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Ein atmosphärischer Kriminalroman in den 50er Jahren an der Ostküste der USA. Für LeserInnen und Fans von Film Noir à la Dashiell Hammet und Raymond Chandler »Es war still. So still, wie es nur dann war, wenn man Angst hatte. Wenn jedes Geräusch zu einem Albtraum wurde. Zu einem brüllenden Kommando, sich nun auf dich zu stürzen. All die manifestierten Gedanken, Albträume und Ängste.« Neuengland in den 1950er-Jahren. Der Privatdetektiv Felix Cain wird mit einem Fall betraut. Er soll die verschwundene Ehefrau von seinem Mandanten Norman Campbell ausfindig machen, damit dieser sich rechtsgültig von ihr scheiden lassen kann. Als er ohne große Schwierigkeiten die Frau ausfindig macht, bittet diese ihn, ihre verschwundene Schwester, die siebzehnjährige Nora, zu finden, da diese sich seit über einer Woche nicht bei ihr gemeldet hat. Was zunächst wie ein gewöhnlicher Fall von harmloser, jugendlicher Ignoranz scheint, wird jedoch bald zu einer mysteriösen Angelegenheit, da die junge Nora nicht nur verschwunden bleibt, sondern sich auch allerhand verwirrende Dinge auftun, die ein völlig anderes Licht auf die Sache werfen.
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© Piper Verlag GmbH, München 2022
Redaktion: Julia Feldbaum
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Cover & Impressum
Disclaimer
Widmung
Besuch
Feenburg
Ms Green
Die Perlenkette
Philosophen unter sich
Mayflower
Weißes Blut
Elektra
Beichten
Rendezvous
Der Brief
Glücklich die Besitzenden
Ein Haus aus Sand und Blättern
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Die Geschichte ist frei erfunden. Jedwede Ähnlichkeiten mit nicht fiktiven Personen, seien sie lebendig oder tot, sind rein zufällig.
Für David
Manchen erscheinen ihre Geister nach einer Flasche Whiskey. Dieses Glück habe ich nicht. Meine kommen und gehen, wie sie wollen. Sitzen auf den unbequemen Stühlen und blicken aus dem Fenster. Als wäre ich Gott, der ihnen die Erlösung vorenthält.
Der Mann, der im Wartebereich saß, wippte jedoch zu ungeduldig mit dem Fuß, als dass er einer von ihnen hätte sein können. Immer wieder blickte er sich um, als erwartete er, dass ich hinter einem der Aktenschränke oder unter der Fußleiste hervorkommen würde. Er war sehr groß und schlank, die Kleidung zwar schlicht, aber von außerordentlicher Qualität, wie es nur die besten Schneider zustande bringen. Am kleinen Finger der rechten Hand trug er einen klobigen Siegelring, den ihm vermutlich sein Großvater zur Volljährigkeit überreicht hatte.
Als ich eintrat, sprang er mit einem militärischen Ruck auf und musterte mich von Kopf bis Fuß, als wollte er alle Mängel auf einmal zur Kenntnis nehmen.
»Sind Sie Felix Cain?«
»Vor welchem Büro sitzen Sie denn?«
Er schnaubte unmutig. Dann drängte er sich beinahe an mir vorbei und ließ sich mit einem weiteren Seufzen in dem zerschlissenen Sessel gegenüber meinem Schreibtisch nieder.
»Ein Bekannter hat Sie empfohlen …« Noch einmal musterte er mich und murmelte: »Er sagte, Sie sind etwas eigen, leisten aber gute Arbeit.«
»Das ist sehr nett von Ihrem Bekannten. Aber was genau führt Sie zu mir, Mr …?«
»Campbell. Norman Campbell.«
Wieder traf mich sein auffordernder Blick, als müsste mir der Name etwas sagen. Tatsächlich klingelte ein leises Glöckchen in meinem Hinterkopf. Ich musterte ihn etwas genauer. Er musste um die vierzig sein, auch wenn seine Schläfen bereits grau zu werden begannen. Seine Arme und Schultern waren muskulös. Die Haut hatte die gesunde Farbe eines Menschen, der sich in seiner Freizeit viel in der Natur aufhielt.
»Sport, nicht wahr?«, warf ich aufs Geratewohl in den Raum hinein.
»Richtig.« Er lächelte zufrieden. »Mir gehört die Campbell Racketball Fabrik. Wir produzieren alles, was zu einem guten Tennisspiel gehört.«
Ich nickte. Sagte aber nichts weiter. Natürlich war ich schon oft genug an dem riesigen Gebäude vorbeigefahren. Mittags und abends flossen dort die Menschen wie Ameisen auf die Straße. Viele noch in ihren Arbeitskitteln, als könnten sie es gar nicht erwarten, aus dem Gebäude herauszukommen.
»Spielen Sie Tennis?« Seine Stimme hatte einen beinahe freundlichen Ton angenommen.
Ich schüttelte den Kopf. »Seit meiner Jugend nicht mehr.«
Er wirkte etwas enttäuscht. Vielleicht hatte er gehofft, mich mit einem Satz Tennisbällen bezahlen zu können.
»Also, Mr Campbell, was kann ich für Sie tun?«
Er veränderte noch einmal seine Sitzposition, ehe er sich mit einem Ruck dazu durchrang, mir zu antworten.
»Ich will, dass Sie meine Frau finden!«
»Ist sie weggelaufen?«
»Weggelaufen ist wohl nicht das passende Wort.« Er verzog unwillig das Gesicht. »Wir haben uns entschlossen, eine Zeit lang getrennte Wege zu gehen.«
»Verstehe. Und wie lange haben Sie sie nicht mehr gesehen?«
»Fünf Jahre!«
Ich blickte ihn erstaunt an. »Fünf Jahre sind eine Menge Zeit. Und Sie haben währenddessen nichts von ihr gehört?«
»Nein …« Er zögerte. »Wir sind damals nicht gerade im Guten auseinandergegangen. Sie war schon immer sehr launisch und aufbrausend. Was vermutlich ein Erbe ihres sozialen Milieus ist.« Er rümpfte gekünstelt die Nase. »Sie hat sich eingebildet, Künstlerin zu sein. Hat ständig mit ungekämmtem Haar und schmutziger Kleidung an ihren Leinwänden geklebt. Wenn es wenigstens gut gewesen wäre. Aber sie war mehr der leidenschaftliche als der talentierte Typ. Sie hat sich sehr egoistisch verhalten.« Sein Blick wurde zornig. »Als wenn sie als meine Frau keine sonstigen Verpflichtungen gehabt hätte.«
»Und nun streben Sie also eine Versöhnung an?«
»Um Himmels willen!« Er blickte mich entgeistert an. »Ich bin froh, wenn ich diesen Teil meines Lebens endgültig abschließen kann. Ich habe vor, die Scheidung einzureichen.«
»Das können Sie doch hier ohne Weiteres tun.«
Er musterte mich, als wäre ich ein etwas begriffsstutziges Kind. »Wenn ich mich hier von ihr scheiden lasse, ohne ihre Einwilligung, dann ist die Scheidung nur hier rechtsgültig, und ich möchte doch gern die Freiheit haben, in jedem Bundesstaat als ungebundener Mann zu leben!«
»Sie möchten also wieder heiraten!«
Seine Wangen wurden rot. »Das tut vorerst nichts zur Sache. Ihre Aufgabe wäre es nur, meine Noch-Ehefrau zu finden. Den Rest werde ich dann selbst übernehmen.«
»Glauben Sie denn, dass sie in eine Scheidung einwilligen wird?«
Campbell lächelte überlegen. »Daran habe ich keine Zweifel. Ich habe sie während der letzten Jahre ihrem Schicksal überlassen. Wenn ich ihr jetzt ein passendes Angebot mache, wird sie sich sofort einverstanden erklären. Sie war schon immer hinter Geld her.«
»Gut. Ich auch. Ich bekomme fünfzig Dollar pro Tag … plus Spesen.«
»Natürlich.« Er zog ein Scheckheft aus der Tasche. »Ich schreibe Ihnen fürs Erste dreihundert Dollar aus. Das sollte für den Anfang genügen.«
Ich legte den Scheck nebst seiner Visitenkarte in meine Schublade. »Dann bräuchte ich nur noch ein paar Informationen. Zum Beispiel den vollständigen Namen Ihrer Frau. Die Namen von Freunden oder Verwandten.«
»Sie heißt Mary. Mary Campbell. Aber vielleicht benutzt sie auch wieder ihren Mädchennamen. Lind.« Er seufzte. »Über Freunde ist mir nichts bekannt. Ich glaube kaum, dass sie viele hatte. Sie war ja immer zu beschäftigt. Aber ihre Mutter wohnt hier in der Nähe. Irgendwo an der Küste. Wo nicht alle Häuser eine Nummer haben.« Er blickte mich vielsagend an. »Aber das dürfte für jemanden wie Sie kein Problem sein.«
»Gut.« Ich erhob mich. Zögerte kurz. »Haben Sie Kinder?«
Er starrte mich an, als hätte ich ihn etwas Obszönes gefragt. »Nein, ich habe keine Kinder! Mary. Also, meine baldige Ex-Frau, und ich hatten einen Sohn, der ist jedoch wenige Tage nach der Geburt gestorben.«
»Danke, Mr Campbell. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«
Als ich die Tür hinter ihm schloss, stand das kleine Mädchen neben mir. Als hätte es an der Tür gelauscht. Dann schlenderte es zum Fenster und blickte hinaus. Reglos. So reglos wie die drei Tage zuvor. Mit einem Knall schmiss ich meine Bürotür zu.
Im Telefonbuch waren unter dem Namen Lind drei Nummern verzeichnet. Bei der ersten erwischte ich nach dem zwölften Klingeln einen wütenden alten Mann, der mir eine Standpauke hielt, da ich ihn nach einer Zwanzigstundenschicht aus dem Schlaf gerissen hätte. Und das nur, weil mir meine Frau weggelaufen sei, die ich aber bestimmt nicht bei ihm finden würde, da er nach zwei Scheidungen von den Weibern genug habe. Ich wünschte ihm noch höflich einen geruhsamen Schlaf, ehe er den Hörer auf die Gabel schmetterte und ich mich an die zweite Nummer machte. Die Stimme nach dem Abheben war weiblich und gurrte mir ein verführerisches »Linda Lind am Apparat« entgegen. Doch auch hier wollte man mir kaum eine Chance geben, zu Wort zu kommen, denn die unbekannte Taube stellte mir direkt die philosophische Frage, was ich mir denn so wünschen würde.
»Ich wäre gern meine Geister los.«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen am anderen Ende, dann perlte zuckriges Lachen durch die Leitung.
»Ach, Sie Armer, nun, da sind Sie bei mir an der richtigen Adresse. Meine Freundinnen wissen alle nur zu gut, wie sich böse Geister vertreiben lassen!«
Ich war tief beeindruckt.
Sie fuhr gleich fort: »Sie müssen mir nur verraten, ob Sie den hellen oder eher den dunklen Typ bevorzugen. Und ob unsere Exorzistin«, sie kicherte über ihren eigenen Scherz, »direkt ins Hotel oder zu Ihnen nach Hause kommen soll.«
Ich zündete mir eine Zigarette an. »Weder noch. Eher ins Büro!«
»Oh, Sie Schlimmer.« Sie lachte wieder prickelnd.
Ich hatte keine Lust mehr, das Spiel weiterzuspielen, und fragte sie direkt, ob sie eine Mary Campbell kenne.
Die Stimme am anderen Ende der Leitung wurde plötzlich erstaunlich kühl.
»Ich fürchte, da haben Sie sich verwählt. Eine Person mit diesem Namen arbeitet nicht bei uns.« Und mit einem Kichern, das all die Kälte von einer Sekunde zur anderen schmelzen ließ, fügte sie noch geistreich »Bei uns gibt es nur Magdalenas« hinzu.
Ich legte auf.
Beim dritten Versuch schien ich mich tatsächlich verwählt zu haben, denn die hechelnde Stimme einer gestressten Kellnerin teilte mir mit, dass ich beim Café Agatha gelandet sei und es hier keine Lind gebe. Noch ehe ich mich entschuldigen konnte, wurde der Kellnerin der Hörer aus der Hand gerissen, und eine ruhigere Stimme erkundigte sich, wen ich zu sprechen wünsche.
Ich antwortete so knapp wie möglich und erfuhr, dass Ms Lind den Anschluss des Cafés dazu nutze, sich Nachrichten übermitteln zu lassen.
»Was soll ich ihr ausrichten?«
»Ich würde sie gern persönlich sprechen. Wann kommt sie denn, um sich die Nachrichten abzuholen?«
»Ab vier ist sie eigentlich immer hier. Also?« Die Stimme wurde etwas ungeduldig.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr und beschloss spontan, Ms Lind direkt aufzusuchen. Ich ließ mir den Weg zum Café so genau wie möglich beschreiben, dann stieg ich in meinen Wagen und machte mich auf den Weg in Richtung Küste.
Die letzten Tage hatte es viel geregnet, und die Landschaft glänzte frisch und sauber. Die bunten Blätter an den Bäumen winkten mir fröhlich zu, und die kühle Luft strich beinahe zärtlich über meine Wangen. Das Meer lag dunkel und friedlich wie ein schlummerndes Tier am Horizont. Müde von den vergangenen Stürmen.
Die Straße führte eine ganze Weile an der Küste entlang. Nur wenige Autos, viele bereits mit eingeschaltetem Licht, kamen mir entgegen. Als es hügeliger zu werden begann, bog ich wie beschrieben links ab. Ich war noch nicht oft in dieser Gegend gewesen, nun verstand ich noch besser, was Norman Campbell mit seiner Bemerkung über das soziale Umfeld seiner Frau gemeint hatte. Auch wenn diese Gegend noch kein Slum war, so fehlten nicht mehr viele Jahre. Die Häuser waren klein und schäbig. Die Balken wurmstichig, von Salz und Wind angenagt. Die Zäune standen schief. Die ursprüngliche Farbe war vom Meer abgeleckt worden. Das einzige große Haus in der Gegend war das Café. Ein beinahe herrschaftliches Gebäude mit Zinnen und Türmchen. Alle Lichter waren entzündet, und es schien ähnlich einem Leuchtturm liebevoll-lockend die Arme nach einem auszustrecken.
Erst beim Näherkommen bemerkte ich, dass auch dieses Haus schon bessere Tage gesehen hatte. Die Fenster waren vom vielen Salz blind geworden. Die Blumen, die in dicken Kästen vor dem Eingang standen, waren kaum zu sehen, so zäh und dominant spross das Unkraut um sie herum. Als ich eintrat, schlug mir ein Gemisch aus Wärme, Rauch, heißem Fett, Kaffee und Neugier entgegen. Ich ließ mich auf einem altmodisch verschnörkelten Barhocker nieder. Ein junges Ding mit Pickeln am Kinn und völlig unpassenden Schuhen hinkte mir entgegen und fragte mit einem strahlenden Lächeln, was ich wünsche. Da es einer der Tage war, an denen ich mal wieder das Essen vergessen hatte, ließ ich mir Kaffee und ein Sandwich bringen, ehe ich mich nach Ms Lind erkundigte.
»Was wollen Sie denn von der?« Das Mädchen musterte mich, als wäre ich soeben in ihrer Achtung gesunken.
Eine ältere Kellnerin mit vernünftigen Schuhen und einer jugendlichen Schleife im ondulierten Haar trat auf uns zu.
»Hör auf zu quatschen, Millie, und sieh lieber mal nach, ob die oben noch mehr Torte wollen.« Sie wandte sich mit einem reizenden Lächeln an mich. »Oben feiern nämlich gerade so ein paar Küken ihren Polterabend oder besser gesagt ihre Hen Night. Ist schon die vierte diesen Monat, kommt wohl gerade in Mode.« Sie musterte mich. »Sie sind der, der vorhin angerufen hat, stimmt’s?«
Das marode Glöckchen über der Tür brummte missmutig. Ich drehte meinen Kopf. Eine alte Frau kam ins Café geschlurft. Ihr Gesicht war grau, und die Augen lagen tief in den Höhlen. Sie trug ein schwarzes Samtkleid mit Spitzenbesatz, das noch aus ihrer Jugend stammen musste. Beim Gehen hob sie die Füße kaum an, sodass die ausgetretenen Lackschuhe ein trockenes Geräusch auf dem Boden erzeugten.
Als sie sich mühsam auf den Stuhl neben mir hochzog, konnte ich erkennen, dass ihre Nägel sorgfältig lackiert waren. Ein angelaufener Ehering schnitt tief in das helle Fleisch. Es ging der strenge Geruch von Mottenkugeln und Gin von ihr aus.
Die Kellnerin beugte sich zu der alten Frau. »Abend, Gerda! Du hast heute Besuch. Der Herr hier würde sich gern ein bisschen mit dir unterhalten.«
Sie schien nicht zugehört zu haben, denn sie wandte weder den Kopf, noch ließ sie durch ein Nicken Interesse erkennen.
»Hat jemand angerufen?« Das war das Einzige, das sie zu interessieren schien.
»Leider nicht. Du weißt doch, wie die Jugend ist!«, meinte die Kellnerin tröstend.
Die alte Frau seufzte. »Dann gib mir einen Schnaps, Amy!«
»Kannst du denn heute zahlen?«
Mit einem mageren Jaulen fuhr die Faust der alten Dame auf den Tresen. »Heut’ ist mein Geburtstag, da wirst du mir doch einen Schnaps gönnen, geiziges Gör!«
»Ich zahle den Schnaps!«, sagte ich und legte einen Dollar auf den Tresen.
Nun hatte ich ihre Aufmerksamkeit. Die kleinen, vogelartigen Augen musterten mich. Dann lächelte sie. Sie hatte ein schönes Lächeln. Trotz des Alters. Ein warmes, weiches Lächeln, das ihre dunklen Augen aufblitzen ließ.
»Sie sind ein anständiger Bursche. Wissen, was sich gehört. Also los, Amy, bring mir meinen Schnaps!« Sie schien eine Sekunde zu überlegen. »Und dem Herrn auch einen. An seinem Geburtstag muss man anstoßen.« Die Kellnerin nahm den Dollar, als befürchtete sie, ich würde es mir noch anders überlegen. Dann goss sie zwei Gläser mit einer klaren Flüssigkeit voll.
»Auf Ihr Wohl!« Ich stieß mit der alten Frau an.
»Auf mein Wohl!« Sie schüttete den Schnaps mit einem Zug hinunter. Dann seufzte sie wohlig. »Sie sind der Einzige, der heute mit mir anstößt. An meinem Geburtstag.« Sie schwieg einen nachdenklichen Moment, dann blickte sie mich beinahe schalkhaft an. »Wissen Sie, wie alt ich heute werde?«
»Keinen Tag älter als fünfundzwanzig.«
Sie kicherte amüsiert. »Sie sind lustig. Wäre ich wirklich so alt, würde ich Sie vielleicht mit zu mir nehmen! Amy! Wo ist das dumme Ding schon wieder? Amy!«
Die Gerufene erschien.
»Bring uns noch zwei. Wenn meine eigene Tochter es nicht mal für nötig erachtet, am Geburtstag ihrer Mutter anzurufen …« Der Rest ging in einer interessanten Mischung aus Flüchen unter.
Ich gab der Kellnerin ein heimliches Zeichen, und sie füllte nur ein Glas mit dem klaren Gift. Noch einmal stieß ich mit der alten Frau an. »Von wo ruft Ihre Tochter denn an?«
Sie warf mir einen scharfen Blick zu. »Warum wollen Sie das denn wissen?«
Ich hatte keine Lust, sie mehr als nötig anzulügen. »Ich bin auf der Suche nach ihr.«
»Hat sie wieder was ausgefressen?« Gerda Lind kicherte. »Sie war schon immer so ’ne Freche, wissen Sie. Und stur. Schon als Kind. Das hat sie von ihrem Vater. Wenn sie was haben wollte, dann hat sie so lange gebettelt, gezetert und ist in Hungerstreik getreten, bis sie es bekommen hat.«
Ohne ein Wort füllte die Kellnerin ihr noch einmal das Glas.
»An den Wochenenden sind wir immer aufs Meer raus. Natürlich nur die Küste lang. Ihr Vater hat mir beigebracht, wie’s geht. War ein toller Segler. Ein toller Mann. Schade, dass er so früh gestorben ist. Auf dich, Markus!« Der Alkohol gurgelte durch ihre Kehle. Ihr Blick war trüber geworden. Ihre Augen musterten mich, als fragte sie sich, was ich in ihren Erinnerungen verloren hätte.
Dann, ganz langsam, erinnerte sie sich an meine Frage.
»Bei den Malern ist sie. Wollte ja schon immer Künstlerin werden. So mit Farben. Aber ihr Ehemann hat sie ja nicht gelassen. Hat immer an ihr rumgemäkelt. Deswegen hat sie viele ihrer Bilder bei mir gemalt. Nicht, dass ich was davon verstehe. Aber sie sind sehr bunt. Richtig bunt. Bringen ’ne Menge Fröhlichkeit!« Sie kicherte unsicher. »Auch wenn man nicht erkennt, was drauf ist! Jaja …« Sie taumelte zurück in ihre Gedanken. »Feenburg haben wir immer gesagt. Wenn du mal groß wirst, kommst du in die Feenburg. Santa Fe. Klingt wie Feenburg, nicht?« Sie schlang ihre Finger ineinander. »Da soll’s sehr warm sein. Und viele Blumen soll’s dort auch geben. Blumen habe ich immer sehr gemocht.«
Ein heiseres Lachen von der Treppe, die nach oben führte, riss unsere Aufmerksamkeit an sich. Ein Mädchen in einem grauenhaften mit Rüschen und Spitzen besetzten Kleid schwankte zittrig die Stufen nach unten. Vermutlich eine der Hen Girls, welche etwas zu viel Schuss in ihren Kakao gemischt hatten.
Als sie meinen Blick bemerkte, streckte sie ihre magere Brust vor und klimperte alkoholverlangsamt mit den Wimpern. »Wir brauchen noch mehr Torte! Vielleicht kann uns der Herr da welche bringen!«
Noch ehe die Kellnerin antworten konnte, spuckte die alte Frau einen Schwall Schimpfwörter in die Richtung des Mädchens, das daraufhin wie ein verschrecktes Huhn die Treppe nach oben floh.
»Verdammte kleine Schlampen!« Die Alte spuckte auf den Boden. »Einen reichen Mann wollen sie, sonst nichts! Haben keine Ahnung von der Ehe. Wissen nichts … gar nichts. Denken, es ist alles so einfach!«
»GERDA!« Die Stimme der Kellnerin klang drohend. »Ich hab dich gewarnt, noch einmal, und du kriegst hier Hausverbot, verstanden!« Und zu mir: »Ich glaube, Sie haben jetzt genug gehört. Wenn Sie nicht vorhaben, ihr noch mehr auszugeben, würde ich vorschlagen, Sie gehen.«
Ich verzichtete auf das Angebot, als Tortenträger zu fungieren, legte noch einen Dollar auf den Tisch und verließ das Lokal. Ms Lind bemerkte es nicht einmal.
Draußen schlug mir der Regen ins Gesicht. Vom Rücksitz blickte mich das kleine Mädchen durch die zerfließende Scheibe an.
Die Sonne stach mir boshaft mit zwei Fingern in die Augen. Das Flugzeug setzte zur Landung an, und ich blickte nach draußen. Der Flughafen war neu. Alles blitzte und blinkte, als wäre es eigens für mich herausgeputzt worden.
Als ich das Flugzeug verließ, hüllte mich die warme, trockene Luft ein, sodass ich mich erst einmal von meinem Mantel befreite. Im Hintergrund schimmerten die rötlich braunen Steinhügel. Ich ging zu den Telefonzellen, welche geduldig in einer Reihe warteten, und suchte im Telefonbuch. Unter dem Namen Campbell fand ich nichts. Also lebte sie vermutlich unter ihrem Mädchennamen. Und tatsächlich: Unter Lind war eine Mary verzeichnet. Ich beschloss, auf einen warnenden Anruf zu verzichten und direkt zu ihr zu fahren.
Das Taxi war ein alter Ford 1930, der hübsch hätte sein können, wenn man ihn geputzt und einheitlich lackiert hätte. So jedoch leuchtete die linke Tür in einem zerfressenen Grün, während der Rest des Autos unter einer fingerdicken Schicht aus Staub, Rost und Sand rötlich schimmerte. Ich nannte dem Fahrer die Adresse. Er warf mir einen kurzen misstrauischen Blick zu, der sich auch nach meinem betont harmlosen Gesichtsausdruck die ganze Fahrt über nicht veränderte. Bald erschienen in der Ferne die ersten kastellartigen Gebäude. Die Sonne brannte heiß aufs Dach. Im Wagen herrschte ein seltsamer Geruch aus Hitze, Schweiß, Staub, tropischen Blumen und Zuckerzeug. Als hätte jeder Fahrgast seine persönliche Note hinterlassen.
Zehn Minuten später hielten wir vor einem kleinen weiß getünchten Haus, das in der Sonne schimmerte. Vor der Tür standen Kästen mit durstigen Blumen, deren bunte Köpfe mich flehend anblickten.
Ich klopfte an die Tür. Einmal, zweimal. Das Taxi war nicht weggefahren, und ich merkte, dass der Fahrer mich durch seine verspiegelte Sonnenbrille beobachtete. Ich seufzte. Die ungewohnte Hitze machte mir zu schaffen. Noch einmal klopfe ich, diesmal überdeutlich.
»Himmelherrgott noch mal, kann man nicht einmal seine Ruhe haben!«
Mit einem Ruck wurde die Tür aufgerissen. Eine Frau stand vor mir und blickte mich wütend an. Ihre grünen Augen funkelten im hellen Licht. Ihr blondes Haar hatte sie zu einem zerzausten Knoten auf dem Kopf geschnürt, wobei sich ein halbes Dutzend Strähnen bereits befreit hatten. Sie sah gut aus. Sehr gut sogar.
»Sind Sie Mary Lind?«
Sie nahm mich genau in Augenschein. »Wer will das wissen?«
Ich sagte ihr meinen Namen.
»Hat das Finanzamt Sie geschickt? Ich habe denen schon ein halbes Dutzend Mal gesagt, dass ich gerade genug Geld zum Leben habe! Und das bisschen, was ich mit meinem Malunterricht verdiene, genügt gerade so, um alle Materialien zu bezahlen. Also verschwinden Sie! Hier gibt’s nichts zu holen. Sie können sich Ihre Schnüffelei also sparen!« Sie machte Anstalten, mir die Tür vor der Nase zuzuschlagen.
Ich stellte meinen Fuß dazwischen.
»Está bien, Mary?«
Ich drehte mich um. Der Taxifahrer war nun ausgestiegen und kam drohend auf mich zu.
»Ihr Mann, Norman Campbell, hat mich beauftragt, Sie zu finden. Er würde gern wieder mit Ihnen in Kontakt treten.«
»Oh!« Sie musterte mich noch einmal, dann öffnete sie beinahe widerwillig die Tür. »Sie kommen wohl besser herein!« Sie schickte dem anderen Mann ein beruhigendes Lächeln. »Alles in Ordnung, Miguel, sag Eva, dass ich die Tage mal bei ihr vorbeikomme!«
Der Taxifahrer grunzte nur. Ob als Antwort oder aus Frust über die verpasste Chance, einem Gringo eine zu verpassen, blieb dabei ungewiss.
Ich folgte Mary Campbell ins Innere. Dort war es angenehm kühl, und ich hatte das Gefühl, das erste Mal an diesem Tag wieder richtig Luft zu bekommen. Die dicken, bröckligen Wände waren mit Bildern tapeziert. Viele auf Leinwänden, aber auch Zeitungsausschnitte, Reproduktionen alter Meister und Collagen aus getrockneten Blumen hingen dazwischen.
Die Frau war nun in einem großen Raum stehen geblieben, dessen Fenster eine ganze Wand einnahmen.
»Hier male ich!«, erklärte sie mir stolz.
Ich blickte mich um. Der Geruch von Farbe war hier besonders intensiv. An der rechten Wand lehnte ein halbes Dutzend frisch bespannter Leinwände in allen Größen.
In einem fleckigen Regal stapelten sich Pinsel, Gläser, Mörser und Farbdosen. Auf der mannshohen Staffelei, die in der Mitte des Raumes stand, war ein halb fertiges Bild ausgestellt, das eine apokalyptische Landschaft zeigte. Ein Motiv, das mir auch schon bei den anderen Bildern aufgefallen war.
»Norman hat Sie also zu mir geschickt?«
Ich drehte mich zu ihr um. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, ihre langen, schmalen Finger waren beinahe vollständig mit Farbe bedeckt. Ihre Augen musterten mich, als wollten Sie direkt in mein Innerstes blicken. Ihre Haut war unter den Augen auffallend dunkel und schien wenig von der Sonne abzubekommen, denn sie schimmerte beinahe unnatürlich blass. Als hätte sie sich länger keine Ruhe mehr gegönnt. Doch selbst in ungepflegtem Zustand war sie eine attraktive Frau. Sie musste meinen bewundernden Blick bemerkt haben, denn sie streckte ein wenig das Kreuz durch.
»Sie hätten mich mal bei meiner Hochzeit sehen sollen! Mein Foto war sogar in einer Illustrierten!« Sie lächelte.
Es war dasselbe warme Lächeln, wie ich es in dem Gesicht ihrer Mutter gesehen hatte. Dann wurde sie ernst.
»Norman hat noch nie etwas ohne Grund getan. Warum hat er Sie zu mir geschickt? Sagen Sie jetzt nicht, dass er Sehnsucht nach mir hat!«
»Nein.«
Sie musterte mich, als verwirrte sie etwas. Mit einer fahrigen Geste fuhr sie sich an den Kopf.
»Alles in Ordnung?«
»Ja … ja … ich … Entschuldigung! Ich wollte gerade fragen, ob Sie noch jemanden dabeihaben.«
Ich blickte hinter mich. Das kleine Mädchen kniete im Schneidersitz auf dem Boden.
»Ich rede manchmal schrecklichen Unsinn. Meist wenn ich vergessen habe zu essen.«
»Geht mir auch oft so!«
Sie musterte mich mit einem verständigen Lächeln.
Fünf Minuten später saßen wir uns an einem winzigen Tisch gegenüber. Kaltes Fleisch, Tortillas, sauer eingelegtes Gemüse, Sandkuchen und Käse halfen dabei, unsere Gedanken wieder in Form zu bringen.
»Er will sich scheiden lassen, oder?« Es war keine direkte Frage. Sie kannte die Antwort bereits. »Wie viel hat er Ihnen bezahlt, mich zu finden?«