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Der neunte Fall für Oda Wagner und Christine Cordes. In Wilhelmshaven verbrennt ein Psychiater in seiner Praxis, auf Wangerooge wird der Inselarzt tot auf dem Friedhof gefunden, und auf Norderney liegt ein Pneumologe erstochen im Strandkorb. Zunächst scheint die Spur ins Drogenmilieu zu führen. Doch dann müssen Oda Wagner und Christine Cordes erkennen, dass ihnen der Täter näher ist, als ihnen lieb sein kann ...
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Seitenzahl: 421
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Christiane Franke lebt gern an der Nordsee, wo ihre bislang vierzehn Romane und ein Großteil ihrer kriminellen Kurzgeschichten spielen; aber auch im Ausland holt sie sich auf Reisen gern Anregungen für die eine oder andere gemeine Tat. Franke ist ebenfalls Herausgeberin von Anthologien, war 2003 für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert und erhielt für 2011 das Stipendium der Insel Juist »Tatort Töwerland«. Mehr unter: www.christianefranke.de
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2017 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Screeny/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-245-8
Küsten Krimi
Originalausgabe
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für meine Eltern –wie schön, dass ich euch beide noch habe!
Er starrte voller Schrecken den Mann an, der vor ihm auf dem Boden lag. Überlegte fieberhaft, was er tun sollte. Weg hier. Den Schaden begrenzen. Kein Mensch könnte sie miteinander in Verbindung bringen. Er lauschte. War da eine Stimme gewesen? Nein. Langsam beruhigte sich sein Atem. Er hockte sich hin. Legte zwei Finger an den Hals des Mannes. Kein Puls.
Nun denn. Er sah sich im Zimmer um. Solange ihn keiner überraschte, würde er finden, was er suchte. Ein Feuer würde sämtliche Spuren auslöschen. Der Damm war gebrochen. Niemand konnte ihn mehr aufhalten. Und am Ende würde er sein Ziel erreichen. Ganz sicher!
»Verdammter Mist«, fluchte Manfred Peters in der Leitzentrale der Feuerwehr, als um zwanzig Uhr die Brandmeldung hereinkam. Er legte das Buch beiseite. Immer wenn es am spannendsten war, kam garantiert ein Einsatz. »Los geht’s, Kollegen«, rief er, doch die waren bereits aufgesprungen. Eilig hastete er hinterher.
Wenige Minuten später fuhren zwei Löschzüge mit Blaulicht und Signalton die Peterstraße hinauf. Bis zum Einsatzort in der Südstadt waren es nur wenige Fahrtminuten.
Schon von Weitem sahen sie die Flammen aus dem ersten Stock des weiß getünchten Altbaus lodern. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite standen etliche Menschen. Einige von ihnen redeten und gestikulierten aufgeregt, zwei Frauen starrten schweigend zum Brand hinauf.
»Sind alle raus?«, rief Peters den Anwohnern zu, während seine Kollegen routiniert begannen, die Schläuche abzurollen, sie an den Hydranten anzuschließen und ins Gebäude zu laufen.
»Ich glaub schon«, erwiderte eine sichtlich schockierte Frau in heller Hose und kurzärmliger Bluse. »Wir haben auf dem Balkon gesessen, als es auf einmal komisch roch. Ich dachte, da grillt jemand, doch mein Mann meinte, es brennt unten in der Praxis. Er ist nach oben gerannt und hat überall geklingelt, ich hab Sie angerufen. Dann sind wir raus. Es sind wohl nicht alle zu Hause gewesen. Die Familie Seifert fehlt, aber der Sohn hat dienstagabends Fechtunterricht. Seine Mutter holt ihn immer ab, wenn sein Vater im Supermarkt die Spätschicht übernimmt. Und Dr. Brauckhage ist bestimmt schon gegangen. Der ist Psychotherapeut. So einer hat ja bereits am Nachmittag Feierabend.«
Viel schien die Frau von Psychotherapeuten nicht zu halten.
»Hat Ihr Mann auch bei ihm geklingelt?«, hakte Peters dennoch nach.
»Sicher. Mein Mann ist Postbeamter. Und ein ganz korrekter. Manchmal zu korrekt, das kann ich Ihnen sagen.«
»Danke für die Info.« Peters lächelte kurz, dann lief er hinüber, um Timo Blaschke zu unterstützen, der draußen stand und von der Straße aus mit dem Schlauch Wasser nach oben durch die Fenster schoss.
Eine gute halbe Stunde später hatten sie das Feuer in der Arztpraxis gelöscht. Glücklicherweise waren sie rechtzeitig genug informiert worden, um zu verhindern, dass sich der Brand auf die angrenzenden Wohnungen ausbreitete.
Sie stellten allerdings fest, dass sich die Mieterin geirrt hatte. In dem Chaos, das Feuer und Löschwasser hinterlassen hatten, stießen sie auf die verkohlten Überreste eines Menschen.
Wie es schien, hatte Dr. Brauckhage doch noch nicht Feierabend gemacht.
»Der Mann war schon vor dem Brand tot.« Mit dieser Neuigkeit wartete Kriminalkommissar Heiko Lemke auf, als er am Nachmittag das Büro von Oda Wagner und Christine Cordes betrat. »Krüger hat festgestellt, dass der Arzt in eine handgreifliche Auseinandersetzung verwickelt gewesen sein muss. Dabei wurde ihm der Kehlkopf zertrümmert, was zur Schädigung der Luftröhre führte. Das Feuer wurde erst nach seinem Tod gelegt. Die Kriminaltechniker sagen, es sieht nach Brandstiftung aus. Aktenschränke wurden aufgezogen, der Papierkorb daruntergestellt und angezündet. So konnte sich das Feuer im Nu ausbreiten.«
»Schiet. Das bedeutet Arbeit.« Oda Wagner konnte derzeit vieles gebrauchen: helfende Hände, die ihr die Umzugskartons ausräumten und die alte Wohnung zur Übergabe blitzblank putzten, jemanden, der ihr eine Pizza prosciutto funghi brachte oder ein Spaghetti-Eis vom Italiener, aber keinen Mordfall. »Was wissen wir über den Toten?«
Lemke sah auf seine Unterlagen. »Hartmut Brauckhage, Psychiater, achtundvierzig Jahre alt. Verheiratet. Wohnt in der Weserstraße. Seine Frau ist gestern Abend von den Kollegen informiert worden.«
»Sonst noch was?«, wollte Christine wissen. Sie schien an einer neuen Mordermittlung nichts auszusetzen zu haben, im Gegenteil. Oda hatte manchmal das Gefühl, dass ihre überaus korrekte und strebsame Kollegin in letzter Zeit sogar noch begieriger darauf war, ihre Fähigkeiten und ihren Wert für das Team unter Beweis zu stellen. Sie hatte es erstaunlich gelassen aufgenommen, dass nicht sie, sondern Oda zur Hauptkommissarin befördert worden war.
»In einer kleinen Stahlkassette im Schreibtisch haben die Kollegen Kokain sichergestellt.«
Oda lehnte sich zurück. »Ach nee. Viel?«
»Ein paar Gramm. Für einen Dealer zu wenig.«
»Es könnte zu einem Streit zwischen ihm und demjenigen gekommen sein, der ihm das Zeug beschafft. Vielleicht wollte er nicht das zahlen, was der andere forderte«, überlegte Christine laut.
»Stille Wasser sind tief.« Oda seufzte. »Fangen wir also an zu buddeln. Irgendwo muss das Motiv schließlich liegen, dem Mann erst die Kehle einzuschlagen und ihn dann zu verbrennen.«
»Was du nicht sagst.« Lemke verzog spöttisch das Gesicht und verließ das Büro.
»So ’n Schiet«, wiederholte Oda, als sich die Tür hinter ihm schloss. »Ich hätte bloß noch drei Tage Schonzeit gebraucht. Dann wäre der Umzug erledigt gewesen.«
»Selbst schuld«, entgegnete Christine gelassen. »Du hättest ja zusätzlich zu deinen Umzugstagen noch ein paar Urlaubstage nehmen können.«
»Ach was, im Hochsommer passiert doch normalerweise nichts.«
»Sagst du. So viel zum Thema Statistiken für Wilhelmshaven.« Christine reckte ihre Arme nach hinten. »Was meinst du, sollen wir der Witwe einen Besuch abstatten?«
»Versuchen können wir es.« Oda sah auf die Uhr. »Dann mal los. Je eher wir das hinter uns bringen, desto eher kann ich wieder an meine Umzugskisten. Obwohl ich nicht weiß, was mir gerade weniger Spaß macht: Hinterbliebene zu befragen oder Kisten auszupacken.«
In der Südstadt parkten sie direkt vor dem schmutzig grau verputzten Altbau, einem der vielen mehrgeschossigen Gebäude, die Anfang des 20. Jahrhunderts als Wohnraum für Offiziere der Kaiserlichen Marine entstanden waren. Noch heute beherbergte Wilhelmshaven den größten Marinestützpunkt Deutschlands, und auch die Handelsschifffahrt nutzte mit dem Jade-Weser-Port den größten deutschen Tiefwasserhafen.
Das Klingelschild »Brauckhage« befand sich in der Mitte der Klingelleiste. Oda drückte auf den Knopf, und zu ihrer Überraschung wurde der Summer, der die Haustür entriegelte, ohne jeden Kommentar über die Gegensprechanlage gedrückt.
Das Treppenhaus war mit Terrazzoboden belegt.
»Derartige Verlegearbeiten würden heutzutage ein Schweinegeld kosten«, sagte Christine und sprach damit aus, was Oda dachte.
Wie sie es schon vermutet hatte, gab es keinen Aufzug, und die Wohnung des Psychiaters befand sich im dritten Obergeschoss. In der Tür stand eine Frau mittleren Alters. Sie trug eine Jeans und eine weit geschnittene Bluse, die ihre große Oberweite nicht kaschieren konnte. »Ja, bitte?«, fragte sie abwehrend.
»Guten Tag«, grüßte Oda freundlich und zog ihren Dienstausweis aus der Hosentasche. »Kripo Wilhelmshaven. Oda Wagner und«, sie wies auf Christine, »Christine Cordes.«
Die Frau nickte. »Kommen Sie bitte herein.«
Sie folgten ihr durch einen dunklen langen Flur, der Oda an die frühen Studenten-WGs ihrer Freunde erinnerte. Die Garderobe aus Kiefernholz quoll über von Jacken, auf einem Schuhregal stapelten sich Sandalen, Halbschuhe, sogar Gummistiefel standen daneben. Auch in der Küche standen Kiefernholzregale, die mit Tellern, Gläsern, Töpfen und Pfannen gefüllt waren. An einer freien Wand prangte eine große Magnettafel mit jeder Menge Fotos und Artikeln. Oda entdeckte ein Ticket für das diesjährige Heavy-Metal-Festival in Wacken. So eines hatte sie ihrem Sohn Alex zu Weihnachten geschenkt. War nicht mehr lang hin. Insgesamt wirkte das, was sie bisher von der Wohnung zu sehen bekommen hatte, dunkel, aber total gemütlich. Bestimmt hätte sie sich mit dem Brauckhage gut verstanden, das hatte Oda im Gefühl. Es roch appetitlich. Auf dem Tisch standen zwei Gläser Wasser und ein Teller mit dampfenden Spaghetti Bolognese. Die Töpfe dazu standen auf dem Herd, der allerdings ausgeschaltet war.
»Nehmen Sie bitte Platz«, bat die Frau. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Ein Glas Wasser vielleicht?«
»Nein, danke.« Christine setzte sich auf einen der mit knallroten Stuhlkissen gepolsterten Stühle und zog ihren in braunes Leder gebundenen Schreibblock aus der Tasche. »Wir haben nur ein paar Fragen an Sie.«
»Ich glaube, da liegt eine Verwechslung vor«, sagte die Frau ruhig. »Beziehungsweise ein Missverständnis. Sie wollen sicher mit meiner Tochter sprechen.«
Wie auf Kommando trat eine zarte junge Frau mit langen rötlichen Haaren in die Küche.
»Guten Tag«, sagte sie. »Ich bin Jaqueline Brauckhage. Das ist meine Mutter. Anke Rietdorf.« Sie setzte sich, griff zu einem der Wassergläser auf dem Tisch und schob den Teller Spaghetti beiseite. Ihre Mutter blieb an die Arbeitsfläche gelehnt stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ah ja.« Oda versuchte, sich ihre Verblüffung nicht anmerken zu lassen. »Entschuldigung, da waren wir …«
Sie ließ den Satz unvollendet, weil ihr tatsächlich einmal nicht einfiel, was sie sagen sollte.
»Frau Brauckhage, unser Beileid zum Tod Ihres Mannes«, begann Christine. »Wie Sie gestern sicherlich von unseren Kollegen erfahren haben, müssen die Umstände kriminalpolizeilich untersucht werden, und es tut uns leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Ihr Mann kam nicht durch den Brand ums Leben. Er wurde vorher getötet.«
»Getötet?« Jaqueline Brauckhage sah sie aus großen Augen an. »Getötet?«, wiederholte sie und blickte zu ihrer Mutter. Die verzog keine Miene.
»Ja. Erst anschließend wurde der Brand gelegt. Wahrscheinlich, um die Tat zu vertuschen.«
Die junge Witwe wurde blass. »Man hat Hartmut erst getötet und dann die Praxis in Brand gesteckt«, plapperte sie das Gesagte nach.
»Genau«, sagte Oda. »Das lässt die Angelegenheit natürlich in einem anderen Licht erscheinen, und darum brauchen wir von Ihnen einige Informationen.«
Die junge Frau nickte stumm, ihre Augen waren noch immer weit vor Entsetzen.
»Gibt es jemanden, mit dem Ihr Mann in letzter Zeit Streit hatte?«
»Nein.« Wieder sah Jaqueline Brauckhage zu ihrer Mutter. »Gab’s doch nicht, Mama, oder?«
Anke Rietdorf schüttelte den Kopf. »Nein. Du hast nichts dergleichen erzählt, und auch Hartmut hat mir gegenüber nicht erwähnt, dass er mit jemandem Probleme gehabt hätte.«
»Hat Ihr Mann vielleicht mal von einem Patienten gesprochen, der besonders schwierig war?«, fragte Christine, ohne auf die Mutter einzugehen.
»Nein. Hartmut hat nie über seine Patienten gesprochen. Das ging nicht, wegen der ärztlichen Schweigepflicht.« Jaqueline Brauckhage griff erneut zu ihrem Glas und trank einen winzigen Schluck. Dann umfasste sie es mit beiden Händen, als böte es ihr Halt. Ihre Mutter stand neben ihr wie ein Schwan, bereit, das Küken zu schützen, so jedenfalls kam es Oda vor.
Das war interessant. Die Rietdorf wirkte patronisierend, aber kühl, es fehlte das Mütterliche, Warme. Jaqueline Brauckhage hingegen machte einen vollkommen hilflosen Eindruck. Sie war vom Alter her ja auch eher Kind als erwachsene Frau. Sie könnte eine Freundin von Alex sein, so jung sah sie aus.
»Denken Sie nach«, bat Christine. »Alles deutet darauf hin, dass es eine starke emotionale Handlung gewesen ist. Ein Streit, der eskalierte und dann durch den Brand vertuscht werden sollte, keine geplante Tat. Wer auch immer bei Ihrem Mann war, muss ausgerastet sein und jedes Denken abseits der Tat ausgeschaltet haben, denn in dem Haus gibt es neben der Praxis ja auch Wohnungen. Nur der guten Nase eines der Nachbarn ist es zu verdanken, dass der Brand rechtzeitig entdeckt wurde und niemand außer Ihrem Mann zu Schaden kam.«
Jaqueline Brauckhage sah sie entgeistert an und fuhr sich mit der Hand an den Mund. »Daran habe ich überhaupt noch nicht gedacht.« Sie sah erneut zu ihrer Mutter. »Nicht auszudenken, wenn es weitere Verletzte gegeben hätte.«
Anke Rietdorf reagierte kühl. »Damit hättest du nichts zu tun. Genauso wenig wie mit Hartmuts Tod. Das ist es doch, was Sie interessiert?« Sie richtete den Blick auf Oda und Christine. Ihr Ton war eisig.
»Uns interessieren die Fakten«, stellte Oda klar. »Wir versuchen, so viel wie möglich über Ihren Schwiegersohn herauszufinden.« Sie wandte sich wieder der jungen Witwe zu. Die sah sie unglücklich an.
»Wissen Sie, so lange kannten wir uns nicht, wir sind ja noch kein Jahr verheiratet. Hartmut hat wenig über seine Vergangenheit gesprochen. Das hat sich irgendwie nie ergeben. Und ich wollte ihn nicht ausfragen. Ein Mann in seinem Alter hat logischerweise mehr erlebt als jemand wie ich. Klar weiß ich, wo er studiert hat, und auch von seinen Großeltern hat er viel erzählt, von seinen Eltern weniger, aber sonst … Er war intelligent, humorvoll …« Sie zögerte einen Moment. »Um jemanden umzubringen, muss derjenige doch ein schlimmer Mensch gewesen sein. Das war Hartmut aber nicht. Ganz bestimmt nicht.«
»Hatte Ihr Mann einen besten Freund? Jemanden, der ihn besser und länger kannte als Sie?«, fragte Oda.
Jaqueline Brauckhage reagierte überrascht. »Nein. Nicht dass ich wüsste. Jetzt, da Sie es sagen, fällt es mir auf. Er hatte zwar einen Ärzte-Stammtisch, zu dem er gewöhnlich ging, aber dass er einen engen Freund hatte, nein. Zumindest keinen, mit dem er sich regelmäßig traf.«
»Wie sieht es mit seiner Sprechstundenhilfe aus?«, fragte Christine. »Wissen Sie, wie lange die schon für ihn arbeitet?«
»Ewigkeiten«, antwortete Jaqueline. »Ich hab mich immer ein wenig unterlegen gefühlt, wenn ich mal in die Praxis kam und sie noch da war. Sie hat mir zwar nicht direkt, aber doch durch die Blume zu verstehen gegeben, dass sie nicht damit einverstanden war, dass Hartmut und ich geheiratet haben.
»Haben Sie ihre Telefonnummer?«, fragte Oda.
»Ich hab die Praxisnummer«, entgegnete Jaqueline Brauckhage fahrig.
»Jacki.« Für einen winzigen Moment glaubte Oda, ein wenig Wärme in Anke Rietdorfs Stimme zu hören, doch das war mit dem nächsten Wort vorbei. »In der Praxis hat es gebrannt. Dort wird niemand mehr ans Telefon gehen. Die Kommissarinnen brauchen die private Telefonnummer von Adele. Hast du die?«
Ihre Tochter sah sie ratlos an. »Vielleicht steht sie in Hartmuts Adressbuch? Er hat ja immer alles ganz altmodisch notiert. Ich hab sämtliche Adressen im Handy. Wenn das mal weg ist …«
»Dann steh bitte auf und hol das Adressbuch«, forderte die Mutter. »Er hat es doch hier, oder war es in der Praxis?«
Jaqueline nickte. »Nein. Es liegt auf seinem Schreibtisch.«
»Gut, dann bring es her.«
Als Jaqueline Brauckhage die Küche verlassen hatte, fragte Oda: »Sagen Sie, wie alt ist Ihre Tochter eigentlich?«
»Sechsundzwanzig«, gab Anke Rietdorf zurück.
»Hat sie oder Ihr Schwiegersohn etwas mit Drogen zu tun?«
»Bitte?«
»Wir haben Kokain in seiner Praxis sichergestellt. Wissen Sie etwas darüber?«
Die Augen der Frau verengten sich zu Schlitzen. »Was war das nur für ein mieses Schwein.« Sie blickte Oda direkt an. »Nein. Jaqueline hat nichts mit Drogen zu tun. Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.«
»Wofür legst du die Hand ins Feuer?« Die junge Witwe kam mit einem kleinen Notizzettel zurück.
»Dafür, dass du keine Drogen nimmst. Oder hat Hartmut dich dazu aufgefordert, Kokain auszuprobieren?«
Der scharfe Ton überraschte Oda, und Jaqueline Brauckhage entgegnete eingeschüchtert: »Nein, Mama, natürlich nicht.«
»Sehen Sie, ich habe es Ihnen doch gesagt.« Genugtuung schwang in Anke Rietdorfs Stimme mit. »Meine Tochter nimmt so etwas nicht. Sicher hat mein Schwiegersohn das Zeug in seiner Praxis konsumiert. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass er es in seinen Gruppensitzungen verteilt hat. So wie Sigmund Freud damals. Zur angeblichen Bewusstseinserweiterung. Hartmut hat ja überwiegend weibliche Patientinnen gehabt.«
»Mama. Bitte.« Jaqueline Brauckhage begann zu weinen.
Oda wartete einen Augenblick, und auch Christine schwieg. Dann streckte Jaqueline Brauckhage Oda den Notizzettel hin. »Hier, das ist die Telefonnummer von Adele.«
***
Er betrachtete den dicken Hängeordner, der unschuldig vor ihm auf dem Tisch lag. Unscheinbare braune Pappe umschloss das, was so außerordentlich wichtig für ihn war. Hier würde er alles über sie erfahren. Bis er ihren Brief erhalten hatte, war er ahnungslos gewesen. So verdammt ahnungslos!
Mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier starrte er auf den bis knapp an seine Fassungsgrenze gefüllten Schnellhefter. Wie oft musste sie bei ihm gewesen sein, wie viel erzählt haben von dem, was ihr widerfahren war.
Tief atmete er ein. Legte seine Hände auf die Pappe.
Spürte er etwas? Vibrationen, die von dem ausgingen, was in den Protokollen stand? Inwieweit war Brauckhage sorgfältig gewesen? Hatte er alles ordentlich notiert? Die Namen, die Umstände, ihre Gedanken und Gefühle? Er verzog das Gesicht. Oder war Brauckhage oberflächlich gewesen? Hatte nur seine eigenen Reflexionen zu Papier gebracht?
Er lauschte in sich hinein. Doch da gab es keinen Widerhall. Zögernd fasste er den Pappdeckel mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand. Schlug den Ordner auf. Die Gedanken an den vergangenen Abend verdrängte er. Die Bilder, die in seinem Kopf auftauchten, ließ er verschwinden. Er war geübt darin, Bilder verschwinden zu lassen, keine Erinnerungen zuzulassen.
Dann sah er die erste Seite. Las die Einträge. Ein Schauder lief durch seinen Körper.
***
Es war immer noch ein ungewohntes Gefühl, die Strecke zur gemeinsamen Wohnung als den Weg nach Hause zu radeln. Dabei war die Wohnung streng genommen gar nicht neu. Nur eben neu als Odas tatsächliches Zuhause. Jürgen und sie hatten damals beide den Mietvertrag unterschrieben, um gemeinsam mit Alex in die Wohnung einzuziehen. Und hätte sich Jürgens uneheliche Tochter Laura nicht kurzfristig dazu entschlossen, mit ihrer Mutter zu brechen und zu ihrem Vater zu ziehen, hätten sie schon längst zusammen hier gelebt. So aber war es zuerst Jürgens und Lauras Wohnung geworden, in der Oda und Alex nur Gast waren, in die keines von Odas Möbelstücken Einzug gehalten hatte.
Bis jetzt.
Am vergangenen Wochenende hatte Jürgen einen der Transporter des »Wilhelmshavener Kuriers« ausgeliehen und ihn gemeinsam mit Oda und Alex und einigen Kollegen von der Polizei und der Zeitung mit Odas Möbeln beladen. Wenig später hatte sich herausgestellt, dass die Wohnung für all jene Möbel, an denen Odas Herz hing, zu klein war. Natürlich hatten sie die Sachen aus Lauras Zimmer, das nun Alex’ Zimmer war, eingelagert, denn Laura war zu Beginn des neuen Schuljahres zurück zu ihrer Mutter nach Berlin gegangen. Das galt jedoch nicht für die Möblierung der übrigen Räume. Oda sah aber überhaupt nicht ein, ihre Lieblingsmöbel dem Sperrmüll zu übergeben, nur weil Jürgen sich weigerte, sich von einigen seiner Möbelstücke zu trennen. Bei der Schlafzimmerausstattung hatte sie sich überzeugen lassen. Das neue Boxspringbett war wirklich komfortabler und bequemer als ihr über zwanzig Jahre altes Doppelbett aus Kiefernholz, in dem schon ihr Exmann Thorsten geschlafen hatte. So hatte Jürgen keine große Überzeugungskraft aufbringen müssen, damit sie das olle Ding dem Sperrmüll überließ.
Als Oda die Wohnung betrat, sank ihre Stimmung, obwohl ihr der verlockende Duft des vorbereiteten Abendessens in die Nase stieg: frisch gebackenes Baguette und irgendetwas mit Knoblauch. Die Geräusche, die aus dem Wohnzimmer drangen, ließen jedoch nicht auf Feierabend, sondern auf Umräumen schließen. Wenig begeistert stellte sie die Tasche mit dem aufgenähten Austernfischer ab, die Jürgen ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, und folgte dem Geräusch.
Wie unwirklich es ihr vorkam, nun hier zu Hause zu sein. Ob das ein Zeichen war? Hätte sie die Beziehung zu Jürgen damals beenden sollen, als Laura, von deren Existenz Oda überhaupt nichts gewusst hatte, wie aus dem Nichts aufgetaucht war? Aber Jürgen hatte ihr versichert, keinen Kontakt zu seiner Tochter gehabt zu haben, und Oda hatte ihm geglaubt. Wie man demjenigen, den man liebt, eben glaubt. Dennoch war da keine Wut oder nachhaltige Enttäuschung gewesen, die gemeinsame Wohnung zum geplanten Zeitpunkt nicht beziehen zu können, sondern Laura den Vortritt lassen zu müssen. Hatte Oda damals vielleicht intuitiv gespürt, dass es mit Jürgen und ihr in getrennten Wohnungen besser funktionieren würde? Immerhin hatten sie beide die vierzig längst überschritten, Jürgen näherte sich gar mit riesigen Schritten der fünfzig.
Eine Diele im Parkett knarrte, als sie das Wohnzimmer betrat. Überall standen ihre Umzugskartons herum, doch Jürgen war mit anderen Dingen beschäftigt.
»Hi.« Sie lächelte unwillkürlich, als sie ihn auf der Leiter vor der weißen Bücherwand stehen sah, dem einzigen Möbelstück, das sie erst jetzt vom Tischler für die Wohnung hatten anfertigen lassen.
»Hi!« Jürgen blickte strahlend auf sie hinunter. »Es ist phantastisch, wie viel Platz wir jetzt für Bücher haben. Ich hab sogar noch einige der Kartons aus dem Keller einräumen können. Der Wahnsinn! Das war immer mein Traum – eine ganze Wand voller Bücher!« Er nahm das nächste Exemplar vom Stapel, der sich auf einem der unteren Borde befand, und sortierte es ein. »Im Kühlschrank steht ein Rotling von der Mosel. Du wirst seinen Geschmack lieben, er ist etwas ganz Besonderes. Und falls du Hunger hast, da ist Baguette und die mallorquinische weiße Aioli, die du so gern magst. Die habe ich extra für dich gemacht. Die Tomaten aus dem Backofen müssten auch noch warm sein … Du bist spät dran. War was?«
»Nein. Was soll schon sein?« Oda sah ihm zu, wie er ein Buch nach dem anderen im Regal deponierte, und ihr fiel auf, dass sie unbewusst einen Song von Udo Jürgens zitiert hatten. Darin haderte ein Mann mit seinem spießbürgerlichen Leben: »Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei …« Natürlich stimmte das in ihrem Fall nicht. Sie hatte jahrelang allein mit Alex gelebt, sich um alles gekümmert, ihn zu einem wunderbaren jungen Mann erzogen, der nun langsam flügge wurde und seinen eigenen Weg suchte. Sie war frei gewesen. Und das wollte sie weiterhin bleiben. Zwar würde sie sich freiwillig den Adlerhorst mit Jürgen teilen, aber gleichberechtigt. Auf Augenhöhe.
»Meinst du wirklich, dass du all deine alten Schinken in unser Regal stellen musst?«, fragte sie, ohne groß nachzudenken. »Ich hab schließlich auch eine Menge Bücher. Und wir sollten Platz lassen für Neues. Nicht wieder alles dichtkleistern.«
»Wie bist du denn drauf?« Jürgen unterbrach das Einräumen und sah sie irritiert an. »Ich hab doch nur meine Bücher …« Weiter kam er nicht.
»Ja. Deine Bücher! Es ist deine Wohnung, es sind deine Bücher, und ich darf mit meinen Sachen die freien Ecken belegen, die du mir gnädig zugestehst! Ich werde aber kein Eckennutzer sein. Das bin ich in meiner Ehe mit Thorsten lange genug gewesen. Die Zeiten sind vorbei, in denen ich mir von anderen sagen lasse, was ich tun und lassen soll. Damit werde ich jetzt nicht wieder anfangen.«
»Oda! Was ist los?« Eilig stieg Jürgen die Leiter hinunter und wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wies ihn brüsk zurück.
»Nichts ist los. Ich hätte mir nur gewünscht, dass wir gewisse Dinge gemeinsam angehen.« Sie drehte ihm den Rücken zu und lief in die Küche.
»Aber das Befüllen des Bücherregals ist doch kein Alleingang«, entgegnete Jürgen beschwichtigend und folgte ihr.
»Doch! Dann nämlich, wenn du das gesamte Regal für dich in Anspruch nimmst.« Oda öffnete die Kühlschranktür und nahm den Rotling heraus. Aus dem Küchenschrank holte sie ein Weinglas und goss sich einen Schluck ein. »Wo sollen denn meine Bücher hin? Du tust ja gerade so, als hätte ich nur ein paar und du seist der Belesene von uns. Ha!«
»So war das überhaupt nicht gemeint«, sagte Jürgen. Er versuchte, Oda versöhnlich am Arm zu fassen, doch sie zog ihn harsch zurück. »Wenn du möchtest, können wir ja das freie Zimmer in eine Bibliothek umwandeln, wenn Alex ausgezogen ist und studieren geht«, schlug er vor.
Augenblicklich wurde Oda zur Rakete. »Ach nee! So läuft der Hase! Deine Tochter durfte hier anderthalb Jahre lang wohnen und unseren Lebensplan komplett durcheinanderwirbeln, aber bei meinem Sohn, der gerade erst eingezogen ist, spekulierst du bereits wieder auf Auszug?« Sie kippte den Wein hinunter. »Das hättest du gleich sagen können. Dann wären Alex und ich in der Holtermannstraße geblieben. Ich lasse nicht zu, dass du meinen Sohn zwingst, auszuziehen.«
Christine stieg aus dem Wagen und ging in Richtung des Mietshauses. »Nun komm schon«, rief sie Oda ungeduldig zu, die schon den ganzen Morgen übellaunig war. Irgendeine Laus war ihr über die Leber gelaufen, da war es am besten, wenn sie ihr keine Zeit zum Grübeln ließ, sondern mit der nächsten Befragung weitermachten. Christine hatte die Sprechstundenhilfe des Verstorbenen unter deren privater Telefonnummer erreicht. Verabredet waren sie jedoch in der Praxis. Es sei ja nicht alles zerstört, auch wenn Brauckhages Büro ein Trümmerfeld sei, hatte Adele Behrens gesagt.
Obwohl sämtliche Fenster im Treppenhaus geöffnet waren, roch es noch immer stark verbrannt und nach kaltem Rauch. Christine drückte den Klingelknopf. Im Inneren der Praxis ertönte ein melodischer Klang.
»Kommen Sie herein«, bat Adele Behrens, als sie ihnen öffnete. Sie war blass. »Es sieht hier aus wie nach einem Bombeneinschlag.« Sie ging voraus. In der Tür zu Brauckhages Büro blieb sie stehen und deutete auf das Chaos. »Warum um alles in der Welt hat es gebrannt? War es ein Kurzschluss in seinem PC?«
»Nein. Der Brand wurde vorsätzlich gelegt«, erklärte Oda nüchtern.
»Vorsätzlich?«, wiederholte Adele Behrens mit krächzender Stimme. »Wie meinen Sie das?« Ihr Kopf ruckte hoch. »Hat er etwa … ich meine, war es … Es war doch kein Suizid?«
»Wieso fragen Sie?«, hakte Christine sogleich nach. »Hatte Ihr Chef denn Probleme? Gab es etwas, das ihn belastete? Hatte er Streit mit jemandem?«
Adele Behrens wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht. »Lassen Sie uns in die Teeküche gehen«, schlug sie vor, »da ist alles irgendwie noch normal. Zumindest hat man dort den Eindruck. Der Brandgeruch hängt zwar in den Räumen, aber in der Teeküche scheint alles weiter weg zu sein.«
Innerhalb weniger Minuten hatte die Sprechstundenhilfe mit kochendem Wasser und Instant-Kaffee drei Becher gefüllt und auf den Tisch gestellt, auf dem auch Zucker und Portionsdöschen mit Sahne standen. »Ach, ich wünschte, ich könnte Ihnen bei den Ermittlungen helfen.« Sie griff in eine Dose mit Blümchenmuster, die mit Schokoladenkeksen gefüllt war.
»Hatte Ihr Chef Probleme?«, wiederholte Christine ihre Frage.
»Woher soll ich das wissen? Ich bin nur seine Angestellte«, wehrte Adele Behrens leicht kiebig ab. »Fragen Sie seine Frau.« Das klang nicht gerade so, als würde sie Sympathien für Jaqueline Brauckhage hegen.
»Frau Brauckhage hat gestern nichts in dieser Richtung gesagt. Sie stand natürlich unter Schock, aber etwas Offensichtliches hätte sie bestimmt erwähnt. Oft ist es ja auch so, dass diejenigen, die eng mit jemandem zusammenarbeiten, mehr über diese Person wissen als der Ehepartner. Und gerade Ihre Arbeit bei Dr. Brauckhage war doch sicherlich in übergroßem Maße von Vertrauen und Verschwiegenheit nach außen geprägt«, erklärte Christine.
Ein unwillkürliches Lächeln breitete sich auf Adele Behrens’ Gesicht aus. »Ja, das stimmt. Wir waren ein sehr gutes Team, der Doktor und ich. Er wusste, dass er sich hundertprozentig auf mich verlassen kann. Ich bin keine Tratschtante. Was in diesen Räumen gesagt wird, bleibt auch hier. Aber wenn Sie mich fragen, ich glaube, so wirklich glücklich war er in seiner Ehe nicht.«
»Sie ist recht jung, die Jaqueline«, stellte Christine fest und musste innerlich darüber schmunzeln, dass Frau Behrens in einem Moment abstritt, Interna auszuplaudern, im nächsten jedoch freimütig ihren Eindruck zum Zustand der Ehe ihres Chefs schilderte. »Wissen Sie, wie lange sich die Eheleute kannten? Ich habe den Eindruck, dass Sie wesentlich länger bei Herrn Brauckhage arbeiteten, als er verheiratet war.«
Wieder blitzte ein geheimnisvolles Lächeln in Adele Behrens’ Gesicht auf. »Das stimmt. Ich habe Frau Brauckhage kennengelernt, kaum dass mein Chef sich in sie verliebt hatte. Die beiden haben nur zwei Monate später geheiratet. Ihre Mutter kenne ich ebenfalls.« Dann verstummte sie.
»Es war übrigens kein Suizid«, sagte Christine so beiläufig, als würde sie nach einem Kännchen Kaffeesahne fragen. »Dr. Brauckhage starb durch einen tätlichen Angriff. Erst nach seinem Tod wurde zur Vertuschung der Brand gelegt.«
Adele Behrens fiel vor Überraschung der Keks aus der Hand. »Ein tätlicher Angriff?«
»Jo«, sagte Oda. »Sein Kehlkopf wurde zertrümmert, was zur Schädigung der Luftröhre führte.«
»So was passiert nicht zufällig, oder?«
»Nein.«
»Und danach wurde der Brand gelegt?«
»Ja.«
Adele Behrens sah die beiden Kommissarinnen an. Christine konnte direkt sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete.
»In diesem Fall muss ich Ihnen wohl alles sagen, was ich weiß, nicht?«
Christine nickte. »Das wäre hilfreich.«
Die Sprechstundenhilfe schloss für einen Moment gequält die Augen. »Ich werde versuchen, sachlich zu bleiben. Das auf jeden Fall. Aber …« Sie holte tief Luft und sah von Christine zu Oda und wieder zurück. »Es war nicht immer einfach mit dem Chef. Er war dem weiblichen Geschlecht sehr zugetan. Die Patientinnen himmelten ihn an. Er sah ja auch verdammt gut aus, das muss man schon sagen. Und es ist allgemein bekannt, dass Patienten für ihre Therapeuten unter gewissen Umständen ein besonderes Interesse entwickeln können. In der Ausbildung wird jeder Psychotherapeut und Psychiater intensiv darauf hingewiesen, ja, sogar aufgefordert, die nötige Distanz zu seinen Patienten zu wahren.« Sie senkte den Blick, ehe sie hinzufügte: »Dr. Brauckhage hat diese Vorlesung wohl versäumt.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte Christine.
»Mein Chef pflegte zu manchen seiner Patientinnen einen recht persönlichen Kontakt, um es einmal vorsichtig auszudrücken.«
»Das heißt, er hatte außereheliche Verhältnisse mit Patientinnen? Oder gab es eine feste Geliebte?«, fragte Oda überrascht.
»Ja. Und nein. Er hatte seit jeher diverse Gespielinnen unter den Patientinnen. Zwar hat er Jaqueline Rietdorf geheiratet, und ich dachte, nun hat die liebe Seele Ruh, aber …«
»Die Katze lässt das Mausen nicht«, stellte Oda fest.
»Genau.«
»War Jaqueline Rietdorf ebenfalls seine Patientin?«, fragte Christine, während sie sich eifrig Notizen machte.
»Nein. Sie nicht. Ihre Mutter. Und das bis zuletzt.«
»Ach.« Christine war überrascht, Oda ebenso. »Und die Mutter … Anke Rietdorf … gehörte sie auch zu dieser … speziellen Patientinnengruppe?«
Adele Behrens nickte.
»Dann hat Ihr Chef die Beziehung zu Anke Rietdorf beendet, als deren Tochter auftauchte?«
Adele Behrens hob vage die Schultern. »Ich nehme es an. Über alles weiß ich natürlich auch nicht Bescheid.«
»Es muss zu ziemlich emotionalen Szenen gekommen sein, als Frau Rietdorf entdeckte, dass ihr Geliebter mit ihrer Tochter angebandelt hat«, vermutete Christine. »Haben Sie etwas davon mitbekommen?«
»Das ließ sich leider nicht vermeiden. Mehr als einmal hat sie ihn hier in der Praxis angeschrien. Das war sehr unangenehm. Sie glauben ja nicht, wie die keifen kann. Ich hab sie bis zu meinem Schreibtisch gehört. Durch die geschlossene Tür hindurch!«
»Sie sagen: mehr als einmal. Wann haben sich die beiden denn das letzte Mal so laut gestritten?«
»Das muss so in etwa eine Woche her sein.«
»Hatte Frau Rietdorf am Dienstag einen Termin?«
»Da muss ich überlegen. Nachgucken kann ich ja nicht, der Terminkalender ist den Löschaktionen zum Opfer gefallen.«
»Haben Sie Ihre Daten denn nicht in einer Cloud oder anderweitig gesichert?«, fragte Christine ungläubig.
»Nein. Dem Chef war es zu umständlich, alles auf EDV umzustellen. Auch die Patientenakten haben wir noch in Papierform geführt. Ich hab ihm gesagt, dass ich von anderen Praxen weiß, in denen eine Hilfskraft eingestellt wurde, um die Daten einzuscannen und auf diese Art elektronisch zu archivieren, aber davon wollte er nichts wissen. Und nun haben wir den Salat. Alles verbrannt oder durch Wasser unlesbar geworden. Für die Patienten ist es echt schlimm. Die werden ganz von vorn anfangen müssen beim nächsten Therapeuten. Das bedeutet für jeden von ihnen einen gewaltigen Rückschritt.«
»Halten Sie es für möglich, dass Frau Rietdorf Ihren Chef getötet und das Feuer gelegt hat?«, fragte Oda.
Adele Behrens zuckte mit den Schultern. »Wer weiß schon, was wirklich in den Menschen vorgeht? Sie glauben ja gar nicht, wie viele Leute hier ein und aus gehen, denen man die Abgründe in ihren Seelen überhaupt nicht anmerkt. Das muss man ganz nüchtern betrachten. Ich habe mir längst abgewöhnt, mich auf das Bild zu verlassen, das mir mein erster, zweiter oder dritter Eindruck über jemanden vermittelt.« Sie begann, auf dem Daumennagel zu kauen. »Ich bin jetzt arbeitslos, oder?«
Christine nickte.
»Ich bin siebenundfünfzig. Ich müsste noch zehn Jahre arbeiten bis zur Rente. Und die wird ohnehin nicht gerade üppig ausfallen. Ich lebe allein. Was soll ich nur machen, wenn ich keinen neuen Job bekomme?«
Christine sah sie mitfühlend an. Oda hingegen zeigte sich zuversichtlich. »Och, jemand, der so kompetent ist wie Sie, findet bestimmt leicht wieder einen Job. Immerhin haben Sie eine Menge Berufserfahrung, und der Markt für Psychotherapeuten boomt immens bei all den Gestörten, die durch die Gegend laufen.«
»Oda!«, rügte Christine automatisch, aber Adele Behrens nickte.
»Das stimmt. Der Andrang ist groß und die Warteliste lang. Aber der neue Arzt wird sicher mit einem Computersystem arbeiten. Und damit kenne ich mich nicht aus.« Sie sah sie unglücklich an. »Ich glaube allerdings nicht, dass es heutzutage mehr psychisch Kranke gibt als früher. Ich vermute, der Trend, zum Therapeuten zu gehen, ist wie so vieles aus den USA zu uns rübergeschwappt. Oder die Menschen sind inzwischen einfach zu vereinsamt. Früher hat man mit seinen Freunden über das geredet, was einen belastete. Das mache ich heute noch. Meine beste Freundin kenne ich seit fünfundvierzig Jahren. Da brauche ich keine Psychotherapie. Aber was macht man, wenn man solche Freunde nicht hat?«
»Frau Rietdorf hat also keine Freunde?«, unterstellte Christine versuchsweise.
»Das habe ich nicht gesagt«, rechtfertigte sich die Sprechstundenhilfe sofort. »Ich kann Ihnen nur sagen, dass sie seit drei Jahren alle vierzehn Tage zur Psychoanalyse kam. Das ist nicht nur für unsere Praxis ziemlich lang.«
»Was war denn das Problem der Rietdorf?«, fragte Oda.
»Das fällt unter die ärztliche Schweigepflicht, wie Sie sicher wissen. Selbst mit einer richterlichen Anordnung wüsste ich nicht, ob ich überhaupt befugt bin, Auskunft zu geben. Das müsste dann ja eigentlich der Chef machen, aber der …«, Adele Behrens stockte und kam wieder in der Wirklichkeit an, »… ist ja tot.«
Alle drei schwiegen.
»Wir haben Drogen im Schreibtisch Ihres Chefs gefunden«, verkündete Christine schließlich. »Kokain.«
»Ja.«
»Das überrascht Sie nicht?«, fragte Oda verdutzt.
»Nein.«
»Ist ja ein Ding.« Oda sah Christine an, die diese Aussage ebenfalls verblüfft zur Kenntnis nahm.
»Der Chef hat gesagt, es erweitert das Bewusstsein und hilft, deutlich zu machen, was man wirklich will«, gab Adele Behrens zu. »Ich hab da die Finger von gelassen, aber es gab Patienten, die sich bereitwillig darauf einließen.«
»Patienten? Oder Patientinnen?«, wollte Christine wissen.
»Es waren eher Patientinnen. Und dann …« Adele Behrens stockte wieder. Sie fühlte sich sichtlich unwohl.
»Dann kam es auf dem Weg zur Selbstfindung zu körperbetonten Erfahrungen?«, vermutete Oda.
»So kann man es ausdrücken.« Adele Behrens nickte unbehaglich. »Ich habe versucht, bei diesen Sitzungen immer schon aus der Praxis raus zu sein. Aber manchmal setzte Dr. Brauckhage seine ›Erfahrungstherapie‹ auch am Vormittag an. Und da konnte ich ja nicht weg. Es war mir sehr peinlich, denn selbst durch die geschlossene Tür bekam ich einiges mit.«
»Wissen Sie, ob Frau Brauckhage eine Ahnung von dem hatte, was ihr Mann hier trieb?«, fragte Christine.
»Nein. Vermutlich weiß sie nichts davon. Denn sie war ja nie Dr. Brauckhages Patientin. Anders als ihre Mutter. Kann sein, dass die es der Tochter gesteckt hat. Wer weiß schon, was in Müttern vor sich geht, die vom Geliebten zugunsten der eigenen Tochter abserviert wurden.«
***
»Mein lieber Scholli«, sagte Oda, als sie zurückfuhren und die Polizeiinspektion beinahe erreicht hatten. Sie hoffte für die Zunft der Psychotherapeuten und deren Patienten, dass der feine Dr. Brauckhage mit seinen fragwürdigen Therapiemethoden eine Art Ausnahmetalent gewesen war. »Da hatte erst die Mutter was mit dem Brauckhage, dann hat der die Tochter kennengelernt und geheiratet. Das muss die Rietdorf schwer getroffen haben.«
»Du hast recht. Sie war sicher sehr verletzt. Und wütend. Welche Frau nimmt schon gern hin, dass sie ausgebootet wird. Und dann noch von der eigenen Tochter«, entgegnete Christine und parkte den Wagen neben den Streifenwagen auf dem Parkplatz der Polizeiinspektion.
»Andererseits, warum sollte sie ihn getötet haben? Nun, wo alles zu spät und er verheiratet war. Vor der Hochzeit hätte es vielleicht Sinn gemacht. Aber jetzt?« Oda öffnete die Wagentür.
»Keine Ahnung. Vielleicht hatte er eine neue Geliebte, und die Rietdorf hat das herausgefunden?«, schlug Christine vor und stieg ebenfalls aus. »Sie ging womöglich zu ihm, um zu verhindern, dass der Brauckhage ihrer Tochter wehtut.«
»Könnte sein. Allerdings glaube ich nicht, dass sie tatsächlich mit dem Vorsatz in die Praxis gegangen wäre, ihren Schwiegersohn umzubringen«, meinte Oda. »Sie hätte ihn höchstens zur Rede gestellt.«
»Dabei kann es zum Streit gekommen sein.«
»Ja. Aber wenn du dich streitest und sauer wirst, haust du jemandem im Eifer des Gefechtes vor die Brust oder trittst ihm gegen das Schienbein – also, als Frau, meine ich. So einen Hieb gegen den Kehlkopf, den landet man nicht aus Versehen.«
»Aber vielleicht aus der Not heraus.«
Sie liefen die Treppen hinauf und öffneten die Tür zu ihrer Abteilung.
»Wir sollten auch Adele Behrens unter die Lupe nehmen«, sagte Christine.
»Wieso das denn?«, fragte Oda, die geradewegs die Kaffeeküche ansteuerte. Sie brauchte jetzt einen doppelten Espresso. Mindestens. Wie gut, dass sie diese Power-Espresso-Instant-Sticks im Personalbereich gelagert hatte. Schon des Öfteren hatte sie überlegt, einen kleinen Espressokocher zu kaufen, mit dem man sich auf dem Herd einen Espresso statt immer nur Filterkaffee zubereiten konnte. »Die Behrens ist ja wohl diejenige, die am meisten verliert«, ergänzte sie, »Chef tot, Job weg. Und das mit Mitte fünfzig. Außerdem kennt die sich ja noch nicht mal mit den gängigen Computerprogrammen für Arztpraxen aus. Wenn du mich fragst, würde die eher eine stundenlange Wiederbelebungskampagne gestartet haben, als den ins Jenseits zu befördern.«
»Ich weiß nicht«, gab Christine nachdenklich zurück. »Zugegeben, sie ist um einiges älter als der Brauckhage, aber sie sieht noch ziemlich gut aus. Vielleicht hat sie ja ebenfalls was mit ihm gehabt? Trotz all seiner Affären? Durchaus möglich, dass sie geglaubt hat, sie wäre die Konstante in seinem Leben. Und dann hat er völlig überraschend Jaqueline Rietdorf geheiratet. Was mag da in ihr vorgegangen sein?«
Der Wasserkocher hatte fertig aufgeheizt. »Du auch?«, fragte Oda. Christine schüttelte den Kopf.
»Nein danke. Instant-Espresso ist nicht so mein Ding. In der Kanne ist noch Kaffee. Der ist wahrscheinlich schon kalt, aber ich versuch es mal.«
Oda rührte einen gehäuften Löffel Zucker in die kleine Tasse. »Dass die Behrens auch was mit dem Brauckhage hatte … na ja, mag sein. Vielleicht war sie wirklich sauer, weil er geheiratet hatte. Und im Fall, dass er schon wieder eine neue Affäre begonnen hatte, könnte das Fass bei ihr übergelaufen sein.« Sie erkannte, welche Möglichkeiten sich in dieser Theorie verbargen, und spann den Faden weiter: »Sie könnte ihn erpresst haben. Immerhin weiß sie eine Menge über ihn und die Patientinnen, mit denen er Sex hatte. Sie könnte gedroht haben, seiner Frau oder den Partnern seiner jeweiligen Gespielinnen davon zu berichten. Oder der Ärztekammer. Die Sache mit dem Kokain ist zusätzlich ein heißes Eisen. Die Behrens hatte durch ihr Wissen über das, was in der Praxis ablief, jedenfalls ziemlich viel Macht über ihren Chef.«
»Aber die Art, wie er ums Leben kam«, steuerte nun Christine dagegen. »Selbst wenn es eine Spontanhandlung war, traust du der Behrens das zu? Schließlich war der Brauckhage kein schmächtiger, schmalbrüstiger Typ, den man mal eben so umpusten kann. Und überleg mal: Die Menge des Kokains in seinem Schreibtisch war immer noch klein genug, um sie als Eigenbedarf zu bezeichnen. Dass er etwas anderes damit gemacht hat, hätte sie ihm nur unterstellen, ohne eine entsprechende Aussage von einer seiner Patientinnen aber kaum glaubhaft machen können. Da hätte seine Aussage gegen ihre gestanden.«
»Trotzdem. Setzen wir Lemke und Nieksteit darauf an. Wenn einer etwas darüber herausfinden kann, dann Heiko.« Oda trank den Espresso aus und stellte die Tasse in die Geschirrspülmaschine.
»Und wir beide knöpfen uns noch einmal Frau Rietdorf vor«, meinte Christine, die ihren Becher mit ins Büro nahm. »Ich vermute, sie kann uns noch eine ganze Menge mehr über ihren Ex-Liebhaber sagen, als sie uns bei unserem ersten Besuch glauben machen wollte.«
***
Er hatte Glück, die Fähre fuhr früh. Die Überfahrt nach Wangerooge war tideabhängig, da konnte es durchaus passieren, dass das Schiff erst gegen Mittag in Harlesiel ablegte.
Die Passagierfähre »Wangerooge« fuhr langsam durch die Fahrrinne, viele der Mitreisenden saßen wie er auf den roten Plastikbänken des Brückendecks und streckten der Sonne ihre Nasen entgegen. Am Bordkiosk hatte er sich einen Kaffee besorgt und ließ nun den Blick über das Meer gleiten, das silbern in der Sonne glitzerte. Nachdem sie die Fahrrinne hinter sich gelassen hatten, erhöhte der Kapitän das Tempo. Gischt tanzte auf den Bugwellen, und Möwen umkreisten die Fähre.
»Guck mal, ein Seehund!«, rief ein kleines Mädchen, als sie in einiger Entfernung an einer Sandbank vorbeifuhren, und tatsächlich entdeckte er nicht nur einen, sondern gleich drei. Er schmunzelte. Es war immer wieder lustig zu sehen, wie sehr gerade die Binnenländer auf alles abfuhren, was mit Seehunden zu tun hatte. In der Zeitung hatte er gelesen, dass deren Anzahl sich inzwischen wieder erhöht hatte. Das gefiel ihm. Er mochte die kleinen Kerle, auch wenn mit ihnen nicht zu spaßen war. So niedlich sie waren, so fest konnten sie zubeißen, wenn man ihnen zu nahe kam.
Die blaue Inselbahn stand schon bereit, als sie von Bord gingen. Das Umladen der Gepäckcontainer nahm allerdings einige Zeit in Anspruch, und sicherlich hatte man an die auf Pfählen gebaute Schiffsmeldestelle auch deshalb ein Schild genagelt, auf dem zu lesen war: »Gott schuf die Zeit – von Eile hat er nichts gesagt.«
Er stieg ein und suchte sich einen Platz in der Nähe des Ausgangs. Im benachbarten Seglerhafen herrschte reger Betrieb, viele Boote lagen vertäut an den Stegen, eine große Motoryacht fuhr gerade herein. Was für ein Riesending. Nicht dass er so etwas besitzen wollte, aber mitfahren würde er schon gern einmal. Oben in der Sonne sitzen, ein Bierchen zischen, mit Kumpels quatschen. Einmal so richtig dekadent sein. Wer weiß, vielleicht kam das ja irgendwann. Zunächst musste er sich um andere Dinge kümmern.
Er war naiv gewesen, darauf zu hoffen, irgendwelche verwertbaren Informationen von Hartmut Brauckhage zu bekommen. Einige spärliche Auskünfte, anhand deren er weitere Nachforschungen anstellen könnte, hätten ihm schon gereicht. Aber Brauckhage hatte sich geweigert und sich auf seine ärztliche Schweigepflicht berufen. Er hatte einfach nicht einsehen wollen, dass er diese Auskünfte brauchte. Da hatte er ihn an seinem Angeber-Poloshirt gepackt. Doch auch davon hatte Brauckhage sich nicht einschüchtern lassen. Im Gegenteil. Er hatte ihn beleidigt. Und obwohl er in Selbstdisziplin geübt war, war in dem Moment eine Sicherung in ihm durchgebrannt. Er hatte ausgeholt, im Wissen um die Schwachpunkte des menschlichen Körpers. Brauckhage umzubringen hatte nicht in seiner Absicht gelegen, aber nachdem er schon mal tot war, hatte er sich die Infos, die er brauchte, auch nehmen können. Den Brand hatte er gelegt, damit nicht auffiel, welche Akte fehlte. Dass herauskommen würde, wie der Psychiater tatsächlich gestorben war, war ihm klar, doch das juckte ihn nicht.
Jetzt verfügte er über sämtliche Informationen, die er brauchte. Den ganzen gestrigen Tag hatte er die Unterlagen studiert. Deren Inhalt hatte ihn mehr und mehr erschüttert. Was musste sie gelitten haben. All die Jahre. Er hatte geweint, als er tief und tiefer in ihre Seelenpein eingestiegen war.
Aber das war vorbei. Er wusste nun, an wen er sich wenden musste.
»Entschuldigen Sie, ist bei Ihnen noch frei?« Eine junge Mutter mit ihrem goldgelockten kleinen Sohn an der Hand stand neben seiner Holzbank.
»Ja. Sicher.« Er lächelte ihr zu und sah, wie sie ihrem Kind den Rucksack von den dünnen Schultern nahm. Dann stellte sie ihren eigenen Beutel auf die Bank, setzte sich ihm gegenüber und zog den Jungen auf ihren Schoß.
Er fasste in die aufgesetzte Tasche seiner Multifunktionshose, nahm das scharfe Messer heraus, klappte es auf und holte einen dicken roten Apfel aus seinem Rucksack. Behutsam schnitt er ihn durch.
»Magst du?«, fragte er den kleinen Jungen freundlich und hielt ihm ein Stück Apfel entgegen. Der Knabe warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Die nickte.
»Nimm ruhig«, sagte sie.
Er reichte ihr ebenfalls ein Stück.
»Danke.« Vergnügt biss sie hinein. Nachdem sie gekaut hatte, fragte sie: »Sind Sie auch auf Urlaub hier?«
»Nein. Ich habe auf der Insel etwas zu erledigen. Eine Familienangelegenheit.« Es hörte sich gut an, dieses Wort. Familienangelegenheit.
***
»Wow.« Christine staunte über die zahlreichen Einträge, die sie mit Bezug zum Namen Rietdorf im Internet gefunden hatte. »Guck dir das an. Du ahnst es nicht.«
Neugierig stand Oda auf und kam zu Christines Seite des Doppelschreibtisches herüber. »Ist nicht wahr«, sagte auch sie überrascht.
Christine klickte den obersten Eintrag an, der sich in einem neuen Fenster öffnete. Ein Foto zeigte eine fröhliche Judo-Frauenmannschaft, die sich um einen Pokal gruppierte. Der Artikel war etwas über ein Jahr alt. »Judo-Meisterschaftspokal der Regionalliga geht nach Wilhelmshaven«, lautete die Überschrift.
Die Deutsche Judo-Bundesliga endete gestern mit einem furiosen Finale der Frauen. Trotz eines tabellarischen Vorsprungs von vier Punkten war dem Team des Athletik-Sport-Vereins um Trainerin Anke Rietdorf nach eigener Aussage von Anfang an klar gewesen, dass der Titel nicht im Weichspülgang zu holen wäre. Doch obgleich es bereits im ersten Kampf gegen den KSV Meppen mit 2:5 zu einer herben Niederlage kam, gelang es den Damen, mit Tempo und unbedingtem Siegeswillen das Turnier zu ihren Gunsten zu beenden. Zum zweiten Mal holten sie damit den Titel in die Jadestadt.
Es folgte die Auflistung der Namen, zu denen auch Jaqueline Rietdorf gehörte, die in der Klasse bis dreiundsechzig Kilo kämpfte. Unschwer waren beide Frauen auf dem Foto zu erkennen.
»Do legst di nieder«, sagte Oda lax. »Kampfsport? Das ist ja echt ein Hammer.«
»Und ein Grund mehr, das Gespräch mit Anke Rietdorf nicht auf die lange Bank zu schieben.« Christine nahm ihren Becher und stand auf. »Ich stell den nur eben in die Geschirrspülmaschine und sag bei Lemke Bescheid.«
Zwanzig Minuten später standen sie an der Kasse von »Freeses Tierwelt« und warteten auf Jaqueline Brauckhages Mutter, die hier als Verkäuferin arbeitete. Die Kassiererin hatte Anke Rietdorf über das Haustelefon verständigt.
Der Geruch von Tierfutter erfüllte den weitläufigen Laden. Christine staunte über die Vielfalt an Hundebonbons, die sich – genau wie Lakritz- und Weingummisorten im Kino oder auf Jahrmärkten – dem Käufer in durchsichtigen Boxen präsentierten und zum individuellen Befüllen von Tüten einluden. Als Kind hatte Christine sich immer einen Hund gewünscht, aber ihre Eltern hatten das kategorisch abgelehnt. Das käme für sie als Allergikerin überhaupt nicht in Frage. Der Wellensittich, den sie ihr dann aus Mitleid zum zwölften Geburtstag geschenkt hatten, war nur zwei Jahre alt geworden.
Christine spürte Odas Ellbogen an ihrem Arm und drehte sich zu ihr um. »Was ist los?«, fragte sie und sah es im nächsten Augenblick selbst.
»Kommen Sie mit«, forderte Anke Rietdorf, die in einem roten Kittel auf sie zusteuerte, ohne ein Wort der Begrüßung. »Wir gehen nach hinten in den Personalbereich.« Sie reichte der Kassiererin das Telefon. »Ich möchte nicht gestört werden«, sagte sie.
Die Kassiererin nickte nur.
Christine und Oda folgten ihr quer durch den Laden, vorbei an Körben unterschiedlicher Machart und Größe für Hunde und Katzen, an Kratzbäumen, Aquarien mit blubberndem Wasser und vielfarbigen Fischen und Aquaristikzubehör.
Im Personalraum roch es nach Kaffee. Auf dem Tisch standen leere Becher, an einem Platz wartete ein Teller mit einem angebissenen Brötchen, der »Wilhelmshavener Kurier« lag aufgeschlagen an der Seite.
Anke Rietdorf deutete auf die Stühle. »Nehmen Sie Platz«, sagte sie, ohne etwas wegzuräumen. Sie selbst setzte sich zu dem Brötchen und biss ab. »Bin noch nicht zum Frühstücken gekommen«, erklärte sie mit vollem Mund. »Worum geht’s?«
»Wir denken, Sie haben uns gestern nicht alles gesagt, was Sie über Ihren Schwiegersohn wissen«, begann Christine.
»Was meinen Sie?« Ein weiterer Biss folgte.
»Bevor er Ihre Tochter heiratete, hatten Sie ein Verhältnis mit ihm«, sagte Oda.
»Ach, das.« Anke Rietdorf trank einen Schluck aus einem Becher, der mit Fischen bedruckt war.
»Es muss hart für Sie gewesen sein festzustellen, dass Ihr Freund sich in Ihre Tochter verliebt hatte«, sagte Christine.
Oda ergänzte: »Und sie dann auch noch heiraten wollte.«
Anke Rietdorf stellte den Becher ab. »Das war wirklich nicht so prickelnd«, gab sie zu. »Ich war ganz schön sauer. Also, auf Hartmut.« Sie steckte sich den Rest des Brötchens in den Mund.
»Dennoch haben Sie ein gutes Verhältnis zu Ihrer Tochter«, stellte Christine fest.
»Sie kann ja nichts dafür.« Anke Rietdorf sah sie resigniert an. »Sie wusste nicht, dass zwischen Hartmut und mir was lief. Sie hielt ihn für meinen Therapeuten. Ich weiß noch, wie sie mir damals sagte, sie hätten sich bei einem der Open-Air-Sommerkonzerte am Pumpwerk kennengelernt und sich sofort ineinander verliebt. Erst viel später hätten sie festgestellt, dass ich bei ihm in Behandlung bin. Jacki hat gefragt, ob mir das was ausmacht, und gesagt, dass er auch ganz bestimmt nicht mit ihr über mich sprechen wird.« Sie lachte ein bisschen bitter. »Nee, ist schon klar, dass der mit ihr nicht über mich spricht. Was sollte er auch sagen? Etwa: Übrigens, ich finde dich klasse, aber ich schlafe bereits mit deiner Mutter?«
»Sie haben ihn lautstark zur Rede gestellt«, sagte Christine.
»Ach, hat die Behrens aus dem Nähkästchen geplaudert?« Anke Rietdorf schnaubte abfällig, doch Christine und Oda reagierten nicht. Also fuhr Anke Rietdorf fort: »Ja, das stimmt. Ich war auf hundertachtzig, das kann ich Ihnen sagen. Schließlich ist Jacki viel jünger als Hartmut. Und er hat sich gnadenlos an sie rangemacht.«
»Sie haben Ihrer Tochter also nicht erzählt, dass Sie ein Verhältnis mit ihm hatten?«
»Nein. Wozu auch? Jacki wusste nie, mit wem ich gerade zusammen war. Waren ja keine dauerhaften Sachen. Hat sich irgendwie nie ergeben. Wir haben beide unser Ding gemacht, das mit den Männern war allein meine Sache. Außerdem haben Hartmut und ich nach einer kurzen Unterbrechung während seiner ersten Ehewochen unser Verhältnis weitergeführt.« Sie sagte das ganz ungerührt, als sei es das Normalste auf der Welt.
Selten war Christine sprachlos, aber in diesem Moment war das der Fall. Oda hingegen konnte parieren.
»Sie sind ja echt hardcoremäßig drauf«, stellte sie fest. »Hatten Sie denn gar kein schlechtes Gewissen?«
Anke Rietdorf hob gelangweilt die Hände. »Warum denn? Wenn nicht mit mir, hätte er es mit einer anderen getan. So blieb es zumindest in der Familie. Hartmut konnte nicht monogam sein. Seine Affären konnte man aber auch nicht als Verhältnis oder Beziehung im herkömmlichen Sinn bezeichnen. Die hatte er tatsächlich mit Jacki. Das mit mir war reiner Sex. Und ich brauchte das genauso wie er. Also passte doch alles. Niemandem wurde wehgetan, vor allem nicht Jacki.«
»Wenn das stimmt, warum haben Sie sich dann letzte Woche in der Praxis mit ihm gestritten?«, wollte Oda wissen.
Anke Rietdorf räusperte sich. »Man sollte die gute Adele wirklich nicht unterschätzen. Ich dachte, sie wird langsam schwerhörig, doch das Gegenteil scheint der Fall zu sein.«
»Worum ging es?«, bohrte Christine nach.