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»Die fabelhafte Welt der Amélie« meets »Chocolat« – eine zauberhafte, charmante Wohlfühllektüre und eine ganz besondere Liebesgeschichte mit kauzigen, aber warmherzigen Charakteren, die einen noch lange begleiten »Jeder Buchstabe ist magisch. Und jeder einzelne öffnet seinen Zauber für dich, wenn du ihn darum bittest.« Ein kleines, französisches Dorf zu Beginn des 20 Jahrhunderts. Ein Tanzhaus, das geschlossen wird. Buchstaben, die zum Leben erwachen, das Kätzchen Minou und ein kleines Mädchen voller Fantasie. Eine traurige Tänzerin und der liebenswerte, introvertierte Monsieur Mounk bilden den Reigen, welcher diese Geschichte voller Liebe, Spannung und zarter Fantasie umschließt. »Bestimmt auch sofort Ihr Lieblingsbuch! Denn es bietet die gelungene Mischung von kauzig bis liebevollen Figuren, Dramatik, Liebe,Trauer und ein bewegendes Ende. Zum Schwelgen und Träumen bestens geeignet!« ((Leserstimme auf Netgalley)) »Die letzte Seite ist umgeblättert und ich sitze hier mit einem seligen Lächeln auf den Lippen. Was für eine schöne und warmherzige Geschichte – ein richtiges Wohlfühlbuch.« (Leserstimme auf Netgalley) »Und noch einen Stern oben drauf, ein Traum ich, wunderschön zu lesen, wunderschöne sorry, liebenswerte Protagonisten und super gut geschrieben Bemerkenswert - mein Lieblingsbuch« (Leserstimme auf Netgalley)
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Cover & Impressum
Das kleine Städtchen und seine Bewohner
Kennenlernen
Regenbogen
Abendessen
Cilia
Zirkus
Neuigkeiten
Verführungsversuch
Glaubensfrage
Petit Mounk
Vor langer Zeit
Überbleibsel
Seitenansichten
Jean und Petit Mounk
Vor langer Zeit
Milch und Honig
Feenzauber
Das Rote Haus am Ende der Straße
Katzenaugen
Vogelhochzeit
Die warmen Sonnenstrahlen prickelten leicht auf Yvettes Haut. Die hölzernen Dielen, auf denen sie saß, waren vom Sonnenschein aufgewärmt und knarzten leise, wenn jemand auf ihnen entlangschritt. Der Geruch des warmen Holzes und des Grases ergab eine wunderbare Mischung, die Yvette liebte und begierig einsog. Auch Madame Antoinette, der Yvette eifrig die dunklen Haare kämmte, schien genießerisch die warme Luft einzuatmen. Es war ein wunderschöner Frühlingstag. Erstaunlich warm für Anfang März. An so einem Tag war es eine Schande, im Haus zu sitzen.
Das fand zumindest Yvette, die nicht verstehen konnte, warum die anderen Leute der Stadt sich lieber im kühlen Inneren einschlossen, anstatt den herrlichen Tag im Freien zu genießen. Aber da Yvette die Erwachsenen sowieso nicht verstand, machte sie sich keine großen Gedanken darüber. Es gab sowieso Wichtigeres in ihrem Leben, als über die Großen und deren Eigenarten nachzudenken.
Langsam begann sie nun, das dichte, seidige Puppenhaar zu flechten. Ihre Zungenspitze schaute zwischen den Zähnen hervor, und ihre Augenbrauen waren gekräuselt. Es war anstrengend, Madame Antoinettes gewaltige Haarfülle zu bändigen. Yvette war so in ihre Arbeit vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie ein großer Schatten vor ihr stehen blieb. Erst als sie den ersten Zopf zu Ende geflochten und ihn mit einer dünnen Klammer befestigt hatte, blickte sie auf. Vor ihr stand der seltsame Monsieur Mounk, der immer allein durch die Stadt lief und mit keinem redete. Yvette hatte ihn schon oft gesehen, nur – anders als die übrigen Kinder – war sie nicht schreiend weggelaufen. Warum sollte Monsieur Mounk ihr etwas tun? Dazu gab es keinen Grund. Also brauchte sie sich auch nicht zu fürchten. Auch jetzt, als er so vor ihr stand, den Kopf schräg geneigt und seine grauen Augen auf Madame Antoinette geheftet, hatte sie keine Angst. Neugierig blickte sie zu ihm auf.
»Warum trägt deine Puppe schwarz?«
Die Frage kam so unvorbereitet, dass Yvette der Mund offen stehen blieb. Sie lächelte verlegen und drückte Madame Antoinette noch ein bisschen fester an sich.
»Sie ist traurig«, erklärte sie jedoch ernst.
Monsieur Mounk nickte langsam. Er schien es zu verstehen. »Warum ist sie traurig?«
»Ihr Mann ist gestorben.«
Wieder nickte Monsieur Mounk. Sein Mund verzog sich. Er verneigte sich leicht. »Mein herzliches Beileid.« Mit diesen Worten drehte er sich um und ging langsam die Straße entlang.
Verblüfft blickte Yvette ihm hinterher. Dann lächelte sie vergnügt und begann, sich mit Madame Antoinette über das gerade stattgefundene Gespräch zu unterhalten. Madame Antoinette gefiel Monsieur Mounk gut. Er hatte nicht gelacht, und das war selten für die Erwachsenen. Dies war eindeutig eine schätzenswerte Eigenschaft. Darin waren sich die beiden einig.
Als die Sonne unterzugehen begann und ihre goldenen Strahlen die Schatten länger werden ließ, ging Yvette zurück ins Rote Haus. Die Haustür war nur angelehnt, sodass sie nicht an der Schnur ziehen musste, sondern der stets murrenden Lydia aus dem Weg gehen konnte, die sonst an die Tür gekommen wäre. So ging sie in den dunklen Flur, der ihr immer etwas Angst einjagte. Aus dem Tanzsaal drang das Poltern der schweren Männerschuhe, gepaart mit Alicias schrillem Gelächter und den verstaubten Tönen des Grammofons. Vertraute Geräusche. Langsam stieg sie die knarrende Treppe zum oberen Stockwerk hinauf.
Lucille war bestimmt auch dort unten. Wie immer um diese Zeit. Dann tanzte sie untergehakt mit den anderen Frauen in einer Reihe. Warf ihre Beine in die Luft, hob die Röcke. Das weiße Gesicht vor Anstrengung noch weißer und spitzer als sonst. Und dann, dann tanzte sie mit den Männern. Eng aneinandergeschmiegt. Der Blick starr, der Mund ein gerader Strich. Doch sie tanzte. Drehte sich wie eine Ballerina in der Spieluhr. Immer wieder. Immer wieder. Einmal, es war ganz am Anfang gewesen, war Yvette hinunter in den Tanzsaal gelaufen und hatte den Mann, der mit Lucille tanzte, in die Hand gebissen. Fest, so fest sie konnte. Schreiend war er davongestolpert. Die blutende Hand an die Brust gepresst, hatte er Yvette mit der schlimmsten Prügel ihres Lebens gedroht.
Yvette seufzte bei der Erinnerung. Sie hatte Lucille doch nur beschützen wollen. Beschützen vor dem Mann, der sie so fest umklammert gehalten hatte. Sie an sich gepresst hatte, als wäre sie ein mit Sägespänen gefüttertes, willenloses Stoffbündel. Das dumpfe, nagende Gefühl kehrte wieder in ihren Magen zurück. Der Stein, der schwer und hart hin und her rollte, versuchte, die Kehle hinaufzukriechen. Erinnerungen waren etwas Gefährliches. Sie bauten Steine, die in deinem Innersten festsaßen. Es war gleichgültig, wie alt man war, ob hundert oder sechs Jahre. Dein Geist erinnerte sich an alles. Vergaß nichts, ließ dich nichts vergessen.
Yvette schluckte. Diese dumme Erinnerung schon wieder. Diese Bilder. Die Fäuste, die wie in Zeitlupe näher zu kommen schienen. Näher und immer näher, bis sie plötzlich verschwunden waren. Aufgelöst wie durch einen Zaubertrick, und dafür kam der Schmerz. Dieses Gefühl, als wäre alles kaputt. Kein Knochen mehr da, wo er hingehörte. Als wäre ihr Körper nur noch ein Sack, in dem die Knochen lose herumflogen. Man war so hilflos. So machtlos. Konnte nicht kämpfen, konnte sich nur ducken, sich verstecken.
Wie oft hatte Lucille ihn weggezerrt. Weggezerrt, ihn gebissen und weggestoßen von ihr. Immer und immer wieder. Yvette würgte. So oft hatte Lucille ihr zu helfen versucht, und was hatte sie getan? Sie hatte sich nur geduckt. Hatte es nie geschafft, etwas gegen ihn zu tun. Gegen ihn. Den Regisseur. Den Mann, der einst ihr Papa gewesen war. Der nun nicht mehr ihr Papa war. Nicht mehr. Nie mehr. Denn er war tot. Tot und begraben. Weit weg. Und doch hatte Yvette an jenem Abend geglaubt, er sei wieder da. Auferstanden aus seinem Grab wie ein Untoter, um sie zu suchen. Zu finden und wieder zu quälen. Der Mann mit dem dunklen Haar, dem dünnen Bart – wie eine Schnur –, die riesigen Hände wie Klauen verkrümmt um Lucille. Er hatte sie so fest gepackt, so fest, als wollte er sie in der Mitte durchbrechen. Es war die Panik gewesen. Die schrille, kreischende Panik. Er durfte Lucille nichts tun, sie nicht kaputt machen und mitnehmen. Es hatte so gutgetan, ihn zu beißen. Mit all ihrer Kraft hatte sie ihre Zähne in seine Hand gegraben. Mit all ihrer Kraft, bis er losgelassen hatte. Seine Hände von Lucille genommen und sie weggestoßen hatte. Da hatte sie auch sein Gesicht gesehen. Ein hässliches, triefäugiges Gesicht. Er war es nicht gewesen. Nicht der Regisseur. Nur irgendein Mann. Irgendeiner. Aber nicht er.
Ein Klirren von unten ließ Yvette zusammenfahren. Mit einem Ruck straffte sie die Schultern. Schluss. Daran wollte sie jetzt nicht denken. Nicht jetzt, nicht heute. Nicht nach einem so schönen Tag. Langsam öffnete sie die Tür und trat in das dunkle, von Staub und verwelkten Rosen stickige Zimmer. Lucille hatte sie an jenem Abend nicht ausgeschimpft. Sie hatte sie an sich gedrückt. Ganz fest. Ganz fest. Hatte sie in die Arme genommen, als verstünde sie nur zu genau Yvettes Gedanken. Und während sie das strähnige Haar ihrer Tochter gestreichelt hatte, hatte Yvette versprechen müssen, nie wieder nach unten zu kommen. Nie wieder in die Nähe des Tanzsaals, in die Nähe der Männer. Ganz leise hatte sie künftig sein wollen, leise wie ein Mäuschen.
»Warum tust du das?«, hatte Yvette gefragt und sich dabei noch fester an Lucille geschmiegt.
Lucille hatte lange geschwiegen. Dann hatte sie aufgeseufzt. »Weil wir etwas essen müssen. Weil wir ein Bett zum Schlafen brauchen. Weil wir überleben müssen.«
Sie waren eingeschlafen. Eng aneinandergeschmiegt. Die Wärme und Nähe der anderen spürend, den Geruch der anderen einatmend. In dieser Nacht waren sie nicht allein gewesen, und das hatte sich als sehr tröstlich erwiesen.
Seit dieser einen Nacht hatte Yvette nie wieder am Abend den Tanzsaal betreten.
Seufzend ließ sie sich auf das ungemachte Bett sinken und drückte Madame Antoinette an sich.
Am nächsten Morgen saßen sie gemeinsam beim Frühstück – Haferbrei mit Milch und etwas Brot. Lucille schlürfte schwarzen Kaffee und zerkrümelte ihr Brot mit den Fingern. Als Yvette ihr von dem gestrigen Erlebnis mit Monsieur Mounk erzählte, blickte sie neugierig und verwirrt auf.
»Monsieur Mounk?«, fragte sie. »Wer ist das?«
»Der Mann, der immer durchs Dorf geht und mit keinem redet«, sagte Yvette, während sie einen großen Bissen von ihrem Brot nahm.
Lucille schien immer noch völlig verwirrt, und als Yvette nach dem Frühstück mit Madame Antoinette zum Spielen nach draußen gelaufen war, ging sie zu Madame Odette.
Die Dame des Hauses saß, in einen billigen chinesischen Morgenmantel gekleidet, die Beine wie ein kleines Kind baumelnd, auf dem Rand der Bühne. Zwischen ihren Fingern qualmte bereits die erste Zigarette, die in einer elfenbeinfarbenen Zigarettenspitze steckte. Ihr strähniges Haar, das an manchen Stellen bereits grau war, hing ihr schlaff und ungekämmt auf die Schultern. Die Augen waren müde, und die Falten um ihren Mund schienen mit jedem Tag tiefer zu werden.
Lucille näherte sich ihr vorsichtig. »Madame Odette?«, fragte sie zögernd. »Wer ist Monsieur Mounk?«
Madame Odette hob ihre Augen und musterte Lucille, die in ihrem roten Kleid und den nackten Füßen jung und hübsch aussah. Sie seufzte unzufrieden. Warum war das Leben nur so ungerecht und ließ die Frauen so schnell altern? Sie wollte Lucille gerade mit einer müden Handbewegung wegwinken, als Lucilles Frage sie auffahren ließ.
»Wiederhol das!«, forderte sie Lucille auf.
»Wer ist Monsieur Mounk?«
Madame Odette lehnte sich zurück und blies versonnen eine Rauchwolke an die Decke. »Warum willst du das wissen?« Ihre Stimme klang müde. Erinnerungen kamen in ihr hoch. Erinnerungen an eine Zeit, als sie noch jung und voller Hoffnung gewesen war.
»Er hat mit Yvette gesprochen.«
Madame Odette glaubte, sich verhört zu haben. »Er hat mit Yvette gesprochen?« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist unmöglich. Er spricht mit keinem.«
»Yvette lügt nicht«, fuhr Lucille auf.
Madame Odette überhörte den Einwurf. Immer noch konnte sie das eben Vernommene nicht fassen. Monsieur Mounk?! Der ewig stumme Schatten, der durch die Stadt wanderte, vor dem die Kinder schreiend davonliefen und der noch nie hier gewesen war. Sie fasste Lucille, die mit gerunzelter Stirn dastand, scharf ins Auge. »Was haben sie miteinander gesprochen?«
Lucille zuckte mit den knochigen Schultern. »Er wollte wissen, warum Madame Antoinette Schwarz trägt.«
Einen Augenblick lang wurde Madame Odettes Blick leer. Ihre Stirn legte sich in nachdenkliche Falten, als sie darüber grübelte, von welcher Madame Antoinette Lucille da redete. Die plötzliche Erkenntnis ließ ihre müden Augen für einen Augenblick aufleuchten, dann lachte sie unfreundlich. »Na, dann haben sich ja zwei gefunden.«
Mit diesen Worten schloss sie die Augen und ließ den Kopf nach hinten sinken. Ein deutliches Zeichen, dass die Audienz für sie beendet war.
Wütend verließ Lucille den Raum. Das Gespräch mit Madame Odette hatte sie nicht weitergebracht. Im Gegenteil, jetzt waren nur noch mehr Fragen offen. Die anderen Frauen des Hauses konnten ihr auch nicht helfen.
»Der spinnt doch.«
»Hier war er noch nie.«
»Ich weiß nichts.«
Dies waren die einzigen Antworten, die sie bekommen hatte. Langsam stieg die Ungeduld in ihr hoch. Die ganze Geschichte schien ihr nicht geheuer, und so beschloss sie, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.
Von der Garderobe nahm sie ihren grauen Mantel, der das Rot ihres Kleides vollständig bedeckte. Der kleine schwarze Hut und die geputzten Schuhe gaben ihr ein ordentliches Aussehen. Die Tür des Hauses fiel krachend hinter ihr ins Schloss, als sie sich auf die Suche nach Yvette machte. Das helle Licht der Sonne blendende Lucille, sodass sie einen Moment stehen blieb und die Augen mit der Hand beschattete. Sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte, da sie Yvette nie gefragt hatte, wo sie zum Spielen hinging. Und Yvette hatte nie etwas erzählt.
So lief Lucille also kreuz und quer durch die Stadt. Sah in verlassene Hinterhöfe und Keller, schritt über die Wiese hinter der Kirche und lief schließlich über den überfüllten Marktplatz, wo die Bauern aus der Umgebung ihre Waren anpriesen. Frischer Käse, Milch, Eier, Karotten, Kohl, Äpfel – alles, was das Herz erfreute, lag dort auf Brettern oder in mit Stroh gepolsterten Weidenkörben.
Lucille blieb einen Augenblick stehen und sah sich um, ob sie irgendwo die schüchterne Gestalt Yvettes entdeckte, die an den Äpfeln roch oder die bunte Vielfalt an Genüssen betrachtete. Doch sie konnte sie nirgends erblicken. Lucille seufzte. Yvette zu finden, bevor diese am Abend nach Hause kam, schien so gut wie unmöglich zu sein.
»Hey, Lucille …«
Die freundliche Stimme hinter ihr ließ sie herumfahren. Monsieur Grenoble stand hinter einem der Stände, der zum Bersten voll mit Kartoffeln und Birnen beladen war. Das so selten zu sehende Lächeln erschien auf Lucilles Gesicht. Wie alle Frauen des Roten Hauses mochte sie Monsieur Grenoble, der lustig und vergnügt war und beim Tanz stets eine fröhliche, gänzlich den Takt missachtende Melodie vor sich hin pfiff.
»Wie geht’s?«
»Danke, danke, gut.« Geräuschvoll zog Monsieur Grenoble die Nase hoch: » Ich hab’s im Rücken, muss wohl mal wieder ein bisschen Bewegung in die alten Knochen kriegen.« Verschmitzt grinste er Lucille zu, die lächelnd die Augen senkte. »Womit kann ich dir denn eine Freude machen, mein liebes Mädchen?«, fragte er nun und deutete auf die prachtvolle Auswahl auf seinem Tisch. »Eine zuckersüße Birne, die den ganzen Winter über in meinem Keller gereift ist?«
Lächelnd schüttelte sie den Kopf.
»Sieh sie dir nur an: dieser zarte rosa Hauch auf der grünen Fläche. Wie sie glänzt und wie sie duftet.« Genießerisch hob er die Birne an seine große rote Nase. »Hach, ein wunderbarer Geruch. Oder hier …« Er legte die Birne zur Seite. »Feinste Kartoffeln, groß und fest. Wunderbarer Kartoffelbrei wartet nur darauf, aus ihnen gemacht zu werden.«
Lucille wehrte lachend ab: »Nein danke. Aber du könntest mir mit etwas anderem helfen.«
Monsieur Grenoble war sofort ganz Ohr.
»Ich bräuchte ein paar Auskünfte über Monsieur Mounk.«
»Monsieur Mounk?« Die buschigen Augenbrauen von Monsieur Grenoble schossen nur so in die Höhe.
»Was willst du denn von dem Nachtgespenst?«
Lucille lächelte verhalten. »Nur ein paar Auskünfte, mehr nicht.«
Monsieur Grenoble grinste breit, sodass sich sein Gesicht in tausend Fältchen legte: »Ach, ihr Frauen, ihr wollt immer das, was ihr nicht bekommen könnt. Aber gut, ich fürchte nur, dass ich dir auch nicht viel mehr sagen kann als die anderen.«
»Die sagen ja überhaupt nichts«, unterbrach ihn Lucille vorwurfsvoll.
»Also gelebt hat der schon immer hier in der Stadt, seine Mutter ist ganz früh gestorben. Die Treppe hinuntergefallen oder gestoßen worden … oder so was.«
»Gestoßen worden?« Lucille war fassungslos.
»Na, alles war damals ein bisschen verschwommen. Warum sollte jemand, der kerngesund ist, einfach so ’ne Treppe runterfallen? Noch dazu wenn er so jung, gesund und na ja … steinreich war. Sein Vater war danach jedenfalls völlig aus dem Häuschen gewesen. Der war Advokat oder so. Wurde dann aus der Kanzlei rausgeworfen und in so ein Irrenheim gesteckt.«
»Warum denn das?« Lucille glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen.
»Na ja, hat offenbar die Rechte eines Stuhls oder so verteidigen wollen. Jedenfalls war er nicht ganz sauber.« Monsieur Grenoble tippte sich bedeutungsvoll an die Stirn. »Manche haben dann behauptet, dass er seine Frau geschubst hat, um an ihr Geld zu kommen, und dann über seiner Schuld wahnsinnig geworden ist. Na ja … Ich hab’s nie so richtig geglaubt. Wenn man die beiden gesehen hat.« Er pfiff bei der Erinnerung anerkennend. »Die waren so richtig am Turteln. Nicht nur nach der Hochzeit, auch, als sie ihr Kind schon hatten. Wie zwei frisch Verliebte sind sie immer Arm in Arm entlanggelaufen.« Seine Augen funkelten bei der Erinnerung. »Jedenfalls … nachdem sein Vater im Irrenheim war, hat irgendein Onkel von Mounk sich dann um ihn gekümmert, ihn auf ein teures Internat und auf Universitäten geschickt. Hatte wohl keine Kinder und ihm dann bei seinem Tod auch noch seinen eigenen Batzen an Geld hinterlassen. Eines Tages kam er dann allein zurück, und seitdem wohnt er halt hier.«
»Und was macht er so? Ich meine, was arbeitet er?«
Monsieur Grenoble zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Ich glaub, der sitzt den ganzen Tag nur zu Hause. Manchmal läuft er durch die Stadt, aber reden tut er mit keinem.«
Lucille schnaubte. Das waren ja Neuigkeiten.
»Willst ihn wohl zum Sprechen bringen, was? Wenn du das schaffst, kannst du direkt mit ihm im Zirkus auftreten«, scherzte Monsieur Grenoble, doch Lucille war zu zerstreut, um auf den scherzenden Ton einzugehen. Die Gedanken schwirrten nur so durch ihren Kopf.
In diesem Moment trat die Bürgermeisterin an den Stand heran und warf einen abwertenden Blick auf Lucille, ehe sie lautstark nach Kartoffeln und Birnen verlangte.
Und noch ehe Lucille protestieren konnte, hatte Monsieur Grenoble ihr zwei der süß duftenden Birnen in die Hand gedrückt, bevor er sich mit einem höflichen Lächeln der Bürgermeisterin zuwandte.
Langsam schlenderte Lucille zum Roten Haus zurück. Die Gedanken flogen wild durch ihren Kopf.
Auch als die ersten Töne des Klaviers erklangen, während sich verschwitzte Hände um ihre Taille legten und Alicias spitze Ellenbogen ihr in die Rippen stießen, schwirrten ihre Gedanken noch immer um das, was sie am Nachmittag erfahren hatte. Worauf hatte Yvette sich da eingelassen? Was war dieser Monsieur Mounk nur für ein Mensch?
Als sie die Haustür hörte, entwand sie sich geschwind den mächtigen Armen ihres Tanzpartners und eilte die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Yvette, die nur wenige Sekunden zuvor das gemeinsame Zimmer betreten hatte, drehte sich erschrocken um. Lächelnd musterte Lucille ihre Tochter. Die Sonne hatte ihre Nase rot werden lassen, und das Haar war vom schnellen Laufen noch verstrubbelter als sonst. Madame Antoinette hingegen war ordentlich und gepflegt wie immer.
»Oh, Birnen, darf ich?«
Yvette hatte sich aufs Bett geworfen und griff, als Lucille lächelnd nickte, freudig nach einer der Birnen, die auf dem hölzernen Nachtkästchen lagen.
Die Frucht knackte zwischen ihren Zähnen, und der süße Saft lief ihr übers Kinn. Lucille setzte sich neben ihre Tochter und löste vorsichtig die Bänder, die Yvettes dünne Zöpfe mehr schlecht als recht zusammengehalten hatten.
»Wie war dein Tag?«
»Gut.«
»Was Besonderes geschehen?«
»Nö, nichts.«
»Hat jemand mit dir gesprochen?«
Yvette blickte verwundert auf: »Natürlich.«
Lucille zwang sich, ruhig zu bleiben: »Wer denn?«
Yvette hob den Kopf und blickte nachdenklich zur Decke: »Marie, Madame Antoinette, Clodette …«
»Ich meine«, unterbrach Lucille ungeduldig die Aufzählung ihrer Tochter, »ob jemand Fremdes mit dir gesprochen hat?«
»Nein.«
Erleichtert ließ Lucille sich zurücksinken und drückte Yvette fest an sich. Yvette schmiegte ihren Kopf in die weiche Kuhle unter der Schulter ihrer Mutter und wunderte sich, warum die Erwachsenen immer so seltsame Fragen stellten. Als ob es in dieser Stadt Fremde geben würde.
Am nächsten Tag ermahnte Lucille Yvette ausdrücklich, mit keinem Fremden zu sprechen und immer in der Nähe des Roten Hauses zu bleiben.
Yvette wunderte sich über die plötzliche Besorgnis, willigte aber schnell ein. Die Sonne schien wieder kräftig vom Himmel, und sie wollte so schnell wie möglich aus dem Roten Haus verschwinden, ehe Madame Odette bemerkte, dass sie beim Frühstück das neue Tischtuch mit ihrer Frühstücksmilch beschmutzt hatte.
So lief sie also, die Ermahnungen hinter sich lassend, aus dem Haus. Eilig bog sie in die verschiedenen Straßen ein, darauf bedacht, so schnell es ging aus der Sichtweite ihrer Mutter zu kommen. Und falls ihr doch jemand folgte, Madame Odette oder die gemeine Alicia, so würde sie diese bestimmt abschütteln, wenn sie nur schnell genug um so viele Ecken wie möglich bog.
Bald ging Yvette die Puste aus. Ihr Herz schlug schnell. Sie war nun am Stadtrand angekommen. Nach links hin lagen nur noch die kahlen Maisfelder, nach rechts die große Festwiese und dahinter der Wald.
»Wollen wir heute in den Wald gehen?«, fragte sie Madame Antoinette. Doch diese verneinte. »Oder möchtest du zum Krämer und schauen, ob es wieder neue Bonbons gibt?« Doch auch dies verneinte Madame Antoinette. »Dann lass uns mal ans andere Ende gehen, drüben wo die Bäume anfangen, da steht noch ein Haus«, flüsterte sie leise.
»Das mit den Blumen auf den Fensterläden?«, fragte Madame Antoinette.
Yvette war sich nun sicher und murmelte: »Gut, wir besuchen das Haus mit den Blumen, da waren wir noch nie.«
Fest drückte sie Madame Antoinette an sich, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg. Eigentlich war es gar nicht weit, nur über die Wiese und hinter die erste Biegung des Waldes. Natürlich konnte man auch die Straße entlanglaufen, aber da kam dann vielleicht Tinette vorbei, die Besorgungen gemacht hatte, und der begegnete man lieber nicht. Außerdem war die Wiese eh viel schöner. Vereinzelt hatte schon das Gras zu sprießen begonnen, und viele Schneeglöckchen schoben ihre Köpfe aus der Erde und hielten sie der Sonne entgegen.
Bestimmt blühen jetzt alle, weil sie die Sonne sehen wollen, dachte Yvette, während sie vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um keines der Blümchen versehentlich zu zertreten.
»Im Sommer können wir dann wieder den Honig aus den Glockenblumen trinken«, flüsterte sie Madame Antoinette zu. Diese nickte erfreut. Naschen, das taten sie nämlich beide gern. Unter den Bäumen wurde es merklich kühler. Die Tannen schienen die Sonne zu verdecken. Ein letztes Aufbäumen des Winters gegen den fröhlichen Einzug des Frühlings.
Yvette beschleunigte ihren Schritt und beeilte sich, wieder in die Sonne zu kommen. Ihre Jacke war dünn und das Kleid ein wenig zu kurz, sodass man entweder schnell laufen oder direkt in der Sonne bleiben musste.
Schließlich erreichte Yvette die letzten Bäume, und da war es. Wie im Märchen stand dort auf einer einsamen Lichtung das Blumenhaus zwischen einigen großen Bäumen, die es wie Brüder zu bewachen schienen. Die Äste reichten hoch hinauf und boten ihre zarten grünen Knospen dem Himmel dar. Vorsichtig schlich Yvette näher, Madame Antoinette fest an sich gedrückt.