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Der zehnte Fall für Christiane Franks Kultduo Oda Wagner und Christine Cordes. Der Wilhelmshavener Unternehmer Matthias Meinhardt wird tot aufgefunden. Von mehreren Schüssen getroffen und nach dem Tod mit Tritten malträtiert. Zunächst vermuten die Ermittlerinnen Oda Wagner und Christine Cordes einen Raubüberfall. Doch im Umfeld des Toten finden sich ebenfalls zahlreiche Verdächtige. Meinhardts Unternehmen war insolvent, und auch seine schwangere Geliebte hätte ein Motiv gehabt. Dann jedoch nimmt der Fall eine verstörende Wendung.
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Seitenzahl: 411
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Christiane Franke lebt gern an der Nordsee, wo ihre bislang sechzehn Romane und ein Teil ihrer kriminellen Kurzgeschichten spielen. Franke war 2003 für den Deutschen Kurzkrimipreis nominiert und erhielt 2011 das Stipendium der Insel Juist »Tatort Töwerland«. Neben ihrer Serie mit den beiden Wilhelmshavener Kommissarinnen Oda Wagner und Christine Cordes schreibt sie gemeinsam mit Cornelia Kuhnert eine humorige Krimireihe, die im Rowohlt Verlag erscheint.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2008 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: BJO3RN/photocase.de
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Marit Obsen
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-394-3
Küsten Krimi
Originalausgabe
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Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Er hat mir keine Wahl gelassen. Blutüberströmt liegt er vor mir auf dem Boden. Kein Fünkchen Leben ist mehr in ihm. Ich hätte nicht gedacht, dass ich zu so etwas fähig bin. Er war überrascht, mich zu sehen. Hat nicht mit mir gerechnet.
Ich bräuchte jetzt einen Schnaps. Aber ich muss so schnell wie möglich hier raus. Wie gut, dass das Haus so ländlich liegt. Kein Nachbar in unmittelbarer Hörweite. Außerdem weiß ich, dass die Fenster besonders dick sind. Höchste Sicherheitsstufe, hat er mal gesagt. Ich blicke auf ihn hinab. Seltsam. Es ist, als ob ich neben mir stehe und mir selbst zuschaue.
Seine Hände. Ich muss sämtliche Spuren tilgen. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das mit Essig möglich ist. Und dann werde ich den Raum verwüsten. Und die Uhrensammlung mitnehmen. Damit alles nach einem Raubüberfall aussieht.
Es war Mittag, kurz vor eins, als David Meinhardt am Wilhelmshavener Hauptbahnhof aus dem Bus des Schienenersatzverkehrs der NordWestBahn stieg. Er schulterte seine Sporttasche und lief in die Nordseepassage. In der Bahnhofsbuchhandlung »Gedankenflieger« kaufte er den »Kicker«, bezahlte mit einem Fünfzig-Euro-Schein und steckte die Quittung ein. Dann schlenderte er in Richtung des Taxistandes.
Zwanzig Minuten später stieg er am Ortsrand von Sengwarden vor seinem Elternhaus aus. Ringsherum gab es nur Weiden und Bäume. Ein paar schwarzbunte Kühe grasten in der Nähe, über allem lag der typische Landgeruch, nach dem er sich in der Großstadt Berlin das eine oder andere Mal sehnte.
Er atmete tief ein. Wappnete sich. Der Wagen seines Vaters stand vor der Garage. Aus der Hosentasche fischte er den Haustürschlüssel. Kurz überlegte er, auf den Klingelknopf zu drücken, ließ es jedoch sein.
***
Kriminaloberkommissarin Christine Cordes griff zu einem Brötchen aus dem Brotkorb, schnitt es auf und belegte es mit einer Scheibe Roastbeef, auf die sie Sahnemeerrettich strich. Phillip und sie hatten lange geschlafen, nur schnell einen Kaffee getrunken und einen Joghurt gegessen, bevor sie es auf den letzten Drücker zum Wochenmarkt geschafft hatten, doch nun prangte ein frischer Blumenstrauß in Rosé- und Weißtönen auf dem Esstisch, und der Kühlschrank war für die kommende Woche mit Leckereien gefüllt. Sie genossen das zweite Frühstück in aller Ausführlichkeit.
»Ich bin froh, dass wir uns dazu entschieden haben, unsere Hochzeit in kleinem Kreis zu feiern«, sagte sie. »So haben wir ausreichend Zeit für unsere Gäste, für schöne Gespräche und können den Tag in aller Ruhe, ohne Druck erleben.«
Phillip lächelte und biss von seinem Rosinenbrot ab, das er dick mit Käse belegt hatte. »Das glaube ich auch. Schließlich sind wir nicht mehr die Jüngsten und haben es nicht nötig, unsere Liebe nach außen hin mit einer rauschenden Ballnacht zu demonstrieren.«
Irritiert sah Christine ihn an. »Wie meinst du das denn? Eine große Hochzeit bedeutet doch nicht, dass man etwas demonstrieren möchte, man möchte sein Glück nur gern mit seinen Freunden und der Familie teilen.«
»Sicher. Aber wie viele von denen, die zu solchen Großveranstaltungen eingeladen werden, sind tatsächlich Freunde des Brautpaars? Gott sei Dank sind wir alt genug, um wahre Freundschaft von oberflächlichen Bekanntschaften zu unterscheiden.« Er trank einen Schluck Kaffee und stand auf. »Was hältst du von einem Glas Sekt?«, fragte er.
Christine nickte und sah ihm nachdenklich hinterher, als er in die Küche ging. Sie waren schnell übereingekommen, die Hochzeit im engeren Kreis zu feiern, dennoch war sie jetzt überrascht, seine Beweggründe dafür zu erfahren. Aber vielleicht war sie einfach zu sensibel. Schließlich war es noch nicht lange her, dass er sie gefragt hatte, ob sie seine Frau werden wollte, und sie kannten sich ja auch erst seit einem Jahr. Ab und zu, wenn sie allein und er unter der Woche beruflich unterwegs war, dachte sie darüber nach, ob sie vielleicht übereilt handelten, obwohl sie ihn an jedem Abend vermisste, an dem er nicht neben ihr lag.
»Auf uns!« Phillip kehrte mit zwei Gläsern zurück, reichte ihr eines davon, prostete ihr zu und betrachtete sie prüfend. »Du guckst so eigenartig. Hab ich etwas Falsches gesagt?« Er strich ihr über die Stirn, beugte sich zu ihr hinab und gab ihr einen Kuss. »Glaub mir, es wird ein wunderbarer Tag.«
***
Als David die Tür öffnete, stieg ein metallischer Geruch in seine Nase. Er ließ die Tasche achtlos im Flur fallen. »Dad?«, rief er laut. Keine Antwort. Er betrat das Wohnzimmer. Alle Schränke waren aufgerissen, der Inhalt lag verstreut und zum Teil zerschlagen auf dem Boden. »Dad?«, rief er erneut. »Dad?«
Doch sein Vater antwortete nicht. Automatisch drehte sich David um und rannte aus dem Haus. An der Straße blieb er keuchend stehen. Scheiße, was war hier passiert? Er zog sein Handy aus der Gesäßtasche, entsperrte es und wählte die 110. Als sich am anderen Ende in der Polizeileitstelle jemand meldete, gab er die Adresse durch. Und sagte, dass er eine Verwüstung vorgefunden hatte.
»Wurde das ganze Haus durchwühlt oder nur dieser Raum?«, fragte der Polizeibeamte.
»Keine Ahnung«, gab er zu. »Ich habe mich noch nicht getraut, mich weiter umzusehen. Bin gleich wieder hinausgelaufen. Aber ich kann natürlich nachsehen. Falls noch jemand im Haus war, als ich gekommen bin, wird er inzwischen sicher über die Terrasse abgehauen sein.«
Die Stimme des Polizisten war beruhigend. »Warten Sie einen Moment, ich informiere meine Kollegen, die machen sich sofort auf den Weg. Und dann gehen wir gemeinsam rein, das heißt, ich bleibe am Telefon, während Sie die anderen Räume begutachten.«
David hörte den Beamten Meldung machen, während er auf das Haus zulief. »Ich gehe jetzt rein«, informierte er ihn, als er wieder seine Aufmerksamkeit hatte. »Im Flur sieht alles so weit in Ordnung aus.« Die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters war nur angelehnt. Er stieß sie mit dem Fuß auf. Kaum konnte er in den Raum blicken, sah er den verdrehten Körper. »Mein Vater liegt neben dem Schreibtisch«, informierte er den Polizisten mit einem Anflug von Panik in der Stimme. »Blutüberströmt. Fliegen umschwirren seinen Oberkörper.«
»Trauen Sie sich zu, an ihn heranzutreten? Gehen Sie zu ihm«, bat der Polizist. »Vielleicht ist er nur verletzt.«
Zögernd folgte David den Anweisungen. Als er direkt vor seinem Vater stand und auf ihn hinabblickte, starrte der ihn aus leblosen Augen an. Seine Haut war bleich, der Oberkörper voller Blut. Und Einschusswunden. Nicht dass David jemals Einschusswunden bei einem Menschen gesehen hätte. Aber bei Tieren. Das schon. Schließlich hatte er seinen Vater früher oft zur Jagd begleitet. »Ich glaube, er ist tot. Er ist wohl erschossen worden«, flüsterte David ins Telefon.
»Stellen Sie trotzdem fest, ob er noch lebt«, forderte der Beamte. »Es mag nicht so aussehen, aber vielleicht ist er nur schwer verletzt.«
»Ist gut.« David bückte sich und fasste seinen Vater am Arm. »Dad?«, fragte er. Er bekam keine Antwort. Der Arm seines Vaters war kalt und steif. Wie bei einer Wachspuppe im berühmten Kabinett von Madame Tussauds in London, in dem David als Teenager mit seinen Eltern und seiner älteren Schwester Helen gewesen war. »Mein Vater lebt nicht mehr. Sein Arm ist hart wie Stein«, informierte er den Polizisten stockend.
»Mein Beileid. Bitte wundern Sie sich nicht, wir schicken trotzdem den Notarzt und den Rettungswagen. Das ist Vorschrift. Die kommen mit Blaulicht und Martinshorn, auch wenn sie wissen, dass sie nicht mehr helfen können. Meine Kollegen sind ja wegen des Einbruchs ohnehin auf dem Weg. Fassen Sie bitte nichts an und warten Sie draußen. Brauchen Sie einen seelsorgerischen Beistand?«
»Nein«, gab David zurück. »Ich glaube nicht.«
»In Ordnung. Wie gesagt, meine Kollegen müssten gleich bei Ihnen sein. Alles Gute für Sie.«
Dann war das Gespräch beendet. David betrachtete seinen Vater. Was für einen bizarren Anblick er bot, so verrenkt neben dem Schreibtisch liegend, umgeben von Fliegen, die sich auf ihm niederließen. Er fühlte sich angezogen und abgestoßen zugleich. »Hättest du mich vielleicht doch unterstützt, Papa?«, fragte er flüsternd. »Hätte ich dich letztlich von meinem Projekt überzeugen können? Oder hatte ich nie eine Chance und bleibe in deinen Augen auf ewig ein Versager?«
Er blinzelte die Tränen weg, als er das Büro seines Vaters verließ und die Tür wieder anlehnte. Wie ging er nun am besten vor? Seine Mutter war auf Wangerooge, er musste sie unterrichten. Helen dagegen war bestimmt in der Stadt. Er drückte ihre Kurzwahl auf seinem Handy. Helen war immer erreichbar. David vermutete, sie schaltete das Handy nicht einmal nachts auf lautlos, war stets in Habachtstellung. Anders hätte sich seine ehrgeizige Schwester ihren Platz im Unternehmen sicherlich nicht erobern können, denn geschäftlich kannte ihr Vater keine Verwandten.
Tatsächlich meldete sie sich nach dem dritten Klingeln. »Helen Meinhardt.«
»Ich bin’s«, sagte David. »Kannst du bitte kommen?«
»David! Was ist passiert? Du klingst furchtbar. Wo bist du? Natürlich komme ich. Aber ich brauche sechs Stunden.«
»Ich bin nicht in Berlin«, antwortete er langsam. »Ich bin zu Hause, gerade angekommen. Wollte mit Dad reden. Hab nicht Bescheid gesagt, dass ich komme.«
»Du bist hier? Und unangekündigt?« Helen klang irritiert. »Aber du bist doch ewig nicht hier gewesen. Du hättest dich melden sollen, ich hätte dich am Bahnhof abgeholt.« Sie wusste, dass er kein Auto besaß, darauf hatte er nie Wert gelegt, und in Berlin kam man wunderbar mit den öffentlichen Verkehrsmitteln von A nach B. Ein Hauch von Abwehr schwang auf einmal in ihrer Stimme. »Was willst du denn überhaupt? Mama ist auf Wangerooge. Sie kommt erst Anfang der Woche zurück. Oder Ende, keine Ahnung. Du weißt ja, wie sprunghaft sie sein kann.«
Ja, klar. Natürlich dachte Helen sofort, dass er etwas von ihrer Mutter wollte. So eng Helens Verhältnis zum Vater war, so eng war sein Verhältnis zu ihr. Sie hatte immer schon das meiste Verständnis für ihn gezeigt.
Als er seinen Eltern nach dem Bestehen des erweiterten Realschulabschlusses gesagt hatte, dass er nach Berlin gehen und Schauspieler werden wollte, hatte sein Vater getobt. Schauspieler brächten es in den seltensten Fällen zu finanziellem Wohlstand, im Gegenteil. Sogleich hatte er das alte Klischee aus dem Hut gezogen: Schauspieler seien schwul und arm. David jedoch war nicht schwul, ein wenig bi vielleicht, aber das war nicht wichtig. Finanziell lief es allerdings bislang tatsächlich nicht sehr zufriedenstellend. Er ergatterte nur kleinere Rollen an den Bühnen, im Fernsehen hatte er bisher lediglich einen einzigen Gastauftritt in einer Vorabendserie vorzuweisen. Das reichte nicht, um davon leben zu können, und er hasste es, auf die monatlichen Zahlungen seines Vaters angewiesen zu sein. Doch mit seinem neuen Projekt würde er erfolgreich sein. Er hatte das richtige Konzept, setzte auf Comedy, Poetry-Slam und Travestie-Shows. Klein, intim und persönlich, das war es, was die Leute heutzutage wollten. Weg von den Massenveranstaltungen, hin zur beinahe privaten Atmosphäre. Sein eigenes Comedy-Programm hatte er auch schon ausgearbeitet.
»Ich wollte mit Dad reden. Mum hat geschrieben, dass sie auf der Insel ist, und ich wollte das Wochenende nutzen, um mit ihm allein zu sein und mein Konzept zu besprechen.« Er stockte. »Doch als ich ins Haus kam, war hier alles verwüstet. Die Schubladen sind herausgerissen, der Inhalt des Wohnzimmerschrankes liegt verstreut auf dem Fußboden, in den anderen Zimmern herrscht ebenfalls Chaos. Und Dad liegt blutüberströmt und steif neben seinem Schreibtisch. Helen, er ist erschossen worden. Kannst du kommen? Die Polizei ist schon auf dem Weg.«
***
Entspannt trank Christine einen Schluck Prosecco und warf beiläufig einen Blick auf die Uhr. Alarmiert zuckte sie zusammen. »Oh, Mist, schon halb zwei. In einer Stunde haben wir den Termin bei der Floristin wegen der Blumendeko. Wir sind heute irgendwie bei allem spät dran.« Sie stellte das Glas beiseite und trank hastig ihren Kaffee aus. Als Ort der Trauung hatten sie die Burg Kniphausen auserkoren, die Hochzeit wollten sie anschließend in der Burgschenke feiern. Obwohl Christine wusste, dass dort immer alles stilvoll hergerichtet wurde, wollte sie in diesem Fall über die Tischdekoration selbst bestimmen.
»Dem Glücklichen schlägt bekanntlich keine Stunde«, gab Phillip entspannt zurück und goss sich eine weitere Tasse Kaffee ein. »Ich weiß gar nicht, was du hast, wir haben doch noch massig Zeit.«
Das Telefon klingelte. Christine stand auf und lief in den Flur. »Cordes«, meldete sie sich.
»Herz hier«, hörte sie die Stimme des Kollegen von der Polizeiwache in der Mozartstraße sagen. Augenblicklich wechselte Christine vom Privatmodus in den dienstlichen. »Es gibt einen Toten. Wie es aussieht, ist mehrfach auf ihn geschossen worden. Der Sohn hat ihn gefunden, wahrscheinlich ein Überfall, das Haus ist verwüstet.« Er gab ihr die Adresse durch. »Die Kollegen von der Spurensicherung sind bereits vor Ort, und Oda hab ich gerade informiert. Sie ist auf dem Weg.«
»Mit dem Fahrrad?«, fragte sie Herz verwundert. Oda Wagner besaß nämlich kein Auto, und die durchgegebene Adresse befand sich im ländlichen Stadtteil Sengwarden, der mit dem Fahrrad nicht so schnell erreichbar war.
»Keine Ahnung. Sie sagte, sie fährt da gleich hin.«
»Okay. Danke.« Christine legte auf und eilte ins Wohnzimmer zurück. »Du wirst leider allein zum Blumengeschäft fahren müssen«, sagte sie zu Phillip. »Ich muss arbeiten. Denk daran: rosé und weiß. Und fluffig. Falls sie so etwas fertig hat und dir zeigen kann, mach Fotos.« Sie gab ihm einen Kuss. »Bis später.«
Im Hinausgehen rief sie Oda über das Handy an. »Soll ich dich abholen?«
***
Klaudia Meinhardt lief an der Wasserkante entlang in Richtung Osten. Heute tanzten weiße Gischtkronen auf den Wellen, und sie genoss den Wind, der ihr von vorn ins Gesicht pustete. Ihre Haare wurden von einer leichten Mütze gebändigt, die Hände steckten in den Taschen ihres kuscheligen Kapuzensweaters. Wie immer, wenn man sich ein Stück vom Dorf entfernte, wurde die Zahl der anderen Menschen spärlicher. Klaudia liebte die Insel im Herbst ganz besonders. Vor allem außerhalb der Ferien. Überhaupt war sie gern hier, schon seit sie als Kind das erste Mal mit der Schule im Inselheim Rüstringen gewesen war.
Damals war ihre Liebe zu Wangerooge entstanden. Im Laufe der letzten zehn Jahre hatte sich die Insel allerdings gemausert. Anders als Baltrum, das noch immer ein verschlafenes Insel-Dornröschen war, hatte Wangerooge angefangen, sich herauszuputzen wie eine junge Frau, die ihre Attraktivität unterstreichen wollte. In der Hauptgeschäftsstraße, der Zedeliusstraße, gab es reichlich Veränderungen, vielerorts waren neue Ferienresidenzen und an der Promenade ein neues Aparthotel entstanden. Man konnte oberhalb des Strandes bei einem Kaffee, einem Sekt oder auch bei einer Bratwurst sitzen, mehrere Lokale lockten mit einer Happy Hour. So mancher Wilhelmshavener wusste den kurzen Anreiseweg hierher zu schätzen, sodass man oft auf den einen oder anderen Bekannten traf.
Klaudia beschloss, sich am Abend mit einem Cocktail in einen der weißen Strandkörbe zu setzen, die noch bis nach den Herbstferien für die Gäste bereitgehalten wurden. Es sei denn, schwere Stürme würden bewirken, dass sich die weitere Strandkorbvermietung erübrigte.
Sie war gerade auf der Höhe des Übergangs zum Café »Neudeich«, als ihr Handy klingelte.
»David«, rief sie freudig überrascht gegen den Wind an, als sie sah, dass ihr Sohn der Anrufer war. »Das ist ja eine schöne Überraschung! Wie geht es dir, mein Schatz?«
»Ich bin in Wilhelmshaven, Mum«, antwortete ihr Sohn mit seltsam brüchiger Stimme. »Ich bin zu Hause. Kannst du bitte kommen? Dad ist tot.«
***
Als Helen Meinhardt sich ihrem Elternhaus näherte, wurde ihr Mund schlagartig trocken. Auf der großen Auffahrt parkte ein Krankenwagen, der des Notarztes stand ebenso wie ein Streifenwagen daneben. So stellte sie ihr Auto kurzerhand auf dem Grünstreifen auf der anderen Straßenseite ab. Simon, ihr Mann, hatte angeboten, sie zu begleiten, aber sie hatte abgelehnt. Ihr Vater und Simon hatten sich nicht wirklich gut verstanden. Er hatte es Simon übel genommen, dass der bei der Hochzeit vor zwei Jahren nicht den Namen Meinhardt annehmen, sondern seinen eigenen, Becker, beibehalten wollte. Von Helen hatte Simon verlangt, einen Doppelnamen zu führen, wenn sie schon nicht ebenfalls nur Becker heißen wollte. Dem hatte Helen, mit Blick auf die Firmendynastie und bestärkt durch ihren Vater, nicht nachgeben wollen. Und auch wenn Simon sich nach außen hin gefügt hatte, die Sache mit dem Familiennamen hatte noch vor dem Jawort einen Splitter in ihre Ehe gebracht, von dem sie das Gefühl hatte, dass er sich mehr und mehr entzündete.
Sie stieg aus und ging auf die Haustür zu. Der Wagen verriegelte sich von selbst. Vor der Haustür stand ein Polizeibeamter.
»Stopp.« Er hob gebieterisch die Hand. »Hier finden kriminalpolizeiliche Untersuchungen statt. Sagen Sie mir bitte, wer Sie sind.«
»Helen Meinhardt. Ich bin die Tochter von Matthias Meinhardt. Mein Bruder hat mich angerufen.«
»Oh, Entschuldigung. Mein Beileid. Ihr Bruder sitzt in der Küche. Bitte gehen Sie zu ihm und warten Sie dort, Sie können jetzt nicht in den Raum, in dem Ihr Vater gefunden wurde.«
Helen räusperte sich. »Mein Bruder sagte, unser Vater sei erschossen worden. Stimmt das?«
Der Beamte zuckte bedauernd mit den Schultern. »Danach sieht es aus. Mehrere Schusswunden am Oberkörper und im Kopf. Da wollte jemand auf Nummer sicher gehen.« Er trat beiseite, und Helen schlug den Weg in die Küche ein, wo David am Tisch saß, stumm auf ein Wasserglas starrend.
»David«, begrüßte sie ihren Bruder leise. Er sah auf.
»Helen. Danke, dass du gleich gekommen bist.«
Sie setzte sich. »Er ist auch mein Vater, falls du das vergessen haben solltest.« Kurze Zeit schwiegen beide. Dann fragte sie: »Hast du Mama schon verständigt?«
»Ja. Sie nimmt den nächsten Flieger, in dem was frei ist.«
Von Wangerooge nach Harlesiel gab es regelmäßige Linienflüge, der Flug dauerte lediglich fünf Minuten. David war erstaunt gewesen, zu erfahren, dass Wangerooge gemeinsam mit Frankfurt zu denjenigen Flughäfen gehörte, die nicht bezuschusst werden mussten, weil sie Gewinn abwarfen.
»Hast du ihr gesagt, dass Papa getötet wurde? Wie hat sie es aufgenommen?«
»Nein. Ich hab ihr nur gesagt, dass ich zu Hause bin und ihn tot vorgefunden habe.«
Verwundert sah Helen ihren Bruder an. »Du hast ihr nicht gesagt, wie es hier aussieht? Sie wird einen Schock kriegen, wenn sie hier ankommt.«
David hob den Blick. »Meinst du nicht, dass es schon schockierend genug für sie ist, wenn sie am Telefon von seinem Tod erfährt? Muss ich sie noch zusätzlich damit belasten, dass er einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist?«
»Vielleicht hast du recht«, räumte Helen ein. »Was meinst du, wann sie hier sein wird?«
»Die Inselflieger starten ja erst wieder ab fünfzehn Uhr. Ich denke, sie wird die Dringlichkeit ihres ungeplanten Rückflugs deutlich machen, du kennst sie ja. Ich gehe davon aus, dass sie gegen vier hier ist.«
Helen warf einen Blick auf ihre Uhr. »Also in knapp anderthalb Stunden.«
David nickte.
Helen stand auf. Sie fühlte sich auf unschöne Weise zur Untätigkeit auf zwanzig Quadratmetern verdammt, während die Polizisten sich frei im Haus bewegten. Kurz überlegte sie, ihre Freunde zu verständigen, verwarf diesen Gedanken jedoch sofort wieder. Solange ihre Mutter nicht hier war, durfte nichts nach außen dringen. Sie griff zu ihrem Smartphone und machte sich Notizen: Presseerklärung und Nachruf vorbereiten. Papas persönliche Unterlagen hier und in der Firma durchsehen. Mit den Banken sprechen. Ein Schreiben an die Kunden formulieren. Das war das Wichtigste. Sie musste die Kunden bei der Stange halten. In den letzten Monaten hatten sie eine groß angelegte Akquise-Aktion gestartet und zahlreiche Neukunden für sich gewinnen können. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn die wieder absprangen.
***
Christine und Oda kamen beinahe zeitgleich beim Haus der Meinhardts an. Oda war mit dem Auto ihres Lebensgefährten Jürgen Töpfer gefahren, der als Redakteur beim »Wilhelmshavener Kurier« arbeitete. Normalerweise nahm Oda das Fahrrad, rein aus umweltpolitischen Überlegungen, heute aber hatte sie aus Zeitgründen darauf verzichtet. Als Christines Anruf kam, war sie bereits unterwegs gewesen.
Gemeinsam betraten sie das Haus und wurden von den Kollegen begrüßt. Der Leichnam lag noch neben dem Schreibtisch, erst wenn der Arzt und sie als Kripobeamte ihn in Augenschein genommen hatten, konnte der Bestatter Matthias Meinhardt mitnehmen.
»Es gibt nicht nur mehrere Schussverletzungen, allem Anschein nach wurde das Opfer auch mit Fußtritten malträtiert«, sagte der Notarzt. Oda kannte ihn noch nicht.
»Vor oder nach den Schüssen?«, fragte sie.
»Ich denke, danach. Als er schon am Boden lag.«
»Haben wir die Waffe?« Oda richtete die Frage an die Kollegen der Kriminaltechnik, die noch im Raum waren.
»Nee«, gab einer zurück. »Keine Waffe.«
»Wie lange ist er schon tot?«
Der Arzt hob bedauernd die Hände. »Wie lange genau, kann ich nicht sagen. Die Totenstarre ist jedenfalls voll ausgeprägt. Er ist steif wie ein Brett. Also muss er seit mindestens zwölf, aber nicht länger als vierundzwanzig Stunden hier liegen, denn die Autolyse hat noch nicht eingesetzt.«
»Danke. Schöner Ausdruck für den Beginn des Verwesungsprozesses.« Sie zwinkerte ihm zu.
»Find ich auch.«
Oda deutete auf das Chaos am Boden. »Fingerabdrücke an den Schränken?«
Ein Kollege von der Kriminaltechnik nickte. »Jede Menge. Müssen wir allerdings noch zuordnen. Der Täter hat versucht, den Wandtresor aufzubrechen. Aber der hat standgehalten. Nicht so der Uhrenkasten. Er wurde von der Wand gerissen, und die Samtrollen, auf denen welche gewesen sein müssen, sind leer.«
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte Christine.
»Der Sohn. Er sitzt in der Küche. Seine Schwester ist vorhin auch gekommen.«
»Gibt es keine Ehefrau?«, fragte Oda.
»Doch, aber die ist auf Wangerooge. Der Sohn hat sie bereits informiert, sie müsste gegen sechzehn Uhr zurück sein.«
Oda nickte und beugte sich über den Toten. Nachdem sie ihn eingehend studiert hatte, richtete sie sich auf und ließ ihren Blick über den Schreibtisch schweifen. Der Bildschirm des Computers war schwarz, die Tastatur beiseitegerückt. Sie bückte sich, um unterhalb der Schreibtischplatte einen Blick auf den Tower zu werfen, doch auch hier waren sämtliche Ioden dunkel. Kein Anzeichen dafür, dass Meinhardt am PC gearbeitet hatte, als er – von wem auch immer – überrascht worden war. Falls er überhaupt am Schreibtisch gesessen hatte, musste er etwas anderes gemacht haben, nur was? Bankgeschäfte erledigt?
»Habt ihr seine Kontoauszüge irgendwo gefunden?«, fragte sie in den Raum hinein.
»Jo. Die Ordner lagen auf dem Boden.«
»Neben dem Schreibtisch?«
»Nein. Unterhalb des Regals.«
Eigenartig.
»Ich für meinen Teil bin jetzt fertig, er kann ins Rechtsmedizinische Institut überstellt werden«, sagte der Arzt, öffnete seine Aktentasche und nahm ein Klemmbrett heraus. »Der Kollege dort wird Ihnen mehr über Tathergang und Todesursache sagen können. Kann ich mich irgendwo hinsetzen, um die Formalitäten zu erledigen?«
»In der Küche«, sagte ein Streifenbeamter und wies dem Mediziner den Weg.
»Danke«, sagte Oda noch und konnte nicht verhindern, dass ein wenig Zynismus in ihrer Stimme mitschwang. Der Kollege im Rechtsmedizinischen Institut, von dem der Arzt gesprochen hatte, war der Rechtsmediziner Krüger. Ihr erklärter Lieblingsfeind. Ein echtes Arschloch. Zu gern hätte sie gesehen, dass er dieses Mal nicht mit dabei war. Aber das Leben war nun einmal kein Wunschkonzert.
Oda wandte sich an Christine, die gerade mit einem der Kriminaltechniker sprach. Ein eigenwillig anmutendes Bild, die große blonde Frau und der in einen weißen Einmalschutzanzug gekleidete Kollege, wie sie im Gegenlicht vor dem Fenster standen. Durch die Helligkeit war der Kollege kaum auszumachen. »Ich geh dann schon mal und befrage den Sohn«, sagte sie und drehte sich um.
***
Helen stand auf, als die Kommissarin den Raum betrat. Sie sah ein wenig schräg aus mit ihren kurzen dunklen Haaren, in denen ein paar rote Strähnen schimmerten. Mittelgroß, ein paar Kilos zu viel auf den Rippen und nicht gerade übertrieben modebewusst in der Jeans und dem blauen Kapuzensweatshirt. Sie trat ihr entgegen und streckte die Hand aus. »Helen Meinhardt«, sagte sie. »Ich bin die Tochter. Mein Bruder David.« Sie deutete neben sich. »Er hat unseren Vater gefunden.« Der Arzt saß schweigend am Tisch und füllte ungerührt das Formular aus.
»Kriminalhauptkommissarin Oda Wagner«, stellte sich die Polizistin vor. Sie setzte sich David gegenüber, der nun aufblickte. »Was ist Ihnen aufgefallen, als Sie ins Haus kamen?«
»Ein eigenartiger Geruch hing in der Luft. Und eine seltsame Stille lastete über dem Haus.«
»Inwieweit seltsam?«
»Keine Ahnung. Unheilvoll, wenn Sie so wollen. Als ob etwas nicht in Ordnung ist. War es ja auch nicht.«
»Unheilvoll.« Oda Wagner wiederholte das Wort gedehnt. »Es ist aber nicht das erste Mal, dass Sie hierherkamen und es war niemand im Haus?«
»Natürlich nicht. Das ist mein Elternhaus. Ich bin hier aufgewachsen.«
Vom Flur her waren Geräusche zu hören. Anscheinend begannen die Kriminaltechniker nun auch dort mit der Arbeit. Helen fühlte sich unwohl. Sie musste zulassen, dass fremde Menschen im Privatleben ihrer Eltern herumschnüffelten. Das ging sie nichts an. Und doch, ihr Vater lag tot in seinem Büro, irgendjemand hatte ihn getötet und offensichtlich böse zugerichtet. So viel hatte sie den Gesprächen entnommen, die bei geöffneter Bürotür geführt worden waren. Das gab der Polizei die Erlaubnis, alles auf den Kopf zu stellen.
»Kann ich meinen Vater noch mal sehen, bevor …« Sie stockte.
»Tu dir das lieber nicht an«, sagte David trocken. »Behalt ihn besser so in Erinnerung, wie du ihn zuletzt gesehen hast.«
Helen warf der Kommissarin einen fragenden Blick zu. Die nickte. »Ihr Bruder hat recht. Es ist kein schöner Anblick. Und glauben Sie mir, viele werden ein solches Bild nur schwer wieder los.«
***
Klaudia Meinhardt trat an den Schalter. Die Hauptferienzeit war vorbei, außerdem war Samstag, da gab es am frühen Nachmittag mit ein bisschen Glück noch freie Plätze in den zehnsitzigen Isländer-Maschinen der Inselflieger.
David war zu Hause. Er hatte Matthias tot aufgefunden. Warum war David nach Wilhelmshaven gekommen? Warum hatte er sie vorab nicht informiert? Wie furchtbar, dass gerade er, der schon als Kleinkind so sensibel war, seinen toten Vater hatte finden müssen.
»Mein Mann hatte anscheinend einen Herzinfarkt«, sagte sie zu der Dame am Flugschalter, »mein Sohn hat mich gerade angerufen. Er ist tot, also, mein Mann ist tot. Ich muss so schnell wie möglich aufs Festland.«
Eine Dreiviertelstunde später stellte sie ihren Wagen vor dem Haus ab. Überrascht registrierte sie das Aufgebot an Fahrzeugen. Auch Helens Auto stand auf der gegenüberliegenden Seite. Und ein Leichenwagen mit geöffneter Heckklappe. Sie ließ das Gepäck im Kofferraum und ging auf die Eingangstür zu, die sich in dem Moment öffnete, als sie den Schlüssel ins Schloss stecken wollte. Ihr stockte der Atem, als sie die beiden schwarz gekleideten Männer sah, die mit einer Bahre heraustraten. Ein dunkelblauer länglicher Sack aus Kunststoff lag darauf.
»Mein Mann?«, brachte sie gerade so heraus.
»Frau Meinhardt?«
Sie nickte.
»Mein Beileid.« Auch der andere Mann brummelte etwas, dann liefen sie an Klaudia vorbei auf den Leichenwagen zu.
»Wo bringen Sie ihn hin?«
»Nach Oldenburg. Ins Rechtsmedizinische Institut«, informierte sie der Bestatter. Die Bahre wurde in den Wagen geschoben. »Reden Sie mit den Beamten der Kripo, die können Ihnen mehr sagen.« Er kam zu ihr zurück, während der andere sich auf den Beifahrersitz setzte, und zog eine Visitenkarte aus seiner Sakkotasche. »Bitte. Sie können sich gern mit unserem Büro in Verbindung setzen, wenn Sie Vorbereitungen für die Beisetzung und Anzeigenschaltung treffen möchten.«
»Danke.« Sie sah dem Bestatter nach, als er zum Wagen ging, einstieg und losfuhr. Das war so unwirklich. Sie fühlte sich vollkommen leer und kalt. Unschlüssig blieb sie stehen und sah auf die Felder. Die Kühe grasten unbeirrt, irgendwo hatte jemand Gülle auf einem Feld verteilt, der Geruch wehte schwach zu ihr herüber. Dann drehte sie sich um und betrat das Haus. Überall herrschte Unordnung, und es wimmelte von Polizeibeamten. »Was ist hier los?«, fragte sie laut, als sie in der Diele stand.
»Mum!« David kam aus der Küche herbeigeeilt. »Dad … Komm erst einmal rein und setz dich. Magst du einen Tee? Ich habe vorhin einen aufgebrüht.«
Unwirsch wehrte sie sein Angebot ab. »Was ist hier los?«, wiederholte sie. »Was soll dieses Polizeiaufgebot?« Sie stutzte, als sie in der Küche nicht nur ihre Tochter, sondern auch zwei Frauen sitzen sah.
»Das sind zwei Kommissarinnen von der Kriminalpolizei«, erklärte David. »Setz dich doch. Ich … Es gab einen Überfall.«
»Einen Überfall?«
Die blonde Kommissarin erhob sich. »Frau Meinhardt, mein Name ist Christine Cordes, und das ist meine Kollegin Oda Wagner.« Sie deutete auf die andere Frau, die dringend mal wieder zum Friseur müsste. »Derzeit deutet alles darauf hin, dass Ihr Mann Opfer eines Überfalls wurde. Allerdings muss er dem Täter selbst die Tür geöffnet haben, denn es gibt keine Einbruchspuren. Das gesamte Haus wurde offenbar vom Täter durchsucht. Es sieht überall ziemlich schlimm aus, das muss ich Ihnen sagen.« Sie deutete zum Tisch. »Nehmen Sie doch Platz, dann können wir uns in Ruhe unterhalten.«
Klaudia ignorierte sie. Sie trat zwischen ihre Kinder und legte besorgt den Arm um beide. »Wie geht’s euch?«
Helen liefen lautlos Tränen übers Gesicht, David schien gefasster zu sein. »Ich kann es noch gar nicht glauben«, sagte er.
Klaudia wandte sich an die Kommissarin. »Kann ich meinen Mann noch einmal sehen?« Sie bemerkte den fragenden Blick der Polizistin und schob nach: »Ich meine, dort, wo Sie ihn jetzt hinbringen. Kann ich ihn da noch einmal sehen?«
»Wenn Sie darauf bestehen, natürlich. Er wird jetzt nach Oldenburg ins Rechtsmedizinische Institut gebracht. Aber ich muss Sie warnen, der Anblick ist nicht schön. Vielleicht warten Sie lieber, bis er zur Beisetzung freigegeben wurde und in den Räumen des Bestatters ist. Dort richtet man ihn noch ein wenig her.«
»Tu’s nicht, Mum«, sagte David. »Tu dir das nicht an! Man hat mehrmals auf ihn geschossen, er war voller Blut.«
»Man hat auf ihn geschossen? Warum? Weiß man schon, wer es war?« Klaudia setzte sich. »Kann ich ein Glas Wasser haben?«
»Natürlich.« David trat an die Spüle der Einbauküche und stellte kurz darauf ein Glas vor sie auf den Tisch.
»Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Mann gesprochen?«, fragte Oda Wagner.
Klaudia trank einen Schluck. »Gestern. Hier zu Hause. Bevor ich mich auf den Weg nach Wangerooge gemacht habe. Da war alles ganz normal.«
»Um wie viel Uhr war das?«, fragte die blonde Kommissarin, die sich als Christine Cordes vorgestellt hatte. Sie machte sich Notizen in einem ledergebundenen DIN-A4-Block.
»Es war früher Nachmittag. Ich wollte die Siebzehn-Uhr-Fähre nehmen und vorher noch bei einer Freundin vorbeischauen, die einen Laden in Carolinensiel betreibt. Wir sehen uns viel zu selten, aber gestern passte es. Wir haben in ihrem Laden einen Kaffee getrunken und geklönt, bevor ich nach Harlesiel zum Fähranleger gefahren bin.«
»Wir bräuchten den Namen und die Anschrift dieser Freundin«, sagte Christine Cordes.
»Natürlich.« Klaudia gab beides an.
»Haben Sie Ihren Mann abends noch mal zu erreichen versucht?«, fragte Oda Wagner.
»Nein, ich hab ihm von der Fähre eine Nachricht geschickt, aber telefoniert haben wir nicht mehr miteinander.« Sie registrierte die Blicke der Kommissarinnen und lächelte müde. »Wir sind seit über dreißig Jahren zusammen und haben zwei erwachsene Kinder, wie Sie wissen. Da ist man nicht mehr so wahnsinnig verliebt. Matthias war viel beschäftigt und hatte einen großen Bekanntenkreis. Er ging abends oft mit Freunden aus. Essen, klönen, Skat spielen. Außerdem haben wir seit Jahren getrennte Schlafzimmer, so hat jeder nachts seine Ruhe und wird nicht gestört, wenn der andere heimkommt, schnarcht oder wach wird und nicht wieder einschlafen kann. Alles wie bei vielen anderen in unserem Bekanntenkreis auch.«
»Und heute Morgen haben Sie ihn auch nicht gesprochen?«, wollte Oda Wagner wissen.
Klaudia musste sich zusammenreißen, um nicht zu schnauben. »Das habe ich doch gerade gesagt, oder? Ich sagte, ich hätte ihn gestern am frühen Nachmittag das letzte Mal gesprochen. Und so war es auch. Zwar habe ich heute Morgen anzurufen versucht, aber er ist nicht ans Telefon gegangen. Und nein, bevor Sie fragen, auch das war nichts Außergewöhnliches. Sonst noch etwas?« Sie wollte ihre Ruhe. Wollte mit den Kindern allein sein. Helen war offensichtlich vollkommen neben der Spur, bislang hatte sie noch kein Wort gesagt.
»Es sieht nicht danach aus, als habe Ihr Mann einen Einbrecher auf frischer Tat ertappt, obwohl ein Uhrenkasten von der Wand gerissen wurde, dessen Inhalt nun fehlt«, sagte Oda Wagner kühl. »Das waren sicher keine allzu wertvollen Uhren, wenn sie für jeden sichtbar in seinem Büro hingen?«
»Nein, die besonderen Stücke verwahrte er im Tresor. Die im Kasten waren eher Spaßuhren. Matthias hatte ein Faible für Armbanduhren jeder Art.«
»Gut. Wir bräuchten trotzdem eine Liste der fehlenden Gegenstände. Alles deutet auf einen gezielten Überfall hin, denn Ihr Mann muss dem Täter die Tür geöffnet haben. Dass außerdem eine Schusswaffe zum Einsatz kam, lässt den Eindruck entstehen, dass es jemand bewusst auf ihn abgesehen hatte. Können Sie uns sagen, ob er in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte?«
Klaudia griff erneut zum Wasserglas. Sie überlegte. Dann sagte sie: »Soweit ich weiß, gab es in der Firma eine kleine Durststrecke hinsichtlich der Überbrückung eines Kredites. Aber das ist schon mehrfach der Fall gewesen und bedeutet lediglich ein paar Tage starker Nervenanspannung. So was ist üblich auf dem Markt. Matthias hat das immer direkt wieder hingekriegt. Manchmal hab ich erst davon erfahren, wenn die Dinge wieder im Lot waren. Und sonst … Es gab ein wenig Stress mit dem Tauchclub. Dort war er seit einem Jahr Vorstandsvorsitzender. Er hat da wohl ein paar Dinge angeleiert, die kostenintensiv waren und die er nicht mit dem Rest des Vorstands und der Mitgliederversammlung abgesprochen hatte. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Investitionen, oder vielmehr sein Alleingang, einen so brutalen Überfall zur Folge haben könnten.«
***
In der Polizeiinspektion setzten sich Oda und Christine mit ihrem Chef Hendrik Siebelt und Heiko Lemke zusammen, den Oda gern als das kleine Trüffelschwein der Abteilung bezeichnete, weil er sich immer ganz tief und intensiv auf die Suche machte, egal, worum sie ihn auch baten. Heiko war ein Pedant, lebte mit seiner Mutter unter einem Dach – wenngleich in zwei verschiedenen Wohnungen des Zweifamilienhauses – und trug bei der Arbeit bevorzugt beigefarbene Multifunktionshosen, karierte Oberhemden und Pullunder. Privat hatten sie ihn allerdings auch schon ohne Seitenscheitel und in völlig anderem Outfit erlebt.
»Wo ist Nieksteit?«, fragte Oda. Normalerweise setzte sich in solchen Fällen die komplette Kernbesatzung des K1 zusammen, egal, ob Wochenende war oder nicht. Doch seit einiger Zeit verhielt sich der Jüngste der Abteilung ein wenig anders, als sie es von ihm gewohnt waren. Er meldete sich oftmals krank, und letztens hatten Oda und Christine ihn überraschend vor einer Spielothek gesehen, wo er anscheinend mit jemandem in Streit geraten war, obwohl er angegeben hatte, mit Magen-Darm-Erkrankung zu Hause bleiben zu müssen. Oda machte sich durchaus Sorgen um Nieksteit. Eigentlich war er ein fröhlicher, unkomplizierter Mensch, den sie gern um sich hatte, auch fachlich war er qualifiziert.
»Ich hab ihn nicht erreicht«, sagte Lemke achselzuckend. Er hatte sich in den letzten Monaten daran gewöhnt, dass sein Kollege spontan ausfiel.
»Nun gut.« Oda nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit ein ernstes Wörtchen mit Nieksteit zu reden. Ein solches Verhalten ging gar nicht und würde in seine Personalakte einfließen. Was dachte er sich eigentlich dabei? Er musste doch die Nummer der Polizeiinspektion auf dem Display seines Handys erkannt haben.
»Also?«, fragte Siebelt. »Was haben wir? Es gab keine Einbruchspuren?«
»Nein.« Christine schüttelte den Kopf. »Matthias Meinhardt muss dem Täter selbst die Tür geöffnet haben.«
»Anzeichen eines Kampfes?«
»Bei der ersten Inaugenscheinnahme nicht«, antwortete Oda. »Vielmehr deutet alles darauf hin, dass Meinhardt zunächst erschossen und dann, als er am Boden lag, mit Füßen getreten wurde.«
»Das ist ziemlich heftig«, stellte Siebelt fest. »Vor allem, weil es … wie viele Schusswunden gibt?«
»Acht«, sagte Christine nach einem kurzen Blick auf ihre Notizen. »Allesamt in Kopf und Oberkörper.«
»Haben wir die Tatwaffe?«
»Im Haus konnte keine Waffe sichergestellt werden«, sagte Oda bedauernd. »Die Patronen sind nicht wieder ausgetreten, und Hülsen haben wir auch nicht gefunden. Die Kollegen von der Kriminaltechnik suchen aber noch das Umfeld ab. Bis die mit den Wiesen, Bächen und Tümpeln fertig sind, dauert das sicher noch.«
»Acht Schüsse und anschließende Tritte … Da muss jemand verdammt sauer auf den Meinhardt gewesen sein«, stellte Siebelt fest. »Was sagt die Familie dazu?«
»Die kann sich das nicht erklären«, gab Oda zurück.
»Die Tat ist auf jeden Fall ziemlich emotional«, meinte Lemke trocken. »Das sieht für mich nicht nach Vorsatz aus. Andererseits geht man auch nicht mit einer Waffe zu einem Freundschaftsbesuch.«
»Wir müssen sein privates Umfeld unter die Lupe nehmen. Die Firma natürlich auch. Seine Frau sprach davon, dass es mehrfach finanzielle Engpässe gab, die er aber jedes Mal wieder ausbügeln konnte. Auch im Tauchclub, bei dem er seit einem Jahr Vorstandsvorsitzender war, gab es wohl Ärger, weil er im Alleingang Investitionen beschlossen hat. Außerdem wäre es interessant zu erfahren, was der Täter in seinem Büro und dem Wohnzimmer gesucht und ob derjenige es gefunden hat«, sagte Christine. »Die Familie guckt, ob außer den Uhren etwas fehlt, und gibt uns Bescheid.«
»Warten wir ab, was die Obduktion ergibt. Mit etwas Glück bringt uns das einen Schritt weiter«, bemerkte Oda lapidar.
»Weißt du schon, wann wir das Ergebnis bekommen?«, fragte Christine den Chef.
»Vielleicht morgen, ganz sicher am Montag. Krüger sagt, er hat viel zu tun. Und sein Kollege ist in der Reha. Burn-out.«
»Oha. Na dann.« Lemke zog die Schultern hoch.
»Warten wir«, ergänzte Oda.
***
»Was wolltest du eigentlich von Papa?«, fragte Helen, als der Polizeitross endlich verschwunden und Ruhe im Haus eingekehrt war. Ihre Mutter hatte eine weitere große Kanne Tee gekocht, die Küche schien der einzige noch normal bewohnbare Ort im Haus zu sein. Die Kriminaltechniker hatten das Büro und das Wohnzimmer sowie alle Zugänge zum Haus bis ins kleinste Detail untersucht, 3-D-Fotoaufnahmen gemacht und ihre Fingerabdrücke als Vergleichsproben genommen. Helen, David und Klaudia waren sprachlos gewesen beim Anblick der verwüsteten Räume. Mechanisch hatte Klaudia sich daranmachen wollen, das Chaos zu beseitigen, doch Helen hatte sie sanft am Arm gepackt und in die Küche zurückgeführt.
»Ich wollte allein mit ihm reden. Von Sohn zu Vater. Ich möchte ein kleines Theater in Berlin übernehmen.«
»Du willst ein Theater übernehmen?«, fragte Helen entsetzt. »Aber du hast doch gar keine Ahnung davon, wie man ein Theater leitet! Du bist Schauspieler! Und nicht einmal ein etablierter.« Sie bemerkte Davids erbosten Gesichtsausdruck. »Entschuldige, aber ein Theater führt man nicht nur unter künstlerischen, sondern auch und mindestens zum gleichen Teil unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Da müssen die Zahlen stimmen.«
»Ich weiß.« David lächelte überheblich. »Ich habe mich beraten lassen.«
»Ach ja? Von wem denn?« Helen wusste, es klang höhnisch, aber sie konnte nichts dagegen tun. David war schon immer ein Träumer gewesen, oft genug hatte sie ihren Vater aufgefordert, ihm die monatliche Unterstützung zu streichen, damit ihr Bruder endlich gezwungen war, aus seinem Wolkenkuckucksheim hinabzusteigen, auf dem Boden der Realität anzukommen und selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
»Ich habe mich umgesehen. Deutschlandweit. Das ›Senftöpfchen‹ in Köln entspricht von der Größe her genau dem Theater, das ich übernehmen möchte. Es bietet zwar nur knapp zweihundert Gästen Platz, aber es ist seit Jahrzehnten erfolgreich. Die Inhaber des ›Senftöpfchens‹ waren sehr kooperativ und haben mir viele Tipps gegeben. Außerdem habe ich mich bei einem Steuerberater erkundigt, den man mir in Berlin empfohlen hat. Gemeinsam haben wir ein Konzept ausgearbeitet. Kabarett und Kleinkunst, Satire, Poetry-Slams, Travestie- und Burlesque-Shows. Und einen Rechtsanwalt habe ich auch konsultiert.«
Helen sah ihren Bruder entgeistert an. »Travestie- und Burlesque-Shows? Poetry-Slams? Du hast doch nicht ehrlich gedacht, dass du Papa davon überzeugen kannst?«
»Warum nicht?« David wirkte ernst. »Ich habe alle Zahlen dabei. Die Berechnungen, die Unterlagen des Steuerberaters. Ein Crowdfunding für das Theater habe ich bereits gestartet. Und wenn das nicht klappt … Es gibt die Möglichkeit einer Erbvorabzahlung, das weiß ich von dem Rechtsanwalt. Darauf wollte ich ihn ansprechen. So oder so, ich hätte das Geld bekommen.«
Die Polizei hatte in den sozialen Netzwerken und über das Online-Portal des »Wilhelmshavener Kuriers« um sachdienliche Hinweise im Fall des getöteten Unternehmers in Sengwarden gebeten. Doch es gab nur spärliche Rückmeldungen. Kein Wunder, schließlich musste der Täter von Meinhardt ins Haus gelassen worden sein, und die Nachbarn hatten nicht darauf geachtet, von wem Meinhardt Besuch bekommen hatte, das jedenfalls hatten die noch am Samstagnachmittag erfolgten Befragungen an den Nachbarhäusern ergeben. Kein Wunder, die Häuser lagen ja auch alle etwas auseinander.
Ziemlich frustriert saßen Christine und Oda in ihrem Büro, als Nieksteit seinen Kopf zur Tür hereinstreckte. »Moin zusammen. Wir haben zwar nichts großartig Neues, aber der Chef meint, wir sollten uns zusammensetzen.« Er tat so, als wäre alles normal. »Ich hab Kaffee durchlaufen lassen.« Das klang wie ein Bestechungsversuch.
Kaum war er verschwunden, sah Oda Christine an. »Ich werd mit ihm reden. So geht das nicht weiter. Wir müssen wissen, was mit ihm los ist. Und ich glaub, mit mir wird er offen sprechen. Was meinst du? Ist doch besser, als wenn der Chef das macht, oder?«
Christine nickte. »Auf jeden Fall.« Sie erhob sich, als ihr Telefon klingelte. »Geh schon vor«, sagte sie zu Oda, »das dauert sicher nicht lang.« Es war die Telefonnummer der Staatsanwaltschaft in Oldenburg. »Weiß gar nicht, was die jetzt schon wollen, wir haben ja noch gar keinen Tatverdächtigen.« Sie nahm den Hörer ab. »Cordes«, meldete sie sich.
»Christine, hier ist Carsten.«
Augenblicklich beschleunigte sich Christines Puls. Ihr Herz begann zu rasen. Es war lange her, dass er sie angerufen hatte. Wenn es dienstlich war, rief er normalerweise bei Oda an oder bei Lemke, nicht mehr bei ihr. Sie bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben, was ihr jedoch nicht ganz glückte. »Carsten. Worum geht’s? Gibt es etwas Neues im Fall Meinhardt?«
»Nein, nicht dass ich wüsste. Christine, ich möchte dich sehen. Es gibt etwas zu besprechen, und das möchte ich nicht am Telefon tun.«
***
»Bevor ihr mich fragt, wie ich den wunderschön sonnigen gestrigen Sonntag verbracht habe«, begann Lemke, als sie im Besprechungsraum zusammensaßen, »sag ich’s euch lieber gleich: Ich hab versucht, an weitere Infos über Matthias Meinhardt heranzukommen. Unglücklicherweise ist ein Teil des Vorstandes des Tauchclubs auf einer Tauchtour in Thailand, der Kassenwart war nicht erreichbar, und auch bei den übrigen Vorstandsmitgliedern hatte ich weder telefonisch noch persönlich Glück. Aus dem Rechtsmedizinischen Institut ist ebenfalls nichts gekommen, sodass wir diesbezüglich nicht viel weiter sind als am Samstag.«
Oda griente. »Aber du wärst doch nicht unser aller Super-Heiko, wenn du nicht trotzdem was für uns hättest.« Sie zwinkerte ihm zu. Er zwinkerte zufrieden zurück.
»Du kennst mich ziemlich gut. Also: Meinhardt war geschäftsführender Gesellschafter der ›On-Board-Shipping GmbH‹. Das Unternehmen beschäftigt sich zum überwiegenden Teil mit der Entwicklung von Software für Schiffe. Die Hauptbankverbindung der GmbH ist die Nord-West-Genossenschaftsbank, die zum Verbund der Volksbanken gehört. Außerdem hat die ›On-Board-Shipping‹ Konten bei der Sparkasse. Ich habe mir über den Bundesanzeiger die letzten Bilanzen angesehen, aber die kann ich natürlich nicht beurteilen, ich habe sie an die entsprechenden Kollegen weitergeleitet. Der Kassenwart des Tauchclubs, Oliver Hackenbarth, arbeitet bei der Deutschen Post in der Hauptstelle am Rathausplatz, den solltet ihr auf die Differenzen im Club ansprechen. Außerdem habe ich mir die privaten Kontoauszüge von Meinhardt angesehen: Er unterstützte nicht nur seinen Sohn David mit anderthalbtausend Euro monatlich, er richtete vor anderthalb Jahren einen ebenso hohen Dauerauftrag zugunsten einer gewissen Sandra Onken ein. Seine Ehefrau erhielt zweitausend als Haushaltsgeld auf ihr eigenes Konto.«
»Super, danke, Heiko«, sagte Christine. »Hast du von Frau Onken auch eine Anschrift?«
Statt Lemke antwortete Nieksteit: »Leider nicht. Ich gehe davon aus, dass Meinhardt die Adresse auf seinem Handy gespeichert hat, das habe ich nur bislang noch nicht knacken können. Aber ich gebe nicht auf. Vielleicht hat er im Büro oder zu Hause noch ganz oldschool ein Adressbuch geführt. Oder seine Sekretärin weiß mehr. Ansonsten wird man euch zumindest bei der Bank sagen können, auf welches Konto das Geld ging, dann müsst ihr euch von dort aus weiter vorarbeiten. Vielleicht weiß aber auch die Ehefrau, wie man das Telefon ihres Mannes entsperren kann. Ich hab versucht, sie anzurufen, aber sie ist nicht ans Telefon gegangen. Und ihre Handynummer habt ihr nicht notiert. Andererseits … wenn diese Onken Meinhardts Geliebte war – wovon wir wohl ausgehen dürfen –, wird er seiner Frau garantiert nicht den Code für sein Handy gegeben haben. Da wäre er ja schön blöd.«
»Stimmt«, sagte Siebelt, beugte sich vor und schüttete drei Löffel Zucker in seinen Kaffee. »Meine Frau kennt die Zahlenkombination für mein Handy auch nicht.«
»Sag bloß, du hast auch eine Geliebte«, sagte Oda und beobachtete amüsiert, wie Siebelt den vollen Becher umrührte, der dabei natürlich überschwappte. Augenblicklich schimpfte ihr Chef.
»Ach Quatsch! Jetzt hast du mich aber vollkommen durch den Wind gebracht. Verfluchter Mist! Hat mal jemand ein Taschentuch?«
Lemke schob ihm gelassen die Packung Kleenex rüber, die auf dem Tisch stand. »Hier.« Er verbiss sich offensichtlich ein Grinsen. Schließlich verging kaum ein Tag, an dem Hendrik Siebelt nicht mit Kaffee kleckerte.
»Na, dann bin ich ja beruhigt.« Oda stand auf. »Nicht dass ich mir noch Sorgen um deine Ehe machen muss.«
»Nee, da ist alles in Ordnung«, erwiderte Siebelt, der hilflos die nun mit Kaffee getränkten Papiertücher betrachtete.
»Gib her.« Oda nahm sie ihm aus der Hand und warf sie in den Papierkorb. »Wir werden dann mal mit dem Kassenwart reden und anschließend bei der Bank vorsprechen. Unsere Handynummern habt ihr ja.« Sie zwinkerte den Kollegen zu, als sie mit Christine den Raum verließ.
***
Auf dem Weg zum Auto fasste Christine einen Entschluss. »Carsten hat vorhin angerufen«, sagte sie. »Er möchte mich sehen. Es sei wichtig, und er wolle das nicht am Telefon besprechen.«
Verblüfft blieb Oda stehen und sah sie an. »Carsten? Du meinst Carsten Steegmann? Unser Staatsanwalt?« Ein Streifenwagen fuhr mit ziemlichem Tempo auf die Schranke zu, an der er mit quietschenden Reifen zum Stehen kam. Ein junger Kollege saß am Steuer. Es schienen immer die Männer zu sein, die selbst auf noch so kurzen Strecken auf die Tube drückten, eine Kollegin hatte Christine auf dem Parkplatz noch nie so fahren sehen.
»Ja.« Christine entriegelte den Dienstwagen, einen dunkelblauen Kombi, und nahm auf dem Fahrersitz Platz. Oda ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen. Sie fuhr nicht gern selbst. Manchmal, wenn das Wetter außerordentlich gut war und sie weitere Strecken fahren mussten, nahmen sie auch Christines Cabrio, jetzt aber erschien Christine der Kombi angebrachter.
»Was will er?«, fragte Oda.
»Hat er nicht gesagt. Nur dass es wichtig ist und er es mir persönlich sagen möchte.« Christine startete den Motor und fuhr aus der Parkbucht.
»Der hat ’ne Geschlechtskrankheit.« Eines musste man Oda lassen: Im Knallhart-irgendetwas-Rausposaunen war sie einsame Spitze. »Der hat eine Geschlechtskrankheit, und nun muss er dich informieren. Damit du dich testen lässt und deinen neuen Partner informierst. Weiß Steegmann eigentlich, dass Phillip und du heiraten wollt? Weiß der überhaupt von Phillip?«
Christine hielt an der roten Ampel in der Bremer Straße. An und für sich hätten sie die kurze Strecke von der Polizeiinspektion zur Post auch laufen können, aber sie wollten ja anschließend noch weiter.
»Ich hab es ihm jedenfalls nicht gesagt«, entgegnete Christine, »warum auch? So wie Carsten sich damals verhalten hat, bin ich ihm keine Erklärung schuldig. Außerdem habe ich seither kein privates Wort mehr mit ihm gewechselt. Keine Ahnung, ob er von Phillip weiß.«
»Das wäre aber echt scheiße«, meinte Oda ehrlich, »wenn der tatsächlich so ’ne Krankheit hat. Also, nicht für ihn«, korrigierte sie sofort, was Christine als Beweis ihrer Frauenfreundschaft verstand, »sondern für dich. Oder hast du einen Test auf Geschlechtskrankheiten machen lassen, als das mit Phillip enger wurde?«
Christine wurde rot. Hätte sie bloß nicht mit diesem Thema angefangen. »Nein«, gestand sie. »Auf die Idee bin ich nicht gekommen. Da war doch nach Frank nur Carsten.«
Frank war ihr Ex-Mann. Derjenige, wegen dem sie sich aus Hannover nach Wilhelmshaven hatte versetzen lassen. Leider hatte die Familienzusammenführung nur kurz gedauert, denn ihr Gatte hatte in den zwei Jahren zuvor, in denen sie eine Wochenendehe führten, einen überaus intimen Kontakt zu einer Bäckereiverkäuferin aufgebaut, der in einem gemeinsamen Kind und der Scheidung von Christine gipfelte.
»Och Christine!«, sagte Oda tadelnd. »Gerade bei beziehungsweise nach Frank hättest du das doch machen lassen müssen. Stell dir mal vor – was ja nie und nimmer sein kann –, dass nicht Steegmann dich, sondern du ihn mit einer Krankheit infiziert hast. Du solltest Phillip auf jeden Fall auch zum Test schicken.«
Sofort lief es Christine eiskalt den Rücken runter. Konnte das tatsächlich sein? Konnte Frank sie infiziert und sie dann wiederum Carsten und nun auch Phillip angesteckt haben? Ihr wurde ganz anders. Aber ihr blieb keine Zeit, sich dieses Szenario weiter in den schwärzesten Farben auszumalen, denn sie waren bei der Hauptpost angelangt. Dort waren alle Parkbuchten belegt, sodass sie linker Hand vor dem Rathaus einparkte. Statt einen Parkschein zu ziehen, legte sie den Polizeiausweis auf das Armaturenbrett. »Können wir jetzt vielleicht vom Privaten zum Dienstlichen wechseln?«, bat sie. »Wie heißt der Kassenwart des Tauchclubs noch gleich?«
Oda sah sie kopfschüttelnd an. »Du musst ganz schön neben der Spur sein, wenn du mir diese Frage stellst. Normalerweise geht das immer andersrum.«
***