Mord in der Charing Cross Road - Henrietta Hamilton - E-Book

Mord in der Charing Cross Road E-Book

Henrietta Hamilton

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  • Herausgeber: Klett-Cotta
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Ein geheimnisvoller Mord im Antiquariat In der antiquarischen Buchhandlung in der Charing Cross Road könnte alles seinen gewohnten Gang gehen. Zwischen den zahlreichen Raritäten und Bücherschätzen arbeitet die Buchhändlerin Sally noch zu später Stunde. Doch schon bald überschlagen sich die Ereignisse: Bücher verschwinden und rätselhafte Begebenheiten führen das Ermittlerduo Sally und Johnny zum Tatort eines Verbrechens. Das Tagesgeschäft im Antiquariat steht plötzlich still, als der unbeliebte Mr. Butcher tot an seinem Schreibtisch aufgefunden wird. Der Ermordete sieht so überrascht aus, als hätte er ein Gespenst gesehen. Die Polizei steht vor einem Rätsel, doch Sally Merton und Juniorchef Johnny Heldar nehmen gemeinsam die wenigen Spuren auf: Wer hat das Corpus Delicti vom Versandtisch entwendet? Wie konnte sich jemand ungesehen Zugang durch die Hintertür verschaffen? Und was hat das mit den seltsamen Bücherdiebstählen zu tun, die in den umliegenden Antiquariaten gemeldet wurden? Als Scotland Yard Johnnys Cousin verdächtigt, drängt die Zeit, den wahren Täter zu finden. »Mord in der Charing Cross Road« ist nicht nur der Auftakt von Henrietta Hamiltons neuentdeckter Krimiklassikerreihe rund um das Ermittlerduo Sally und Johnny, sondern gleichzeitig der Beginn einer wunderbaren Liebesgeschichte.

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Seitenzahl: 311

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Ähnliche


Dies ist der Umschlag des Buches »Mord in der Charing Cross Road« von Henrietta Hamilton, Dorothee Merkel

Henrietta Hamilton

Mord in der Charing Cross Road

Ein Fall für Sally und Johnny

Aus dem Englischen von Dorothee Merkel

Klett-Cotta

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Two Hundred Ghost« im Verlag Hodder and Stoughton, London

© The Estate of Hester Denne Shepherd, 1956

Für die deutsche Ausgabe

© 2024 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Anzinger und Rasp Kommunikation GmbH, München

Unter Verwendung einer Abbildung von © Milan Jovanovic, CHAMELEON Studio

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-96615-2

E-Book ISBN 978-3-608-12359-3

Für Mary Frances Shepherd – in Liebe

Erstes Kapitel

Die schwere Mahagoni-Uhr auf dem Kaminsims schlug fünf. Sally stand von ihrem Schreibtischstuhl auf und schloss die Türe ab, damit keine weiteren Kunden den Laden betreten konnten. Dann kehrte sie zum Schreibtisch zurück und setzte ihre Arbeit fort. Sie war gerade mit der Wunschliste von Hiram P. Goldberger aus Washington, D. C., beschäftigt – einem alten und sehr geschätzten Kunden –, die einen ganzen Papierbogen in Quartformat füllte. Es war nicht unbedingt nötig, dass sie den Auftrag noch heute Abend erledigte, aber die Bücher sollten in Heldar’s wöchentlicher Bestellliste stehen, die sie noch tippen und morgen an die Antiquarische Bücherwelt schicken musste, und sie zog es vor, die Titel erst zu katalogisieren. Sie nahm sich eine weitere Karteikarte und schob sie in die Schreibmaschine. Johnson (Samuel) Rasselas 17592 Bde., Versandgeschäft.

Bis zu dieser Stelle war sie gekommen, als sie hörte, wie die drei Kolleginnen aus dem oberen Stockwerk herunterkamen. Sie eilten die Treppe hinunter, unterhielten sich dabei leise und betraten schließlich nahezu gleichzeitig den Laden: Miss Bates, die Buchhalterin, sowie Mrs Weldon und Betty, die beiden Schreibkräfte. Sie wünschten Sally hastig eine gute Nacht, wobei Miss Bates noch hinzufügte: »Machen Sie doch auch bald Schluss, Sally.« Sie versuchte, fröhlich zu klingen, doch das gelang ihr nicht ganz. Dann eilten die Frauen hinaus in die von den Straßenlaternen nur dürftig erhellte Dunkelheit der Charing Cross Road.

Sally seufzte. Kein Zweifel, die drei waren verängstigt, aber sie waren alle ohnehin eher nervös veranlagt. Im Gegensatz zu ihnen war Sally nicht davon überzeugt, dass der Geist aus der Nummer zweihundert wieder sein Unwesen trieb. Dennoch – das ging alles ein bisschen über einen Scherz hinaus, womit sie und die ›Kleine Liza‹ versucht hatten, die Geschichte herunterzuspielen. Seit jenem Abend letzte Woche, als Betty glaubte, den Geist gesehen zu haben, waren die drei Damen immer gemeinsam um kurz nach fünf Uhr aus dem Haus gegangen. Die Schreibkräfte waren nur sehr selten gezwungen, Überstunden zu machen, doch Sally fragte sich allmählich, was passieren würde, wenn das nächste Mal eine von ihnen länger bleiben musste.

Sie vervollständigte die Karteikarte mit Hiram P. Goldbergers Namen und Adresse sowie dem Datum und nahm sich eine weitere Karte vor. In diesem Moment schloss jemand hinten im Flur schwungvoll eine Bürotür, und Sally hörte Vater Williams forsche Schritte. Vater William war bereits achtzig Jahre alt, aber er leistete an einem Arbeitstag immer noch so viel wie sein wesentlich jüngerer Neffe oder sein Enkel oder Großneffe. Als er den Laden betrat, war er bereits in seinen schwarzen Mantel gekleidet und hielt den schwarzen Hut und den ordentlich zusammengerollten Regenschirm in den behandschuhten Händen. Sein stattlicher, weißbehaarter Kopf war noch unbedeckt.

»Sie machen wieder Überstunden, Miss Merton?«, fragte er. Seine Stimme mochte die eines alten Mannes sein, doch sie klang immer noch sehr lebendig. »Ich denke nicht, dass ich all diese Überstunden gutheißen kann. Wie lange wollen Sie denn noch hierbleiben?«

Sally hatte sich erneut von ihrem Stuhl erhoben. Sie sah in seine klugen blauen Augen. »Für gewöhnlich bleibe ich nicht sehr viel länger als bis halb sechs, Mr William.«

»Also, ich finde, Sie sollten das auf höchstens zweimal pro Woche beschränken. Sie sehen müde aus. Und vergessen Sie nicht, Ihre Überstunden anzugeben! Gute Nacht, Miss Merton.«

»Gute Nacht, Mr William. Danke.«

Vater William trat auf die Straße hinaus. Wenig später öffnete und schloss sich die Tür seines Büros erneut. Das konnte doch unmöglich Miss Mundle sein, dachte Sally, die jetzt schon nach Hause ging! Doch dann fiel ihr ein, dass heute Dienstag war und Miss Mundle ihre Abendschule besuchen würde, wie sie das während der letzten dreißig Jahre immer gemacht hatte, wenn auch in der Winterzeit nur einmal die Woche. Miss Mundle hatte schon für Mr Henry als Schreibkraft gearbeitet – Vater Williams Bruder und Mr Charles’ Vater, der vor fünfundzwanzig Jahren gestorben war –, und seit Mr Henrys Tod war sie Vater Williams Sekretärin, und als solche absolut unentbehrlich. Sie hatte auch dessen beide Söhne gekannt, Mr John, der Vater von Johnny Heldar, und Mr Dicky, die beide im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Sie hatte sogar den bedeutenden alten Mann selbst gekannt, Vater Williams Vater, den Gründer der Firma und ersten Mr John. Miss Mundle war ebenso sehr ein Teil von Heldar’s, wie es die Seniorpartner waren.

Die Tür des Flurschranks, in dem Miss Mundle und Sally ihre Mäntel aufbewahrten, schloss sich leise, und wenig später betrat Miss Mundle den Laden. Ihre Augen strahlten Sally hinter ihrer Nickelbrille an. »Sie machen wieder Überstunden?«, fragte sie. »Das machen Sie viel zu oft.«

Sally entgegnete: »Wer im Glaskasten sitzt …« Miss Mundle lachte. »Oh, ich weiß«, sagte sie. »Aber ich bin alt und zäh.« Sie sah tatsächlich sehr robust aus, wie sie dort stand, mit ihrer vierschrötigen Gestalt, ihrem hässlichen Mantel, ihrem zweckmäßigen Filzhut und ihren klobigen praktischen Schuhen. »Sie sehen müde aus, meine Liebe.«

»Ich bin ebenfalls zäh.«

»Nun, das hoffe ich, Sally. Aber bleiben Sie nicht zu lange. Gute Nacht, meine Liebe.«

Sie eilte davon, und Sally wandte sich wieder Hiram P. Goldberger zu.

Bald darauf hörte sie, wie Mr Charles langsam nach unten kam. Mr Charles war dreißig Jahre jünger als Vater William, aber in mancher Hinsicht wirkte er älter. Seine grauen Haare waren dünn und spärlich, und seine Schultern immer ein wenig gebeugt. Er sah Sally freundlich an.

»Sie sehen müde aus, Sally«, sagte er. »Sie sollten nicht so oft Überstunden machen.«

Wäre es irgendjemand anderes als Mr Charles gewesen, hätte sie vielleicht gereizt darauf reagiert, dass man ihr nun innerhalb von fünf Minuten zum dritten Mal mitteilte, sie sehe müde aus. Aber man konnte Mr Charles unmöglich böse sein. Sie lächelte ihn an und sagte, es ginge ihr gut.

»Vielleicht ernähren Sie sich ja nicht ordentlich?«, meinte er, halb entschuldigend. »Junge Frauen, die für sich selbst sorgen müssen, vernachlässigen das häufig. Die glauben immer, es reicht, wenn man irgendein Zeug aus der Dose auf einen Gasbrenner stellt. Das meint jedenfalls meine Frau, und die hat für gewöhnlich recht.«

Mrs Charles hatte absolut recht, dachte Sally, aber sie antwortete nur mit ein paar vagen, freundlichen Worten. Mr Charles schüttelte den Kopf und sagte: »Wie auch immer, ich gehe jetzt besser nach Hause. Wir haben ein paar Gäste zum Abendessen eingeladen. Tim hat mich gerade daran erinnert, sonst hätte ich das vollkommen vergessen.« Er war immer auf entwaffnende Weise ehrlich, was seine Vergesslichkeit anbelangte. Er seufzte. »Tim selbst hat sich davor gedrückt, weil er eine junge Dame ausführt. Ich wünschte, ich könnte dasselbe tun. Also mich vor der Party drücken, meine ich«, fügte er hastig hinzu.

Sie lachten beide, und dann wünschte er ihr eine gute Nacht und verließ den Laden. Als Nächstes hörte sie Butchers aggressive Schritte auf der Treppe und war plötzlich eingehend mit der Tastatur ihrer Schreibmaschine beschäftigt.

»Hallo, Sally«, sagte Butcher, während er in den Laden geschlendert kam. »Schon wieder Überstunden? Das ist nicht gut für Sie, wissen Sie? Sie werden davon ganz bleich und dünn. Nun kommen Sie schon, gehen Sie was mit mir trinken! Die Pubs öffnen in einer Viertelstunde.«

»Nein, danke«, sagte Sally. »Ich habe hier noch Arbeit zu erledigen.«

Und schon stand er unmittelbar neben ihr und starrte auf ihre Liste herunter. Er roch nach billiger Haarpomade. »Der alte Hiram P.?« Er benutzte ein Schimpfwort, das in der Gesellschaft einer Dame nicht unbedingt passend war. »Heben Sie sich den doch für morgen auf.«

»Ich würde lieber heute Abend damit fertig werden.«

»Ach, jetzt kommen Sie schon«, sagte Butcher. »Sie sind ein viel zu hübsches Mädel, um hier den ganzen Abend herumzusitzen und zu arbeiten. Wollen Sie denn nicht mal ein bisschen Spaß haben?« Seine dicken Finger schlossen sich um ihre Schulter.

»Nein danke«, sagte sie kalt und entzog sich ihm.

Doch weil ihr Schreibtisch in einer Ecke stand, kam sie nicht weit.

Keiner von beiden hatte mitbekommen, wie sich die Tür zum Keller geöffnet und wieder geschlossen hatte. Doch jetzt hörte Sally ein leises Geräusch, drehte sich um und sah Fred Malling im Türrahmen stehen. Fred war sehr groß und dünn, fast schon ausgezehrt. Sein grauer Kittel schlotterte ihm so lose um den Körper, als umhüllte er ein Skelett. Die hellen Lampen über den Bücherregalen warfen dunkle Schatten auf seine hohlen Wangen und seine leuchtenden, eingesunkenen Augen. Sally fand plötzlich, dass er so aussah, als sei er einem El-Greco-Gemälde entstiegen. Und ebenso plötzlich dachte sie, dass diese neue Wendung der Ereignisse mit das Schlimmste war, was hätte passieren können.

Bevor sie etwas sagen konnte, rief Fred mit scharfer Stimme: »Sie dreckiges Schwein! Nehmen Sie gefälligst Ihre widerlichen Hände von Miss Merton!«

Sally stand auf und versuchte, etwas zu sagen, aber Butcher kam ihr zuvor.

»Also meine Hände sind widerlich, ja?«, sagte er. »Woher wollen Sie denn wissen, dass Sally sie widerlich findet? Sie armer Wicht! Sie haben’s grad nötig! Sie müssen sich Ihr Geld damit verdienen, dass Sie da unten im Keller Pakete schnüren.«

Freds bleiches Gesicht wurde rot. »Sie ist ein anständiges Mädchen«, sagte er mit zitternder Stimme. »Daher weiß ich das. Also lassen Sie sie verdammt nochmal in Ruhe!« Er legte den Bücherstapel, den er mit nach oben gebracht hatte, auf den großen Tisch, doch weil seine Hände so heftig zitterten, entglitten ihm die Bücher und purzelten zu Boden.

Sally wollte erneut etwas sagen, doch Butcher kam ihr auch diesmal zuvor. »Sie sollten lieber vorsichtig sein, Fred«, sagte er. »Regen Sie sich bloß nicht auf. Wir wissen doch alle, dass Sie eigentlich schon längst in ein Heim gehören.«

Freds Gesicht wurde aschfahl. Mit einer Stimme, die sie selbst kaum erkannte, sagte Sally zu Butcher: »Sie gehen jetzt besser. Fred ist mehr wert als fünfzig von Ihrer Sorte. Und er hat im Krieg gekämpft. Sie dagegen haben sich, wie ich glaube, erfolgreich davor gedrückt.«

Das saß. Befriedigt sah sie, wie ihm alle Röte aus den Wangen wich und seine Haut hässliche Flecken bekam. Im nächsten Moment stieß er einen ebenso hässlichen Fluch aus.

Weit entfernt im oberen Stockwerk schloss sich eine Tür. Sie hörten das Geräusch nur sehr leise. Doch die energischen Schritte auf der Treppe kamen rasch näher.

Butcher sagte in einem leisen, bedrohlichen Tonfall: »Glauben Sie nur ja nicht, dass die Sache damit erledigt ist, und zwar keiner von Ihnen beiden.« Dann ging er rasch zur Tür und verließ den Laden.

Fred schien weder das Geräusch der Tür im oberen Stockwerk noch die Schritte auf der Treppe gehört zu haben. Er stand einfach nur da, mit verkrampften, zitternden Händen. Sally sagte sanft: »Es ist schon gut, Fred. Er wollte nur gemein sein. Tausend Dank, dass Sie mir geholfen haben.«

»Ich weiß, dass ich nur ein Packer bin, Miss«, sagte Fred verzweifelt. »Aber ich konnte nicht einfach tatenlos danebenstehen und zugucken, wie er Sie begrapscht. Ich fürchte, ich hab’ die Sache nicht besser gemacht. Am Ende mussten Sie sich für mich starkmachen.« Seine Stimme brach, und Sally stellte bestürzt fest, dass er weinte.

Sie war sich nicht sicher, ob sie versuchen sollte, Fred aus dem Laden zu geleiten, bevor Johnny den Raum betrat, oder ob es nicht besser wäre, wenn Johnny von dieser Sache erfuhr. Aber am Ende wurde ihr die Entscheidung aus der Hand genommen. Johnny war bereits da.

Er blieb am Fuß der Treppe stehen. Johnny war fast so groß wie Fred, hatte jedoch viel breitere Schultern und war wesentlich kräftiger. Dieser Körperbau hatte ihn, zusammen mit seinem scharfen Verstand, während des Krieges zu einem erstklassigen Kommandoführer gemacht, wie alle sagten. Sein Gesichtsausdruck war ungewöhnlich ernst, und er strahlte bei dieser Gelegenheit eine ähnliche Autorität aus wie sein Großvater.

»Was ist hier vor sich gegangen?«, fragte er leise.

»Es war nur Butcher, er hat sich danebenbenommen«, antwortete Sally.

»Er hat Miss Merton begrapscht, Mr Johnny«, sagte Fred. »Und ich war verdammt nochmal vollkommen nutzlos – bitte entschuldigen Sie, Miss. Es tut mir leid.« Die Tränen strömten ihm immer noch an den hohlen Wangen herab.

»Sie haben das feindliche Feuer auf sich gelenkt, Fred«, widersprach ihm Sally.

»Ich verstehe«, sagte Johnny. Er trat zu Fred und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Sally hatte noch nie eine solche Sanftheit bei ihm gesehen. Wahrscheinlich besaß er Erfahrung im Umgang mit Männern, die vom Krieg gezeichnet waren, dachte sie bei sich.

»Den gegnerischen Beschuss auf sich zu ziehen ist immer eine sehr gute Sache, Fred«, sagte er immer noch leise. »Es war ein Glück, dass Sie hier waren. Und machen Sie sich keine Gedanken wegen der Dinge, die er zu Ihnen gesagt hat. Bestimmt alles nur Lügen. Gehen Sie jetzt heim und essen Sie was zu Abend. Ist Alf immer noch hier?«

»Nein, Mr Johnny. Er und Billy sind vor ungefähr fünf Minuten gegangen.«

»Schön, dann gehen Sie auch heim. Wir unterhalten uns morgen früh. Ich ruf Sie dann unten an. Gute Nacht, Fred.«

»Gute Nacht, Mr Johnny, Sir. Gute Nacht, Miss.«

»Gute Nacht, Fred. Und vielen Dank nochmal.«

Fred machte ein dankbares Gesicht. Er verließ den Laden, und sie hörten, wie sich die Tür zur Kellertreppe öffnete und wieder schloss. Er würde das Gebäude durch die Hintertür verlassen, die auf die kleine Gasse führte, und so denselben Weg nehmen, den auch Alf Lendicott, der leitende Packer, und der ›Kleine Billy‹, der Laufbursche, genommen hatten.

»Wird er denn auch klarkommen?«, fragte Sally.

»Ich denke schon. Er macht nicht den Eindruck, als würde er jeden Moment in sich zusammenbrechen. Aber erzählen Sie mir doch bitte ganz genau, was passiert ist.«

Johnny war Juniorpartner. Er war kaum älter als Sally und stand mit der gesamten Belegschaft auf sehr gutem Fuß. Und er würde die ganze Geschichte ohnehin morgen früh von Fred erfahren, oder jedenfalls den Teil davon, den Fred kannte. Hinzu kam, dass Johnny in mehr als nur einer Hinsicht große Ähnlichkeit mit Vater William hatte. Wenn er Fragen stellte, bekam er auch Antworten.

Sally beschönigte den ersten Teil der Geschichte ein wenig – was wahrscheinlich überhaupt nichts nützte. Aber den Wortwechsel zwischen Butcher, Fred und ihr selbst gab sie wortgetreu wieder. »Ich war verdammt unverschämt zu ihm und ich bin verdammt froh darüber.«

»Und ich bin verdammt froh, dass er bekommen hat, was er verdient«, sagte Johnny. »Oder jedenfalls einen Teil davon. Der Rest wird schon noch folgen, denke ich. Aber seien Sie vorsichtig mit ihm, Sally. Und wenn er wieder versuchen sollte, Ihnen zu nahe zu kommen, dann geben Sie mir sofort Bescheid. Versprochen?« Seine Stimme und die Art, wie er sie ansah, ließen ihr keine Wahl.

»Ich verspreche es«, antwortete Sally.

»Gut. Denken Sie, er wird heute Abend noch einmal zurückkommen? Ist er ein paar Sandwiches kaufen gegangen, wie er das sonst immer tut?«

»Das hat er nicht gesagt. Aber ich bezweifle doch sehr, dass er jetzt noch einmal zurückkommen wird.«

»Vielleicht nicht. Aber dennoch …« Er schaute auf die Uhr. Erneut hörte man, wie jemand die Treppe herunterkam. Im nächsten Moment betrat Tim mit raschen Schritten den Laden – ein junger und fröhlicher Mann, der an diesem Abend recht flott gekleidet war. Noch war er kein offizielles Mitglied des Personals, sondern studierte am New College in Oxford. Doch er war während der Weihnachtsferien zu Besuch, um sich ein wenig mit diesem Beruf vertraut zu machen. Die älteren Heldars waren der Ansicht, dass man nie früh genug damit anfangen konnte, etwas über antiquarische Bücher zu lernen, wenn man es auf diesem Feld zu etwas bringen wollte.

»Hallo, Sally«, sagte er. »Ist mein werter Herr Papa schon gegangen? Er hat hoffentlich nicht vergessen, dass heute Abend Gäste zum Essen kommen! Meine Mutter hat mir gesagt, ich soll ihn daran erinnern, und das habe ich auch getan, aber er hat womöglich irgendwelche Inkunabeln entdeckt und alles andere vergessen.«

»Er hat sich daran erinnert«, sagte Sally.

»Tim«, sagte Johnny. »Ich muss los. Bleib du bitte bei Sally, bis sie hier fertig ist, und dann begleite sie nach Hause. Butcher hat sich danebenbenommen. Aber erzähl das sonst niemandem. Und ich kümmere mich um die Sache. Verstanden?«

Tims fröhliches Gesicht hatte bei der Erwähnung von Butcher einen finsteren Ausdruck angenommen, und Sally wurde es ganz unbehaglich, als ihr der schreckliche Streit wieder einfiel, den die beiden letzte Woche gehabt hatten. Johnny erinnerte sich offenbar ebenfalls daran. Es wäre für alle Beteiligten besser, wenn Tim jetzt ginge. Er war wahrscheinlich ohnehin in Eile.

»Mir wird schon nichts passieren«, sagte sie. »Er kommt bestimmt nicht wieder zurück.«

»Ich werde Sie mit dem größten Vergnügen nach Hause geleiten«, entgegnete Tim mit Nachdruck.

»Sehr gut«, sagte Johnny. »Bitte verzeihen Sie, Sally, aber ich muss jetzt los.« Er ging mit raschen Schritten hinaus.

»Sie sollten auch gehen, Tim«, sagte Sally. Vor einem Jahr, als er zum ersten Mal hier gearbeitet hatte und sie selbst noch ganz neu gewesen war, hatte sie ihn einmal »Mr Tim« genannt. Das war ihm so peinlich gewesen, dass sie das nicht noch einmal versucht hatte, außer in der Gegenwart von Kunden.

Er grinste sie an. »Hat Vater Ihnen erzählt, dass ich verabredet bin? Machen Sie sich da mal keine Sorgen. Die Verabredung ist erst um Viertel vor sieben, und Sie wohnen nicht weit weg, oder? In Earl’s Court?«

Sally versuchte, ihn umzustimmen, aber Tim meinte nur, sie solle ihre Sachen zusammenpacken und ihren Mantel anziehen. Tim konnte, wie alle Heldars – von seinem sanftmütigen Vater einmal abgesehen –, sehr stur sein. Sally räumte hastig ihren Schreibtisch auf und rannte dann den Flur entlang, um ihren Mantel zu holen. Gerade in dem Moment, als sie zurück in den Laden kam und das Licht im Flur und auf der Treppe ausschaltete, gellte ein Schrei durch das Haus.

Er kam von oben, und sein Echo hallte in dem engen Treppenhaus wider. Im nächsten Moment hörte man von oben leichte, hastige Schritte. Tim eilte zum Fuß der Treppe und rief: »Wer zum Teufel –?«

»Liza«, antwortete Sally. Sie hatte vollkommen vergessen, dass Johnnys Sekretärin noch nicht gegangen war. Sie schaltete das Licht wieder an. Aber die Kleine Liza würde niemals nur deswegen schreien, weil das Licht ausgegangen war. Sally wurde von einer plötzlichen Sorge erfasst, während sie hinter Tim die Treppe hinaufrannte. Aber nein, Butcher hatte das Haus verlassen.

Liza musste so schnell gerannt sein wie Betty die Woche zuvor, denn sie erreichte den Treppenabsatz im ersten Stock sogar noch vor Tim. Keuchend landete sie direkt in seinen Armen. Tim hielt sie fest und fragte dann freundlich: »Was ist los, Liza?«

Liza rang nach Luft und sagte: »Der Geist.«

»Der Geist?«, wiederholte Tim. »Aber hier gibt es keinen Geist mehr, Herzchen. Man hat ihn vor fast hundert Jahren ausgetrieben. Seitdem wurde er nie wieder gesehen.«

»Aber Betty hat ihn gesehen – letzte Woche«, sagte Liza.

»Betty dachte, sie hätte ihn gesehen«, entgegnete Sally sanft. »Aber wir haben ihr nicht geglaubt, Liza.«

Liza atmete schwer. Dann sagte sie mit immer noch ein wenig abgehackter Stimme: »Das stimmt. Wir dachten, Betty hätte sich das entweder eingebildet oder Butcher hätte ihr einen Streich gespielt. Ich bilde mir nichts ein, also nehme ich an, es war Butcher. Die Mädels dachten, dass er an dem Abend, als Betty den Geist gesehen hat, gar nicht bis spät gearbeitet hat, aber du hast gedacht, er sei nur ausgegangen, um sich seine Sandwiches zu holen, nicht wahr? Wie er es immer tut, wenn er vorhat, Überstunden zu machen.« Sie schaute die Treppe hinauf. Sie hatte den Mut, mit dem sie als gebürtige Londonerin gesegnet war, schon wieder zurückgewonnen.

»Ich habe von dieser Geistergeschichte anscheinend noch gar nichts gehört«, sagte Tim. »Und ich würde es Butcher durchaus zutrauen, sich als Geist zu verkleiden. Aber wie ich mir habe sagen lassen, hat er vor einer Weile das Haus verlassen und ist, soweit wir das erkennen konnten, nicht wieder zurückgekehrt.«

»Also, da war jemand«, entgegnete Liza störrisch.

»Was genau haben Sie denn gesehen?«, fragte Tim.

»Ich war zur Damentoilette hochgegangen, um meinen Mantel zu holen. Das Licht in dem obersten Flur ist kaputt, aber die Türen zu den Büros standen offen, und es fiel Licht von der Straße herein. Ich stand oben an der Treppe und wollte gerade wieder hinuntergehen, als ich ein Geräusch hörte und mich umdrehte, und da habe ich eine – eine Art weiße Gestalt gesehen, an der Ecke, wo der Flur zu Butchers Büro abbiegt. Genau so etwas hat Betty auch gesehen und auch genau an derselben Stelle – weißt du noch, Sally? Ich bin nicht stehen geblieben, um es mir näher anzusehen – ich bin genau wie Betty einfach nur losgelaufen. Und in diesem Moment ist das Licht im Treppenhaus ausgegangen.«

»Das tut mir furchtbar leid«, sagte Sally. »Ich hatte vergessen, dass du noch da bist.«

»Also schön, ich werde mir das mal ansehen«, sagte Tim. »Ihr Mädels wartet besser unten im Laden.« Dann hielt er inne, denn ihm war ganz offenbar das Versprechen eingefallen, das er Johnny gegeben hatte.

»Ich komme mit«, sagte Liza.

Also gingen sie alle zusammen. Sally und Liza warteten auf dem Treppenabsatz im zweiten Stock, mit der Anweisung zu schreien, falls sie irgendjemanden sahen. Tim sah unterdessen in Johnnys Büro nach, sowie in den Räumen mit den fremdsprachigen Büchern und den Reisebüchern. Dann wiederholten sie das Ganze im obersten Stockwerk, während Tim einen Blick in die Büros der Schreibkräfte und das von Miss Bates warf, außerdem in den Raum mit den Geschichtsbüchern, in dem sich sein eigener Arbeitsplatz befand, in die Damentoilette und Butchers Büro. Schließlich kehrte er zurück und sagte: »Also, es tut mir leid, aber dort ist niemand. Es sei denn, er wäre durch die Falltür aufs Dach hinausgeklettert …« Er beendete den Satz nicht.

»Da war jemand«, sagte Liza. »Ich glaube nicht, dass es ein Geist war, aber da war jemand.«

Tim sah sie an. »Ich weiß nicht ganz, was ich dazu sagen soll«, meinte er dann mit typisch jugendlicher Offenheit.

»Sie glauben, ich hätte mir das nur eingebildet!«, sagte Liza. Ihre Wut flammte so schnell auf, als hätte man einen Funken geschlagen.

»Es sieht Ihnen nicht ähnlich, sich etwas einzubilden, denke ich«, meinte Tim. »Also schön. Ich schlage vor, dass wir jetzt alle nach Hause gehen. Ich werde mit Johnny über diese Sache sprechen. Johnny lässt sich von niemandem etwas vormachen.« Seine Bewunderung für Johnny kannte keine Grenzen.

Damit waren alle einverstanden. Aber es war nicht so leicht, sich zu einigen, wer wann und mit wem gehen sollte. Der unglückselige Tim hatte versprochen, Sally nach Hause zu begleiten, doch er empfand es nun natürlich als seine Pflicht, auch Liza nach Hause zu geleiten. Gleichzeitig war er in weniger als einer Stunde verabredet. Sally und Liza meinten beide beharrlich, es sei nicht nötig, dass sie jemand nach Hause begleitete, aber Tim, der wild entschlossen war, ritterlich zu sein, verkündete schließlich, dass er und Sally Liza zu ihrem Bus bringen und warten würden, bis sie eingestiegen war, und dass er danach Sally nach Earl’s Court begleiten würde.

Sie wollten gerade das Licht im Laden ausschalten, als sie hörten, wie von draußen ein Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Tim sagte leise: »Falls es Butcher ist, sagen Sie beide kein Wort.« Liza runzelte empört die Stirn, doch Sally sah seinen Gesichtsausdruck und begriff, dass er befürchtete, sich bei einem Wortwechsel mit Butcher nicht beherrschen zu können.

Es war tatsächlich Butcher. Er hatte zwei prall gefüllte Papiertüten dabei, und Sally kannte ihn gut genug, um zu wissen – auch ohne seinen Atem gerochen zu haben –, dass er etwas getrunken hatte. Er sah sie, Tim und Liza an, sagte jedoch nichts.

»Gute Nacht, Butcher«, sagte Tim kurz angebunden.

»Gute Nacht«, antwortete Butcher und drängte sich an ihnen vorbei.

Sally und Tim brachten Liza zu ihrem Bus, und dann bestand Tim darauf, ein Taxi zu nehmen. Während sie westwärts fuhren, fragte er: »Wie denken Sie über die Sache, Sally?«

»Ich weiß nicht recht«, antwortete sie. Ihr war der Gedanke gekommen, dass Butcher mit dem Vorhaben, sich an ihr zu rächen, womöglich zurückgekommen war, um ihr mit seinem Geistertrick einen Streich zu spielen. Aber sie wollte Tim lieber nichts von dem Butcher-Fred-Vorfall erzählen. Und wie sollte Butcher überhaupt ins Haus gekommen sein, ohne dass sie ihn gesehen hätten?

»Um wie viel Uhr hat Butcher den Laden verlassen, um seine Sandwiches zu holen?«, fragte Tim abrupt.

Sally dachte an den Vorfall zurück. »Ich denke, es war etwa um Viertel nach fünf. Genauer kann ich es nicht sagen.«

»Und Liza hat ihren Geist gegen fünf vor halb sechs gesehen. In dieser Zeit könnte er zurück ins Haus und hoch in sein Büro geschlichen sein und sich dort ein weißes Laken oder etwas Ähnliches umgehängt haben. Und dann könnte er wieder nach draußen und zum Pub in dem kleinen Gässchen gegangen sein, wo er immer seine Sandwiches kauft – das müsste dann nach halb sechs Uhr gewesen sein, wenn die Pubs öffnen –, um schließlich wieder den Laden zu betreten, während wir ihn so gegen zwanzig vor oder Viertel vor sechs verließen. Er hat einen Schlüssel zur Vordertür. Aber Sie waren doch sicher die ganze Zeit vorne im Laden, bis zu dem Moment, als wir den Schrei gehört haben, oder?«

»Ja. Zusammen mit Ihnen oder Mr Johnny. Butcher hat keinen Schlüssel zur Hintertür – soweit ich weiß – und die Packer waren schon alle gegangen, also wäre da niemand mehr gewesen, der ihn hätte hereinlassen können. Und selbst wenn er auf diesem Weg ins Haus gekommen wäre, hätte er die Kellertreppe hochkommen und den Flur entlanglaufen müssen, der in den Laden führt, um die Haupttreppe zu erreichen. Eine Hintertreppe gibt es schließlich nicht. Einer von uns hätte ihn dann sicher sehen oder zumindest hören müssen.«

»Beinahe sicher. Und selbst wenn man sich darauf nicht hundertprozentig verlassen könnte, so wäre es ihm doch unmöglich gewesen, wieder herunterzukommen, ohne dass ihn jemand gesehen hätte. Sie und Liza standen beide Male auf dem Treppenabsatz, während ich die Räume durchsucht habe. Und dasselbe gilt für jede andere Person, die sich als Geist verkleidet hätte.«

»Und die Falltür im Dach?«, fragte Sally.

»Ich fürchte, die können wir ausschließen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens: Der Kerl hätte eine Leiter haben und diese dann nach dem Hochklettern nach oben ziehen müssen. Die nächstgelegene Bibliotheksleiter befindet sich in Johnnys Büro – es sei denn, jemand hätte im oberen Stockwerk aus Versehen eine liegen lassen, und mir ist heute nichts dergleichen aufgefallen. Und die Leiter aus Johnnys Büro war an ihrem Platz, als ich sein Büro inspiziert habe. Und zweitens: Letzte Woche ist Alf durch die Falltür hochgestiegen, um nach diesem Rohrbruch in der Damentoilette zu schauen, und da klemmte die Falltür, weil sie sich verzogen hatte. Sie ist ohnehin ungeheuer schwer. Alf musste eine zweite Leiter holen und mich bitten, ihm zu helfen, bevor er das Ding überhaupt von der Stelle bewegen konnte. Wir haben sie dann für den Klempner offen stehen lassen, und er hat sie wieder runtergelassen, nachdem er fertig war. Alf meinte, es müsse eine neue Falltür installiert werden, und dafür müsste ein Schreiner herkommen. Deshalb ist es eher unwahrscheinlich, dass Alf selbst seitdem irgendetwas daran gemacht hat. Und ein Schreiner war noch nicht da. Wenn all das nicht gewesen wäre, wäre ich natürlich nach oben gestiegen, um dort nachzusehen. Wir werden Alf mal dazu befragen, aber falls der Kerl nicht ein direkter Nachkomme von Tarzan war, können wir die Falltür wohl ausschließen.« Er seufzte. »Ich sage das ja nur äußerst ungern, und ich weiß, dass Liza normalerweise ein sehr vernünftiges Mädchen ist, aber ich fürchte, sie hat sich das Ganze eingebildet. Es sei denn, der Geist würde tatsächlich wieder sein Unwesen treiben.« Er schwieg einen Moment. »Ich kenne die Geschichte nicht so gut, wie ich sollte. Mutter hat nie gewollt, dass man sie mir erzählt, als ich noch kleiner war, und einen dieser Geisterjägerberichte habe ich auch nie gelesen. Was wissen Sie darüber?«

»Ich habe die Geschichte in Hughes’ Englische Geister nachgelesen. Hughes schreibt, er habe sie direkt von dem ›großen alten Mann‹ – unserem Firmengründer – erfahren. Das alles passierte lange Zeit bevor der große alte Mann die Nummer zweihundert übernahm, aber als Hughes sein Buch verfasste, waren keine Berichte aus erster Hand mehr zu bekommen. Der große alte Mann hat die Geschichte von Tomkin, dem Buchhändler und vorigen Besitzer der Nummer zweihundert, der das Haus unmittelbar nach dem Exorzismus übernommen hatte, und Tomkin wiederum kannte die Geschichte von seinem Vorgänger, der letzten Person, die das Gebäude als Pub geführt hat. Das Haus ist ziemlich alt, wie Sie sicher wissen – sehr viel älter als die meisten anderen Häuser in der Charing Cross Road. Es wurde irgendwann im frühen achtzehnten Jahrhundert gebaut, und soweit man weiß, war es, bis Tomkin das Haus übernahm, immer ein Pub. Und dieser Pub hatte immer einen schlechten Ruf. In den frühen Jahren des neunzehnten Jahrhunderts konnte es geschehen, dass Leute, die dort einkehrten, nie wieder gesehen wurden. Das Übliche eben – jemand wollte sie loswerden und war bereit, dafür zu bezahlen, und so lockte man sie dorthin und erdolchte sie still und heimlich in ihren Betten. Oder vielmehr war es immer dasselbe Bett, wie man glaubt, oder jedenfalls dasselbe Zimmer, nämlich das, in dem Butcher jetzt sein Büro hat. In demselben Jahr, in dem die Schlacht von Waterloo stattfand, wurde ein Mann namens George Swan dort ermordet. Man erzählt sich, ein gewisser Sir Richard King hätte den Mord angeordnet, weil Swan Lady Kings Liebhaber war. In der Geschichte heißt es auch, dass Swan noch rechtzeitig aufwachte, um aus dem Bett zu springen und zu fliehen und dass er bis zur Ecke des Flurs kam, bevor der gedungene Mörder ihn einholte und ihm in den Rücken stach. Es wurden zwar Untersuchungen angestellt, aber man hat die Leiche nie gefunden und niemand wurde dafür jemals zur Rechenschaft gezogen. Bald darauf tauchte sein Geist auf und wandelte immer von dem Bett in Butchers Büro zu der Ecke im Flur, und zwar in dem weißen Nachtgewand, das er trug, als er erstochen wurde. Das war für die Gäste äußerst schwer zu ertragen, aber der Gastwirt war ein überzeugter Rationalist und weigerte sich, die Geistergeschichte zu glauben. Dasselbe galt für seinen Sohn, der den Pub nach ihm übernahm. So wandelte der Geist ungehindert weiter, bis 1855, glaube ich. In dem Jahr ist der Sohn gestorben, und das Haus ging in den Besitz eines einigermaßen respektablen Katholiken über, der einen Priester kommen und den Geist exorzieren ließ. Danach wurde der Geist, soweit man weiß, nie wieder gesehen.«

»Tja«, sagte Tim. »Ich frage mich aber doch, ob er vielleicht wieder aufgetaucht ist. Das, was Liza und Betty angeblich gesehen haben, passt ja exakt zu dieser Geschichte. Betty kann manchmal ein bisschen hysterisch sein, wie ich weiß. Aber nicht die Kleine Liza.«

»Und ich frage mich, ob das, was die beiden angeblich gesehen haben, nicht ein wenig zu exakt zu der Geschichte passt. Genauer gesagt zu exakt zu der Geschichte, die in Hughes’ Buch steht. Sie müssen wissen, Tim, dass ein Exemplar davon vor etwa zehn Tagen zu Betty hochgeschickt wurde, damit sie es fakturiert – und genau da hat alles angefangen. Die Mädels haben die Geschichte über den Geist von zweihundert nachgelesen und waren ganz aufgeregt deswegen. Darüber hinaus haben sie Liza und mir erzählt, Butcher sei hereingekommen, als sie sie gerade lasen, und er hätte sie damit aufgezogen. Diese Ausgabe von Hughes ist natürlich verkauft worden. Aber es gibt noch ein weiteres Exemplar. Ich habe es gesehen, als ich das erste Buch aus dem Regal holte, um es zu Betty hochzuschicken. In dem Raum neben der Versandabteilung – dort, wo die Bücher über Magie und Hexerei und Spiritualismus und so weiter stehen. Dem Raum für das Okkulte.«

»Ja, aber Sally, ich halte Butcher zwar für zu allem fähig, aber selbst wenn er Bettys Geist war, kann er unmöglich auch Lizas Geist gewesen sein. Es konnte weder Butcher noch sonst irgendjemand gewesen sein. Es konnte einfach niemand dort gewesen sein. Das haben wir schließlich bewiesen.«

Darauf wusste Sally keine Antwort. Tim fuhr fort: »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde morgen mit Johnny reden. Oh, und das wollte ich Ihnen auch noch sagen: Ich hoffe, Sie waren nicht gekränkt, weil Johnny Sie nicht selbst nach Hause bringen wollte. Er hatte einen guten Grund dafür. Er hat einen Freund, einen Kameraden aus seiner damaligen Kommandotruppe, der in der Bromptoner Klinik für Lungenerkrankungen liegt. Der arme Kerl ist seit über einem Jahr dort, und Johnny besucht ihn seitdem zweimal die Woche, und zwar so regelmäßig, dass man die Uhr danach stellen könnte. Davon lässt er sich durch nichts und niemanden abhalten.«

»Wie nett von ihm«, sagte Sally. Es war wirklich bemerkenswert, dass ein Mann wie Johnny, der so zahlreiche berufliche und gesellschaftliche Verpflichtungen hatte, einem kranken Freund die Treue hielt und sich derart oft die Zeit nahm, ihn zu besuchen.

»Ja, nicht wahr?«, sagte Tim. »Aber um Himmels willen sagen Sie ihm nicht, dass Sie darüber Bescheid wissen. Ich habe es selbst nur ganz zufällig herausgefunden, und er würde mir das Fell über die Ohren ziehen, wenn er wüsste, dass ich irgendjemandem davon erzählt habe.«

Zweites Kapitel

Sally schlief in jener Nacht nicht besonders gut. Aber sie ging am nächsten Morgen dennoch früh zur Arbeit, weil sie mit der Bestellung von Hiram P. Goldberger fertig werden wollte, bevor um halb zehn Uhr der Laden öffnete. Sie klingelte an der Hintertür – die Packer waren um diese Uhrzeit bereits alle im Haus – und der ›Kleine Billy‹ öffnete ihr.

»Guten Morgen, Miss«, sagte er fröhlich. Der Kleine Billy war immer fröhlich, außer wenn Butcher ihn schikanierte. »Sie sind heute aber früh dran.«

»Da ist noch Arbeit liegengeblieben, die ich erledigen möchte«, sagte Sally und lächelte ihn an.

»Alles klar, Miss.« Er schloss die Tür und ging mit ihr zusammen die Treppe hinunter und den Gang entlang. Dabei plauderte er unentwegt über nichts Bestimmtes. Es war ein bisschen so, als würde man von einem zutraulichen jungen Hund begleitet. Billy war ungefähr in ihrem Alter – um die dreißig –, aber er hatte das Aussehen und auch das Wesen eines Schuljungen. Das Alter konnte ihm nichts anhaben, ebenso wenig wie eine etwaige Verantwortung. Er verrichtete seine Arbeit gewissenhaft und gut, wie ein braver Schuljunge, sie genügte seinen begrenzten Fähigkeiten und belastete ihn nicht. Eigentlich gab es nichts, was ihn belastete – außer Butchers Spott, der ihm immer mal wieder für einen kurzen Moment vage ins Bewusstsein rief, dass ihm etwas fehlte. Niemand sonst bei Heldar’s ließ ihn das jemals spüren. Im Allgemeinen war Billy in seiner kleinen Welt so glücklich, wie es ein Junge auf dem Land sein mochte, der fast so war wie alle anderen, aber eben nicht ganz. Der einzige Unterschied war, dass Billy ein Junge aus der Stadt war, der seine ganz persönliche Ecke von London in- und auswendig kannte und nirgendwo sonst hätte glücklich sein können.

An der geöffneten Tür der Versandabteilung trennte er sich von ihr. Sally konnte Alf und Fred am Arbeitstisch sitzen sehen.

»Morgen, Miss!«, rief Alf.

»Guten Morgen, Miss«, sagte Fred. Es kam ihr so vor, als sei er ein wenig in sich gekehrter als sonst. Davon abgesehen wirkte er so, als sei alles in Ordnung.

Sally blieb einen Moment stehen, um ein paar Worte mit ihnen zu wechseln, und ging dann den Flur entlang und die Treppe zum Erdgeschoss hinauf. Dort hängte sie ihren Mantel in den Schrank und betrat den Laden. Während sie sich bückte, um den Heizstrahler einzuschalten, schlug die Uhr neun.

Sie kramte die Hiram-P.-Goldberger-Bestellliste hervor und vervollständigte die Karteikarte, bei deren Erstellung Butcher sie gestern Abend unterbrochen hatte. Dann machte sie sich an die nächste Karte. Johnson (Samuel) Rasselas 1805, Quarto, mit Stichen von A. Raimbach. Als sie damit fertig war, ging sie zur nächsten über. Johnson (Samuel), Reisen nach den westlichen Inseln bei Schottland 1775, Oktavbd.

Sie hatte gerade mit der vierten Karte angefangen, als erneut ein Schrei ertönte. Einen Moment lang fragte sie sich fast, ob jemand die Zeit zurückgedreht hatte und sich nun diese ganze seltsame und verstörende Szene erneut abspielte. Dann fragte sie sich, ob sie eingeschlafen war und von einem Traum über die gestrigen Ereignisse heimgesucht wurde. Doch dann wurde ihr klar, dass der Schrei dieses Mal nicht von der Kleinen Liza ausgestoßen worden war. Es war ein hoher, weiblicher Schrei gewesen, der sich am Ende überschlagen hatte. Ihr wurde klar, dass es Mrs Brand gewesen sein musste, die Reinemachefrau. Kein anderes weibliches Mitglied des Personals war jetzt schon im Haus. Aber das machte die Sache nicht weniger verstörend.

Fast unwillkürlich war sie aufgesprungen, und rannte auch schon zur Treppe hinüber und die Stufen hinauf, so wie sie gestern Abend hinter Tim hergerannt war.