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Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Der französische Philosoph Michel Eyquem Seigneur de Montaigne (1533–1592) hat den Menschen – nicht zuletzt sich selbst – in seiner Unvollkommenheit, der Vielfalt, der Widersprüchlichkeit und der Veränderlichkeit seines Charakters gesehen und ihm kraft seiner Individualität in allem »innere Freiheit« zuerkannt. Stefan Zweig setzt ihm in seinem Essay ein Denkmal und verfasst damit quasi gleichzeitig eine Rechtfertigung seiner selbst.
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Seitenzahl: 138
Stefan Zweig
Montaigne
[Fragment]
Fischer e-books
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
[Fragment]
Es gibt einige wenige Schriftsteller, die jedem aufgetan sind in jedem Alter und in jeder Epoche des Lebens – Homer, Shakespeare, Goethe, Balzac, Tolstoi –, und dann wieder andere, die sich erst zu bestimmter Stunde in ihrer ganzen Bedeutung erschließen. Zu ihnen gehört Montaigne. Man darf nicht allzu jung, nicht ohne Erfahrungen und Enttäuschungen sein, um ihn richtig würdigen zu können, und am hilfreichsten wird sein freies und unbeirrbares Denken einer Generation, die, wie etwa die unsere, vom Schicksal in einen kataraktischen Aufruhr der Welt geworfen wurde. Nur wer in der eigenen erschütterten Seele eine Zeit durchleben muß, die mit Krieg, Gewalt und tyrannischen Ideologien dem Einzelnen das Leben und innerhalb seines Lebens wieder die kostbarste Substanz, die individuelle Freiheit, bedroht, weiß, wieviel Mut, wieviel Ehrlichkeit und Entschlossenheit vonnöten ist, in solchen Zeiten der Herdentollheit seinem innersten Ich treu zu bleiben, und daß keine Sache auf Erden schwerer und problematischer wird als innerhalb einer Massenkatastrophe geistige und moralische Unabhängigkeit unbefleckt zu bewahren. Erst wenn man selbst an der Vernunft, an der Würde der Menschheit gezweifelt und verzweifelt hat, vermag man es als Tat zu rühmen, wenn ein Einzelner inmitten eines Weltchaos sich vorbildlich aufrecht erhält.
Daß man Montaignes Weisheit und Größe nur erst als Erfahrener, als Geprüfter zu würdigen vermag, habe ich an mir selbst erfahren. Als ich das erste Mal mit zwanzig Jahren seine ›Essais‹, dies einzige Buch, in dem er sich uns hinterlassen hat, zur Hand nahm, wußte ich – ehrlich gesagt – nicht viel damit anzufangen. Ich besaß zwar genug literarischen Kunstverstand, um respektvoll zu erkennen, daß sich hier eine interessante Persönlichkeit kundtat, ein besonders hellsichtiger und weitsichtiger, ein liebenswerter Mensch und überdies noch ein Künstler, der jedem Satz und jedem Diktum individuelle Prägung zu geben wußte. Aber meine Freude blieb eine literarische, eine antiquarische; es fehlte die innere Zündung der leidenschaftlichen Begeisterung, das elektrische Überspringen von Seele zu Seele. Schon die Thematik der ›Essais‹ schien mir ziemlich abwegig und zum größten Teil ohne Überschaltungsmöglichkeit in meine eigene Existenz; was gingen mich jungen Menschen des 20. Jahrhunderts die weiträumigen Exkurse des Sieur de Montaigne über die ›Cérémonie de l’entrevue des rois‹ [Zeremonie der Zusammenkunft der Könige] oder seine ›Considérations sur Cicéro‹ [Betrachtungen über Cicero] an, wie schulmäßig und unzeitgemäß dünkte mich die Durchspickung des schon stark von der Zeit angebräunten Französisch mit lateinischen Zitaten, und selbst zu seiner milden, temperierten Weisheit fand ich keine Beziehung. Sie kam zu früh. Denn was sollte das kluge Abmahnen Montaignes, man solle sich nicht ehrgeizig mühen, sich nicht allzu leidenschaftlich in die äußere Welt verstricken, sein beschwichtigendes Drängen zu Temperiertheit und Toleranz einem ungestümen Alter, das nicht desillusioniert werden will und nicht beruhigt, sondern unbewußt nur verstärkt in seinem vitalen Auftrieb? Es liegt im Wesen der Jugend, daß sie nicht zu Milde, zu Skepsis beraten zu sein wünscht. Jeder Zweifel wird ihr zur Hemmung, weil sie Gläubigkeit und Ideale braucht zur Auslösung ihrer inneren Stoßkraft. Und selbst der radikalste, der absurdeste Wahn wird ihr, sofern er sie nur befeuert, wichtiger sein als die erhabenste Weisheit, die ihre Willenskraft schwächt. Und dann – jene individuelle Freiheit, deren entschlossenster Herold für alle Zeiten Montaigne geworden ist, schien sie uns wirklich um 1900 noch derart hartnäckiger Verteidigung zu bedürfen? War das alles denn nicht schon längst Selbstverständlichkeit geworden, durch Gesetz und Sitte garantierter Besitz einer längst von Diktatur und Knechtschaft emanzipierten Menschheit? Selbstverständlich uns gehörig wie der Atem unseres Mundes, der Pulsschlag unseres Herzens, schien uns das Recht auf das eigene Leben, die eigenen Gedanken und ihre ungehemmte Aussage in Wort und Schrift. Offen lag uns die Welt Land um Land, wir waren nicht Gefangene des Staats, nicht geknechtet in Kriegsdienst, nicht untertan der Willkür tyrannischer Ideologien und niemand in Gefahr, geächtet, verbannt, eingekerkert und vertrieben zu werden. So schien Montaigne unserer Generation sinnlos an Ketten zu rütteln, die wir längst zerbrochen meinten, ahnungslos, daß sie vom Schicksal uns schon neu geschmiedet wurden, härter und grausamer als je. So ehrten und respektierten wir seinen Kampf um die Freiheit der Seele als einen historischen, der für uns längst überflüssig und ohne Belang war. Denn es gehört zu den geheimnisvollen Gesetzen des Lebens, daß wir seiner wahren und wesentlichsten Werte immer erst zu spät gewahr werden, der Jugend, wenn sie entschwindet, der Gesundheit, sobald sie uns verläßt, und der Freiheit, dieser kostbarsten Essenz unserer Seele, erst im Augenblick, wenn sie uns genommen werden soll oder schon genommen worden ist.
Es mußte also, um Montaignes Lebenskunst und Lebensweisheit zu verstehen und die Notwendigkeit seines Kampfes um das »soi-même« [Sich-selbst] als den notwendigsten unserer geistigen Welt, eine Situation kommen, die der seines eigenen Lebens ähnlich war. Auch wir mußten wie er erst einen jener entsetzlichen Rückfälle der Welt aus einem der herrlichsten Aufstiege erleben, auch wir aus unseren Hoffnungen, Erfahrungen, Erwartungen und Begeisterungen mit der Peitsche zurückgejagt werden bis auf jenen Punkt, wo man schließlich nur mehr sein nacktes Ich, seine einmalige und unwiederbringliche Existenz verteidigt. Erst in dieser Bruderschaft des Schicksals ist mir Montaigne der unentbehrliche Bruder, Helfer, Tröster und Freund geworden, denn wie verzweifelt ähnlich ist sein Schicksal dem unseren. Als Michel de Montaigne ins Leben tritt, beginnt eine große Hoffnung zu erlöschen, eine gleiche Hoffnung, wie wir sie selbst zu Anfang unseres Jahrhunderts erlebt: die Hoffnung auf eine Humanisierung der Welt. Im Verlauf eines einzigen Lebensalters hatte die Renaissance der beglückten Menschheit mit ihren Künstlern, ihren Malern, ihren Dichtern, ihren Gelehrten eine neue, in gleicher Vollkommenheit nie erhoffte Schönheit geschenkt, und ein Jahrhundert – nein, Jahrhunderte schienen anzubrechen, wo die schöpferische Kraft das dunkle und chaotische Dasein Stufe um Stufe, Welle um Welle dem Göttlichen entgegentrug. Mit einemmal war die Welt weit, voll und reich geworden. Aus dem Altertum brachten die Gelehrten mit der lateinischen, der griechischen Sprache die Weisheit Platos und Aristoteles’ wieder den Menschen zurück, der Humanismus unter Erasmus’ Führung versprach eine einheitliche, eine kosmopolitische Kultur, die Reformation schien eine neue Freiheit des Glaubens neben der neuen Weite des Wissens zu begründen. Der Raum und die Grenzen zwischen den Völkern zerbrachen, denn die eben entdeckte Druckerpresse gab jedem Wort, jeder Meinung, jedem Gedanken die Möglichkeit beschwingter Verbreitung; was einem Volke geschenkt war, schien allen gehörig, und so eine Einheit geschaffen durch den Geist über den blutigen Zwist der Könige, der Fürsten und der Waffen. Und abermaliges Wunder: zugleich mit der geistigen weitete sich die irdische, die räumliche Welt ins Ungeahnte. Aus dem bisher weglosen Ozean tauchten neue Küsten, neue Länder auf, ein riesiger Kontinent verbürgte Heimstatt für Generationen und Generationen. Rascher pulsierte der Blutkreislauf des Handels, Reichtum durchströmte die alte europäische Erde und schuf Luxus und der Luxus wiederum kühne Bauten, Bilder und Statuen, eine verschönte, eine vergeistigte Welt. Immer aber, wenn der Raum sich erweitert, spannt sich die Seele. Wie in unserer eigenen Jahrhundertwende, da abermals der Raum sich großartig dehnte dank der Eroberung des Äthers durch das Flugzeug und das unsichtbar die Länder überschwebende Wort, da Physik und Chemie, Technik und Wissenschaft Geheimnis auf Geheimnis der Natur entrangen und ihre Kräfte dienstbar machten der menschlichen Kraft, beseelte unsagbare Hoffnung die schon so oft enttäuschte Menschheit, und aus tausend Seelen klang Antwort dem Jubelruf Ulrich von Huttens zurück: »Es ist eine Lust zu leben.« Aber immer, wenn die Welle zu steil und zu rasch ansteigt, fällt sie um so kataraktischer zurück. Und so wie in unserer Zeit gerade die neuen Errungenschaften, die Wunder der Technik, die Vervollkommnung der Organisation in die fürchterlichsten Faktoren der Zerstörung, so verwandeln sich die Elemente der Renaissance und des Humanismus, die heilsam erschienen, in mörderisches Gift. Die Reformation, die in Europa einen neuen Geist der Christlichkeit zu geben träumte, zeitigt die beispiellose Barbarei der Religionskriege, die Druckerpresse verbreitet statt Bildung den Furor Theologicus, statt des Humanismus triumphiert die Intoleranz. In ganz Europa zerfleischt sich jedes Land in mörderischem Bürgerkriege, indes in der neuen Welt sich die Bestialität der Conquistadoren mit einer unüberbietbaren Grausamkeit austobt. Das Zeitalter eines Raffael und Michelangelo, eines Leonardo da Vinci, Dürer und Erasmus fällt zurück in die Untaten eines Attila, eines Dschingis Chan, eines Tamerlan.
Diesen grauenhaften Rückfall aus dem Humanismus in die Bestialität, einen dieser sporadischen Wahnsinnsausbrüche der Menschheit, wie wir ihn heute abermals miterleben, trotz unbeirrbarer geistiger Wachheit und mitfühlendster seelischer Erschütterung völlig ohnmächtig mitansehen zu müssen, bedeutet die eigentliche Tragödie im Leben Montaignes. Er hat den Frieden, die Vernunft, die Konzilianz, die Toleranz, alle diese hohen geistigen Kräfte, denen seine Seele verschworen war, nicht einen Augenblick seines Lebens in seinem Land, in seiner Welt wirksam gesehen. Beim ersten Blick in die Zeit, wie bei seinem Abschiedsblick wendet er sich (wie wir) mit Grauen ab von dem Pandämonium der Wut und des Hasses, das sein Vaterland, das die Menschheit schändet und verstört. Er ist ein halber Knabe, noch nicht älter als fünfzehn Jahre, als vor seinen Augen in Bordeaux der Volksaufstand gegen die »gabelle« (die Salzsteuer) mit einer Unmenschlichkeit niedergeschlagen wird, die ihn selbst zeitlebens zum rasendsten Feind aller Grausamkeit macht. Der Knabe sieht, wie Menschen zu Hunderten mit allen Grausamkeiten, die der schlimmste Instinkt ersinnen kann, vom Leben zum Tode gequält werden, gehängt, gepfählt, gerädert, gevierteilt, enthauptet, verbrannt, er sieht die Raben noch tagelang um die Richtstatt flattern, um sich vom verbrannten und halb verfaulten Fleisch der Opfer zu nähren. Er hört die Schreie der Gepeinigten und muß fühlen, wie der Geruch des verbrannten Fleisches durch die Gassen schwelt. Und kaum der Knabe erwachsen ist, beginnt der Bürgerkrieg, der mit seinen fanatischen Ideologien Frankreich so völlig verwüstet wie heute die sozialen und nationalen Fanatismen die Welt von einem bis zum andern Ende. Die »Chambre Ardente« [der peinliche Gerichtshof, der meist zum Feuertode verurteilte] läßt die Protestanten verbrennen, die Bartholomäusnacht rottet achttausend Menschen aus an einem Tag, die Hugenotten wieder erwidern Verbrechen mit Verbrechen, Wut mit Wut, Grausamkeit mit Grausamkeit; sie stürmen die Kirchen, sie zerschmettern die Statuen, selbst den Toten läßt die Besessenheit keinen Frieden, und die Gräber Richard Löwenherz’ und Wilhelm des Eroberers werden aufgerissen und geplündert. Von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt ziehen die Truppen, bald die katholischen, bald die hugenottischen, aber immer Franzosen gegen Franzosen, Bürger gegen Bürger, und keine Partei der andern nachgebend in ihrer überreizten Bestialität. Ganze gefangene Garnisonen werden niedergemacht vom ersten bis zum letzten Mann, die Flüsse verpestet durch die niederschwemmenden Leichen, auf 120000 werden die Dörfer geschätzt, die vernichtet und geplündert werden, und bald löst das Morden sich los von seinem ideellen Vorwand. Bewaffnete Banden überfallen die Schlösser und die Reisenden, gleichgültig ob Protestanten oder Katholiken, ein Ritt durch einen nachbarlichen Wald vor dem Haus ist nicht weniger gefährlich als eine Fahrt ins Neue Indien oder zu den Kannibalen. Niemand weiß mehr, ob sein Haus ihm gehört und seine Habe, ob er morgen noch leben wird oder tot sein, gefangen oder frei, und als alter Mann, am Ende seines Lebens, 1588, schreibt Montaigne: »En cette confusion où nous sommes depuis trente ans, tout homme français [,soit en particulier, soit en géneral,] se voit à chaque heure sur le point d’entier renversement de sa fortune.« [In dieser Verwirrung, in der wir uns seit dreißig Jahren befinden, sieht sich jeder Franzose (sei es als einzelner, sei es in der Allgemeinheit) stündlich einer Lage gegenüber, die eine völlige Umkehrung seines Schicksals bedeuten kann.]
Es gibt keine Sicherheit mehr auf Erden: dieses Grundgefühl wird sich in Montaignes geistiger Anschauung notwendigerweise ins Geistige spiegeln, und man muß darum suchen, sie außerhalb dieser Welt zu finden, abseits seines Vaterlandes und jenseits der Zeit, sofern man sich weigert mitzutoben im Chor der Besessenen und mitzumorden, sein eigenes Vaterland, seine eigene Welt. Wie die humanen Menschen in jener Zeit gefühlt – grauenhaft ähnlich unserem eigenen Empfinden – bezeugt das Gedicht, das La Boétie 1560 an Montaigne, seinen siebenundzwanzigjährigen Freund richtet und in dem er ihn anruft: »Was für ein Schicksal hat uns gerade in diesen Zeiten geboren sein lassen! Der Untergang meines Landes liegt vor meinen Augen, und ich sehe keinen anderen Weg als auszuwandern, mein Haus zu verlassen und zu gehen, wohin immer mich das Schicksal trägt. Lange schon hat der Zorn der Götter mich gemahnt zu fliehen, indem er mir die weiten und offenen Länder jenseits des Ozeans wies. Wenn an der Schwelle unseres Jahrhunderts eine neue Welt aus den Wogen erstand, so war es, weil die Götter sie bestimmten als ein Refugium, wo die Menschen frei unter einem besseren Himmel ihr Feld bestellen sollten, indes das grausame Schwert und eine schmachvolle Plage Europa zum Untergang verdammt.«
In solchen Epochen, da die Edelwerte des Lebens, da alles, was unser Dasein reiner, schöner, berechtigter und sinnvoll macht, da unser Friede, unsere Selbständigkeit, unser eingeborenes Recht aufgeopfert werden der Besessenheit eines Dutzends von Fanatikern und Ideologien, münden alle Probleme für den Menschen, der seine Menschlichkeit nicht an die Zeit verlieren will, in ein einziges: wie bleibe ich frei? Wie bewahre ich trotz aller Drohungen und Gefahren mir inmitten der Tollwut der Parteien die unbestechliche Klarheit des Geistes, wie die Humanität des Herzens unverstört inmitten der Bestialität? Wie entziehe ich mich den tyrannischen Forderungen, die Staat oder Kirche oder Politik mir wider meinen Willen aufzwingen wollen? Wie wehre ich mich dagegen, nicht weiter zu gehen in meinen Mitteilungen und meinen Handlungen, als mein innerstes Ich innerlich will? Wie entziehe ich diese einzige, einmalige Parzelle meines Ich, die in einem einmaligen Winkel mir das Weltall spiegelt, gegen die Einstellung auf das reglementierte und das von außen dekretierte Maß? Wie bewahre ich meine ureigenste Seele und ihre nur mir gehörige Materie, meinen Körper, meine Gesundheit, meine Nerven, meine Gedanken, meine Gefühle vor der Gefahr, fremdem Wahn und fremden Interessen aufgeopfert zu werden?
An diese Frage und an sie allein hat Montaigne sein Leben und alle Kraft und Mühe und Kunst und Weisheit gewandt. Um dieser Freiheit willen hat er sich beobachtet, überwacht, geprüft und getadelt in jeder Bewegung und in jedem Gefühl. Und dies sein Suchen und Mühen um die seelische Rettung, um die Rettung der Freiheit in einer Zeit der allgemeinen Servilität an Ideologien und Parteien macht ihn uns heute brüderlich wie jeden andern; wenn wir ihn als Künstler lieben und vor allem ehren, so geschieht es darum, weil er wie keiner der höchsten Kunst des Lebens sich hingegeben: »le plus grand art: rester soi-même« [der größten Kunst: sich selbst zu bewahren]. Andere, ruhigere und friedlichere Zeiten haben die geistige, die literarische, die moralische, die psychologische Nachlassenschaft Montaignes aus einem anderen Gesichtswinkel betrachtet; sie haben gelehrt darüber gestritten, ob er Skeptiker gewesen oder Christ, Epikuräer oder Stoiker, Philosoph oder Amüseur, Schriftsteller oder bloß genialer Dilettant. In Doktorthesen und gelehrten Abhandlungen sind seine Anschauungen über Erziehung, Religion auf das sorglichste seziert und doziert worden. Mich aber berührt und beschäftigt an Montaigne heute nur dies, wie er in einer Zeit ähnlich der unseren sich innerlich freigemacht und wie wir, indem wir ihn lesen, uns an seinem Sinne bestärken. Ich sehe ihn als Erzvater, Schutzpatron und Freund jedes »homme libre« [freien Menschen] auf Erden, als den besten Lehrer dieser neuen und doch ewigen Wissenschaft, sich selbst zu bewahren gegen alle und alles. Wenige Menschen auf Erden haben ehrlicher und erbitterter darum gerungen, ihr innerstes Ich, ihre »essence« unvermischbar und unbeeinflußbar vom trüben und giftigen Schaum der Zeiterregung zu halten, und wenigen ist es gelungen, dieses innerste Ich vor ihrer Zeit zu retten für alle Zeiten.
Dieser Kampf Montaignes um die Wahrung der inneren Freiheit, der vielleicht bewußteste und zäheste, den je ein geistiger Mensch geführt, hat äußerlich nicht das geringste Pathetische oder Heroische an sich. Es wäre künstlich, Montaigne in die Reihe der Dichter und der Denker einzureihen, die mit ihrem Wort für die »Freiheit der Menschheit« gekämpft haben. Er hat nichts von den rollenden Tiraden und dem schönen Schwung eines Schiller oder Lord Byron, nichts von der Aggressivität eines Voltaire. Er hätte gelächelt über den Gedanken, etwas so Persönliches wie innere Freiheit auf andere Menschen oder gar Massen übertragen zu wollen, und die professionellen Weltverbesserer, die Theoretiker und Überzeugungsverschleißer hat er aus dem innersten Grunde seiner Seele gehaßt. Er wußte zu gut, eine wie ungeheure Aufgabe schon dies allein bedeutet, in sich selbst die innere Selbständigkeit zu bewahren. So beschränkt sich sein Kampf ausschließlich auf die Defensive, auf die Verteidigung jener innersten Schanze, die Goethe die »Zitadelle« nennt und zu der kein Mensch einem andern Zutritt verstattet. Seine Taktik und Technik war, im Äußeren möglichst unauffällig und unscheinbar zu bleiben, mit einer Art Tarnkappe durch die Welt zu gehen, um den Weg zu sich selbst zu finden.