Mord auf der Sandbank - Christiane Franke - E-Book + Hörbuch

Mord auf der Sandbank E-Book und Hörbuch

Christiane Franke

4,8

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Beschreibung

Die Seniorchefin einer großen Logistikfirma ertrinkt unter rätselhaften Umständen auf Wangerooge. Ihr Tod kommt ihrem Sohn gelegen, denn der plant eine Investition in Millionenhöhe auf dem Gelände des Jade-Weser-Ports. Doch plötzlich taucht ein neues Testament und damit auch ein neuer Erbe auf. Oda Wagner und Christine Cordes stoßen auf jede Menge Lügen, Alibis – und eine gefährliche Spur in die Vergangenheit.

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Seitenzahl: 354

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Zeit:7 Std. 48 min

Sprecher:Victoria Schätzle
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Christiane Franke lebt gern an der Nordsee, wo ihre bislang dreizehn Romane und ein Großteil ihrer kriminellen Kurzgeschichten spielen; aber auch im Ausland holt sie sich auf Reisen gern Anregungen für die eine oder andere gemeine Tat. Franke ist ebenfalls Herausgeberin von Anthologien, war 2003 für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert und erhielt für 2011 das Stipendium der Insel Juist »Tatort Töwerland«. Mehr unter: www.christianefranke.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2016 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: photocase.com/ti.Na Umschlaggestaltung: Tobias Doetsch Lektorat: Marit Obsen eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-96041-095-9 Küsten Krimi Originalausgabe

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Vertrauen ist Mut, Treue ist Kraft.

Marie von Ebner-Eschenbach

Prolog

»Du hast mich all die Jahre belogen.«

Die eiskalte Stimme passt nicht hierher. Elise weiß nicht, wie sie reagieren soll. Wortlos läuft sie weiter. Sanft umspülen die heranrollenden Nordseewellen ihre Füße auf dem Weg am Strand entlang Richtung Osten. Im Sommer läuft sie diese Strecke gegen Abend häufig. Die halbe Insel umrunden. Wenn die Touristen den Strand verlassen haben. Heute ist die Abendstimmung besonders schön. Der Himmel beinahe wolkenlos blau, die Luft seidig, das Nordseewasser von der Sommersonne gewärmt.

»Hast du mich gehört? Warum antwortest du nicht? Ich will wissen, warum du das getan hast!«

Elise bleibt stehen. Ihre schlanken Füße sinken leicht in den Schlick des Wattenmeeres ein. Wie auf einer Landkarte ziehen sich Äderchen über die Haut. Ein deutliches Zeichen dafür, dass die Jugend längst vorbei ist.

»Kannst du mir noch mal die Flasche geben?« Nicht dass sie wirklich durstig wäre, aber sie hat das Gefühl, sie muss irgendetwas sagen. Auf den Vorwurf reagieren mag sie nicht.

»Hier.«

»Danke.« Sie schraubt den Verschluss ab und trinkt. Vielleicht gibt ihr die Apfelschorle neue Energie. Sie ist so müde.

»Ich will wissen, warum du uns hast glauben lassen, deine Lüge sei Wahrheit.« Die Stimme ist laut, am liebsten möchte sie die Ohren schließen. Nichts hören.

»Das spielt doch jetzt keine Rolle mehr«, sagt sie schwach. Ändern könnte sie es sowieso nicht mehr. Was geschehen ist, ist geschehen.

Mittwoch

Rasant nahm Thomas Boonenkamp die Kurve hinunter zum Parkplatz am Hafen unterhalb des Aquariums. Sie waren spät dran. Er wollte und konnte es sich nicht leisten, das Ablegen des Schiffes zu verpassen. Die »Fahrt in See« war einer der jährlichen Höhepunkte des Allgemeinen Wirtschaftsverbandes.

»Verdammt, nicht so schnell«, schimpfte seine Frau Silke, die sich gerade die Lippen nachzog und bei seiner Aktion abgerutscht war. Jetzt verunstaltete ein knallroter Strich ihre Wange. »Nun guck dir das an. Wie soll ich das denn wieder wegkriegen, ohne hinterher ungeschminkt dazustehen?«

»Das ist mir egal. Du schleppst so viel Zeug in deiner Tasche mit dir rum, da ist doch garantiert auch braune Spachtelmasse dabei.« Er wusste, dass er sie mit diesem Ausdruck verletzte, aber das störte ihn nicht. Sie verletzte ihn ihrerseits oft genug. »Los, beeil dich. Das Schiff legt gleich ab.«

Er öffnete bereits die Wagentür, doch Silke hielt ihn am Ärmel zurück. »Oh nein, mein Lieber. Du wirst fein warten, bis ich fertig bin. Erst dann gehen wir an Bord. Es sind noch ganze fünf Minuten bis zur Abfahrt, und die werden sicher nicht ohne dich ablegen. Schließlich gehörst du zum Beirat.«

Unwirsch sah Thomas seine Frau an und stieg aus. Es war ein lauer Sommerabend, das Wasser auf dem Jadebusen glich einer Plastikfolie, beinahe so wie in den Filmen der Augsburger Puppenkiste, deren Stücke er als Kind begeistert im Fernsehen geschaut hatte. Er zog sein Handy aus der Hosentasche. Da konnte er die Wartezeit nutzen und kurz bei seiner Mutter anrufen. Hoffentlich war sie jetzt da. Seit zwei Tagen erreichte er sie nicht, was ihn ärgerte. Bestimmt war sie wütend, weil Silke mal wieder, ohne es mit ihm abzusprechen, mit dem Vertrag auf die Insel gefahren war. Aber er war eben nicht der Hüter seiner Frau, die neben ihren anderen Mandanten auch für das Familienunternehmen als Anwältin tätig war, und letztlich hatte Silke recht: Seine Mutter musste unterschreiben, damit die Firma expandieren konnte.

»So. Jetzt können wir.« Schwungvoll warf Silke die Beifahrertür zu, was bei dem Wagen, den er fuhr, allerdings nur von einem satten Schmatzgeräusch begleitet wurde.

Er musste zugeben, das Warten hatte sich gelohnt. Der hässliche Lippenstiftstrich war fort, und in ihrem beigefarbenen Kostüm und den High Heels sah sie einfach umwerfend aus. Auch mit Anfang fünfzig war sie noch eine überaus attraktive Frau. Ob die Schuhe die richtige Wahl für die »MSHarle Kurier« waren, würde sich zeigen. Wie er Silke kannte, würde sie sich ohnehin zügig irgendeinen interessanten Gesprächspartner –natürlich männlich– schnappen und einen Sitzplatz ansteuern.

Es klingelte noch immer. Wo zum Teufel steckte seine Mutter? Unzufrieden beendete er den Anruf.

»Hat Mutter etwas davon gesagt, dass sie verreisen will?«, fragte er auf den wenigen Metern zum Schiff.

»Nein. Du kennst sie doch. Wenn sie eingeschnappt ist, spielt sie gern mal Toter Mann. Das gibt sich schon wieder.« Silke entdeckte eine Bekannte und hob winkend den linken Arm. »Huhu, Sabine!«

***

Wieder einmal war Oda nicht pünktlich zum Feierabend aus dem Büro gekommen. Christine war schon gegangen, aber sie hatte noch das Protokoll zu Ende bringen wollen. Als das endlich erledigt war, warf sie einen Blick auf die Uhr. Verdammt. Schon kurz nach sechs. Um sieben wollten Jürgen und sie beim Kulturzentrum Pumpwerk sein, wo heute die Band »Nappo! The Show« auftrat. Die waren besonders klasse. Jürgen und sie liebten die sommerlichen Open-Air-Veranstaltungen, das hatte einen Hauch von Urlaub. Sicher wartete er schon, eigentlich hatten sie geplant, vorher im »Orange« eine Kleinigkeit zu essen.

Sie wollte schon ihren PC herunterfahren, als sie eine neue Mail in ihrem Polizei-Account sah. Automatisch hielt sie inne. Das musste sie sein: Die Entscheidung hinsichtlich ihrer Beförderung.

Ihr Mund wurde trocken. Sollte sie die Mail jetzt öffnen oder bis morgen warten? Ach was, egal, was drinstand, es war besser, die Entscheidung mit in den Abend zu nehmen, als den morgigen Tag damit zu beginnen.

Oda gab sich keinen Illusionen hin. Sie und Christine waren nicht die einzigen im Geltungsbereich der Polizeiinspektion Wilhelmshaven/Friesland, die Anspruch auf eine Beförderung hatten.

Sie warf einen Blick auf die Signatur. Wann war diese Mail eingegangen? Vor zwanzig Minuten. Da war Christine noch hier gewesen. Garantiert hatte sie ihre Mails vor dem Herunterfahren ihres Rechners gecheckt. Gesagt hatte sie nichts. Konnte man daraus etwas schließen? War sie beschwingt oder deprimiert gegangen? Oda konnte sich nicht erinnern.

Sie starrte die ungeöffnete Mail an, als könnte sie dadurch deren Inhalt lesen. Ihr Herz klopfte heftig. Sie gab sich einen Ruck und drückte die linke Maustaste. Die Mail öffnete sich.

Beinahe ohne zu atmen überflog Oda die Zeilen, und langsam, wie in Zeitlupe, bahnte sich ein inbrünstiges »Ja!« den Weg über ihre Lippen. Da war sie. Die Beförderung!

Es war immer noch mild, als Oda die Polizeiinspektion verließ, wenngleich die Temperaturen heute keineswegs sommerlich zu nennen waren.

Es hätte jedoch auch Winter sein oder junge Hunde regnen können, Oda war so voller Euphorie, dass sie das Wetter kaum wahrnahm. Energiegeladen radelte sie nach Hause, stellte ihr Fahrrad vor dem Haus ab und schloss es mit der zusätzlichen Kette an der jungen Kastanie an. Kriminalhauptkommissarin. Oh yeah! Natürlich wurde es erst amtlich, wenn ihr die Urkunde überreicht wurde, dennoch…

Aus dem Briefkasten fischte sie zwei Werbebriefe und eine Postkarte von Laura, Jürgens unehelicher Tochter, die mit drei Freundinnen am Gardasee Urlaub machte. Es waren Sommerferien. Kinderfreie Zeit. Odas Sohn Alex zeltete gerade am Ijsselmeer.

Fröhlich lief sie die Treppen hinauf. »Jürgen!«, rief sie aufgekratzt, nachdem sie die Wohnung aufgeschlossen hatte, doch Jürgen antwortete nicht. Ob er schon vorgefahren war? Dann hätte er ihr doch zumindest Bescheid geben können, und sie wäre von der Polizeiinspektion direkt zum Pumpwerk geradelt. In der Küche schmiss sie die Postkarte auf den Tisch, die Werbebriefe in den Korb für das Altpapier und goss sich ein Glas Leitungswasser ein. Wo steckte er nur? Sie warf einen Blick auf die Uhr. In einer Viertelstunde begann das Konzert am Pumpwerk. Und alles deutete darauf hin, dass Jürgen und sie heute nicht dabei wären. So ein Schiet.

***

»Na, was macht das Geschäft? Man hört ja dolle Sachen über euren Laden.« Augenzwinkernd näherte sich Viktor Janssen, ein Kollege von Silke, mit einem Glas Jever in der Hand.

Thomas lehnte –ebenfalls mit einem Bier– an der Reling der »MSHarle Kurier«, die inzwischen den Hafen verlassen hatte und entlang der Küste in Richtung Marinestützpunkt fuhr. Begleitet von einigen Segelbooten, die vom Nassau-Hafen aus ihre übliche Mittwochsregatta veranstalteten, was bei dem wenigen Wind eher ein Treibenlassen denn ein Segeln war. Er tat, als wisse er nicht, wovon die Rede war. »Dolle Sachen? Keine Ahnung, was du damit meinst, aber danke der Nachfrage, das Geschäft läuft gut.« Lächelnd sah er den Anwalt an, dessen blonde Haare gewellt bis über die Ohren hingen. Genau wie Thomas selbst trug Viktor ein Oberhemd zu blauem Sakko und Jeans. Anders als das gestreifte von Viktor war Thomas’ Hemd allerdings weiß.

»Och, nun tu man nicht so. Ihr wollt expandieren. Eine neue Logistikhalle bauen. Das pfeifen ja schon die Spatzen von den Dächern. Kannst ruhig drüber reden.« Viktor lehnte sich neben ihn.

»Expandieren?« Thomas nickte. »Das ist eigentlich eine gute Idee. Ich kann ja mal drüber nachdenken.« Innerlich ärgerte er sich. Bestimmt hatte Silke in ihrem Kollegenkreis mit der Bitte, es vertraulich zu behandeln, den einen oder anderen Hinweis auf seine Pläne gegeben. Manchmal konnte sie einfach nicht den Mund halten. Dabei müsste gerade sie als Anwältin wissen, dass es besser war, verschwiegen zu sein. Vor allem, solange es noch keine Verträge gab. Und bevor sie die Verträge überhaupt aufsetzen konnten, musste seine Mutter unterschreiben. Ohne ihre Unterschrift lief gar nichts. Fehlte sie, platzte sein Konzept, dann hätte er einen sechsstelligen Betrag in den Sand gesetzt.

Sie würde natürlich unterschreiben. Da war er sich sicher. Niemals stünde sie der Zukunft des Unternehmens, ihrer Söhne und auch ihres einzigen Enkels Dirk, seines Sohnes, im Weg. Schließlich wollte sie das Beste für die Familie, und außerdem hing ihr Herzblut an der Firma, die sie vor neunundvierzig Jahren gemeinsam mit seinem Vater, ihrem Mann Walter, gegründet hatte.

»Lass uns von etwas anderem als dem Geschäft und dubiosen Gerüchten sprechen«, schlug er vor. »Ich hole uns noch ein Bier.«

***

Da war sie nun also gefallen, die Entscheidung. Gegen sie. Christine hatte die Mail nur kurz überflogen, dann zusammengepackt und war gegangen. Was hätte sie Oda in dem Moment auch sagen sollen? Herzlichen Glückwunsch? Das hätte sich falsch angehört. Zunächst einmal musste sie die Entscheidung der Behörde sacken lassen.

Es war sowieso wieder ein langer Tag in der Polizeiinspektion gewesen. Obwohl keine Stellen aktiv abgebaut wurden, sah es hinter den Kulissen nicht so rosig aus. Denn neuere Aufgabenbereiche wie der Kampf gegen Kinderpornografie und Cyber-Kriminalität und der enorme Zustrom an Flüchtlingen verursachten einen immensen Personalaufwand, für den es jedoch keine zusätzlichen Beamten gab. Christine wusste, wie sehr ihr Chef jonglierte, um alle Bereiche personell abzudecken, doch gerade in der Sommer- und damit Urlaubszeit geriet er an seine Grenzen. Heute hatte er ihr direkt leidgetan, als das ärztliche Beschäftigungsverbot einer jungen Kollegin reinkam, die aufgrund einer Risikoschwangerschaft ab sofort ausfiel. So was tauchte in keiner Statistik auf. Aber viel Arbeit zu haben, störte Christine nicht. Das lenkte ab, so konnte sie sich auf andere Themen konzentrieren. Arbeit dezimierte ihre Freizeit und damit die Möglichkeit, über Privates nachzudenken.

Als sie aus dem Wagen stieg, hörte sie auf dem Nachbargrundstück fröhliche Stimmen. Kinder und Erwachsene. Ihre Nachbarn waren offensichtlich aus den Ferien zurück und feierten mit Freunden eine Grillparty.

»Hey, Christine, komm rüber! Wir haben genug zu essen und zu trinken!« Norbert winkte mit der Grillzange.

»Danke, lieb, dass du mich einlädst!«, rief sie zurück, entschuldigte sich aber damit, dass sie nach Feierabend noch jede Menge Dinge zu erledigen hätte.

Als sie den Haustürschlüssel ins Schloss steckte, schalt sie sich eine Närrin. Warum sollte sie nicht hinübergehen, mit den Nachbarn klönen, ein Gläschen Wein trinken und auf andere Gedanken kommen?

In der Küche goss sie sich ein Glas Apfelsaft ein und setzte sich an den Tisch.

»Die Auswahl wurde entsprechend dem Prinzip der Bestenauslese nach Eignung, Leistung und Befähigung sowie unter besonderer Berücksichtigung der Beförderungsrichtlinien der Polizeidirektion Oldenburg getroffen.«

So hatte es in der Mail gestanden.

Sie hätte es wissen müssen. Nachdem sie so lange ausgefallen war, hatte sie keine reelle Chance mehr auf die Beförderung gehabt. Diese Sache im letzten Jahr hatte sie aus dem Rennen katapultiert. Andererseits: Hätte sie nicht gerade deshalb die Beförderung verdient? Siebelt wusste doch, wie es um sie stand, was sie durchgemacht hatte. Verdammt, hätte er sich nicht durchsetzen können? Eine Art Carte blanche ziehen?

Jetzt erst ließ sie es zu, dass ihre Gefühle sich Raum verschafften. Die Zeit verstrich, doch sie merkte es nicht. Nach und nach wich ihre Wut der Enttäuschung, die sie allerdings auch wieder in Relation bringen musste. Natürlich hatte Siebelt keinen Freifahrtschein aus der Tasche ziehen können, Beförderungen liefen nach einer Vielzahl von Kriterien ab. Und auch wenn es sie wurmte und, ja, auch traurig machte, nicht befördert worden zu sein, musste sie sich auf das Wesentliche besinnen. Das hatten ihr die Therapiestunden, zu denen sie nach ihrem Krankenhausaufenthalt gegangen war, deutlich gemacht.

Beförderungen waren Äußerlichkeiten. Wirklich wichtig waren andere Dinge. Dass sie mit sich im Reinen war, dass sie die kleinen Schönheiten des Tages bewusst wahrnahm. Dass sie auf sich achtete. »Heute ist mein schönster Tag«, hieß das Buch, das ihr der Arzt in der Reha empfohlen hatte. Hier und jetzt bewusst leben. Dennoch fiel es ihr schwer, den abschlägigen Bescheid gelassen anzunehmen. Aber da musste sie durch. Sicher würde Oda ihre Beförderung in der Polizeiinspektion feiern. Und sicher würde der Rest der Kollegen Christines Reaktion argwöhnisch beobachten. Aber sie würde sich Oda gegenüber nicht zickig oder beleidigt verhalten. Im Gegenteil.

Mit einem Ruck stand sie auf. Lief die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, tauschte den Kostümrock gegen eine weiße Jeans, schlüpfte in Sandalen mit farbenfrohen Strasssteinen, nahm eine Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank und ging zu den Nachbarn rüber.

Donnerstag

»Mutter geht noch immer nicht ans Telefon. So langsam mache ich mir wirklich Sorgen.« Thomas Boonenkamp legte nachdenklich das schnurlose Telefon auf den Küchentisch und griff zu seiner Kaffeetasse. »So lange hat sie ihren Unmut noch nie konserviert. Zumindest kurz telefonieren kann man ja.« Er trank einen Schluck und nahm sich eine Scheibe Toast aus dem Brotkorb.

»Vielleicht schläft sie noch«, mutmaßte Silke, »es ist ja noch nicht einmal acht Uhr.«

Seine Frau schmierte sich Frischkäse auf ein Schwarzbrot, während er selbst französischen Weichkäse auf dem Toast bevorzugte.

»Das glaube ich nicht. Um diese Uhrzeit ist sie normalerweise immer auf.« Genussvoll biss Thomas ab.

»Wer weiß, vielleicht liegt sie gerade mit ihrem neuen Freund in den Federn und amüsiert sich«, entgegnete Silke süffisant.

»Silke. Ich bitte dich! Du redest von meiner Mutter!« Thomas war empört.

»Auch Mütter sollen so etwas gelegentlich tun. Selbst wenn sie über siebzig sind. Bekanntlich schützt Alter vor Liebe nicht.« Ein maliziöses Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Und ich glaube nicht, dass deine Mutter eine heilige Jungfrau ist. Möchtest du noch?« Sie deutete auf den Brotkorb. Thomas schüttelte den Kopf, woraufhin Silke aufstand und Korb und Käse forträumte. Dann nahm sie die Frischhaltebox mit ihren geschmierten Broten und hauchte ihm einen angedeuteten Kuss auf die Wange. »Ich fahr ins Büro. Wir sehen uns am Abend? Oder hast du da einen Termin?«

»Nein, heute Abend bin ich da. Ich könnte uns etwas kochen, was meinst du?« Thomas kochte leidenschaftlich gern. Am Herd zu stehen und Speisen zuzubereiten, bedeutete pure Entspannung für ihn.

»Gern. Ein Steak? Mit einem Salat. Bis später also.« Schon war sie verschwunden.

Thomas trat an den Kaffeevollautomaten und goss sich eine weitere Tasse ein. Im Stehen wählte er die Nummer seines Bruders Martin. »Ich bin’s«, sagte er, kaum dass sich sein Bruder meldete. »Hast du etwas von Mutter gehört? Ich erreiche sie seit drei Tagen nicht.«

»Nein, ich bin aber auch gerade erst aus China zurück und hab noch gar nicht bei ihr angerufen. Die Gespräche mit den beiden Reedereien waren echt anstrengend.« Martin klang müde. »Denen die Vorzüge des Jade-Weser-Ports und unseres Logistikzentrums schmackhaft zu machen, ist ein zähes Unterfangen. Ich glaube aber, so langsam kriegen wir die Kurve. Sie verhandeln zwar noch hart und rasseln mit den Säbeln, aber die Schwierigkeiten der Triple-E-Klasse auf der Elbe mit den Ausfallzeiten wegen zu starkem Wind führen langsam dazu, dass sie den Jade-Weser-Port als kostengünstigere und vor allem zeitsparende Alternative in ihre Planungen einbeziehen.«

»Ja, das würde die Auslastung der neuen Halle komplett sicherstellen, obwohl wir auch so schon gut dastehen. Aber lass uns darüber im Büro reden. Du hast in den vergangenen Tagen also auch kein Lebenszeichen von Mutter erhalten?«

»Nein.« Martin klang gereizt. »Das habe ich doch gerade gesagt. Wegen der Zeitverschiebung habe ich auch von China aus nicht mit ihr telefoniert. Und nun entschuldige mich. Ich habe zu tun. In einer Stunde kommt die Delegation aus Dänemark, da gibt es noch einiges vorzubereiten. Und wie du sicher verstehen wirst, macht mir der Jetlag zu schaffen.« Mit diesen Worten legte sein Bruder auf.

Verärgert über Martin sah Thomas aus dem Fenster. Niemand, der sie beide sah, würde auf die Idee kommen, dass sie Brüder waren. Auch vom Wesen her waren sie sich so fremd wie nur irgend möglich. Schon als Kind hatte Thomas jene Verbundenheit vermisst, die andere Geschwister offenbar verspürten. Sie mochten sich nicht einmal sonderlich. Das war schon im Kleinkindalter so gewesen, wie Mutter irgendwann mal erzählt hatte.

Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Er stellte die Kaffeetasse in die Spülmaschine, als ihm eine Idee kam. Tante Helga. Sie war nicht nur seine Patentante, sondern auch die beste Freundin seiner Mutter. Vielleicht wusste Helga, wo sie steckte.

***

Tobias Michaelis hatte Glück. Noch waren die Parkplätze am Hooksieler Strand nicht voll, die meisten Touristen machten sich erst gegen zehn auf den Weg, nachdem sie in ihren Pensionen oder Ferienwohnungen gemütlich und ausgiebig gefrühstückt hatten. Doch der frühe Vogel fängt den Wurm, außerdem waren sowohl die Tide als auch der Wind günstig, sodass er vor der Arbeit eine Stunde mit seinem Surfbrett über das Wasser flitzen konnte, ohne Rücksicht auf badende Kinder und Freizeitschwimmer nehmen zu müssen. Er setzte sich auf die Ladefläche seines alten Kombis und zog seinen Neoprenanzug über, auf den er trotz des warmen Wetters und Wassers nicht verzichten mochte. Dann löste er das Surfbrett aus der Halterung auf dem Dach und trug es über die Straße und den Deich, genau wie kurz darauf das Segel und den Mast. Endlich schob er das Brett ins Wasser, stieg auf und griff nach dem Gabelbaum.

Als hätte er auf ihn gewartet, fuhr der Wind ins Segel, und augenblicklich nahm Tobias Fahrt auf. Was für ein phänomenaler Start in den Tag. Da spielte es keine Rolle, dass er in anderthalb Stunden wieder an der Kasse des Edeka-Marktes neben der Tankstelle sitzen würde, diese Stunde gehörte nur ihm und dem Meer. Er schoss übers Wasser und genoss die Freiheit. Sogar ein paar gute Sprünge gelangen ihm. Als er zurück an den Strand fuhr und im kniehohen Wasser absprang, entdeckte er den Körper.

Er zwinkerte, dann sah er noch einmal hin.

Und glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können.

Neben seinem Surfbrett trieb ein toter Mensch. Vollständig bekleidet. Inklusive Sportschuhen. Das sah definitiv nicht nach einem Badeunfall aus.

Einen Moment lang wusste er nicht, wie er sich verhalten sollte, dann dachte er, dass er die Leiche irgendwie bewachen oder sie am besten direkt ans Ufer bringen und die Polizei verständigen müsste. Nie zuvor war er so dankbar gewesen, Neoprenanzug und -handschuhe zu tragen. Vor wenigen Jahren hatte er eine ähnliche Situation nämlich schon einmal erlebt. Damals hatte er versucht, den Leichnam auf das Board zu ziehen, doch das war ihm nicht gelungen. Stattdessen hatte sich an der Stelle, die er angefasst hatte, die Haut gelöst. Er spürte jetzt noch die Übelkeit, die ihn damals überwältigt hatte.

Mit der Nase des Surfbrettes stupste er den toten Körper vorsichtig an den Strand. Es schien eine Frau zu sein– kein Mann würde einen rot-rosa-weiß geringelten Pullover anziehen. Als er den Körper endlich am Strand hatte, verständigte Tobias von seinem Handy aus die Polizei.

***

Helga Wiemken saß auf dem Balkon und beobachtete den Touristenstrom, der –einer Invasion gleich– in den Ort spülte, nachdem die blaue Bimmelbahn die Passagiere der Fähre vom Hafen ins Dorf gebracht und am Bahnhof ausgespuckt hatte. Das bedeutete Abwechslung. Manches Mal suchte sie sich einen der Touristen aus und erfand eine Geschichte zu dieser Person. Warum er oder sie auf die Insel gekommen war, was für ein Schicksal derjenige hinter oder vor sich hatte. Im Sommer frühstückte sie gerne draußen, weil sie vom Balkon aus den alten Wangerooger Leuchtturm im Blick hatte. Besonders gerne dachte sie sich Geschichten zu den Brautpaaren aus, die im Leuchtturm heirateten.

Sie hatte bereits die zweite Tasse Tee getrunken, eine Scheibe Weißbrot mit selbst gemachtem Holunderbeergelee verputzt und war dabei, den »Anzeiger für Harlingerland« zu studieren, als das Telefon klingelte.

Sie zuckte zusammen. Viertel nach acht. Telefonklingeln um diese Uhrzeit konnte nichts Gutes bedeuten. Mit einem mulmigen Gefühl nahm sie das Gespräch an. »Wiemken?«

»Tante Helga, ich bin’s. Thomas.«

Sofort schrillten in ihr sämtliche Alarmglocken. Ihr Patensohn meldete sich sonst nur zu ihrem Geburtstag und zu Weihnachten. War etwas mit Elise?

»Thomas«, sagte sie, unfähig, weitere Gedanken zu artikulieren.

»Hast du was von Mutter gehört? Ich versuche seit drei Tagen, sie zu erreichen.«

Helga hörte echte Sorge aus Thomas’ Tonfall heraus. Die gleiche Sorge, die sie auch schon empfunden, die sich mit der Zeit jedoch in Unwillen verwandelt hatte.

»Nein.« Helga konnte nicht vermeiden, dass sich ein bitterer Ton in ihre Stimme schlich. »Ich weiß auch nicht, wo sie steckt. Am Montag haben wir uns auf einen Kaffee im ›Pudding‹ getroffen, seither habe ich nichts von ihr gehört. Sie wird wohl Besuch von diesem Erich bekommen haben. Immer wenn der hier ist, meldet sie sich nicht mehr bei mir. Dabei hätte sie ihn mir inzwischen wenigstens mal offiziell vorstellen können. Das gehört sich doch so. Schließlich sind wir seit über sechzig Jahren befreundet. Aber anscheinend vergisst man seine langjährigen Freundinnen, wenn ein neuer Mann auftaucht. Gestern hab ich noch gedacht, ich treffe die beiden zufällig in der Zedeliusstraße, wenn sie ihm die Insel zeigt, aber entweder verlassen sie die Wohnung nicht, oder sie meidet den Ortskern.«

»Meinst du wirklich? Warum sollte sie das tun?« Thomas klang überrascht.

»Keine Ahnung. In letzter Zeit ist sie etwas wunderlich geworden. Also eigentlich erst, seit sie diesen Erich kennt.« Noch immer gelang es Helga nicht, zu verbergen, wie sehr Elises Verhalten sie kränkte. Thomas hielt das bestimmt auch für reichlich kindisch. Immerhin gingen sowohl seine Mutter als auch sie auf die achtzig zu. Da musste man sich doch nicht mehr irgendwelchen Hormonen hingeben. Das hatte noch nie zu etwas wirklich Gutem geführt, sondern nur dazu, dass die Gefühle über den Verstand dominierten. Da waren sie sich immer einig gewesen. Von Elise hätte sie so etwas nie erwartet.

»Ich mach mir Sorgen. Mutter war noch nie so lange nicht erreichbar.«

Helga lächelte angesichts der Fürsorge, die aus Thomas’ Worten sprach. Er war fast wie ein eigener Sohn für sie.

»Kannst du nicht mal in ihrer Wohnung nach dem Rechten sehen? Du hast doch den Schlüssel. Das würde mich wirklich sehr erleichtern.«

»Natürlich. Ich habe selbst schon daran gedacht, mich aber nicht getraut, den Schlüssel einfach so zu gebrauchen. Wenn du mich allerdings bittest, mach ich das gern. Ich glaube aber nicht, dass du dir wirklich Sorgen machen musst. Da steckt bestimmt dieser Mann dahinter.«

***

Der Hooksieler Strandabschnitt war rund um die Stelle, an der Tobias Michaelis die Leiche an Land gebracht hatte, mit rot-weißem Polizei-Flatterband abgesperrt worden. Plastik-Stellwände versperrten den Schaulustigen die Sicht auf den Körper. Dennoch gab es Gaffer, die vom Wasser aus versuchten, einen Blick auf das Szenario zu erhaschen.

Nach dem Notarzt, der erwartungsgemäß nur den Tod hatte feststellen können, und den Kollegen der Streife war auch die Tatortgruppe hinzugezogen worden. Derzeit sahen Oda und Christine zu, wie Krüger die Leiche untersuchte. Es handelte sich um eine ältere Frau, vermutlich um die siebzig. Genauer wollte sich der Rechtsmediziner nicht festlegen. Die warme Nordsee hatte den Verwesungsprozess beschleunigt. Kollege Herz kümmerte sich um den jungen Surfer, der reichlich mitgenommen wirkte.

»Was für ein Schock«, sagte er immer wieder, »ich kann es gar nicht fassen.«

»Wir wissen nicht, wer sie ist, oder?«, fragte Christine.

Oda schüttelte den Kopf. »Nein. Es liegt keine Vermisstenanzeige vor, die auf sie zutrifft.«

»Also scheint noch niemand gemerkt zu haben, dass sie verschwunden ist. Ob sie keine Familie hat?«

»Keine Ahnung. Wir wissen ja auch nicht, wie lange sie schon tot ist. Bei diesen Temperaturen muss sie nicht lange im Wasser gelegen haben. Außerdem weißt du doch, wie es ist: Irgendwie hat jeder so viel um die Ohren, da telefoniert man nicht ständig miteinander. Selbst innerhalb der Familie nicht. Oder rufst du deine Eltern jeden Tag an?«

»Nein«, gab Christine zu. »Aber die sind ja auch erst Anfang sechzig und stehen mitten im Leben. Die hier scheint doch deutlich älter zu sein.«

»Tja.«

Dr.Krüger erhob sich ächzend, die Hand in den Rücken gestützt. Der sollte wirklich mal zum Orthopäden gehen.

»Bislang sieht alles nach Tod durch Ertrinken aus«, sagte er. »Anzeichen auf äußere Gewaltanwendung kann ich zu diesem Zeitpunkt nicht erkennen.«

»Danke, Doc.« Oda nickte bedächtig. »Können wir sie dann abtransportieren lassen?«

Krüger bejahte, und Oda winkte den Bestatter und dessen Mitarbeiter heran. Vorsichtig hoben die beiden Männer die Plane an, auf die man die Leiche gelegt hatte, und bugsierten sie in den dunkelblauen Transportsack, den sie mittels Reißverschluss ordentlich verschlossen und auf die Bahre hoben. Zwei Kollegen der KTU halfen, die Bahre über den Strand und den Rasen den Deich hinauf und zum Parkplatz auf der anderen Seite der Straße zu tragen.

»Ich verabschiede mich dann mal«, sagte Krüger, griff nach seiner Tasche und hob grüßend die Hand. »Sie hören von mir.«

»Wir freuen uns drauf«, entgegnete Oda trocken, während Christine dem Arzt die Hand reichte. »Tschüss.« Sie wandte sich um. »Jungs, wir fahren in die PI«, rief sie den Kollegen zu, die begonnen hatten, das Flatterband und die Plastik-Stellwände zu entfernen.

»Alles klar.« Die Aufräumarbeiten gingen weiter.

»Die Frau wird allein wohnen«, vermutete Christine, als sie zum Parkplatz liefen. »Sonst wäre sie sicherlich schon als vermisst gemeldet worden.«

»Oder sie war allein im Urlaub.«

»Stimmt. Und wenn sie sich hier irgendwo eine Ferienwohnung gemietet hat, kann es dauern, bis jemandem auffällt, dass sie verschwunden ist.«

Für einen Moment hingen beide ihren Gedanken nach. Sie erreichten den Parkplatz, Christine drückte die Fernbedienung, die ihr Cabrio entriegelte, und sie stiegen ein. Während Christine das Verdeck nach hinten fahren ließ, sagte sie unvermittelt: »Ich gratuliere dir zur Beförderung.« Dann startete sie den Motor, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr aus der Parklücke. »Du hast es verdient.«

»Danke.« Augenblicklich war Oda ein wenig verlegen. »Du hättest es ebenfalls verdient gehabt.«

»Ja, irgendwie wir alle.« Zügig fuhr Christine vom Parkplatz und bog rechts ab, auf die Straße, die hinter dem Deich über die Hooksieler Schleuse am Jade-Weser-Port vorbei nach Wilhelmshaven führte.

»Jo.« Oda wusste nicht, was sie noch sagen sollte, es war nun mal so, wie es war, sie konnte nichts daran ändern, und selbst wenn sie gekonnt hätte, hätte sie es nicht getan. Sie hatte lange genug auf die Beförderung gewartet. So war nun mal der Lauf der Dinge, sie selbst hatte auch schon diverse Male zugucken müssen, wie Kollegen an ihr vorbeizogen. »Weißt du was, komm doch am Wochenende zum Essen zu uns. Wir lassen uns von so einer Beförderung schließlich unsere Kameradschaft nicht kaputtmachen, oder?«

Christine lächelte schmal. »Nein, natürlich nicht. Freitag kann ich allerdings nicht. Da begleite ich Siebelt zum Schifffahrtsessen des Nautischen Vereins.«

»Ach, hat es diesmal dich erwischt?« Oda lachte. »Trifft sich gut, Jürgen muss auch hin, er schreibt den Artikel für den ›Kurier‹, da wäre es schlecht gewesen, wenn ich ohne Koch hätte klarkommen müssen. Wie sieht es denn am Samstag aus?«

»Da kann ich.«

»Supi. Um sechs? Jürgen macht gefüllte Trüffel-Ravioli mit Saltimbocca alla romana.«

***

Trotz des warmen Sommertages herrschte reges Treiben auf den Terrassen der Cafés und Restaurants in der Zedeliusstraße, als Helga Wiemken in Richtung »Pudding« lief. Es schienen eine Menge Tagesgäste auf der Insel zu sein, die nicht nur das Strandleben genießen wollten. Helga nahm sich vor, im Café »Treibsand« einen Cappuccino zu trinken, wenn sie in Elises Wohnung nach dem Rechten gesehen hatte. Flotten Schrittes bog sie ab und klingelte kurz darauf an der Tür ihrer Freundin. Keine Reaktion. Sie klingelte erneut. Wieder ertönte innen die Türglocke. Nichts. Zögerlich steckte sie den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür. »Elise!«, rief sie. »Ich bin’s. Helga.«

Doch Elise antwortete nicht. Mit einem unbehaglichen Gefühl trat Helga ein. Langsam bekam sie es mit der Angst zu tun. Was, wenn Elise einen Schlaganfall bekommen hatte und sich nicht bemerkbar machen konnte? Wenn sie seit Montag hilflos in der Wohnung lag? Und sie, Helga, hatte sich aus gekränktem Stolz heraus nicht gekümmert, obwohl sie sich hätte kümmern können? Aber je weiter sie durch die Wohnung schritt, desto mehr kam die Wut zurück. Keine Spur von Elise. Da hatte Helga sich wieder einmal zu viele Sorgen gemacht. Garantiert steckte dieser Erich dahinter. Ein Mann, den Elise bei irgendeinem Straßenfestival kennengelernt hatte. Tsss. Wie konnte man sich in ihrem Alter noch auf eine neue Männerbekanntschaft einlassen? Vermutlich hatte Elise Walter nicht so innig geliebt wie Helga ihren Fritz. Nein, Helga verstand Elise nicht. Verstimmt ging sie über den Flur auf die Wohnungstür zu, als ihr etwas auffiel. Sie stutzte.

Auf der Kommode stand neben dem Telefon Elises Handtasche. Die hatte sie gerade gar nicht bemerkt. Wo war Elise denn bitte ohne Handtasche hin? Das machte man doch nicht! Noch weniger, als sich auf seine alten Tage mit einem neuen Kerl zu treffen.

Sollte sie, oder sollte sie nicht? Keine Frage, sie musste sogar nachschauen, wenn sie das Rätsel um Elises Verschwinden lösen wollte.

Entschlossen öffnete Helga die Tasche. Und atmete tief durch, als sie den Inhalt sah. Elises Portemonnaie. Um Gottes willen. Irgendetwas knallte in ihrem Kopf, und für einen Moment wurde ihr schwarz vor Augen.

Als sie wieder richtig sehen konnte, griff sie zum Festnetztelefon und drückte die Taste, auf der »Thomas Handy« stand.

***

»Erst einmal: Gratulation zur Beförderung! Das hat sich sogar schon bis zu uns herumgesprochen.« Nieksteit haute Oda mit Schwung auf die Schulter, als sie den Besprechungsraum betraten, in dem Lemke schon alle Vorbereitungen getroffen hatte. Eine Kanne Kaffee stand auf dem Tisch, Becher, Milch und Zucker, das Flipchart mit den ersten Aufnahmen aus Hooksiel krönte die Kopfseite.

Christine versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass sie ihre Kiefer aufeinanderpresste. Natürlich freuten sich die Kollegen, dass eine von ihnen befördert worden war, es hatten ja auch Kollegen und Kolleginnen aus anderen Polizeistationen der Polizeidirektion Oldenburg zur Debatte gestanden.

»Danke.« Oda strahlte. »Ich wollte ja eigentlich mit ’ner Ladung Brötchen hier auftauchen, aber da kam die Leiche in Hooksiel dazwischen. Ich hol’s nach. Versprochen.«

»Wir werden dich dran erinnern«, sagte Nieksteit augenzwinkernd in dem Moment, als Hendrik Siebelt, der Chef des K1, den Raum betrat. Wie immer war er in Brauntönen gekleidet, heute jedoch hatte er in Anbetracht der hochsommerlichen Temperaturen sowohl Sakko als auch Weste in seinem Büro gelassen.

»Woran werden wir wen erinnern?«, wollte Siebelt wissen.

»Mich an die Frühstücksrunde zur Beförderung«, erklärte Oda.

Siebelt nickte und sagte: »Wäre jetzt sowieso zu spät. Ich habe mein Pausenbrot gerade intus. Ist ja schon nach neun.«

Insgeheim schmunzelte Christine. Siebelt hatte seine festen Zeiten. Frühstück gab es um neun, es musste schon sonst was geschehen, damit er von diesem Rhythmus abwich. Er behauptete stets, dass es seine festen Rituale waren, die verhinderten, dass er bei seinem nervenaufreibenden Job einen Herzinfarkt bekam. Da mochte durchaus etwas dran sein.

»Was wissen wir über die Tote?«, fragte Siebelt, als alle um den Besprechungstisch saßen.

»Weiblich, über sechzig. Ertrunken. Ihre Haut war gebräunt, was auf eine Urlauberin oder aber darauf hindeutet, dass sie sich gern und ausreichend an der frischen Luft aufgehalten hat. Das war jedenfalls das, was Dr.Krüger am Hooksieler Strand bei der ersten Inaugenscheinnahme in sein Handy diktiert hat«, erklärte Lemke. »Er hat mir die Datei geschickt.«

Nieksteit ergänzte: »Uns liegt keine Vermisstenanzeige vor, die auf die Frau passt. Das heißt, entweder wird sie bislang noch von niemandem vermisst, oder aber derjenige, der sie vermissen müsste, ist derjenige, der für ihren Tod verantwortlich ist.«

»Blödsinn.« Siebelt schüttelte den Kopf. »Wenn einer die Frau umgebracht hätte, müsste er doch erst recht ziemlich zeitnah eine Vermisstenanzeige aufgeben. Um nicht verdächtig zu wirken.«

»Er könnte es aus ebendieser Überlegung heraus aber auch nicht getan haben«, insistierte Nieksteit.

»So ein Unsinn.« Siebelt gähnte. »Tut mir leid. War eine kurze Nacht«, sagte er, ohne sich weiter zu erklären.

Während sie noch über zahnärztliche Gutachten sprachen, anhand derer die Identität der Leiche zu ermitteln wäre, klingelte das Telefon. Lemke nahm das Gespräch an. Kurz darauf sagte er zufrieden: »Manchmal muss man auch Glück haben. Gerade hat jemand angerufen und wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Die Frau, die abgängig ist, ist achtundsiebzig. Könnte auf unsere Tote passen. Ihr Sohn kommt gleich vorbei. Ich hab dem Kollegen Herz gesagt, die sollen sich melden, wenn er die Anzeige aufgegeben hat. Dann können wir mit ihm sprechen.«

***

Im Schatten unter der Markise war noch ein Tisch frei. Völlig fertig mit den Nerven ließ sich Helga Wiemken auf einen Stuhl sinken und bestellte sich zum Kaffee einen Baileys. Auf Eis. Noch vor dem Kaffee hatte sie den Baileys geleert und direkt einen zweiten geordert. Auch wenn sie wusste, dass sie Alkohol eher meiden sollte. Als Diabetikerin musste sie vorsichtig damit sein. Aber es gab ja einen Grund! Elise war verschwunden, doch ihre Handtasche mit ihrem Portemonnaie und allen wichtigen Papieren befand sich in der Wohnung.

In ihrer eigenen Handtasche erklang die Melodie ihres Handys. Hektisch suchte sie danach. »Ja? Hallo?«, sagte sie endlich und hoffte, dass der Anrufer noch nicht aufgelegt hatte.

»Tante Helga? Thomas hier. Bist du noch in Mutters Wohnung?«

»Nein. Ich bin auf der Zedeliusstraße. Warum? Hat sie sich bei dir gemeldet?« Aufregung packte Helga.

»Nein, leider nicht. Ich wollte dir nur sagen, dass ich jetzt zur Polizei gehe und die Vermisstenanzeige aufgebe. Hast du noch einmal nachgedacht, hat Mutter vielleicht doch etwas gesagt? Hat sie vielleicht ein zweites Portemonnaie?«

»Nein. Das, was in der Handtasche ist, ist das einzige. Das hat sie seit Jahren, wir haben es mal zusammen in Oldenburg gekauft. Da sind die ganzen Plastikkarten und der Ausweis und Fotos von euch drin.«

»War ihr Handy auch in der Tasche?«

»Stimmt.« Neue Hoffnung machte sich in Helga breit. »Ihr Handy hat sie immer dabei.« Ihre Aufregung wurde stärker. »Soll ich Elise anrufen?«

»Lass mal.« Thomas sprach leise. »Ich hab’s schon oft genug versucht. Da springt immer gleich die Mailbox an.« Sie hörte ihn einatmen. »Ich melde mich, wenn ich etwas Neues erfahre.«

»Ist gut.« Sie beendeten das Gespräch, und Helga bestellte sich einen dritten Baileys.

***

In der Seitenstraße neben dem Haupteingang der Polizeiinspektion war ein Parkplatz frei. Thomas Boonenkamp stellte den Wagen ab, drehte die Parkscheibe zurecht und legte sie aufs Armaturenbrett. Zwei Stunden durfte er hier stehen, so lange würde es aber sicherlich nicht dauern. Immer noch hoffte er, dass seine Mutter sich jeden Moment meldete. Dass sie ein übles Spiel mit ihm trieb. Seit Silke so sehr dahinter her war, dass seine Mutter ihm ihre Firmenanteile überschrieb, hatte es schon öfter Tage gegeben, an denen sie sehr kurz angebunden war, wenn sie telefonierten, oder das Gespräch gar nicht erst annahm, sondern ihn nach mehrmaligem Klingeln wegdrückte. Dass er sie über mehrere Tage hinweg gar nicht erreichte, war aber noch nie vorgekommen.

Thomas Boonenkamp lief die wenigen Stufen zum Haupteingang hinauf und klingelte. Kurz darauf öffnete sich die erste Tür, und er stand in einer Art Vorflur, ihm gegenüber eine Pförtnerloge, in deren Glasscheibe er sich spiegelte. Kritisch warf er einen Blick auf das Bild, das sich ihm bot. Sein Gesicht war zwar nicht faltenfrei, besaß jedoch eine beinahe zeitlose Jugendlichkeit. Dagegen sprachen allerdings die Geheimratsecken und dass sich durch sein dunkles Haar erste silberne Strähnen zogen.

Hinter der Spiegelung tauchte ein Beamter auf und trat an die Glasscheibe.

»Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Ich hatte bereits angerufen«, erklärte Thomas, woraufhin sich linker Hand eine andere Glastür öffnete, die in den Empfangsbereich der Polizeiinspektion führte.

Thomas ging auf den Tresen zu, hinter dem der Beamte auf ihn wartete. Aus der Innentasche seines Sakkos zog er zwei aktuelle Fotos seiner Mutter, die erst kürzlich, am Geburtstag seines Sohnes Dirk, entstanden waren. Zehn Minuten später hatte er die Anzeige aufgegeben.

»Danke«, sagte er schweren Herzens. »Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Tag.« Er drehte sich schon um, als der Beamte sagte: »Warten Sie bitte noch einen Moment. Ich gebe den Kollegen Bescheid. Da kommt gleich einer und nimmt Sie mit.«

»Ist gut.« Thomas blieb stehen. Er hätte nicht gedacht, dass man nach dem Aufgeben einer solchen Anzeige noch mit jemandem sprechen musste.

Er hörte, wie der Beamte in den Hörer sprach: »Der Herr Boonenkamp ist jetzt hier. Er hat seine Mutter als vermisst gemeldet.«

***

»Boonenkamp«, wiederholte Nieksteit perplex, der das Gespräch entgegengenommen hatte. »Boonenkamp. Tante Elise.«

Oda, Christine, Lemke und Siebelt sahen ihn verständnislos an.

»Tante Elise?«, fragte Siebelt, »was meinst du damit?«

Nieksteit stand auf und trat an das Flipchart. Den anderen den Rücken zugewandt, betrachtete er die wenigen Aufnahmen, die sie bisher hatten. Die Auswirkungen des warmen Wassers gereichten dem Äußeren der Frau nicht gerade zum Vorteil. Konnte es sich wirklich um Elise Boonenkamp handeln?

»Elise Boonenkamp ist die beste Freundin meiner Patentante Helga.«

»Ach nee«, sagte Siebelt. »Sag bloß, die gehört zu den Boonenkamps der ›Boonenkamp Logistik Group‹? Hab ich ja gar nicht gewusst, dass du mit denen so eng bist.«

Nieksteit sah ihn schräg an. »So eng nun auch wieder nicht. Wie gesagt, Elise ist die beste Freundin meiner Patentante. Als Kind bin ich viel bei Tante Helga gewesen. Ihre Geburtstage waren das Größte! Die hat sie nachmittags nur mit uns Patenkindern gefeiert, also mit mir und den Söhnen von Tante Elise: Martin und Thomas. Die sind zwar viel älter als ich, Martin rund fünfzehn, Thomas sogar über zwanzig Jahre. Trotzdem haben sie kaum einen Geburtstag ausgelassen. Das war cool, es gab immer Geschenke für uns Jungs. Spielzeug für mich, Technisches oder Bücher und Langspielplatten für die beiden Großen. Und Negerküsse– oder Schokoküsse, wie man heute politisch korrekt sagen muss. Tante Helga hat sich viel um Thomas und Martin gekümmert, sie hatte selbst keine Kinder, und Tante Elise war ja stark in die Firma eingebunden, die sie in den Sechzigern mit ihrem Mann Walter gegründet hat. Das war damals ja noch die Spedition Boonenkamp.« Er blickte in die Runde. »Ich glaub, in diesem Fall sollte ich runtergehen und mit Thomas oder Martin sprechen. Seid ihr einverstanden?«

Die anderen nickten.

***

Der Mann mit strubbeligen rötlichen Haaren, der aus dem Treppenhaus durch eine weitere Glastür den Empfangsbereich der Polizei betrat, kam Thomas Boonenkamp vage bekannt vor.

»Thomas. Moin«, sagte der Mann, und jetzt erkannte er ihn. Das war Nieksteit, Tante Helgas anderer, jüngerer Patensohn.

»Nikky«, sagte er erstaunt. »Ich hab gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt, dass du bei der Polizei arbeitest. Da hätte ich dich ja auch direkt anrufen können. Aber du bist doch bei der Kripo, oder? Seid ihr für Vermisstenanzeigen denn überhaupt zuständig?«

»Wie man’s nimmt.« Nieksteit nahm dem Wachhabenden die Vermisstenanzeige und die Fotos ab. »Komm mit«, sagte er und lief voraus.

Thomas folgte ihm in den zweiten Stock.

»Deine Mutter ist verschwunden?«

»Ja. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt. Tante Helga hat gesagt, sie hätten sich am Montag getroffen, und danach hätte sie nichts mehr von ihr gehört. Ungefähr genauso lange versuche ich schon, Mutter telefonisch zu erreichen. Ich meine, es ist ja nicht ungewöhnlich, dass man nicht ständig in Verbindung ist, aber ich erreiche sie überhaupt nicht. Weder am Festnetz noch übers Handy. Ich hab Tante Helga in ihre Wohnung geschickt, zum Nachgucken, und sie hat im Flur Mutters Handtasche mit dem Portemonnaie darin entdeckt.«

Nieksteit öffnete eine Tür und bedeutete ihm, einzutreten. »Setz dich bitte.«

Das Büro war hell, zwei Schreibtische standen darin und ein kleiner Tisch mit zwei Stühlen. Thomas nahm Platz. Nieksteit sah sich die Fotos an.

»Die Bilder sind aktuell?«

»Ja. Ich hab aber noch mehr auf meinem Handy. Möchtest du sie sehen? Ich kann sie dir auch per Mail schicken. Sie sind ziemlich neu. Vor drei Wochen auf Dirks dreiundzwanzigstem Geburtstag aufgenommen.«

»Dreiundzwanzig? So alt ist der kleine Hosenscheißer inzwischen schon?«

Thomas lachte. »Ja, da kann man mal sehen, wie die Zeit flitzt.«

Nieksteit wurde wieder ernst. »Du sagst, Tante Helga und deine Mutter haben am Montag zusammen Kaffee getrunken, und Tante Helga ist in der Wohnung gewesen. Also war deine Mutter auf Wangerooge, als sie verschwand?«

»Korrekt. Wie geht ihr in so einem Fall vor?« Aufmerksam sah Thomas Nieksteit an. Er hatte das Gefühl, bei Nikky an den richtigen Mann geraten zu sein, was vielleicht daran lag, dass sie sich schon lange kannten, auch wenn er selbst deutlich älter war. Aber Nikky kannte seine Mutter von klein auf und würde sich dieser Angelegenheit bestimmt besonders intensiv und eifrig annehmen.

»Thomas, heute früh wurde am Hooksieler Strand die Leiche einer Frau angespült«, sagte Nieksteit und schaute ihm fest in die Augen.

Thomas erstarrte.

»Es handelt sich um eine ältere Frau, für die bis gerade eben keine Vermisstenanzeige vorlag.« Nieksteit kratzte sich am Kopf. »Es wäre möglich, dass diese Frau deine Mutter ist.«

»Um Gottes willen.« Thomas verspürte mit einem Mal ein Vakuum in seinem Kopf. »Kann ich sie sehen?«

»Nein«, entgegnete Nieksteit leise. »Wir haben sie ins Institut der Rechtsmedizin nach Oldenburg bringen lassen. Dort wird sie untersucht.« Er zögerte. »Aber wir haben einige Aufnahmen. Die könntest du dir ansehen. Allerdings