verwunderte. Regina Roon hingegen hörte sich die Berichte und das winselnde Gedudel eher mit lächelnder Duldsamkeit als wahrem Interesse an. Sie hätte, bevor Robert geboren wurde, jederzeit an diesen Safaris teilnehmen können. Doch es zog sie nicht hinaus; sie fand stattdessen Befriedigung darin, das vielfältige Material, das ihr Mann periodisch anlieferte, zu archivieren und für die jeweiligen Endfassungen zu bearbeiten, bis der Globetrotter wieder eintraf und durch seinen Heißhunger auf die Strohwitwe stets erneut seine zölibatär verbrachte Zwischenzeit überwältigend unter Beweis zu stellen wusste.

„Meine kleine Vagina“, nannte Randolf Roon seine Frau in nur geringfügiger Abwandlung ihres Vornamens, ohne eine Spur von Ironie und immer mit großer Zärtlichkeit. Regina Roon hatte sich anfangs heftig gegen diese ultimative Koseform gewehrt. Doch ihr Mann setzte die Tradition mit der ihm eigenen Unbeirrtheit fort, bis sie eines Tages das Sinnlose ihres Widerstands einsah und sich in das Unabänderliche fügte. Nur ab und zu rächte sie sich auf eher niedliche Art, indem sie ihren Gatten mit „Randy“ titulierte. Der vielsprachige Weltreisende wusste natürlich um die englische Bedeutung dieses Wortes, nämlich „scharf“ im körperlichen Sinn, und amüsierte sich darüber. „Stimmt doch“, bestätigte er lächelnd.

„Du benutzt mich als Sexobjekt“, barmte seine Frau.

„Und du mich“, ergänzte ihr Mann zuvorkommend. Randolf Roon scherte sich einen feuchten Kehricht um Konventionen und emanzipatorische Modetrends und war mit einem atavistischen Selbstverständnis Ehemann und Liebhaber, das seine Lebenspartnerin trotz gelegentlichen Aufbegehrens mitriss und sie in einsamen Nächten auf das Heftigste Sehnsucht nach den „scharfen“ Stunden empfinden ließ. Oft hatte sie sich in den Phasen des Alleinseins anklagende Vorwürfe für den Abwesenden zurechtgelegt, mit denen sie ihn bei seiner Ankunft zu überhäufen gedachte. Je länger er ausblieb, desto drastischer wurde ihre Wortwahl, bis sich in ihrer Phantasie Schleusen für ganze Zorntiraden biblischen Zuschnitts öffneten. Doch kaum stand der Adressat der mentalen Schmähungen auf der Schwelle, als ihr die Traumgebilde auch schon zusammensanken wie Seifenblasen. Ihr wurde schwindlig, wenn der so lang Vermisste sie in seine Arme schloss, stark, sicher und verlässlich bis zur Selbstaufgabe, und ihre unterdrückten Leidenschaften wallten dann wie ein sprudelnder Quell empor und umfingen den Ankömmling in verschwenderischer Fülle, die bis zu seiner neuerlichen Abreise aus nie endenwollender Unermüdlichkeit zu schöpfen schien.

Dass ihr Randy trotz seiner mannhaften Auftritte im Grunde seines Herzens ein kleiner Junge geblieben war - dafür liebte seine Frau ihn ganz besonders. Randolf Roon war andererseits keines jener beklagenswerten Geschöpfe, die sich für unvergleichlich individuell hielten, weil sie mit diesem Anspruch den Aufrufen einer Ideologie folgten, die die Vereinzelung des Menschen zum Daseinsideal verklärte. In den westlichen Konsumgesellschaften herrschte dieser infantile Typus zunehmend vor, der sich den Forderungen der Mehrheit ironischerweise nicht zu entziehen vermochte und deshalb nur ein Mitläufer unter vielen, also alles andere als ein „Individualist“ war, sich inmitten der Masse genauso verzweifelt selbst darzustellen trachtete wie der große Rest. Das bis zur Exzentrizität ausgeprägte Einzelgängertum Randolf Roons kam jedoch nicht aus irgendwelchen Männerzeitschriften, sondern aus dem Bauch heraus, wo zweifellos eine genetische Verankerung bestand – der Vater unterschied sich ja um keinen Deut vom Sohn. Zum Extrem des Eigenbrötlers neigte zwar weder der eine noch der andere. Doch beide kultivierten ihre epizentrische Wesensform, erachteten sie als völlig normal und vermieden weitgehend, sich mit gesichtslosen Langweilern abzugeben, die nicht ihrer geistigen Vielschichtigkeit entsprachen. Beide, jeder auf seine Art, waren erfolgsgewöhnt, machten sich jedoch wenig aus materiellen Werten und bedachten Leute, die ihr Selbstwertgefühl aus teuren Statussymbolen bezogen, mit spürbarer Geringschätzung. Beide missbilligten den Anspruch des Fortschritts, Antworten geben zu können auf Fragen, die noch gar nicht gestellt worden waren, und beide grinsten mit unverhohlener Herablassung über ebenjene selbsternannten Individualisten, die als Herdenmenschen ein Leben in der Menge führten und zu einem Ausbruch in eine andere Daseinssphäre gar nicht fähig waren.

Die Ablehnung von Konventionen, die den „Typ wie Schmirgelleinen“ auszeichnete, umfasste primär einen globalen Kleidungskodex. Randolf Roon besaß weder Anzug noch Krawatte, war über jeglichen Markenfetischismus haushoch erhaben, vertauschte lange gegen kurze Hosen, sowie die Temperatur zehn Grad überschritt und fühlte sich in schlabbrigen Khakihemden sichtlich am wohlsten, wenn er nicht gerade mal zum Entsetzen seiner Mitwelt im saharischen Burnus erschien. Wegen dieser Marotten, vielen an der Zahl, hatte „die kleine Vagina“ zunächst Krach geschlagen. Doch auch hier war sie, mehr noch als bei anderen Reizthemen, ins Leere gelaufen und hatte alsbald aufgegeben. Denn vernünftigerweise war sie zu der Einsicht gelangt, dass sie ihren Mann so liebte, wie er war. Ein plötzlich in Geschäftsanzug und Luxuskarosse gewechselter Randolf Roon hätte den Eindruck der Unechtheit erweckt, wäre ihr wahrscheinlich schrecklich fremd und langweilig vorgekommen. „Bleib so, wie du bist“, hatte sie mitunter am Ohr ihres Liebhabers gestöhnt und dessen ausbleibende Antwort beglückt dahingehend gedeutet, dass es zu keiner Änderung des Status quo kommen würde. Randolf Roon war offenbar weit davon entfernt, seine freie Lebensart in ein Korsett bürgerlicher Konformitätszwänge pressen zu lassen und seiner Existenz vermittels umgeschnürter Krawatte eine Symmetrie zu verschaffen, an der es ohnehin nie gemangelt hatte.

Selten war eine Ehe ungleicher zusammengesetzt als jene der Regina und des Randolf Roon, selten war eine Ehe glücklicher. Doch das Schicksal hatte andere Pläne für das Paar. Sohn Robert war zwölf Jahre alt, als der Anruf kam, der das Leben der Familie Roon einschneidend veränderte. Ein Kollege Randolfs vom regionalen Journalistenverband teilte Regina Roon nach längerem Herumgedruckse mit, dass ihr Mann in dem fernen Tropenstaat Paragua in ein Flugzeugunglück verwickelt gewesen sei. Zwar wisse man noch nichts Genaues, doch Flug 110 der Air Paragua, auf dem Randolf mit nachweisbarer Sicherheit Passagier gewesen war, gelte als verschollen. Zur Zeit des Unglücks habe schlechtes Wetter geherrscht, die Maschine sei bereits seit achtundvierzig Stunden überfällig, und man müsse sich auf das Schlimmste gefasst machen. Zwar bestehe noch vage Hoffnung, dass das Flugzeug in den Dschungel gestürzt sei und dass es Überlebende geben könnte. Er, der Anrufer, würde die Frau seines Kollegen und Freundes minutiös auf dem laufenden halten, und sie möge die Zuversicht wahren.

Während ihrer Ehe hatte Regina Roon angesichts des risikobefrachteten Lebenswandels ihres Gatten eigentlich ständig mit einer solchen Nachricht rechnen müssen. Sie war sich dieses Potenzials auch bewusst gewesen, hatte die Möglichkeit jedoch stets bis zur Unmöglichkeit kleingedacht und in eine mentale Abstellkammer verdrängt. Dass dieser größte anzunehmende Unfall jetzt eingetreten war, versetzte sie in einen Zustand derartiger Fassungslosigkeit, dass ihr gesamtes Denkvermögen gelähmt schien. Sie saß über Stunden hinweg unbeweglich da, wie nach einem gerade erlittenen Schlaganfall, starrte wort- und tränenlos ins Leere und überließ dem Schwiegervater die Handhabung der Haushaltsangelegenheiten, die der Alte, selbst wie mit Keulen geprügelt, mehr schlecht als recht erledigte. Auch in den Medien erfuhr das Unglück Erwähnung, und die Anrufe des Journalisten setzten sich in den nächsten Tagen wie zugesagt fort. Sie brachten jedoch nichts Neues und endeten schließlich ohne eine tröstliche Note. Diverse Verwandte und Bekannte machten ebenfalls ein telefonisches Debüt, doch auch sie hatten nichts mitzuteilen, baten nur um Aufklärung; manche waren lediglich von penetranter, sensationslüsterner Neugier getragen. Regina Roon war für die Anrufer ohnehin nicht mehr erreichbar, denn sie lag mittlerweilen mit einem Nervenzusammenbruch im Krankenhaus. Statt ihrer betrieb der alte Rupert Roon eine Kommunikationszentrale, in der die Fäden des Falls Flug 110 jetzt zusammenliefen. Bis in die späte Nacht hockte der gebeugte Greis in ständiger Bereitschaft, um bei jedem Klingeln des Telefons voller Hoffnung sogleich zur Stelle zu sein. Jedesmal ließ er den Hörer wieder um eine Illusion ärmer entkräftet sinken. Das endgültige Aus kam knapp zwei Wochen später, als eine Schwimmweste, die dem vermissten Flugzeug zweifelsfrei zugeordnet werden konnte, an der Ostküste der paraguanischen Insel Santo antrieb. Flug 110 sei aufgrund extremer Wetterverhältnisse nach Ausfall eines Motors in den Ozean gestürzt, hieß das offizielle Kommuniqué daraufhin, und alle an Bord befindlichen Personen seien ums Leben gekommen. Drei Monate nach dem Absturzdatum wurde der deutsche Journalist Randolf Roon in Übereinkunft mit internationalem Luftverkehrsrecht für tot erklärt. Gleichzeitig teilten die Behörden seinen Hinterbliebenen mit, dass etwaige Ansprüche gegen die zuständige Fluggesellschaft in Paragua so schnell wie möglich geltend gemacht werden müssten, dass die Aussichten auf Erfolg jedoch als sehr gering einzustufen seien. Regina Roon und ihr Schwiegervater, beide um Jahre gealtert, beschlossen übereinstimmend, von dem Angebot keinen Gebrauch zu machen. Sie fanden es ungeheuerlich und geradezu nach Ablehnung schreiend, einen Menschen dieserart in Geld aufzuwiegen.

So heiß Regina Roon ihren Mann geliebt, verzweifelt auf seine Rückkehr gehofft und dann verzagend betrauert hatte – zwei Jahre nach dem Unglück kam, zunächst zögerlich, dann immer fühlbarer, der Wunsch nach neuer männlicher Gesellschaft über sie. Es war nicht das Verlangen nach körperlichem Vollzug. Dass kein anderer Mann als Randolf ihr die exquisiten Höhepunkte der Vergangenheit für den Rest ihres Lebens zu vermitteln imstande sein würde, betrachtete sie als schicksalhaftes Faktum. Sie wollte es auch auf gar kein solches Experiment ankommen lassen; es wäre, wusste sie, im Wortsinn vergebliche Liebesmüh gewesen. Nein, sie suchte nach einer Schulter, an die sie sich wieder lehnen konnte, nach kleinen Gemeinsamkeiten, nach der Füllung des bestehenden Vakuums, nach einer Familie. Das waren nach ihrem Dafürhalten allesamt ehrenhafte Absichten. Dennoch stellte sich so etwas wie Scham über den „Verrat“ an dem Verschollenen ein, als sie ihrem Schwiegervater nach langem innerlichem Widerstreit schließlich mit diesen Plänen gegenübertrat. Sie gedachte ihn in aller Kürze vor vollendete Tatsachen zu stellen und hoffte, dass ihre Stimme die Stärke ihres Entschlusses signalisieren würde. Doch das Vorhaben geriet ihr genau wie so oft bei Randolf gründlich daneben. Die Luft wich aus dem schwachen Ballon ihrer künstlich aufgebauten Selbstsicherheit, kaum dass sie des misstrauisch blinzelnden Alten ansichtig wurde. Sie musste sich zwingen, ihm überhaupt in die Augen zu blicken, und die Worte wollten nicht aus ihrem Mund, bis Rupert Roon sie letztlich aufforderte, ihr Herz auszuschütten. Er sei auf alles gefasst.

„Ich habe vor, wieder zu heiraten“, flüsterte die Schwiegertochter.

„Ah? Nur zu.“ Der Alte schien wenig überrascht. „Und wer ist der glückliche Auserwählte in zweiter Instanz?“

„Hermann Hagen.“

„Ist das nicht der —“

„Ja. Der mir schon in meiner Jugend den Hof gemacht hatte.“

„Und was ist der jetzt?“

„Frühpensionierter Oberpostrat.“

„Was anderes als Randolf, eh?“

„Ja.“ Regina Roon seufzte elend. „Ich möchte noch einen Sohn haben, Rupp.“

„Aus dem gebärfreudigen Alter bist du ziemlich raus. Aus dem lendenstarken auch.“

„Quatsch.“ Sie gewann etwas Oberwasser. „Darum geht es nicht. Hermann ist verwitwet, wie ich. Seine Frau ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Und er hat einen Sohn. Gernot. Zwei Jahre jünger als Robert.“

„Reicht der dir nicht?“

„Robert entgleitet mir immer mehr. Was sage ich — er ist mir schon längst entglitten. Und du weißt, wer dafür verantwortlich ist.“

„Der Junge braucht einen Vater“, knurrte der Alte ungehalten. „Lass mich das machen. Er muss sich mit einer männlichen Bezugsperson identifizieren können, um sich später im Leben zu behaupten.“

„Alleinerziehende Mütter sind durchaus fähig, dafür die Grundlagen zu schaffen.“

„Das sind sie nicht. Vielleicht bei Töchtern, und dort auch nur zur Hälfte. Söhnen können sie nicht vormachen, wie man zum Mann wird. Sollen die Knaben nach feministischen Rollenverständnissen heranwachsen? In einem Zeitalter, dessen Probleme mehr denn je danach rufen, richtungweisend von beiden Geschlechtern gemeinsam angepackt zu werden? Sieh dir nur an, wie viele Versager unsere Gesellschaft wegen des Irrglaubens, ihre Kinder könnten auch mit fünfzig Prozent ihres Entwicklungsvolumens groß werden, hervorgebracht hat. Und weiterhin hervorbringt. Muttersöhnchen sind noch nie die Triebfeder menschlichen Strebens gewesen.“

„Männlichen Strebens meinst du. Mutterliebe ist durch nichts zu ersetzen.“

„Das bestreite ich auch gar nicht, obwohl die in Europa erst vor ein paar Generationen in Mode geraten ist. Und obwohl viele heutige Mütter mangels Mann Halt bei ihren Söhnen suchen und den Vorgang dann mit Mutterliebe verwechseln.“

„Eher solche, die einen Schwächling zum Mann haben.“

„Wer hat sie denn dazu gemacht? Und wer drängt die Jungväter immer mehr in Mutterschaftsrollen, für die sie keinerlei Bestimmung haben, heh? Männer besitzen keinen Instinkt dafür, ihren Gören den Hintern zu pudern. Sie haben andere Vorbildfunktionen.“

„Rede du nur von Vorbildern. Du warst doch selbst keines. Bist du nicht den größten Teil deines Lebens auf See herumgeschaukelt?“

„Bin ich. Dennoch hat mich Randolf als Vater wahrgenommen. Mehr noch vielleicht, als wenn ich ständig zu Hause gewesen wäre und mich um seinen Hintern gekümmert hätte.“

„Ein verbissener Einzelgänger war deshalb aus ihm geworden. Und Robert wird auch einer.“

„Na, na.“ Der Alte schüttelte tadelnd den Kopf. „Du wirst die beiden doch wohl nicht als bindungslose Asoziale bezeichnen wollen. So weit ich das beurteilen kann, war Randolf trotz seiner vielen Abwesenheiten ein großartiger Ehegatte.“

Die Schwiegertochter verbiss sich aufwallende Tränen. Er hat mir die Zehen geküsst, dachte sie. Und was nicht noch alles. Hermann Hagen käme nicht einmal auf den Gedanken. „Ja. Das war er“, gestand sie kläglich. „So einen finde ich nie wieder.“

„Jetzt kommt ja der Oberpostrat.“

„Ach Unsinn, Rupp. Du sagst doch selbst, eine Vaterfigur sollte da sein.“ Sie blickte ihn nicht ohne Zärtlichkeit an, sah die Wesenszüge des verlorenen Sohnes deutlich dupliziert. Rupert Roon war auch im fortgeschrittenen Alter lange ein attraktiver Mann geblieben und wäre für manche Frau seiner Generation noch eine gute Partie gewesen. Nichts lag ihm aber ferner, als eine neue Verbindung einzugehen, nachdem seine Frau Celeste vor einigen Jahren verstorben war. Regina Roon hatte stets seine Charakterstärke bewundert, die zweifellos zu seiner vorbildlich verlaufenen Ehe beigetragen hatte. „Du verrichtest, wenn ich ehrlich sein soll, die Aufgabe auch hervorragend“, setzte sie den Dialog mit festerer Stimme fort. „Robert ist auf positive Art ganz anders als seine Altersgenossen. Aber gedenkst du ewig zu leben?“

„Ich weiß nicht, ob Robert der Teufel sich mit einem frühpensionierten Sesselfurzer identifizieren wird.“

„Du könntest dich schon etwas galanter ausdrücken.“

„Soll dein Galan hier nun einziehen?“

„Nein. Er hat selbst ein Haus. In Kranach. Außerdem ist er nicht mein Galan.“

„Ich wollte nur galant sein. Na, dann nicht. Er wohnt dort, und du wohnst hier. Die ideale Ehe.“

„Das musst du gerade beurteilen, nach deinem Vagabundenleben.“ Sie lächelte ihn an, gleichermaßen um Vergebung für ihren Vorwitz bittend, denn der Alte war auf dem Ohr empfindlich. „Aber es wäre mir schon lieb, wenn wir hier zusammen wohnen könnten. Ich möchte dieses Haus nicht aufgeben, Rupp. Es ist ja so eine Art Stammsitz der Familie Roon, voller Andenken und Eigenheiten. Von dieser letzten Bindung will ich Robert nun wirklich nicht trennen.“

„Gut, dass du das zu würdigen weißt.“ Die Stimme des alten Mannes wurde milder. „Ich glaube aber nicht, dass ich mit deinem Briefträger unter einem Dach residieren möchte. Das halbe Haus gehört ja immerhin noch mir.“

„Hast du eine bessere Idee?“

Rupert Roon dachte eine Weile nach und nickte dann. „Ja. Ich verkauf’ euch meine Hälfte. Für einen fairen Preis.“

„Und du?“

„Ich leg’ mir dafür ein Boot zu. Wollte ich schon immer.“

„Du willst auf einem Boot leben?“

„Na, und? Ich bin Seemann.“

„Und im Winter?“

„Da bin ich auch Seemann. Ich werde dahin gondeln, wo es warm ist. Mit Booten kann man das, wenn du dich erinnern willst.“

„Darf man denn überhaupt ständig auf einem Boot wohnen?“

„Darf? Äh - klar doch. Ich hab’ mich schon kundig gemacht.“

„So? Bei wem denn?“

„Beim lieben Gott. Wer sollte sonst für mich zuständig sein? Irgendein Sesselfurzer vielleicht?“

Rupert Roon hatte in traditioneller Familienmanier sein Vorhaben ohne viel Federlesens verwirklicht. Nach dem Verkauf des Resthauses an das Ehepaar Hagen — und nach Einrichtung eines Zimmers musealen Zuschnitts zum Gedenken an den verschollenen Sohn; darauf hatte er bestanden — zog der emeritierte Kapitän mit schmalem Gepäck an Bord eines günstig erworbenen und neu auf den Namen „Celeste“ getauften vormaligen australischen Perlenluggers, erbaut 1908 auf Thursday Island, fünfzehn Meter lang und aus eisenharten tropischen Hölzern gefügt. Die „Celeste“ lag hinfort zumeist in einem stillen Seitenarm des Stroms, der an der Heimatstadt des Roon-Clans vorüberfloss und von dem der Alte so oft auf große Fahrt gegangen war. Jetzt pusselte er auf dem Boot herum und vertrieb sich auf diese Weise, wie Beobachter vermeinten, die reichlich bemessene Zeit seines Ruhestands, um nach seinem bewegten Leben nicht in Depressionen zu verfallen. Das mutmaßten auch Bekannte der älteren Semester, die ihm mitunter noch begegneten. Sie waren mehrheitlich geckenhaft in bunte Freizeituniformen gewandet, von Plastikhelmen gekrönt, mit „Bikes“ oder „Inline Skates“ bewehrt, und jeder der alten Männer keuchte solcherart gewappnet gegen sich selber an. Der Skipper sah den Rentneraufgeboten, ihrem schimmernden Helmschmuck und blitzenden Rüstzeug mit gerunzelten Brauen und zweifelnd verzogenen Lippen hinterdrein. Die hechelnden Greise hoben in diesem würdelosen Aufzug ihr wahres Alter nur noch mehr hervor, empfand er, und gaben bedauernswerte Figuren ab. Einladungen, beim „Jogging“, „Biking“, „Skating“ und „Walking“ mitzutun statt sich den Freuden der wahren Welt zu verschließen, wies er schroff, wenn auch mit nach eigener Überzeugung höflicher Ausdrucksweise zurück. Doch er hatte wohl zu viel aristokratische Herablassung in seine Ablehnungen fließen lassen und sich vor allem zu deutlich über das anglisierte Dummdeutsch der Sportsfreunde mokiert, denn die Offerten wurden nicht wiederholt und Kontakte blieben hinfort aus. Sollte der alte Sack doch auf seinem Schlorren versauern!

Aber daran dachte „Opa Rupp“, vom Seelentief äonenweit entfernt, nicht im Geringsten. Er setzte, im Gegenteil, auf der „Celeste“ handfeste Pläne in die Praxis um. Regina Hagen, verwitwete Roon, sollte zu ihrem Leidwesen zuerst davon erfahren. Sie hatte gehofft, dass der neue Status und die physische Distanz zum Großvater zu einer Vertiefung ihrer Bindungen an den Sohn führen würden. Doch das erwies sich als Irrtum. Der junge Robert ließ sich weniger denn je daheim sehen, sondern schloss sich dem Alten auf dessen schwimmender Bleibe enger als zuvor an. Jede freie Minute brachte er auf der „Celeste“ zu, und sowie längere Ferien begannen, ging das Boot ankerauf. Die beiden Roons verschwanden dann unter vollen Segeln am Horizont, zunächst mit Zielen in der Nord- und Ostsee, bis in die schwedischen Schären und finnischen Seen hinein, später nach Irland, Spanien und den Azoren. Robert kam von jeder dieser Touren gebräunt und strahlend, männlicher und gereifter und seinem Erzeuger immer ähnlicher sehend zurück, umfing seine Mutter in liebevoller Umarmung, begrüßte Stiefvater und –bruder mit kühler Reserve und fuhr fort, das Gymnasium mit zunehmender Lustlosigkeit zu besuchen und den Rest der Zeit der „Celeste“ zu widmen, die wieder unschuldig zwischen Schilfinseln vor Anker lag. Dann trat mit Abitur und Wehrdienst eine Unterbrechung dieser glücklichen Verhältnisse ein, und Robert verabschiedete sich danach mit der Erklärung, er wolle allein auf eine längere Reise gehen. Der Großvater akzeptierte die Verkündung ohne Kommentar. Er hatte sich keinen Illusionen darüber híngegeben, dass der Enkel auf alle Ewigkeit mit ihm Kreuzfahrten unternehmen würde. Es war ohnehin an der Zeit, dass ein gut aussehender Jungmann wie Robert sich der Schürzenjagd widmete, denn selbige, argwöhnte Rupert Roon, war das eigentliche Motiv.

Der Brief mit der französischen Marke, der nach einigen Wochen des Schweigens einlief, kam jedoch aus einer ganz anderen Ecke. Er war an Rupert Roon adressiert und trug keinen Absender, aber unverkennbar die Handschrift Roberts. Der Alte, an Deck der „Celeste“ in der Sonne sitzend, wendete den Umschlag ein paarmal hin und her und öffnete ihn dann auf seine bedächtige Art, voller kurioser, wenn auch nicht notwendig unguter Vorahnungen.

„Lieber Opa Rupp“, begann das Schreiben mit der vertrauten Anrede. „Wenn diese Zeilen Dich erreichen, bin ich schon längst —“ Der Großvater schrak zusammen, doch der Enkel hatte diese Reaktion offenbar exakt vorausgeahnt, denn er fuhr fort: „Nein, dies ist keineswegs ein Abschiedsbrief. Ich bin bei Eingang dieser Botschaft alles andere als tot, sondern sehr lebendiger Rekrut bei der Fremdenlegion in Castelnaudary in Südfrankreich. Teile bitte meiner Mutter und meinem Stiefvater diesen Sachverhalt schonend mit und lass sie gleichzeitig wissen, dass Bemühungen, mich von der Sache abzubringen, sinnlos sind. Ich habe mich per Unterschrift für fünf Jahre verpflichtet und trage bereits das ,Képi blanc‘, stecke also schon mittendrin. Da ist nichts rückgängig zu machen, zumal ich ja alt genug bin. Vorerst werde ich nicht zu Hause anrufen, weil ich keinen Bock habe, mir einen Schwall von Vorwürfen anzuhören. Telefonisch erreichbar bin ich auch nicht.

Ich habe diesen Schritt nach gründlicher Überlegung getan. Und nach langer Vorbereitung. Meine Einser in ,Franz‘ auf dem Gymnasium hatten bereits damit zu tun. Nein, verbrochen habe ich nichts, und ein Mädchen ,sitzenlassen‘ habe ich auch nicht, obwohl dergleichen heutzutage wohl ganz normal ist – Vater Staat zahlt ja. Das Pflichtjahr bei der Bundeswehr war ebenfalls keine Anregung, eher im Gegenteil. Mein Einstieg in die Legion hat ganz profane, ,geschäftsmäßige‘ Gründe, die ich Dir gerne auseinandersetzen will.

Ich möchte Vater finden. Dass er tot ist und nicht etwa mit Amnesie in einem paraguanischen Dschungel herumirrt, daran hege ich nach diesen langen Jahren keinen Zweifel. Die anderen Insassen des Flugzeugs sind ja auch nicht wieder aufgetaucht. Trotzdem will ich Vaters Schicksal aufklären, über das es bislang nur vage Anhaltspunkte gibt. Und um ehrlich zu sein: Er hatte, wie Du weißt, in seiner letzten Nachricht noch eine vage Andeutung über einen fabelhaften Schatz gemacht. Das reizt mich natürlich auch, weniger etwaiger Reichtümer als des Abenteuers wegen.

Auf dem Weg eines ,normalen Berufs‘ ist ein solches Vorhaben unmöglich. ,Wer einen Beruf ergreift, ist verloren‘, hat der weise Thoreau mal gesagt, und da ist was Wahres dran. Nach meinem Abi standen ja ein Studium und eine akademische Laufbahn zur Debatte, was ich von vornherein ausgeschlossen habe. Erstens wollte ich meinem Elternhaus nicht länger auf der Tasche liegen; Du weißt ja auch, dass es zwischen mir und meinem Stiefvater Spannungen gibt. Zweitens verspüre ich eine instinktive Abneigung gegen den ganzen Betrieb, in dem meines Erachtens die Individualität junger Menschen unter der Last vorgefasster Ideen und Meinungen ihrer Magister begraben und erstickt wird. Ich möchte keiner von den vielen sein, die nach den Worten des englischen Dichters Edward Young ‚als Original geboren werden, aber als Kopie sterben‘. Lieber halte ich es mit der Empfehlung unseres großen Immanuel Kant, ‚sich seines Verstandes ohne Anleitung eines anderen zu bedienen‘ — der musste es wissen! Und wofür steht ein ,Abschluss‘ — für das Ende jahrelangen Auswendiglernens? Weshalb sollte ich wie so viele, die sich lediglich nominell mit ihrem Akademikertum zu brüsten gedenken, in ein Proforma-Studium einsteigen, das mich vielleicht für einen freud- und nutzlosen Lebensweg bestimmt? Das mich, nur wegen meiner Einser in Franz, womöglich dazu verdammt, für den Rest meiner Tage als Französischpauker dahinzuvegetieren — gleich Leuten, die ihr Leben lang Zahlen addieren müssen, weil sie gute Mathenoten hatten, und ihr höchstes Glück darin finden, wenn sie nach jahrelangem Buckeln und Treten Prokurist oder Sparkassendirektor werden? Und drittens glaube ich, dass Gernot in diesem Punkt den üblichen ‚Vorzug‘ genießt und bald diesen Kurs einschlagen wird, um auf einen ruhigen und gut bezahlten Aussitzposten loszusteuern; er hat halt diese Beamtenmentalität ererbt. Das gäbe dann nur weitere Reibereien daheim. Ich wäre gern Seefahrer geworden wie Du, aber Du hast mir ja selbst davon abgeraten, stumpfsinnig Blechkisten von A nach B zu transportieren, statt wie früher das Kap Horn zu umsegeln. Freier Journalismus, Vaters Ding, klingt zwar überaus verlockend. Aber dafür muss man wohl erst einen Tag älter sein und seinen Grips reifen lassen. Vielleicht gerate ich, genau wie Vater, später noch daran. Zur Fliegerei hätte es mich ebenfalls gezogen, doch die mit der kommerziellen Variante verknüpften festen Bindungen, siehe Thoreau, reizen mich nicht.

Dies stellt allerdings nur die elementare Planung dar. Ich möchte bei der Legion lernen, mich selber im Handwerk des Lebens zu behaupten, ohne bei jedem Problem nach einer regulierenden Instanz rufen zu müssen. Ich halte die Gesellschaft, aus der ich stamme, für abgrundtief degeneriert. Ich kann dieses Anspruchs- und Besitzstandsdenken, das dumpfe Konsumieren, das raffgierige Habenwollen und die Versorgungsmentalität nicht persönlich nachvollziehen. Auch diese miefige Spießigkeit, die Vater schon so hasste (und Du ja auch), das Vorzeigen des dicksten Autos, die endlosen Rasenmäherduelle, das Laubfegen, Heckenscheren und Bäumestutzen, ausgeübt von Leuten, die im Erwerbsleben nichts zu sagen haben und sich deshalb gegen das wehrlose Grün loslassen – das alles geht mir unsäglich auf den Keks. Ebenso neureiches Jungvolk, das wie nasse Säcke vor Glotzen hängt, mit Riesenschuhen und zelthaften Hosenbeinen greisenhaft durch die Welt schlurft, immer quengelnd und anmaßend und ständig auf der Suche nach dem Kick, den ihm das wirkliche Leben mangels Anforderung nicht gibt. Ich brauche eine Alternative zu einem systemkonformen Spaßleben in dieser künstlich arrangierten Krimskramswelt, sonst verstopfe ich dort. Ein Dasein ohne Existenzkampf, in dem ich mich nicht mehr anstrengen müsste, in dem alles nur noch freiwillig ist, wäre mir unerträglich. Ich meine auch, dass die ganzen technischen und sozialen Fortschritte der Neuzeit nichts zur bleibenden Qualität des Lebens beigesteuert, sondern uns nur Überdruss und Übersättigung beschert haben. Dass das ,Söldnerdasein‘ seine Härten und Schattenseiten hat, dass ich womöglich in Kriege ziehen und Feinde der Grande Nation und ihrer Kapitalinteressen bekämpfen muss, weiß ich sehr wohl. Aber damit werde ich leben (und hoffentlich überleben) können. Andere deutsche Legionäre wie Ernst Jünger und Philip Rosenthal haben es auch gekonnt, wenngleich gerade in diesen beiden Fällen nicht besonders glänzend.

Den Aufnahmetest habe ich mit fliegenden Fahnen bestanden, schon wegen meiner Franzkenntnisse und ausgezeichneten körperlichen Verfassung. Immerhin lehnt die Legion sieben von acht Bewerbern ab – und das bei über 8000 jährlichen Applikanten. Ich habe sogar die Chance, seltenste aller Ausnahmen, Offizier zu werden, und das möchte ich auch. Die Grundausbildung liegt fast hinter mir. Ich werde nach weiterem Training einer Spezialtruppe angehören, sogenannten Krisenreaktionskräften. Ein ziemlich harter Haufen, aber das ist ja genau, was ich wollte.

In Kürze geht’s nach Korsika zum Fallschirmspringen und dann zum Dschungeltraining nach Kourou in Guyana. Dort gibt’s den doppelten Sold, gut 6000 Francs. Das ist ein ganz hübscher Batzen, und zumal Kost und Logis gratis sind, kann ich fast alles auf die hohe Kante legen. (Ich darf nicht mal ein Auto besitzen, kein Privatzimmer mieten). In fünf Jahren wird also ein ansehnliches Sümmchen daraus. Außerdem habe ich die Möglichkeit, in meiner Freizeit fast zum Nulltarif Flugstunden zu nehmen. Davon werde ich auf jeden Fall Gebrauch machen, denn ein großer Teil meiner Suche in Paragua wird wohl aus der Luft stattfinden müssen. Ich hatte vor meinem Eintritt in die Legion schon mal eine Reise dorthin unternommen, um mich an Ort und Stelle umzusehen, naiverweise mit der Vorstellung, den Fall spontan zu knacken und mit seiner Lösung in der Tasche als toller Hecht zu Hause auftreten können. Na, war ‘ne Schnapsidee. Seither weiß ich, dass Nachforschungen in Paragua — ein wunderbares Land übrigens — sehr zeitintensiv sind und viel Geld kosten werden. Aber einen Anfang habe ich gemacht.“

Der alte Mann hatte während der Lektüre mehrmals zustimmend genickt. Jetzt las er die abschließenden Grüße und ließ den Brief dann sinken. Seine Augen waren feucht. „Junge“, flüsterte er, „mein Junge.“ Nein, da gab es keinen Weg mehr zurück, dessen war er sich bewusst. Ich werde dir jeden Franc verdoppeln, Robert, schwor er einen innerlichen Eid, dazu reicht mein Geld allemal. Bleib nur am Leben, Kind. Er schneuzte sich geräuschvoll. Und dann machte er sich auf den schweren Weg, um der Familie Hagen die Neuigkeiten mitzuteilen.

Das Zwiegespräch zwischen Enkel und Großvater hielt über die Kontinente hinweg an und war vornehmlich von heiteren Erinnerungen getragen. „Weißt du noch?“, begannen viele von Opa Rupps Briefen. Als wir vor Lappeenranta lagen? „Strand der Lappen“, heißt das, mitten in Finnland. Die Brechsee vor Horta? Auf zwanzig Meter hatten wir sie geschätzt, ein wahres Monstrum. Und wir waren oben auf ihr mit der „Celeste“! Ah, was für Abenteuer, wie oft waren wir obenauf!

Doch die Briefe wurden allmählich seltener, und die Abenteuer verloren ihren Glanz. Rupert Roon war sich darüber im klaren, dass der Junge in der Legion Erlebnisse hatte, gegen die alles Frühere verblasste. Auch spürte er, wie für ihn selbst die Ära gewagter Unternehmungen ihrem Ende zuging, dass die Schatten, die sich über seinen Lebensabend legten, immer länger und dunkler wurden. Oft musterte der alte Seefahrer vom Deck der „Celeste“ jetzt mit zusammengekniffenen Augen die Horizonte, als wartete er auf ein Signal von jenseits des großen Wassers. Fast ein Jahrhundert lang hatte er, oft unter eisenharten Bedingungen, dem Dasein Tag um Tag abgetrotzt. Er war aus diesem Kampf als Sieger hervorgegangen und mit seinem Lebenslauf im reinen, ohne verpasste Gelegenheiten beklagen zu müssen. Alles in allem hatte er Anlass zu innerem Frieden. Dennoch empfand er keinen Triumph, sondern fühlte sich zutiefst erschöpft. Der nächste Sturm, fürchtete er, mochte die Flamme ausblasen, die noch in ihm flackerte. Aber er war bereit, diesem Ereignis in bester Roonscher Manier aus eigener Initiative zuvorzukommen.

Opa Rupp trat seine letzte Reise an, und er traf die dazu gehörigen Vorkehrungen mit aller Umsicht. Die hervorragend erhaltene „Celeste“ ging zunächst an einen willigen Käufer; der Enkel fand den Ertrag später auf seinem Konto. Für eine unbedeutende Teilsumme legte sich Rupert Roon ein nur sechs Meter langes, halb verfallenes Boot zu. An diesem Derelikt arbeitete er einige Zeit herum, ohne sich von hämischen Bemerkungen und Bezugnahmen auf die große „Celeste“ stören zu lassen. Eines kalten Januartages mochte der kleine Ableger schwimmfähig und halbwegs seetüchtig gewesen sein, denn während über Skandinavien Hochdruck einzog und kontinentale Tiefausläufer zu kräftigem Ost entlang der Küsten führten, segelte der winzige Nachen ungesehen auf die winterliche Nordsee hinaus. Die Ausfahrt fand bei Schneetreiben und ohne winkende Tücher am Kai statt, ohne Abschiedsgruß und ohne Tränen. Der Ebbstrom setzte die „Celeste II“ zu nächtlicher Stunde an den Lotsenkuttern vorbei, auf deren Radarschirmen sie, falls überhaupt, als pünktchenhaftes Treibgutecho erschienen wäre, und der Wind schob sie rasch nach Westen. Die unschlüssig vor Kap Hatteras umherdriftende Tiefdruckzelle war zu diesem Zeitpunkt bereits in den Großwetterkarten verzeichnet. Doch nur ein kenntnisreicher Fach- und Fahrensmann hätte voraussagen können, dass dieses unscheinbare Luftloch sich binnen Wochenfrist zu einer mörderischen nordatlantischen Sturmzyklone entwickeln würde, die allein auf den britischen Inseln unermessliche Schäden anrichten und halb Holland unter Wasser setzen sollte. Die letzte Sichtmeldung der „Celeste II“ kam von einem liberianischen Tanker aus der nördlichen Biskaya. Das Miniaturboot taumelte, offensichtlich führerlos und in mechanischer Auflösung begriffen, über die Kämme gewaltiger Orkanseen weit westlich von Kap Ouessant; der Liberianer konnte aufgrund der extremen Wetterverhältnisse keinen Rettungsversuch unternehmen und reichte die Nachricht an die Seenotzentren weiter. Ein Hubschrauber suchte das Gebiet nach dem Sturm ab und fand nichts. Zwei Wochen später trieben die zerschlagenen Reste der „Celeste II“, der Name noch lesbar, auf den Stränden der englischen Cornwallküste an. Von Opa Rupp fehlte jede Spur. Er war „geblieben“, wie man in Seefahrerkreisen sagt.

La Paloma ohé – einmal wird es vorbei sein!

Einmal holt uns die See, und das Meer

gibt keinen von uns zurück.

Nachdem die Familie die niederschmetternde Kunde von dem Unglück erhalten hatte, hörte dieses Lied nicht auf, Regina Hagen im Kopf umherzuspuken. Die Paloma war immer die Lieblingsweise des Alten gewesen. Wie oft hatte er die Platte in seinem Kapitänszimmer laufen lassen und den Text im brummigen Bass und in verschiedenen Sprachen mitgesungen, dachte sie und weinte bei der Erinnerung. Und jetzt hatte auch ihn die See geholt. Sie fühlte sich in die entsetzlichen Tage zurückversetzt, als Randolf verschwunden war, und versank allmählich in eine immer dunklere Stimmung, die auch die erzwungene Bonhomie ihres Mannes nicht aufzuhellen vermochte.

„Was für eine Idiotie!“, bemerkte Hermann Hagen, wenig sichtlich von dem Geschehnis berührt und sich offenbar zu einem klärenden Kommentar veranlasst fühlend. „Mit solch einer Nussschale in See zu stechen! Mitten im Winter! Ich hatte den Alten für klüger gehalten.“

Er beschwor mit dieser Äußerung die bislang gravierendste Ehekrise in der jungen Paarbeziehung herauf. Denn Regina Hagen sprang panthergleich auf die „Idiotie“ und den schulmeisterhaften Tonfall an, schrie mit tränenerstickter, sich überschlagender Stimme etwas von richtigen Männern, Edelmut und menschlicher Größe, zog Waschlappen, Erbsenzähler, Briefmarkenkleber und Sesselfurzer zum Vergleich heran, ließ Hermann Hagen wie einen begossenen Pudel vernichtet stehen und schloss sich vierundzwanzig Stunden lang im Roon-Tempel ein, während derer kein Laut nach außen drang. Danach trat sie mit roten Augen, aber ansonsten gefasst und kühl wieder hervor, hörte sich die gestammelte Entschuldigung ihres Gatten ohne ein Wort der Entgegnung an und setzte ihre gewohnte Existenz fort. Doch die Hagensche Ehe war hinfort nicht mehr die gleiche wie zu ihrem Beginn.

Robert Roon erzählte später nie viel von seinen Jahren in der Fremdenlegion. Die Franzosen hatten ihn in großen Teilen ihres einstigen kolonialen Imperiums herumtransportiert, immer wieder zu beinharten Einsätzen, in denen es um die boudin, um die Blutwurst ging. In den meisten Fällen hatte der junge Deutsche ein Einsehen mit den Aufgaben, die ihm gestellt wurden, und erledigte sie zur vollen Zufriedenheit seiner Vorgesetzten. Häufig galt es, verrückten Warlords und ihren Schergen das Handwerk zu legen, entités chaotiques ingouvernables, wie die Franzosen sie nannten, unregierbaren wüsten Haufen, die blutige Metzeleien unter ihren Landsleuten veranstalteten. Dann wiederum wurde die Truppe zu Hilfe gerufen, wenn ein größenwahnsinniger Nachbar eine vormalige französische Kolonie bedrohte, und die Mannen marschierten mit exakt sechsundsiebzig Schritten in der Minute zu den Klängen der Marseillaise an. Roon zog den Sinn der Kampfhandlungen, in die er bei solchen Anlässen verwickelt wurde, nie in Zweifel und tat sich stets an vorderster Front ehrenhaft dabei hervor. Den Auftrag der Niederwerfung mancher Völker, die gegen die wirtschaftliche und kulturelle Dominanz Frankreichs rebellierten, erfüllte er indes nicht mit übertriebenem Enthusiasmus. Er hegte in vielen Fällen Sympathien für die Betroffenen, bewunderte im stillen ihre Lebenstüchtigkeit und ihr Improvisationstalent, ihre Fähigkeit, ein einfaches Dasein zu führen und trotzdem glücklich zu sein. Als débrouillards — „Schlauköpfe“ im Sinne von „Entwirrer, Entnebler“ — bezeichneten die Franzosen diese Menschen, vorwiegend schwarze und braune Afrikaner, Karibier und Ozeanier, die eine florierende Schattenwirtschaft führten und sich einen Dreck um bürokratische Auflagen der Herrschenden scherten, deren Papierwust allenfalls zum Säubern ihrer Hintern benutzten. Diesen aufsässigen großen Kindern galt es die Faust der Grande Nation zu zeigen, die ihnen den rechten Weg in die Welt braver Steuerzahler und kritikloser Verbraucher weisen sollte, in der man sich nicht mehr mit dem Netz aus der Lagune, mit der Hacke vom Acker, von der Hand in den Mund, sondern mit dem Franc aus dem Supermarktregal ernährte, und in der man nicht mehr ging, sondern nur noch fuhr – Citroën, Peugeot und Renault natürlich. Auf die Umwandlung der Erdbevölkerung in eine Kapitalgesellschaft, in der die Menschen wie zu Zeiten des Sklaventums nur noch Nummern und Handelsgüter waren, wollte auch eine Nation nicht verzichten, die sich groß nennen zu müssen glaubte.

Die Heimkehr des abtrünnigen Sohnes ins Elternhaus war zunächst unspektakulär verlaufen. Regina Hagen hatte es an fürsorglichen Zuwendungen nicht fehlen lassen, doch ansonsten überwog eine gedämpfte Stimmung. So empfing man jemanden, der gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war, nämlich indem man eine Erwähnung der jüngsten Vergangenheit peinlich vermied. Das Thema der Legion kam auch in der Tat vorerst mit keinem einzigen Wort zur Sprache. Nach anfänglichen artigen Erkundigungen nach der Befindlichkeit servierte das Ehepaar Hagen Tee und Kekse und begab sich dann rasch auf neutrales Terrain: Der tote Großvater, eine schreckliche Geschichte. Auch der Hund war tot. Überfahren. Bruder Gernot studierte, wie kaum anders zu erwarten. Soziologie. Ja, der Gernot, der bringt’s zu was, zum Doktor gar, klang in Hermann Hagens geschwollenen Monologen nur entfernt verborgen an, der ist kein gescheiterter Legionär. Aber der Gast hörte lediglich mit halbem Ohr hin und musterte unruhig seine Umgebung. Es kam ihm alles so verändert vor. Entseelt, das war das Wort. Die Schrankwand mit Leseringbüchern, die sechsschalige Nussbaumlampenkrone und der Palisandercouchtisch mit Spreizbein, diese Scheußlichkeiten, Mitbringsel aus dem Haushalt des Stiefvaters, waren noch da und bestimmten das von Hermann Hagen in Effekt gesetzte philiströse Milieu, rümpeliger Inbegriff deutscher Wohnzimmerkultur, nicht völlig wärmefrei und dennoch das Haus leerer und kälter als in der Vergangenheit erscheinen lassend. Irgend etwas fehlte. Robert Roons Aufmerksamkeit schweifte vom schwadronierenden Hausherrn zum Fenster, ins Freie. Die Südwand des Anwesens war früher von einer riesigen Kastanie eingenommen worden, die im Sommer die meisten Räumlichkeiten in willkommenen Schatten getaucht und im Winter bereitwillig die Sonne ins Innere gelassen hatte. Das geheimnisvolle Knospen im Frühling war alljährlich über mehrere Monate hinweg in raunendes Wispern und mächtiges Rauschen des Blattwerks übergegangen, und ständig hatten Vögel in großer Zahl den freundlichen Wirt bevölkert. Dann wieder hatte sich dieser mit einem duftigen Blütenmeer bekleidet, aus dem letztlich das stachlige und knollige Erbgut hervorging. Ein kleines Wunder wechselte in das nächste, und diese daseinsfrohe Kulisse war dem jungen Robert, der manchen Sommer in einem eigens zurechtgezimmerten Baumhaus verbracht hatte, bevor er mit dem Großvater auf Fahrt ging, jahrelang Lebenselixier gewesen. Dort oben hatte er gehockt, sich mit Büchern und Landkarten beschäftigt und sein erstes Weltbild heranreifen lassen. Es war, seinem Umfeld gemäß, tiefgrün und von Anfang an so kerngesund wie die Kastanien, die der Baum im Herbst der Erde weihte.

Seine Tasse fiel klirrend um, als er mit einem Ruck aufsprang und ans Fenster stürzte. Ungläubig spähte er hinaus auf ein ödes Zementgeviert, das eine niedrige Thuja-Hecke, kantig wie eine Gefriertruhe und hässlich wie rostiger Stacheldraht, von weiterer vegetationsloser Steinwüste trennte. Auf der kahlen, von einigen Ölflecken und herangewehtem Plastikmüll getupften Fläche stand neben einer Straßenlampe einsam ein Personenkraftwagen.

„Wo ist denn die Kastanie geblieben?“, rief Roon mit ungestümer Empörung aus, „Mein Kletterbaum! Das Baumhaus!“ Seine Worte verloren sich fast in ein Schluchzen, als er in die Runde blickte. „Mein Gott – Steppe. Alles weg!“

„Papa hat den Baum umsägen lassen“, erklärte Regina Hagen. Ihre Stimme zitterte ängstlich angesichts der flammenden Augen ihres Sohnes. „Die fallenden Kastanien hatten sein neues Auto eingebeult“, setzte sie lahm hinzu. „Opa Rupp hatte bei seinem Hausverkauf seinerzeit vertraglich verfügt, dass hier nie eine Garage eingebaut werden dürfte. ‚Mit Benzinkutschen wohnt man nicht zusammen‘, sagte er ja oft. Der Wagen musste also draußen stehen.“

An Roberts Wutanfall, der dieser Äußerung folgte, sollte sich die Familie Hagen noch jahrelang erinnern.

„Die Vögel im Baum haben mir meinen Opel vollgesaut!“, rechtfertigte sich der Stiefvater in anklagendem Keifton. Auch seine Teetasse fiel um.

„Opel, Popel!“, keilte der Stiefsohn lautstark zurück. Seine Worte klangen erschreckend bedrohlich. „Und das Kilo Scheiße, das du täglich auf die Welt loslässt? Damit muss die Menschheit fertig werden, was? Dafür sollte man dich umsägen!“

„Das hast du gelernt als Söldner, heh?“, höhnte Hermann Hagen. Doch seine Kehle wurde trocken, als das Wort heraus war, und sein Redefluss erstarb vollends, als er nackte Mordlust im Blick des Legionärs aufglimmen zu sehen glaubte. Mit hastigem Schritt verschwand er aus dem Zimmer, die Tür mit heftigem Knall hinter sich zuschlagend und dieserart seine Missbilligung der Dinge unüberhörbar kundtuend, während die Mutter, fahrig ein Taschentusch zerknüllend, mit erstarrtem Gesicht dasaß und Stiefbruder Gernot betreten ins Leere sah. Dann verließ auch Regina Hagen mit einer gemurmelten Entschuldigung den Raum; sie wollte wohl ihren Mann beschwichtigen. Roon versuchte seine wutverzerrten Züge wieder ins Gleis zu bringen und das Bild der üblen Szene abzuschütteln. „Home, sweet home“, sagte er mit gequälter Miene zum Stiefbruder. „In der Legion war’s behaglicher.“ Er blickte über den lächerlichen Palisandertisch hinweg noch einmal hinaus auf die trübe Abstellfläche. „Den Baum hatte Rudyard Roon gepflanzt“, erklärte er melancholisch. „Das war mein urgroßväterliches Erbe. Einzigartig auf der Welt, ein Wunderwerk der Schöpfung. Und was ist das Vermächtnis des jetzigen Patriarchen? Eine schäbige Blechkiste, wie sie jeder Hans und Franz besitzt.“

Gernot Hagen schaute mit großen Augen zu ihm auf, als ob er derartigen Tiefsinn von einem ungeschliffenen Landsknecht nicht erwartet hatte. Dann grinste er dünn und fühlte sich zu einer soziologisch fundierten Erklärung bemüßigt. „Der Alte ist das Leben im Planquadrat gewohnt“, dozierte er beflissen. „Er kennt nichts anderes.“ Roon schenkte den Worten zunächst keine Beachtung; in seinem Innern brodelte es noch. „Seine Welt war lebenslang der Schreibtisch“, fuhr der Stiefbruder fort. „Alles in Reih und Glied, im rechten Winkel. Wie ein Parkplatz. Sieh ihn dir an.“

Roon schrak aus seinen Gedanken hoch. „Was? Wen?“

„Na, den Alten. Mittelscheitel. Wie ’ne Leitplanke auf der Autobahn. So sieht er auch von innen aus. Alles schnurgerade. Eckig. Dürr. Seine frühen Vorfahren waren wohl mal kalmückische Steppenbewohner gewesen, die Ödnis ist genetisch aufgeprägt. Der Zwang zum Kahlschlag kommt ihm aus der Seele. Natur: für ihn gleichbedeutend mit Schlamperei in extremis. Die Vogelkacke ist nur ein Vorwand. Einem Baum wie deiner Kastanie ist er nicht gewachsen. Der macht ihm Angst. Zu groß, zu unheimlich, weißt du. Voller Waldgeister womöglich. Das muss weg. Also: selektiert, geköpft, abgehackt. Jetzt hat er sich ‘nen Laubsauger zugelegt, um die paar Blätter vom Nachbarn umherzupusten, wenn die, Gipfelpunkt aller Ärgernisse, auf seinem kahlgeschorenen Pinscherrasen landen. Marke Gartenkönig, 13 PS, mit Wechselaufsätzen. Macht Krach wie ‘ne Boeing und pestet wie ‘n Moped. Das sind seine wahren Größenphantasien, da kommt er sich vor wie ein Macher, da bewegt er was.“ Er seufzte resigniert. „Ich werd’ nie kapieren, wie er mich je zustande gekriegt hat.“

„Herr im Himmel“, murmelte Roon erschüttert. „So was macht mir Angst. Du scheinst deinen Papi auch nicht gerade heiß und innig zu lieben.“

Der andere zuckte die Achseln. „Rein objektive Fachanalyse. Da kann ich keine Rücksicht auf Familienmitgliedschaft nehmen.“

„Dann analysier mir mal vor, Doktor, was meine Mutter an solcher Gartenkönigmentalität finden konnte.“

„Vielleicht sehnte sie sich nach Ordnung. Vom Chaos des Dschungels in die Rechtwinklichkeit des Gartencenters —“

Roon starrte ihn an. „Ich glaube, ich muss selber in den Dschungel zurück“, rang er sich mühsam ab. „In diesem Kübelgrünslum wird mir der Kragen eng.“

Hermann Hagen, der unter dem Zuspruch seiner Frau offenbar frischen Mut gefasst hatte und plötzlich wieder aufgetaucht war, hörte diese Worte noch. „Da gehörst du auch hin, in den Urwald“, hämte der Alte, ein dünn verhohlener Rausschmiss. „Fünf Jahre Soldat und nichts dafür vorzuzeigen. Und jetzt? Was machst du nun?“

Robert Roon blickte seinen Stiefvater kalt ins Gesicht. Das geht dich einen Dreck an, dachte er. Laut sagte er: „Ich gehe in Frühpension. Hast du nicht noch ein Antragsformular rumliegen?“

Roon lächelte schmal und ohne Sympathie, als der andere sich heftig abwandte. Seine physische und psychische Ausstattung gab ihm das Empfinden, sämtlichen Fährnissen dieser Welt gegenüber auf das Beste gerüstet zu sein. Durch diverse Nebengeschäfte während der Legionärszeit, zudem durch die nicht unbeträchtliche großväterliche Hinterlassenschaft, waren seine Bankkonten wohlgefüllt; er hatte ein französisches Oberleutnantspatent und die Berufsflugzeugführerlizenz in der Tasche, sprach fließend sechs Sprachen und ließ sich von niemandem, ganz zuletzt gewiss von einem nörgelnden Laubsaugerpiloten, auf die Schuhe pinkeln. „Ich mach’ erst mal Urlaub in Paragua“, rief er, schon die Treppe hinuntereilend, dem Stiefvater hinterher. „Tschüß. Schönen Tag.“

2

Frithjof Pahl stammte aus Hamburg. Kurz vor der Wende ins zwanzigste Jahrhundert geboren, wurde er bei Ausbruch des Weltkriegs zur Marine eingezogen und diente hinfort auf Seiner Majestät Schiff „Sansibar“ als Kohlentrimmer. Nach anfänglichen Stationen im Skagerrak und Kattegat und ereignislosen Patrouillen vor der marokkanischen Küste erhielt der kleine Kreuzer Ende 1915 Befehl, zur Wahrnehmung der kolonialen Interessen des Deutschen Reichs Kurs auf äquatoriale Gewässer zu nehmen. Und dort, in der Gluthitze zwischen den Wendekreisen, vor den Feuerlöchern der tosenden Kessel und nur eine Handbreit von ständig kochendem Wasser entfernt, schaufelte Frithjof Pahl, während von oben die Tropensonne auf das Deck knallte, zwei lange Jahre Kohle, immer nur Kohle, Tausende von Tonnen von Kohle. Gelegentlich, wenn an einem weltenfernen Treffpunkt, meistens auf hoher See, von einem Versorgungsfahrzeug nachgebunkert wurde, erblickte der bleiche Untertagewerker das Licht der Sonne, nur um auch dort seiner üblichen Beschäftigung mit der Schippe nachzugehen. Dann verschwand er wieder zwischen den rauchenden Rosten und zischenden Rohrleitungen unter Deck.

Es war der „Sansibar“ bis fast zum Ende des Krieges nicht beschieden, in irgendwelche heldenmütigen Kampfhandlungen verwickelt zu werden. Mehrere Male richtete sie ihre Kanonen von bequemer Reede auf die Residenz eines Sultans oder Radschas, um die kolonialen Untertanen von der Humorlosigkeit des fernen Herrschers mit dem lahmen Arm zu überzeugen. Einmal wurde eine Prise genommen, zwei weitere versenkt, doch alle drei waren lediglich Lastensegler, keinen Funkspruch wert. Nur zu Beginn des Schicksalsjahres 1918 brüllten die Geschütze der „Sansibar“ noch einmal mächtig auf und bohrten einen britischen Frachter, die „Suffolk Star“, in den Grund, nachdem ein Prisenkommando auf dem Limie diverse Ladung abgeborgen hatte. Frithjof Pahl wurde bei dieser Gelegenheit an Deck beordert, um den Briten sinken zu sehen und in ein mehrfaches Hoch auf den Kaiser einzustimmen. Das Ereignis läutete indes auch das Ende der „Sansibar“ ein. Mehrere feindliche Einheiten hatten die Position des deutschen Kreuzers ausgemacht, überschütteten das unglückliche Fahrzeug mit einem Granatenhagel, fügten ihm schwere Gefechtsschäden zu und veranlassten den Kommandanten, Kapitän zur See von Meck, das hoffnungslos Wasser machende und sinkende Schiff mit voller Fahrt auf die Riffe des paraguanischen Archipels preschen zu lassen. Während eilends angebrachte Sprengladungen das Wunder deutscher Schiffbaukunst in Alteisen verwandelten und Herr von Meck per Revolverschuss in den Mund die obligatorische Ehrenrettung vornahm, kletterte Frithjof Pahl, ohne dass ihn ein Befehl dazu aufgefordert hätte (denn wie bei allen Militärs der Welt war man auch beim deutschen stolz darauf, dass jedermann bis zum bitteren Ende „auf seiner Station verharrte“, auch wenn es dort keinerlei Funktion mehr zu erfüllen gab), aus seinem Kohlenbunker hervor wie ein Phönix aus der Asche und erblickte unfern der Schiffbruchstätte blitzweiße Strände, über denen sich Kokospalmen wiegten und in deren Hinterland sattgrüne Bergdschungel in schimmernder Unendlichkeit verschwammen. Es sah so ganz anders aus als in den Eingeweiden der „Sansibar“, und es war Liebe auf den ersten Blick für Frithjof Pahl.

Die Restbesatzung der „Sansibar“ wurde in Paragua, das damals neutralen Status besaß, zunächst interniert. Der Erste Offizier Heinrich Thierichens starb im Hospital an einer Tropenkrankheit, doch alle anderen Seeleute blieben gesund. Schon vor Ende des Jahres 1918 ging ein Repatriierungsschub nach Deutschland ab. Zuvor fragte man die Schiffbrüchigen, ob jemand Interesse hätte, in Paragua zu verbleiben und die dortige Staatsbürgerschaft anzunehmen. Das Land Paragua benötigte nach Ansicht seiner damaligen Regierung Siedler, und Deutsche waren trotz ihres gerade verlorenen Krieges gern gesehen. Man wusste, dass sie in allem — außer der Politik — tüchtig waren und hatte gute Verwendung für sie. Frithjof Pahl meldete sich spontan — und als einziger.

Welch ein Land! Im globalen Maßstab ist es klein; seine gesamte Fläche entspricht ungefähr jener Großbritanniens. Es liegt auf der Achse der jahreszeitlichen Monsune, die es wechselweise umfächeln und umbrausen und vom Ozean den vielen Regen herantragen, der dem Archipel sein immerwährendes Grün vermittelt. Paragua tauften die spanischen Konquistadoren dieses Land: „Regenschirm“. Doch das ist nicht seine eigentliche Bedeutung. Eine schlichte tropische Knollenfrucht hatte ursprünglich für den Namen Pate gestanden. Aber das Wort klang in den Ohren der Spanier wie Paragua, und dabei blieb es dann.

Ein paar hundert grüne Inseln, im dunkelblauen Meer verstreut wie Trittsteine in einem Teich und gebadet in einem Licht, das selbst dunkelblaue Farbe ist – mehr Eindrücke vermittelt Paragua beim ersten, flüchtigen Draufsehen nicht. Doch aus der Nähe kann dieses Land nur mit der Empfindung erlebt werden, dass sich hier das Göttliche mit dem Außergewöhnlichen um die Krone streitet, die Urkraft mit dem Gegenwärtigen konkurriert. So jedenfalls urteilten im Zeitalter der Romantik verschiedene Poeten, und ihre Empfindungen haben bis heute Gültigkeit behalten. Diese Inseln! Urwälder, Quintessenz der Schöpfung, überziehen sie in schwelgerischer Fülle vom palmenbestandenen Meeressaum bis in karge Hochgefilde, wo zähes Gewächs an nördlichere Breiten gemahnt. Jenseits dieser kühlen Zonen mit Kiefern und Araukarien schließt sich eine himalayische Vegetation mit Dickichten von Rhododendren und gewaltigen Moosbänken bis zur Schneegrenze stolzer Gipfel üppig an. Und alles dies umfängt betörend der feine Hauch einer nie von Menschen geschändeten und deshalb gesund gebliebenen Natur. Von einem großen deutschen Gelehrten, der Paragua im 19. Jahrhundert besuchte und es mit einem „Schlaraffenland“ verglich, sind folgende Worte überliefert: „Diese Inseln gehen nach zwei, drei Tagen angenehm aufs Gemüth; man wird selber insular. Man weiß nicht genau warum, man kann nicht mit dem Finger auf etwas zeigen und sagen: Das ist der Grund. Man spürt nur eine zarte, duftende Hand, die einen umfaßt und nicht mehr losläßt. Dies Gefühl verdichtet sich bei der Abreise, wenn sich ein kleiner schmerzhafter Stachel des Verlustempfindens unter die Haut bohrt, wenn einen jäh die Einsicht überkommt, wie sehr man doch Theil dieses von Gott so reich gesegneten Landes geworden ist. Und dann nimmt man sich vor, wenn man schon nicht bleiben kann, möglichst bald einmal wiederzukehren.“

Naturforscher der heutigen Zeit bescheinigen Paragua die höchste Biodiversität der Welt, bezeichnen das Land als ein „insulares Amazonien“. Allein die Zahl der Schmetterlingsarten geht in die Tausende, und vieles Getier gilt als endemisch, ist mithin in keinem anderen Teil der Erde vertreten. Noch phantastischer bietet sich der Lebens- und Formenreichtum der archipelagischen Meere mit den majestätischen Emporen der Korallengründe, verspielten Atollen, winddurchzogenen Lagunen und artenreichen Mangrovenküsten dar. Auch auf diesem Gebiet wird Paragua zur Weltspitze gerechnet.

Santo heißt die größte Insel von den Dimensionen Sardiniens; dort befindet sich auch die an einem erstklassigen Naturhafen gelegene Hauptstadt des Landes: Puerto Santo. Schon vor der christlichen Zeitenwende gab es hier nach archäologischen Erkenntnissen ein blühendes Kulturzentrum, doch zu urbaner Größe wuchs der Ort erst zur Zeit der Spanier heran, die ihm seinen aktuellen Namen gaben. Jahrhunderte zuvor hatte Paragua eine intensive Berührung mit dem Buddhismus erfahren. Diese Periode war nicht von Dauer gewesen, doch die der inoffensiven Religion eigene friedfertige und naturverträgliche Denkart prägte sich der Bevölkerung für immer auf und blieb, untermauert durch zahlreiche steinerne Zeitzeugen, bis in die Gegenwart erhalten. Mit dieser Mentalität machten auch die Spanier Bekanntschaft, als im 16. Jahrhundert die Konquista Paraguas einsetzte. Doch von einer „Eroberung“ im Sinne des spanischen Wortes konnte keine Rede sein, und keiner der berüchtigten Exzesse Süd- und Mittelamerikas fand dort jemals statt. Die von Fischerei und friedlichem Ackerbau lebenden Bewohner des Archipels hießen die Fremden eher willkommen, als dass sie sich ihrer erwehrten. Es waren freundliche Individuen, Männer und Frauen von stiller Hoheit, vornehm in ihrer Zurückhaltung und nur von dem geheimen Wunsch bewegt, den Mitmenschen zu gefallen. Arm an materiellen Gütern, aber rein an Leib und Seele, waren sie neugierig, was ihnen die weißen Männer bringen mochten, die in der größten Tropenhitze in ofenartigen Rüstungen an Land wateten und eine Aura der Ungewaschenheit um sich verbreiteten. „Doppelmenschen“ wurden diese seltsamen Wesen anfangs genannt. Sie hatten Köpfe aus Metall, oder zumindest schien es so. Nahmen sie diesen Kopf ab, wurde ein anderer darunter sichtbar. Wie Schildkröten trugen sie Panzer, doch die ließen sich ablegen, und unter ihnen befanden sich noch mehrere Häute. Sie konnten die Füße abnehmen, wodurch ein neues Paar freigelegt wurde. Das alles erschien den Paraguanern, die fast nackt und stets barfuß gingen, äußerst wundersam. Nützlich oder gar nachahmenswert fanden sie es nicht, selbst die Sprache der Doppelmenschen blieb ohne Anklang. Aber die taktvoll lächelnden Paradiesbewohner konnten sich zumindest für die neue Religion erwärmen, deren Farbigkeit und innige Frauenverehrung ihnen zusagte. Im Gegenzug hatten sie allerdings genauso wenig zu bieten. Sie machten sich nichts aus Gold; sie hatten die reichen Vorkommen in ihrem Land noch nicht einmal entdeckt, geschweige denn erschlossen. Doch die Invasoren begruben alsbald ihre Gier nach Reichtümern, denn sie konnten sich dem sanften Zauber dieses mit so vielen anderen Gaben bedachten Landes nicht entziehen. Sie, die Baumhasser und Naturentfremdeten, die ihre Halbinsel in eine dürre Karstwüste verwandelt hatten, fanden im Grün des paraguanischen Archipels eine neue Heimat, deren jungfräuliche Schönheit sie unberührt beließen – womöglich aus Ehrfurcht vor deren biblischer Unversehrtheit. Auch übernahmen sie die Lebensart der so eher milden als wilden Menschen auf den glücklichen Inseln. An Stelle einer Unterwerfung der einheimischen Bevölkerung fand eine Unterwanderung der Eroberer mit deren Gedankengut statt – die Spanier wurden zu Paraguanern, und nicht umgekehrt.

Dennoch war es, ausgehend von einer Kaste, die sich lange für die überlegene hielt, wiederholt zu Brüchen des fragilen Friedens zwischen den zwei unterschiedlich empfindenden Völkern gekommen. Insbesondere wenn es gegen die persönliche Ehre und die der Familie ging, ließen die Paraguaner nicht mit sich spaßen und legten rasch ihre Milde ab. Als sich die Plänkeleien mehrten, wurde die Kolonialmacht im Zeichen des Zeitgeists letztlich des Landes verwiesen, wenn auch eher hinauskomplimentiert als -geworfen. Viele ihrer spanischblütigen Abkömmlinge entschieden sich für einen Verbleib, indem sie die bukolischen Verhältnisse im Gastland als die ihren akzeptierten. Die anderen gingen genauso sang- und klanglos, wie ihre Vorväter gekommen waren. Bei dieser sanften Revolution floss, nicht anders als schon zu Zeiten der „Konquista“, kein Tropfen Blut. Zwar kam es zu einigen Scharmützeln. Doch die wurden von den Historikern später als „Scheingefechte“ beschrieben, als gockelhaftes Imponiergehabe, wie es der Mentalität beider Völker entsprach. Nach dem Ende der kolonialen Epoche optierte Paragua für ein präsidiales System, das dem der bewährten und immer noch in hohen Ehren gehaltenen vorspanischen Königreiche am nächsten kam.