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Zwei alte DEFA-Filme, und der Grundstein für eine späte Leidenschaft ist gelegt: Monatelang gelingt es der Kanzlerin, ihre plötzlich erwachte Liebe für den Film geheim zu halten - vor ausländischen Staatschefs und Delegationen, vor Ministern und Mitarbeitern, vor ihrem Mann. Bis ein findiger Journalist herausbekommt, was sich nachts in ihrer Dienstwohnung im Kanzleramt abspielt. Doch allem Argwohn und allen Anfeindungen zum Trotz steht die Kanzlerin zu ihrer Begeisterung, egal, welche persönlichen, politischen und diplomatischen Verwicklungen sich daraus ergeben … Eine vergnügliche Erzählung vom Wandel unserer Regierungschefin durch das Kino.
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Die Nächte der Kanzlerin
Thomas Knauf
Mit Dank an A. B.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Die Russen waren schuld. Ständig schüchterten sie einen mit ihren großen vaterländischen Siegen ein, die stets mehr gekostet als eingebracht hatten. Weil sie die Idee der Freiheit für einen Hund hielten, der bellt, ohne zu beißen, ließen sie sich von jeder Herrschaft, die ihnen Brot und Wodka versprach, an die Kette legen und waren zufrieden, solange es auch ihren Nachbarn schlecht ging.
Kein westliches Staatsoberhaupt verstand sie besser als die deutsche Kanzlerin, da sie Russisch sprach und wusste, wer Wodka predigt, kocht auch nur mit Wasser. Sie wusste, die Herren im Kreml zeigten den Europäern immer zuerst die kalte Schulter, tauten aber auf, sobald man ihre Seele streichelte. Mehr als andere Völker liebten Russen Poesie, Musik und das Theater. Weshalb ihnen Staatsempfänge ohne Kaviar und Kulturprogramm so unmöglich erschienen wie Schlittenfahren ohne Schnee.
Obwohl Wladimir Iljitsch Lenin so viel Mitleid mit seinem Volk hatte wie ein Wissenschaftler mit Laborratten und bourgeoise Belustigungen verabscheute, glaubte das Proletariat seinen Worten, der Film sei die wichtigste aller Künste. Stalin hatte ein mörderisches Verhältnis zu seinen Landsleuten und liebte amerikanische Slapstick-Komödien. Die revolutionären Filme von Sergej Eisenstein bereiteten ihm Kopfschmerzen. Er verstand sie nicht oder zu gut, darum ließ er Die Beschin-Wiese noch vor seiner Fertigstellung vernichten und verfügte, dass Iwan der Schreckliche erst nach seinem Tod das Licht der Leinwand erblicken sollte.
Seit auch die Sowjetmenschen das Fernsehen als Ratgeber in allen Dingen entdeckten, hatte der Film als wichtigste aller Künste ausgedient. Im demokratischen Russland wurden sie ganz wirr im Kopf von mehr schlechten als guten Nachrichten und so apathisch vom Geflimmer bunter Verlockungen, dass sie kaum mehr ins Dom Kino gingen. Die besten Regisseure waren in Hollywood, andere drehten Filme, die sie immer schon machen wollten, die aber keinen interessierten. Am Ende des 20. Jahrhunderts war der Russenfilm die unwichtigste aller Künste. Das beleidigte den Nationalstolz des neuen Präsidenten, der auf die alten Tugenden schwor und nie vergaß, dass man ihn als KGB-Mitarbeiter in Deutschland zu jeder Dresdner Filmpremiere eingeladen hatte.
Deshalb wunderte sich die Kanzlerin auch nicht, dass Wladimir I. bei seinem Besuch auf Schloss Meseberg ein Dreieinhalbstunden-Epos über den Großen Vaterländischen Krieg von Nikita Michalkow mitbrachte, das bei den Filmfestspielen in Cannes nur Kopfschütteln hervorgerufen hatte. Mit dem Familiendrama Die Sonne, die uns täuscht errang der Sohn des Textschöpfers der sowjetischen Nationalhymne den Oscar, mit Die Zitadelle offenbarte er sich als Pyromane der Leinwand. So jedenfalls stand es in Variety, dem Fachblatt Hollywoods, das die Kanzlerin beim Friseur las, um ihr Englisch zu trainieren.
Nach dem Dinner, bei dem sie mit prononciertem, wenngleich lückenhaftem Schulrussisch für Heiterkeit bei den Gästen sorgte, ging es in den Kinosaal, um das Epos über den Großen Vaterländischen Krieg anzuschauen.
Das Thema sei seit dem Ende des Kommunismus schändlich vernachlässigt worden, weil die kriegsentwöhnten jungen Filmkünstler sich mit Vorliebe in alltäglichen, destruktiven Sujets badeten, bedauerte der Kreml-Chef. Umso nötiger sei es, der heutigen Generation das Positive der russischen Geschichte zu vermitteln, damit sie den friedlichen Abzug der Roten Armee aus Osteuropa nicht als Schwäche verstünden.
Die Kanzlerin nickte freundlich und ließ sich in den Sessel fallen, um die dreieinhalbstündige Geschichtslektion rasch hinter sich zu bringen. Sie mochte Kriegsfilme nicht, eigentlich überhaupt keine Filme. Sie liebte Opern, vor allem Wagner, Ballett in Maßen und Musicals nur zu Hause beim Kochen. Eine Kulturkanzlerin wollte sie schon deshalb nicht sein, weil ihr Vorgänger aus Hannover sich gern mit namhaften Künstlern in den Medien zeigte. Darum gab es, solange sie Hausherrin war, von ihr kein Porträt eines Malerfürsten in der Galerie des Kanzleramtes. Jeder wusste schließlich, wie sie aussah, so er fernsah oder Zeitung las, und konnte sich selbst ein Bild machen von der Frau, der niemand zugetraut hatte, die erste deutsche Bundeskanzlerin zu werden. Als sie 1989 von der Wissenschaft in die Politik wechselte, hielt man die Pfarrerstochter aus Templin für eine Kleindarstellerin in dem Film Die Marx-Brothers in der DDR-Volkskammer. Als „mein Mädchen“ von Kanzler Kohl erwuchsen ihr mehr Prügel als Flügel, doch sie hielt durch und lernte von ihrem Ziehvater, dass Politik zuvorderst gnadenloser Machtkampf innerhalb der eigenen Partei ist.
Inzwischen schäumte man oder zog über sie her, um das Unbegreifliche ihres Stehvermögens zu kommentieren. Sie zu bewundern oder gar zu mögen wagte niemand öffentlich, der etwas auf sich hielt. Das höchste der Gefühle: Man zollte ihr Respekt, weil sie mit mehr oder weniger Erfolg die mächtigsten Männer der Welt davon abhielt, diese vollends zu zerstören. Vielleicht kam sie mit dem starken Geschlecht so gut aus, weil sie in einem Land aufgewachsen war, in dem Frauen nicht nur auf dem Papier gleichberechtigt waren und Männer a priori als Menschen und a posteriori als miese oder nette Kerle betrachteten.
Zwanzig Minuten warteten sie nun schon, dass der Film losging. Der Kreml-Chef, momentan in der Nebenrolle des Ministerpräsidenten agierend, nutzte die Zeit, um von den Sowjetfilmen seiner Kindheit zu schwärmen. Die Kanzlerin nickte interessiert, erwähnte Der letzte Schuss, den einzigen Film der „Freunde“, an den sie sich erinnerte. Da war sie vierzehn und vergoss heiße Tränen um den blendend aussehenden weißen Offizier, der von der roten Kommissarin erschossen wird, obwohl sie ihn liebt. Doch das erzählte sie dem Gast aus Moskau nicht.
„Die Vorführung muss leider verschoben werden, der Vorführer hat einen Herzinfarkt erlitten und ist auf dem Weg ins Krankenhaus“, flüsterte die Protokollchefin sichtlich zerknirscht der Kanzlerin ins Ohr.
„Wie furchtbar! Hoffentlich überlebt der Mann.“
Insgeheim war sie froh, um das Heldenepos herumzukommen, doch hatte sie sich zu früh gefreut. Ein Filmvorführer aus Gransee sei bereits auf dem Weg ins Schloss, sagte man ihr.
„Er sieht zwar nicht vertrauenswürdig aus und riecht nach Alkohol, besitzt aber einen noch gültigen Berufsausweis“, versicherte die Protokollchefin.
Mit zweistündiger Verspätung, währenddessen die Delegationen vorab den zur Verdauung des Kriegsschinkens reservierten Beluga-Kaviar im Jagdzimmer löffelten, ging im Saal das Licht aus und das Logo von Mosfilm erschien auf der Leinwand: das sich um sich selbst drehende Standbild eines Arbeiters und einer Bäuerin, die mit ausgestrecktem Arm Hammer und Sichel kreuzen. Die elf Rollen des Films liefen durch den Projektor, aber die Kanzlerin bekam wenig mehr als die Hälfte mit, da sie bei den Kriegsszenen die Augen schloss. Als das Licht im Saal anging, applaudierte sie artig. Der Ministerpräsident ließ den Filmvorführer kommen, reichte ihm ein Glas Krimsekt und fragte nach seinem Namen.
„Menja sawut Jens-Peter Bock“, antwortete der unrasierte, schäbig gekleidete Mann.
Die gesamte Kreml-Delegation strahlte wie der rote Stern auf dem Spasskiturm und drückte dem Vorführer die Hand. Auch die Kanzlerin stieß ihr Sektglas gegen das seine und fragte, woher er stamme.
„Aus Templin. Ich denke, Sie wissen noch, wo das liegt.“
Bevor die Kanzlerin antworten konnte, drängte sich ihre Protokollchefin dazwischen und bat sie nach nebenan ins Jagdzimmer, um den Sieg der ruhmreichen Roten Armee mit dem restlichen Beluga-Kaviar zu feiern.
Der Vorführer durfte sich in der Schlossküche ein Essen auf Staatskosten abholen und über zweihundert Euro zuzüglich sieben Prozent Mehrwertsteuer aus der Staatskasse für seine tadellose Vorführtätigkeit freuen.
Während die Teilnehmer der deutsch-russischen Konsultation noch heftig über Die Zitadelle diskutierten, als ginge es um Krieg und Frieden und nicht um Handel und Wandel, empfahl sich die Kanzlerin: „Sa djewotschki.“ Auf dem Gang verwechselte sie nicht ganz unabsichtlich die Toilettentür mit der zum Vorführraum, wo Jens-Peter Bock gerade die Filmrollen zurückspulte.
„Haben wir nicht zusammen die Schulbank gedrückt auf der EOS in Templin, ‘69 bis ‘73?“
Der Vorführer nickte, wollte aber nur ungern an seine Schulzeit erinnert werden.
„Fast hätten sie dich mitten im Abitur rausgeworfen wegen Jeans und langer Haare“, bohrte die Kanzlerin nach. Der Vorführer nickte wieder. „Ich habe in der FDJ-Leitung für dich gesprochen, weil du in Russisch der Klassenbeste warst.“
„Nach dir … Ihnen. Ich habe immer nur abgeschrieben.“
„Von mir hast du abgeschrieben … ohne mich auch nur einmal anzusehen“, erinnerte sich die Kanzlerin. „Ich war eben nicht so hübsch wie Moni, Tina und Gerti … außerdem schrecklich schüchtern.“
„Wer konnte damals ahnen, dass aus Ihnen mal Miss Germany wird …“
„Wenn schon, dann Misses Germany“, verbesserte die Kanzlerin.
„… nicht mal Genosse Kallweit, unser Staatsbürgerkundelehrer, der die strahlende Zukunft aus der Kaffeetasse lesen konnte, hat vorhergesehen, was aus seiner Musterschülerin wird.“
Die Kanzlerin, an boshafte Kommentare über ihre DDR-Schulzeit gewohnt, konnte der Ironie ihres Mitschülers einiges abgewinnen, war aber nicht gekommen, um über sich zu reden. „Du wolltest zum Film und Regie studieren, oder irre ich mich?“
„Haben mich nicht gelassen, nachdem ich achtzehn Monate in Bautzen einsaß wegen versuchter Republikflucht. Bin ich eben Filmvorführer geworden, aber derzeit arbeitslos, seit Gransee kein Kino mehr hat. Ich kam gerade von einem Filmabend im Kinderheim, als die mich ins Auto zerrten und hierher brachten … Wie und wo und was es sei, hinten, vorne, einerlei. Alles macht der Meister Böck, denn das ist sein Lebenszweck“, zitierte er Wilhelm Busch.
Die Kanzlerin schaute sich die DVDs an, die der Vorführer im Koffer bei sich trug. „Das kalte Herz. Den habe ich gesehen, weil der Sohn unseres Nachbarn mich heimlich mit ins Kino genommen hat“, erinnerte sich die Kanzlerin mit warmem Gefühl und fragte, wo man den DEFA-Märchenfilm kaufen könne.
„Schenk ich Ihnen. Hab noch eine Kopie zu Hause.“ Jens-Peter nahm eine zweite DVD aus dem Koffer und reichte sie seiner ehemaligen Mitschülerin. Sie betrachtete das Cover mit dem Titel Die Geschichte vom kleinen Muck und strahlte, als hätte sie Geburtstag. „Den habe ich nie gesehen.“
Bock ahnte, warum. Damals hatte sie ihm erzählt, dass ihr strenger Vater, Pfarrer in Templin, Filme als pädagogisch zweifelhaft ansah und der Tochter Kinobesuche verboten hatte.
„Fernsehen auch“, fügte die Kanzlerin hinzu. „Bis auf die Sendung Freunde der russischen Sprache. Die lief jeden Mittwoch im zweiten Adlershofer Programm und sollte mich dazu ermutigen, Tolstois Krieg und Frieden im Original zu lesen.“
„Kann ich Ihnen als Film geben. Mächtig viel Krieg und ein bisschen Frieden. Ein Menschenschicksal von Sergej Bondartschuk fand ich besser.“
Gewohnt, Begegnungen mit Menschen ihres Landes kurz und unpersönlich zu halten, hätte die Kanzlerin diesmal gern etwas länger mit dem Schulfreund geplaudert. Doch man suchte im Schloss schon nach ihr, weil der Kreml-Chef ihre Abwesenheit beim Kaviar als Affront missverstehen könnte. Obwohl sie alles Rohe vom Fisch verabscheute, ließ sie sich kurz im Jagdzimmer sehen, klagte aber sogleich über Kopfschmerzen, nicht wegen des russischen Films, sondern wegen des preußischen Wetters, wie sie betonte, und zog sich zurück.
In ihrem Zimmer öffnete sie die Handtasche und las die Klappentexte der DEFA-Märchenfilme mit dem Vertriebslogo, das einen kleinen Eisbären zeigte und nicht sehr originell war – eher lieblos, wie von Leuten, die ein Produkt vertreiben, das sie für minderwertig halten. Um die Filme gleich anzuschauen, war die Kanzlerin zu müde und zu ungeübt im Umgang mit dem DVD-Player.
Höchstens ein Filmereignis pro Jahr war in ihrem randvollen, mit nur wenigen Kulturereignissen geschmückten Terminkalender vorgesehen, und nach dem obligatorischen Russenfilm des Kreml-Chefs heute benötigte sie mindestens ein Jahr Abstinenz. Das dachte sie jedenfalls an diesem Sommerabend im Jahr des Drachen.