Mord hält jung - Thomas Knauf - E-Book

Mord hält jung E-Book

Thomas Knauf

4,9

  • Herausgeber: BeBra Verlag
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Ein neuer spannender Fall für den kauzigen Privatschnüffler vom Prenzlauer Berg und seinen Hund Seneca: John Klein hat einen miesen Job angenommen: Er soll den halbwüchsigen Sohn eines Nachbarn beaufsichtigen, während der Vater in Südfrankreich einen Film dreht. Der Junge bringt den Detektiv an die Grenzen seiner nervlichen Belastbarkeit. John würde am liebsten alles hinschmeißen, da erhält er einen unverhofften Anruf: Lotti Rogall meldet sich aus dem Altersheim am Weinbergsweg. Dort sind in den letzten Monaten ungewöhnlich viele Pf legebedürftige eines überraschenden Todes gestorben. Die alte Dame fürchtet um ihr Leben … Berlin und seine Kieze - ob Neukölln, Friedrichshain oder Prenzlauer Berg - Sie alle bieten in unserer Reihe "Kiezkrimis" eine spannende Kulisse, vor welcher die zum Teil kauzig-symphatischen Kommissare ermitteln. Lesen Sie doch mal rein: Thomas Knauf "Prenzlauer Berg Krimis", Krause und Winckelkopf "Friedrichshain Krimis" oder Christoph Spielbergs "Neuköllnkrimi" Berliner Weiße mit Schuss

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Thomas Knauf

Mord hält jung

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2014

© der Originalausgabe:berlin.krimi.verlag im be.bra verlag GmbH, Berlin-Brandenburg, 2013KulturBrauerei Haus 2Schönhauser Allee 3710435 [email protected]: Gabriele Dietz, BerlinUmschlag: Ansichtssache, Berlin, unter Verwendung eines Fotos von Geraldine Boissiere, BerlinISBN 978-3-8393-6132-0 (epub)ISBN 978-3-89809-532-7 (print)

www.bebraverlag.de

»Sie sind da und sind doch nicht da.«Heraklit

»Wer verliert, gewinnt!«Jean-Paul Sartre

Kurz & Klein

Wäre er als Preuße geboren, könnte er diese Ansammlung von Dörfern, Berlin genannt, aus Pflichtgefühl lieben. Als Sachse aber betrachtete er die Dinge je nach ihrem Gebrauchswert positiv oder negativ, in diesem Fall sowohl als auch: Wenn schon Provinz, dann Berlin.

Inzwischen war John Klein ein echter Spree-Athener geworden, wie Nante, der Eckensteher, und Harald Juhnke, der geniale Trinker, als Kriminalbeamter stand er jedoch dem Hauptmann von Köpenick und Franz Biberkopf näher. Wie sie hatte er eine Karriere nach unten gemacht und war als Ermittler bei der Vermisstenstelle gelandet. Vor die Wahl gestellt zwischen Entzugsklinik und Selbstständigkeit, entschied er sich für Letzteres, da Berlin mehr Kneipen besitzt als Privatdetektive. Im Prenzlauer Berg waren er und sein fünfzehn Jahre jüngerer Partner konkurrenzlos, seit andere Detekteien den lukrativeren Sicherheitsdienst vorzogen.

Zuerst hielten die Bewohner der Metzer Straße die Firma Kurz & Klein für ein Abrissunternehmen oder eine Änderungsschneiderei. Dass sein westdeutscher Partner schwul war, er hingegen Ostalgiker und leicht homophob, störte ihre Teilhaberschaft nicht im Geringsten. Von gelegentlichen sprachlichen Missverständnissen abgesehen – 9 Uhr 45 war für Kurz Viertel vor zehn, für Klein dreiviertel zehn, eine Tasse Kaffee für ihn eine Tasse Kaffee und nicht Latte oder Café Olé –, waren der übergewichtige Melancholiker und das schmalbrüstige Nervenbündel ein ideales Paar. Jeder hatte sein eigenes Ressort. Kurz die Kredit- und Versicherungsbetrüger, Steuerhinterzieher und Urkundenfälscher, Klein die eher delikaten Fälle wie Ehebruch, Erpressung, Wiederbeschaffung entlaufener Hunde, Katzen und anderen Getiers. Alles in allem eine Tätigkeit mit niedrigem Stressfaktor und gleitender Arbeitszeit.

John Kleins Welt war wie sein Name, überschaubar und geläufig – die Gegend um den Kollwitzplatz von Ecke Schönhauser, wo das Leben nach Currywurst und Benzin schmeckt, bis Bötzow-Eck und Nikolai-Friedhof, wo der Hund begraben ist. Ein Bermuda-Dreieck gescheiterter Existenzen und provinzieller Selbstdarsteller, umweht vom Mythos falscher Legenden, seit am Wasserturm die Freibeuterflagge der Besitzständler wehte. Zu denen John Klein nicht gehörte; er wohnte seit zwanzig Jahren zur Miete im selben Haus, besaß zwei Anzüge von der Stange, ein Bankkonto ohne Dispo und einen Hund namens Seneca. Wie der andalusische Straßenköter ließ sein Herr sich ungern an die Leine legen oder herumkommandieren, was nicht nur die störte, die einiges auf dem Kerbholz hatten, sondern ihm auch beruflichen und privaten Ärger einbrachte.

Eile war für den Detektiv ein Fremdwort, Weile eine andere Form der Bewegung. John Klein fand, dass er als DDR-Polizist genug im Kreis gerannt war und als LKA-Ermittler oft genug in die falsche Richtung. Der Erfolg des Privatdetektivs fußt nicht auf Schnelligkeit, vielmehr auf Intuition und Überlegtheit. Der Rest ist Erfahrung und die Fähigkeit, jedes vorschnelle Urteil über Mensch und Dinge anzuzweifeln. Darin konnte John Klein nach dreißig Dienstjahren so leicht niemand etwas vormachen, nur er sich selbst. Denn ein Irrtum des Stoikers ist es, zu meinen: »Nichts kann mir passieren, was mir im Traum nicht längst passiert ist.«

*

Die Tage kamen und gingen. Noch vergaß sie nicht, welches Jahr war und dass ihr Geburtstag diesmal mit Jesus Auferstehung zusammenfiel. Ein Grund mehr für die überzeugte Atheistin, ihn zu vergessen. Alles, woran sie einmal geglaubt hatte, war sang- und klanglos untergegangen, aus und vorbei. Ein abgeschlossenes Kapitel für die Geschichtsbücher, in denen ihr Name nicht vorkam. Zwar hieß es bei Bertolt Brecht: »Wenn die Wunde nicht mehr schmerzt, schmerzt die Narbe«, doch Wehleidigkeit war noch nie ihre Sache gewesen. Sie hielt mehr aus als ihre Ehemänner, die so jämmerlich gestorben waren wie das Land, für das sie sich kaputt gemacht hatten. Doch wozu war sie noch am Leben, wenn jeder neue Tag wie ein Abziehbild des gestrigen war; wenn niemand mehr die alten Lieder sang, ausgenommen »Vorwärts und nicht vergessen …« – der blanke Hohn, wenn der Seniorenverein ihrer Partei es anstimmte. Darum hörte sie lieber das Lied vom Leiermann aus Schuberts Winterreise und machte sich jeden Tag schön für das Rendezvous mit dem, der irgendwann an ihre Tür klopfen würde. Sie würde ihn willkommen heißen und eine Partie Hölle mit ihm spielen, bevor er sie zur Braut nahm.

Seit Jahren wartete sie vergebens auf den Herrn, den sie einen Meister aus Deutschland nannten, obwohl Pünktlichkeit nicht seine Tugend war. Entweder kam er zu früh oder zu spät und nie, so man ihn rief. Selbst wenn er sich ankündigte, gab er sich oft launisch aus Respekt vor den Errungenschaften der Medizin oder er ließ sich grundlos entschuldigen. Ihm auf die Sprünge zu helfen, kam für sie nicht in Frage, denn weder fühlte sie sich enttäuscht noch einsam oder sterbenskrank, nur tödlich gelangweilt. Die tägliche Wiederholung des Immerselben, Rituale statt Ereignisse, Wohlfühlatmosphäre ohne Gehirntraining – zum Verrücktwerden. Ihr Leben lang hatte sie gern im Kollektiv gearbeitet und gefeiert, jetzt wollte sie allein sein und konnte es nicht, weil sie es nie gelernt hatte. Ins Heim zu gehen war eine Entscheidung, die ihr aufgezwungen wurde. Deshalb hasste sie es, unter Leuten zu sein, die gern hier waren oder wie sie keine Wahl hatten.

Ein alter Mensch im Haus ist ein Segen. Zumindest war es so, als Jung und Alt noch unter einem Dach wohnten, aufeinander angewiesen waren und einander wenn schon nicht wirklich verstanden, so doch respektierten. Als das Wissen und die Erfahrung eines langen Lebens noch einen Wert an sich darstellte, der durch mündliche Weitergabe erfolgte und nicht durch Ratgeber, Fernsehen oder Internet, waren die Alten so etwas wie eine geschätzte Hausbibliothek und obendrein nützliche, weil unbezahlte Hilfe im Alltag. Ein Haus, in dem nur Alte leben, ist ein verfluchtes Haus. Man soll es tunlichst meiden, Fenster und Türen verbarrikadieren, um den Modergeruch des schleichenden Todes von sich fernzuhalten, es am besten niederbrennen.

Edith Jacobi wusste, wovon sie redete. Sie lebte in einem Altersheim in Mitte mit zweihundert mehr oder weniger munteren Greisen, die, anstatt auf ihren Zimmern zu bleiben, sich der Gnade sorgenfreien Daseins hinzugeben und das Alleinsein mit sich als höchst unterhaltsamen Film zu genießen, den ganzen Tag wie aufgezogene Roboter umhertrippelten, Pirouetten im Rollstuhl drehten oder auf den Fluren herumstanden wie bestellt und nicht abgeholt. Anstatt höflich schweigend der Sisyphusarbeit des Personals zuzusehen und nur zu reden, wenn man gefragt wird, nervten manche, längst nicht nur Frauen, mit endlosem Geschwätz, vorgetäuschten Beschwerden oder bloßer Anwesenheit, die ihnen umso unerträglicher erschien, je weniger sie sich damit abfinden konnten, alt und nutzlos zu sein. Diejenigen, die beizeiten gelernt hatten, sich selbst zu genügen und die Gemeinschaft der anderen nicht zum Teilhaber ihrer Langeweile zu machen, wurden als unsozial, eingebildet und den kollektiven Geist des Hauses vergiftende Einzelgänger gescholten, mitunter regelrecht gehasst und durch Gemeinheiten wie das Verweigern eines Sitzplatzes beim Essen, Stehlen ihrer Zeitung aus dem Postfach, grundlose Beschwerden bei der Heimleitung und ähnliche Kindereien gemobbt.

Sie ertrug die tägliche Zumutung, als unnütze Person unter Nutzlosen zu leben, mit preußischer Disziplin und Würde. Sie hielt sich aus dem Theater der Grausamkeit heraus, spielte die Rolle der stummen Kattrin im Krieg der Veteranen um ständige Aufmerksamkeit, falsches Mitleid, treue Gefolgschaft oder eine höhere Pflegestufe und zog sich zurück, sobald das Greisengemurmel zum Sirenengeheul anschwoll. An kulturellen Bespaßungen wie Diavorträgen über Ostpreußen, Sudetenland und Schlesien, UFA-Filmen aus Willi Schwabes Rumpelkammer, Volksmusik zum Mitschunkeln, Lesungen zum Einschlafen nahm sie nur anfangs und widerwillig teil, an Schnupperkursen für Kreuzfahrten, Seniorenmodenschauen und Tombolas für Jubilare nie. Da schaute sie lieber auf ihrem Zimmer den neuesten Tatort oder zum hundertsten Mal eine Doku über Galapagos-Schildkröten. Mit sich ist man nie allein, sagte sie sich, doch immer öfter kam ihr der Verdacht, dass Fernsehen nicht bildet, sondern dumm macht, weil Sehen und Hören ohne Mittun doch nur reine Beschäftigungstherapie ist. Eine andere, nicht weniger schlimme Form von Folter, die dem zur Untätigkeit Verdammten bewusst macht, dass er zum alten Eisen gehört, aber nicht rosten soll, um ihn als Zuzahler der Pflegekosten zu behalten. Um dieser letzten Bürgerpflicht zu entgehen, hatte Edith sich lange geweigert, ins Heim zu ziehen. Doch die Miete für ihre Zweiraumwohnung am Pankower Bürgerpark war zuletzt schneller gestiegen als ihre Rente und die Bank ihres Vertrauens hatte ihre gesamten Ersparnisse mit Aktien der Telekom verzockt.

Die promovierte Chemikerin wusste, der Mensch ist zu sechzig Prozent aus Wasser gemacht. Das Grundelement des Lebens besitzt ein Gedächtnis und die Kraft, Berge zu versetzen. Wenn das Wasser sich in den Beinen sammelt und im Herzen staut, wird es zum Elixier des Teufels. An ihn glaubte Edith Jacobi so wenig wie an Gott, seit ihre beiden Brüder noch in den letzten Tagen des Krieges den Heldentod starben, der Vater als vermisst galt und die Mutter den Verstand verlor. Damit nie wieder solch Unheil über Deutschland kommt, trat sie in die FDJ ein, studierte an der Arbeiter- und Bauernfakultät und baute die DDR-Chemieindustrie mit auf. Bis zuletzt forschte sie vergebens nach der Zauberformel für Wohlstand durch Chemie ohne Erdöl. Mit dem Ende der DDR begann für sie die Zeit des Nachdenkens über die Formel des Glücks. Sie fand sie als Großmutter zweier Enkel, auf die sie stolz war. Doch aus Kindern werden Erwachsene, die in die Welt hinausziehen und keine Zeit mehr für Oma haben. So blieb sie nach dem Tod ihres letzten Mannes für sich und kämpfte seitdem mit chemischen Keulen gegen Altersdepression. Ansonsten war sie mit ihren achtzig Jahren kerngesund. Sie hörte alles, was über sie getuschelt wurde, und sah mehr, als ihr lieb war. Ihr Verstand litt nicht, wie bei den meisten Heiminsassen, unter schleichender Amnesie, im Gegenteil. Sie konnte nichts vergessen, keine noch so kleine Niedertracht des Personals vom Vortag, kein böses Wort von Kollegen, das vor Jahrzehnten fiel, erst recht nicht die Schreckensbilder der Kindheit. Wie beneidete sie jene, die mit der Gnade der Vergesslichkeit gesegnet waren. Für Edith Jacobi war das Leben ein Film, dessen Szenen sie nach Belieben abspulen konnte, obwohl die Chemie der Erinnerung die Dinge in ständig neuem Licht erschienen ließ, monströser und geheimnisvoller, als sie tatsächlich gewesen waren. Die Gegenwart hatte für Edith nichts zu bieten als tägliche Wiederholung eingeübter Rituale, eine Endlosschleife an Banalitäten, deren größte Demütigung die allmorgendliche Frage des Pflegepersonals war: »Na, wie geht es uns heute?«

Kurz vor dem Aufwachen hatte John Klein einen seltsamen Traum. Er war in Paris und aß mit seinem Vater im La Coupole. »Lass uns gehen! Die Preise sind hier höher als die Kuppel im Invalidendom«, sagte John, als er die Speisekarte durchblätterte. »Du wolltest unbedingt mit mir nach Paris und wissen, wo es mir damals am besten gefallen hat«, erwiderte der Vater und bestellte zweimal Cordon Bleu, dazu eine Flasche Gigondas Jahrgang 2001. Worüber sie beim Essen sprachen, daran erinnerte sich John nicht. Vermutlich schwiegen sie, wie meistens, wenn sie einander gegenübersaßen. Als der Kellner die Rechnung brachte, sagte der Vater: »C’est pour moi, Monsieur«, schob seine Brille in die Stirn und wurde blass. Dann krempelte er seinen linken Ärmel hoch, um dem Kellner zu zeigen, dass dort keine Blutgruppe eintätowiert war. »Je n’étais pas chez le SS, j’étais soldat de la Wehrmacht«, stotterte der Vater und zog seine Kreditkarte aus der Brieftasche. Der Kellner änderte die Summe auf der Rechnung und zog die Karte durch das Lesegerät. John warf einen Blick auf den Beleg. Dort stand eine Abbuchung von glatten 500.000 Euro. Als sie das Lokal verließen, wollte John wissen, wieso er diese unverschämte Summe ohne zu murren beglichen und sich auch noch bedankt hatte. »Sei doch froh!«, meinte der Vater. »Wäre ich damals zur SS eingezogen worden, hätte ich eine Million für dieses miserable Essen zahlen müssen. Wenigstens der Wein war so gut wie damals.«

Während er sich rasierte, sah John im Spiegel das Gesicht seines Vaters. Vor fünf Jahren war sein alter Herr gestorben, ohne ernstlich krank zu sein oder sich etwas anzutun, einfach so. In einem Abschiedsbrief schrieb er: »Ich gehe, bevor ich zum Pflegefall werde und dir auf der Tasche liege. Alle Rechnungen sind bezahlt, die Kosten der Beerdigung auch. Mach’s gut, Junge! Und kauf dir vom restlichen Geld einen ordentlichen Anzug.«

Obwohl Vaters Ersparnisse für zwei Maßanzüge gereicht hätten, tat John ihm nicht den Gefallen, sondern zahlte damit seine Beitragsschulden beim Berufsverband der Privatdetektive. Was der Vater ihm sonst noch hinterließ, passte in eine Aktentasche: Sein Werkzeugkasten mit Hammer, Zollstock, Kombizange, Schraubenziehern und -schlüsseln; seine Glashütte-Armbanduhr; eine Zigarrenkiste der Marke »Sprachlos« voller Abzeichen, Anstecknadeln und Aktivistenorden aus dem VEB Chemische Werke BUNA; eine Leica Baujahr 1938 und vier Fotoalben vom Krieg. Darunter Vaters Eroberung Frankreichs mit poetischen Bildkommentaren wie »In Paris sind die Mädels so süß« oder »Wir leben wie Gott in Frankreich«. Weil er als Kind wieder und wieder die Fotos von lachenden und wachenden deutschen Soldaten anschaute, verstand John nie, warum sein alter Herr nicht über den Krieg sprach und nicht begeistert war, als der Sohn zum Wehrdienst in der Nationalen Volksarmee einrückte. Dass er danach zur Kripo ging, gefiel dem Vater ebenso wenig. Er war der Meinung, das sei kein ordentlicher Beruf. Recht hatte er. Wer täglich mit Schwerverbrechern zu tun hat, vergisst leicht den Unterschied zwischen Gut und Böse. Obwohl John ein harter Hund wurde, verlor er nicht das Gefühl für Recht und Unrecht und tadelte Kollegen, die aus Frust oder Größenwahn ihre vom Staat verliehene Machtbefugnis ausnutzten. Das brachte ihm eine Menge Ärger ein, den er mit viel Schnaps hinunterspülte. So machte er eine Karriere nach unten ins Fundbüro, wo er die Karteileichen der Berliner Vermisstenstelle sortierte. Er hätte mit fünfundfünfzig in den Vorruhestand gehen sollen, statt sich selbstständig zu machen und weniger als die unterste Beamtenrente zu verdienen. Doch wie Hans Klein wollte er nicht enden: als fernsehsüchtiger Stubenhocker mit chronischer Altersdepression und Appetitlosigkeit. Solange der Mensch eine Aufgabe hat, die ihn nicht bloß ernährt, gibt er nicht auf. Sich mit Anstand zu langweilen hatte John nie gelernt. Deshalb betrachtete er auch Nichtstun als Tun, ging jeden Tag in sein Büro in der Metzer Straße und hoffte, dass jemand seine Dienste in Anspruch nehmen würde, für die er weit weniger als die Tarife der großen Detekteien verlangte.

Nachdem er glattrasiert und in Schale geworfen den morgendlichen Gang mit seinem Hund Seneca zum Kollwitz-Bäcker in der Sredzkistraße beendet, dort einen Becher Kaffee getrunken und eine Zigarette geraucht hatte, überkam ihn die Frühjahrsmüdigkeit. Für gewöhnlich war er erst am Nachmittag müde. Vielleicht lag es heute daran, dass er die Zeitung las, weil niemand ihm bei dem lausigen Wetter im Freien Gesellschaft leistete. Raucher sterben einsam, aber nicht an Grippe. Dagegen war John immun, seit er einen Hund hatte und täglich bei Wind und Wetter durch den Prenzlauer Berg flanierte. Doch diesen 8. März, der so unromantisch war wie eine Frauentagsfeier im Altersheim, konnte er vergessen. Wie in den Wochen zuvor würde ihn auch heute niemand anrufen und bitten, den entlaufenen Ehemann, die Ehefrau oder den Wellensittich wiederzubeschaffen. Trotzdem ging John Klein aus preußischem Pflichtbewusstsein oder purer Gewohnheit ins Büro und harrte der Dinge, die sich tun würden oder eben nicht. Hätte er geahnt, dass etwas auf ihn zukam, was sein sicheres Gefühl von Gut und Böse dermaßen in Frage stellte, er wäre noch am selben Tag in Rente gegangen.

Lotti Frohwein hatte Angst. Das dumpfe Gefühl, das durch ihren Körper rollte und den Puls immer schneller schlagen ließ, kannte sie seit der Kindheit. An ihrem vierten Geburtstag hatten die Eltern sie bei den Nachbarn abgegeben mit der Begründung, sie müssten dringend wegfahren und könnten sie leider nicht mitnehmen, weil sie zu klein sei für eine so anstrengende Reise. Bis zu ihrer Rückkehr in ein paar Wochen dürfe sie die Wohnung der Nachbarn nicht verlassen. Lotti war ein stilles Kind und stellte keine Fragen, wenn Erwachsene schwiegen. Die Nachbarn, die das Mädchen bei sich versteckten, brachten vor Angst kaum noch ein Wort heraus, flüsterten oder gestikulierten, sie solle sich mucksmäuschenstill verhalten, wenn sie bei Fliegeralarm in den Keller gingen. Nach zwei Jahren Stubenarrest hatte sie verlernt zu sprechen, redete nur noch mit den Händen.

Nach Kriegsende kam Lotti in ein Heim für taubstumme Kinder und erlernte die Gebärdensprache. Als sie ihre erste Monatsblutung bekam, rief das stumme Mädchen laut nach ihrer Mama. Dass die Eltern in Ravensbrück umgekommen waren und der Rest der Familie ins Ausland entkam, erfuhr es erst Jahre später durch ein behördliches Schreiben. Im Unterricht an einer Berliner Gehörlosenschule sprach Lotti nie darüber, sondern erklärte den Mitschülern, dass im Kommunismus die Angst für immer abgeschafft wird. Als man ihren Verlobten wegen antisowjetischer Hetze abholte und sie ihn nicht im Gefängnis besuchen durfte, trat sie aus der Partei aus. Damit war sie für die DDR-Volksbildung untragbar, aber als Spracherkennerin im Staatlichen Filmarchiv für die Restaurierung von Filmkopien ohne Ton von Nutzen. Das Kino wurde ihre große Liebe, obwohl auch im Film die Dinge nicht immer gut ausgehen, die Angst als überlebensgroßer Schatten durch dunkle Säle rast.

Lotti brauchte sich dem kollektiven Erlebnis von Furcht und Erlösung nicht auszusetzen. Bevor die Filme auf die Leinwand kamen, gingen sie durch ihre flinken Hände, brachten ihr als Synchronschnittmeisterin der DEFA Ehre und Anerkennung ein. Bis zur Rente setzte sie bei der Firma Geyer Bilder und Töne gerissener Filme neu zusammen, dann riss der Film ihres Lebens abrupt und ließ sich nicht mehr kleben. Seit fünf Jahren gehörte sie zum Inventar des Altersheims und wartete auf das Ende des Abspanns, wo eine Lochstanze im Bild dem Filmvorführer das Zeichen gibt, das Licht im Saal einzuschalten. Vor diesem Moment ängstigte Lotti sich wie damals, als man sie bei nächtlichen Bombenangriffen allein in der Wohnung ließ, damit sie nicht als Judenbalg erkannt wurde.

Weil der Kommunismus nicht gesiegt hatte, wurde die Angst nicht abgeschafft; sie nahm sogar zu, je besser es ihr ging, je länger sie lebte. Im Heim redeten sie nur von Krankheit und Tod, statt, wie es sich für Alte gehört, mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Für Lotti lag das Geheimnis des Alters darin, sich nicht zu langweilen und anderen nicht auf die Nerven zu fallen. Schon lange interessierte sie die Realität nur durch die Brille des Kinos. Von früh bis spät konnte sie sich Filme auf DVD anschauen und wurde nicht müde, über jede nicht lippensynchrone Stelle, jeden Anschlussfehler genauestens Buch zu führen. Kein Mensch kann alle Filme, die je gedreht wurden, gesehen haben, doch Lotti versuchte, wenigstens so viele wie möglich anzuschauen. Mit etwas Glück und eiserner Disziplin blieben der Vierundsiebzigjährigen zehn oder fünfzehn Jahre, in denen sie täglich bis zu fünf Werke der Filmkunst erleben konnte.

Die Sorge des Pflegepersonals, dass sie sich die Augen und verdarb und ihr Verstand einrostete, wenn sie sich der Gemeinschaft entzog, empfand Lotti als ebenso lästig wie die ständige Aufforderung, am Gottesdienst teilzunehmen. Sie verachtete den himmlischen Herrn, dem der Tod ihrer Eltern und Millionen anderer Juden gleichgültig war. Lieber wollte sie noch lange im selben Haus mit ehemaligen Hitlerjungen und BDM-Mädels wohnen, als ihm im Jenseits zu begegnen. In letzter Zeit wuchs die Angst, der Allmächtige könne sie vorzeitig zu sich rufen. Häufiger als gewöhnlich kam der Bestatter ins Haus am Weinbergsweg, um eine neue Leiche abzuholen. In dieser Woche schon zum zweiten Mal. Alle Verstorbenen hatten krumme Finger vom Beten und waren, soweit sie es beurteilen konnte, nicht sterbenskrank gewesen. Es musste einen anderen Grund haben, dass sie plötzlich schlapp gemacht hatten, dachte Lotti und schlief nachts noch schlechter als sonst. Sie wusste aus der Presse, dass in deutschen Pflegeheimen etliche Alte aus unnatürlichen Gründen starben. Sofern sie nicht prominent oder vermögend waren, kümmerte sich die Polizei kaum um diese Fälle oder nur zögerlich. Sie könnte das nächste Opfer eines »weißen Engels« sein, der jammernde Greise von ihren Leiden erlösen will. Da sie nicht prominent war und obwohl sie nie klagte und niemandem zur Last fiel, bangte sie um ihr Leben. Wegen der Filme, die sie noch nicht gesehen hatte, und weil sie sich vor der Dunkelheit fürchtete.

*

Die Türklingel riss John aus seinem Mittagsnickerchen. Da kein Klient für heute angemeldet war, konnte es nur sein Partner sein, der vorzeitig aus seinem Urlaub zurückgekommen war und mal wieder seinen Büroschlüssel versimst hatte. Deshalb ging John ohne Eile zur Tür, um zum Hörer der Sprechanlage zu greifen. Auf halbem Weg klingelte es erneut. John schwoll der Kamm.

»Verzieh dich! Ich habe Damenbesuch.«

»Hallo! Sind Sie nicht der Detektiv?«

»Äh, der bin ich«, räusperte sich Klein. »Wer ist denn da?«

»Mein Name ist Schöndorfer. Ich wohne im Vorderhaus und wollte Sie in einer privaten Angelegenheit sprechen. Wann kann ich denn heute …«

Bevor der Mann seine Frage beendet hatte, drückte John den Türöffner, zurrte den Knoten seiner zitronengelben Krawatte fest und strich sich die Schuppen vom dunkelbraunen Jackett. Auch wenn er keinen Damenbesuch hatte, wollte er nicht wie ein verpennter Bürohengst aussehen. Der erste Klient seit Wochen sollte nicht den Eindruck bekommen, dass auch die letzte Detektei im Prenzlauer Berg mangels Aufträgen kurz davor war, das Handtuch zu werfen.

Als John die Tür öffnete, kam ihm ein Mann Anfang vierzig entgegen. Er trug einen Northern-Face-Parka und eine Wollmütze mit der Aufschrift Filmfestival München. Ein Nachwuchstalent des deutschen Kinos, dachte John, machte den Weg mit einer artigen Verbeugung frei und ließ den Gast über den roten Teppich im Flur vorangehen.

»Das mit dem Damenbesuch war ein Scherz. Mein Partner verliert ständig seinen Schlüssel und denkt, ich hätte ihn eingesteckt.«

»Meine Frau auch.« Schöndorfer lächelte. »Letzte Woche mussten wir wieder das Türschloss austauschen lassen. Zum dritten Mal.«

»Seit wann wohnen Sie in unserem Haus?«

»Drei Jahre. Aber die meiste Zeit sind wir beruflich unterwegs oder in unserem Haus in Südfrankreich.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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