Mord in Göteborg: So kalt die Nacht - Peter Gissy - E-Book + Hörbuch

Mord in Göteborg: So kalt die Nacht Hörbuch

Peter Gissy

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Beschreibung

Du kannst dich nicht vor ihm verstecken: Der packende Schweden-Thriller »Mord in Göteborg« von Peter Gissy jetzt als eBook bei dotbooks. Zwei Kinder finden die Leiche einer jungen Frau. Ihr nackter Körper wurde akribisch gereinigt und nichts deutet auf den möglichen Täter hin. Die einzige Spur ist die abgerissene Hälfte einer Spielkarte. Die Göteborger Polizei zieht die forensische Psychologin Michelle Mohlin zum Fall hinzu. Die Ex-Polizistin, die sich auch in einem Frauenhaus engagiert, soll ein Täterprofil erstellen. Nur widerwillig lässt Michelle sich auf die Zusammenarbeit ein, denn die Zeit bei der Polizei hat tiefe Spuren bei ihr hinterlassen. Als eine weitere junge Frau vermisst wird, rückt der Fall in den Fokus der Öffentlichkeit. Michelle und das Ermittlerteam beschließen, die mediale Aufmerksamkeit zu nutzen und den Täter aus der Reserve zu locken. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt. Michelle muss sich nicht nur einem gefährlichen Mörder, sondern auch den Dämonen ihrer eigenen Vergangenheit stellen. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Skandi-Thriller »Titel« von Autor. Das Hörbuch und die Printausgabe sind bei SAGA Egmont erschienen. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:20 Std. 4 min

Sprecher:Marlen Ulonska
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Über dieses Buch:

Kinder finden die Leiche einer jungen Frau. Ihr Körper wurde akribisch gereinigt und nichts deutet auf den möglichen Täter hin. Die einzige Spur ist die abgerissene Hälfte einer Spielkarte. Die Göteborger Polizei zieht die forensische Psychologin und Ex-Polizistin Michelle Mohlin zum Fall hinzu, sie soll ein Täterprofil erstellen. Nur widerwillig lässt Michelle sich auf die Zusammenarbeit ein, denn die Zeit bei der Polizei hat tiefe Spuren bei ihr hinterlassen. Doch dann wird eine weitere Frau vermisst, und schon bald überschlagen sich die Ereignisse. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, bei dem Michelle sich nicht nur einem gefährlichen Mörder stellen muss, sondern auch den Dämonen ihrer Vergangenheit.

»Mord in Göteborg« erscheint außerdem als Hörbuch und Printausgabe bei SAGA Egmont, www.sagaegmont.com/germany.

Über den Autor:

Peter Gissy ist freier Journalist, Übersetzer und Autor von Krimis und Kinderbüchern. Er gilt als Mentor von Camilla Läckberg und hat einen festen Platz auf den Leselisten der schwedischen Krimi-Fans.

Die Website des Autors: petergissy.se/

Bei dotbooks erscheint sein Thriller »Mord in Göteborg: So kalt die Nacht« als eBook.

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eBook-Ausgabe September 2023

Die schwedische Originalausgabe erschien erstmals 2021 unter dem Originaltitel »Nøglen En avgörande ledtråd« bei SAGA Egmont, Kopenhagen.

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2021 by Peter Gissy

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2023 by Peter Gissy und SAGA Egmont

Copyright © der eBook-Ausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von AdobeStock/matho

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-947-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Peter Gissy

Mord in Göteborg: So kalt die Nacht

Schweden-Thriller

Aus dem Schwedischen von Ricarda Essrich

dotbooks.

Leben ist nur ein wandelnd Schattenbild.

William Shakespeare

Im Hinblick auf sexuelle Vorlieben scheint es keine Grenzen dafür zu geben, was ein Mensch erotisch stimulierend finden kann.

Roger Wallinder

So I’m telling you my friend

That I’ll get you, I’ll get you in the end

Yes, I will, I’ll get you in the end.

The Beatles

Seine Haut war weiß, seine Augen blau, doch seine Seele, die war pechschwarz.

Evert Taube

Prolog

Zunächst hielten die Jungen den schwarzen Plastiksack für nichts Besonderes. Da schaute etwas Merkwürdiges aus dem Gebüsch heraus, zur Hälfte von großen Zweigen verdeckt. Wahrscheinlich hätten sie den Sack gar nicht bemerkt, so unscheinbar, wie er dort in der schmalen Senke lag, wenn es in der Nacht zuvor nicht anhaltend geregnet und gestürmt und der Herbststurm nicht überall Löcher in die dichte Vegetation gerissen hätte. Dieser Teil des Waldes außerhalb von Olofstorp war sehr wild und beinahe undurchdringlich, und kaum jemand kannte ihn. Es gab wenige Wege, nur Reifenspuren von Forstmaschinen, die sich einige Jahre zuvor den Weg durch das Gelände gebahnt hatten. Der nächste größere Weg war geschottert und lag gut und gerne zehn Minuten von hier entfernt.

Ted, zehn Jahre alt, nahm an, dass jemand Müll im Wald entsorgt hatte. Sein erster Impuls war, weiterzufahren. Was kümmerte ihn ein hässlicher Sack, wenn sie gerade so viel Spaß mit ihren Mountainbikes hatten? Er hatte schließlich nichts damit zu tun, wenn jemand hier einfach etwas weggeworfen hatte.

Doch dann entdeckte auch sein großer Bruder Glenn den Sack.

Glenn sprang von seinem Bike, hockte sich hin und hob einen längeren Zweig auf. Vorsichtig tippte er damit den Sack an, als hätte er Angst, es könnte plötzlich ein wildes Tier daraus hervorspringen. Dann nahm er all seinen Mut zusammen und drückte ein Loch ins Plastik. Etwas Helles schimmerte hindurch. Etwas Haariges. Doch ein Tier?

Was war das?

Entschlossen steckte er den Zweig in das Loch und vergrößerte es.

Die Jungen schnappten überrascht nach Luft.

Ein Gesicht.

Das Gesicht einer Frau.

Sie lag regungslos da und schien sie durch das Loch anzusehen. Die Augen waren halb geschlossen und sahen merkwürdig glanzlos aus. Ted konnte einen Schrei nicht unterdrücken.

Es gab keinen Zweifel, dass die Frau nicht mehr lebte, dennoch sagte Glenn: »H-hallo?«

Keine Antwort.

Sie sahen einander an, erschrocken und ängstlich.

Den Trip in den Wald hatten sie ohne Wissen ihrer Eltern unternommen. Der Wald war ein gefährlicher Spielplatz, das hatten sie unzählige Male zu hören bekommen, und dort durften sie sich nicht allein aufhalten. Trotzdem zog es sie mit ihren Bikes fast immer dorthin. In dem urwüchsigen Gelände gab es massenhaft spannende Trails zu entdecken. Gebüsch und Bäume wechselten sich ab. Sie spielten doch nur, sonst nichts. Sie traten gegeneinander an, beide gleichermaßen begierig darauf, der Beste zu sein.

Die tote Frau hatte das Spiel jäh beendet.

Der zwölfjährige Glenn packte seinen kleinen Bruder am Arm. »Wir müssen die Polizei rufen.«

Ted nickte stumm.

Glenn hatte bereits die Nummer gewählt und das Handy am Ohr. Er wusste, was zu tun war: Vor einem halben Jahr hatte seine Mutter den Notruf gewählt, als die Großmutter der Jungen zu Hause in ihrer Wohnung plötzlich das Bewusstsein verloren hatte. Die Notrufzentrale meldete sich sofort. Die Frau am anderen Ende der Leitung stellte ihre Fragen, auf die Glenn antwortete, so gut er konnte. Zwischendurch musste er ein paar Mal tief durchatmen, um sprechen zu können. Nein, es war kein Scherz. Ja, er war sicher, dass sie tot war. Nein, sie würden nichts anfassen, sondern auf die Polizei warten.

»Wo seid ihr?«, fragte die Person in seinem Ohr.

Er sagte es ihr. »Hinter Gråbo«, ergänzte er und räusperte sich, als seine Stimme zu brechen drohte.

»Wie fühlst du dich, Glenn?«

»Ganz gut.« Doch er sagte es sehr zögerlich, und sie musste die Angst in seiner Stimme gehört haben.

»Geht ein paar Schritte zur Seite und wartet auf uns, okay? Tut gar nichts. Das ist wichtig. Achte darauf, dass dein Handy an ist, damit wir dich eventuell zurückrufen können. Außerdem orten die Einsatzkräfte dich anhand der Koordinaten deines Handys. Hast du verstanden?«

»Ja«, sagte Glenn.

Einen Moment später legte er auf. Seine Beine und Hände zitterten, seine Kehle fühlte sich rau und trocken an.

»Komm«, sagte er zu Ted und wies auf ein paar größere Steine. »Wir setzen uns dorthin. Die Polizei ist unterwegs …«

Sein kleiner Bruder ging vor. Doch plötzlich blieb er stehen und übergab sich an Ort und Stelle. Die Tränen rannen ihm übers Gesicht, während er schniefte, und er wischte sich ungeschickt über die Wangen, verteilte dabei schwarzen Dreck in seinem Gesicht. »Tut mir leid«, sagte er. »Das ist so eklig ...«

»Beruhige dich«, sagte Glenn und warf einen Blick zurück zu dem Sack. »Du musst keine Angst haben«, sagte er an seinen Bruder gerichtet, meinte aber auch sich selbst damit: Er wusste, dass er stark sein musste. Er würde auch seine Mutter anrufen müssen, sie musste hiervon erfahren. Aber nicht sofort. Erst musste er sich sammeln. Er hatte ein komisches Gefühl in der Brust. Und sein Hals fühlte sich zugeschnürt an.

Die Tote war offensichtlich ermordet worden.

Jemand hatte sie getötet und in den Sack gesteckt.

Das war schwer zu begreifen.

Vor Kurzem hatte er im Fernsehen einen Film gesehen, in dem jemand ermordet und in einen Graben geworfen worden war. Jetzt fühlte es sich beinahe so an, als wäre er in diesem Film gelandet.

Da hatte sich der Mörder mit einer blutigen Axt hinter einer Scheune versteckt und alle beobachtet, die vorbeigingen.

Als Glenn plötzlich aufging, dass sich jemand in der Nähe befinden könnte – vielleicht der Mörder, genau wie in dem Film –, blickte er sich mit klopfendem Herzen um. Die sich wiegenden Äste um sie herum sahen aus wie lange, spitze Arme; Arme, die sich nach Ted und ihm auszustrecken schienen.

Teil I

DIE JÄGER VERSAMMELN SICH

Kapitel 1

Nach der Trauerfeier begab sich Michelle Mohlin auf direktem Weg ins Freie. Über ihr läuteten die Glocken der Kapelle, klangen gleichzeitig düster und tröstlich.

Durch die Sonnenbrille betrachtete sie die Trauernden, die sich auf dem gekiesten Platz vor der Kapelle versammelten. Im Gebäude war es kühl gewesen, sie hatte in ihrer Lederjacke gefröstelt. Wie erwartet, waren nicht viele zur Beerdigung gekommen. Jörgens Mutter war natürlich da, bleich und still, ebenso wie seine Schwester mit ihrem Mann, der wegen seiner rheumatischen Erkrankung am Stock ging und aussah wie ein alter britischer Oberst. Außerdem eine Handvoll weitere Trauergäste, die sie nicht kannte und auch nicht kennenlernen wollte.

Sie selbst hatte sich als Letzte in die Kapelle geschlichen und ganz nach hinten gesetzt. Allein, so weit weg von den anderen wie möglich, in die letzte Bank, nahe dem Ausgang.

Sie war nicht zum Sarg vorgegangen.

Dort verlief die Grenze.

Es war eine recht schlichte Veranstaltung gewesen.

Mit Ausnahme der Mutter hatte eigentlich niemand Trauer gezeigt.

Auch sie nicht.

Eigentlich hatte sie sich sogar über die innere Kälte gewundert, die sie empfand, denn die Jahre mit Jörgen waren ‒ wenn sie ehrlich war ‒ nicht nur schlecht gewesen.

Der Pfarrer, jung und enthusiastisch, hatte sein Bestes gegeben, um die richtige Stimmung zu erzeugen, und von der »letzten Reise einer verlorenen Seele« gesprochen, als er neben dem Sarg am Fuß der Kanzel stand. Es lagen einige Kränze davor, jedoch so wenige, dass es beinahe mickrig aussah.

Michelle fragte sich, ob Jörgen gerne als »verloren« bezeichnet worden wäre. Sie bezweifelte es.

Doch das spielte nun keine Rolle mehr.

Lange war sie sich nicht sicher gewesen, ob es sinnvoll war, zur Beerdigung zu gehen, doch sie bereute es nicht. Nun konnte sie endlich einen Schlusspunkt hinter das Leben mit ihm setzen.

Sie atmete tief durch und zog ihr Halstuch enger.

Gut, dass es vorbei war.

Das Krächzen einer Krähe riss sie aus ihren Gedanken. Sie flog in Richtung der hohen Birken davon, die sich ein Stück entfernt über die Grabsteine erhoben, flog eine elegante Kurve, bevor sie sich im Gras niederließ und ein paar Mal mit den Schwanzfedern wippte. Sie schien sie beinahe herausfordernd anzusehen: als wolle sie klarmachen, dass das Leben weiterging wie bisher, trotz allem.

Michelle konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Sie hatte ja recht.

Sie schob die Sonnenbrille zurecht. Eigentlich war es zu dieser Jahreszeit zu dunkel dafür, aber sie wollte nicht, dass jemand sie erkannte.

Die letzten sieben Jahre hatte sie darauf verwendet, ihre Erinnerungen an Jörgen zu verdrängen. Er war wirklich ein Mistkerl gewesen und hätte ihrer Meinung nach überhaupt keine Beerdigung bekommen sollen. Ihn in ein Loch im Boden zu werfen und unter Mist zu begraben, hätte völlig ausgereicht.

Sie hatte seinen Nachnamen behalten, doch das war auch schon alles, was von ihm in ihrem Leben übrig geblieben war. Als die Scheidung durch war, hatte sie einen Container bestellt und all seine Sachen darin entsorgt. Kleidung, Möbel, Teppiche, das Bücherregal aus Teakholz, das er von seinen verstorbenen Großeltern geerbt und mit dem er immer so geprahlt hatte. All das war zum Recyclinghof in Högsbo gegangen. Natürlich hatte er sich aufgeregt, als er davon erfahren hatte, aber für sie war es die reinste Befreiung gewesen. All das alte Zeug musste raus! Zeit für etwas Neues. Und da hatten er und seine Sachen keinen Platz. Mit jeder Minute, die verging, verlor sein Verrat an Bedeutung. Und eines Tages, das hatte sie sich geschworen, würde sie ihren Mädchennamen wieder annehmen. Bald würde es so weit sein.

Unter den Bäumen war es idyllisch, und in der frischen Luft ließ der Druck in ihrem Inneren mit jedem Schritt nach. Es war schön, das Ganze endlich hinter sich lassen zu können. Michelle drehte um und wandte sich in Richtung Parkplatz.

Sie würde Jörgen nicht vermissen, nicht eine Sekunde. Niemand würde ihn vermissen.

Doch insgeheim wusste sie, dass sie sich selbst etwas vormachte. Sie würde das, was geschehen war, nie ganz hinter sich lassen können. Die Vergangenheit war noch da, die guten und die schlechten Zeiten, auch wenn die Konturen mit den Jahren verblassen würden.

Wie so häufig zog es beim Gehen in ihrer Schulter. Manchmal wirkten die Schmerzmittel nicht richtig. Vielleicht trug auch die feuchte Kälte zu dem hartnäckigen Schmerz bei?

Allmählich wurden die fahlen Sonnenstrahlen von den Nachmittagsschatten ersetzt; der Abend war nicht mehr fern. Das Dezemberwetter war unzuverlässig, es änderte sich ständig. Wie schon in den letzten Tagen lag Regen in der Luft. Doch Schnee hatte es bisher noch keinen gegeben.

Sie kramte in ihrer Jackentasche nach den Autoschlüsseln und ging auf den Parkplatz zu.

Da vernahm sie hinter sich Schritte auf dem Kies.

Jemand näherte sich.

»Michelle?«

Sie erkannte die Stimme sofort.

Nach kurzem Zögern drehte sie sich um.

Åsa Kaspersson sah im Großen und Ganzen noch so aus, wie sie sie in Erinnerung hatte, wenn auch ein wenig älter. Mit immer noch recht kräftigem Oberkörper. Es war ungewohnt, sie so herausgeputzt zu sehen, mit dunklem Mantel und Rock. Aschblondes gelocktes Haar, das über den Kragen herabfiel. Die Augen wie immer wachsam, abschätzend. Der Blick einer Polizistin. Über einer Schulter hing ein grüner Rucksack, ein sportliches Modell, das in dieser Situation deplatziert wirkte.

Åsa streckte die Hand aus, und Michelle ergriff sie zögerlich.

»Ich muss mit dir sprechen«, sagte Åsa ohne Umschweife. »Beruflich«, fügte sie hinzu.

»Aha.«

»Wir sind da an einer Sache dran … und ich glaube, du kannst uns dabei helfen.«

Michelle wusste sofort, worum es ging. Nein. Man sollte die Vergangenheit ruhen lassen.

»Nein, danke«, antwortete sie bestimmt.

Doch Åsa ließ nicht locker. »Können wir uns irgendwo hinsetzen? Vielleicht einen Kaffee trinken?«

»Ich habe keine Zeit«, log Michelle ungeniert. Was sollte es zu besprechen geben? Sie hatte die Vergangenheit hinter sich gelassen, und zwar aus Gründen, die Åsa und ihre Kollegen sehr gut kannten.

Åsa breitete resigniert die Arme aus und musterte sie plötzlich mit gerunzelter Stirn, als ob sie versuchte, ihren Geisteszustand zu beurteilen. »Wie geht es dir?«

Michelle konnte ihre Gedanken nicht verbergen. »Sorgst du dich um meine Gesundheit?«

»Tut mir leid, das war nicht so gemeint. Das ist ein bisschen seltsam rübergekommen, aber … na ja, du weißt schon. Unter diesen Umständen.«

»Es geht mir besser als damals bei der Polizei, falls du das meinst, und das soll auch so bleiben.«

»Wir haben uns eine ganze Weile nicht gesehen. Ich kenne deine Haltung, aber …« Åsa verlor den Faden und setzte noch einmal an. »Kannst du es dir nicht noch einmal überlegen? Ich meine … ich brauche dich wirklich.« Sie hielt inne. Offenbar fiel es ihr schwer, auszudrücken, was sie wollte.

Michelle entschied, etwas entgegenkommender zu sein. »Geht es um das Übliche?«

»Ja.«

»Ich habe das hinter mir gelassen, Åsa.«

»Das verstehe ich.«

Michelle hatte Åsa in der Kapelle nicht gesehen. Sie wusste nicht, welches Verhältnis sie zu Jörgen gehabt hatte. Hatten sie einander gekannt? Sie sah demonstrativ auf die Uhr. »Tut mir leid, aber ich muss los.«

Åsa gab nicht auf. »Was machst du inzwischen?«

»Ich arbeite. Es gibt ein Leben außerhalb der Polizei.«

»Du hättest nie gehen sollen.«

»Das sehen einige anders. Das hat Spuren hinterlassen«, sagte sie mit einer schiefen Grimasse. »Auch wenn die Jahre vergehen.« Das klang dramatischer als beabsichtigt.

»Verstehe. Ich habe mehrmals versucht, dich zu erreichen, aber du gehst nicht an dein Handy. Sogar über die Telefonzentrale der Universität habe ich es versucht. Hat man dich nicht informiert, dass ich dich gesucht habe?«

Michelle schüttelte den Kopf. »Nein.« Es war nicht das erste Mal, dass die Telefonzentrale ihren Aufgaben nicht nachkam. »Ich hatte ziemlich viel zu tun«, fügte sie hinzu.

»Ich bin davon ausgegangen, dass du zur Beerdigung kommen würdest, und habe hier mein Glück versucht. Tut mir leid.« Åsa sah verlegen aus. »Es geht um Folgendes: Ich leite ein neues Ermittlungsteam. Ich möchte interdisziplinär arbeiten und ich möchte dich dabeihaben. Dich. Niemand anderen.«

In einiger Entfernung fuhr ein Polizeifahrzeug langsam heran, es hielt am Straßenrand, und der Polizist hinterm Steuer winkte durch die heruntergekurbelte Seitenscheibe vorsichtig in ihre Richtung. Åsa nickte ihm zu, dann nahm sie den Rucksack ab und streckte ihn Michelle entgegen.

»Hier. Das habe ich für dich vorbereitet. Ich bitte dich, dir das Material anzusehen.«

»Du gibst nicht auf, oder?«

»Ich weiß, was du kannst.«

Ihre Blicke verhakten sich ineinander.

»Du kennst meine Antwort.«

»Ich brauche dich, Michelle.«

Åsa Kaspersson war eine der ehemaligen Kolleginnen und Kollegen bei der Polizei in Göteborg, über die Michelle nichts Negatives sagen konnte. Es war eine Weile her, seit sie das Handtuch geworfen hatte. Es war eine heftige Zeit gewesen, und sie hatte sich geschworen, sich nie wieder in Polizeiarbeit hineinziehen zu lassen. Nicht nach allem, was passiert war. Andererseits hatte sie manchmal einige ihrer Aufgaben vermisst.

»Falls ich dabei bin …« Sie betonte das Wort falls.

Åsa hob die Hand und unterbrach sie. Ihr Blick war jetzt anders, strenger. »Ein junges Mädchen verschwindet eines Abends plötzlich. Niemand hat etwas gesehen, niemand hat etwas gehört, niemand weiß etwas. Ein paar Jungen finden sie ermordet auf, geschändet. Nackt. In einem Sack im Wald entsorgt wie irgendein abgenutzter Gebrauchsgegenstand. Vom Täter keine Spur. Er verhöhnt uns, Michelle. Ich versuche, die Ermittlungen zu beschleunigen.« Sie zögerte. »Im Rucksack findest du alles, was du brauchst. Schau dir das Material an. Wir haben Grund zu der Annahme, dass der Mörder wieder zuschlagen könnte.« Jetzt klang sie beinahe flehend. »Du weißt, dass ich dich nicht bitten würde, wenn es nicht wichtig für uns wäre?«

»Es gibt auch andere.«

»Niemanden wie dich. Du siehst, was andere nicht sehen.«

Michelle spürte, dass ihre Abwehr bröckelte. Hätte Åsa versucht, sie anzurufen, wäre es vergeblich gewesen: Sie ging eigentlich nie ran, wenn sie die Nummer nicht kannte.

»Hast du das mit dem Chef geklärt?«, fragte sie.

»Lasse Sjögren hat einen Job bei Europol angenommen und ist nach Brüssel oder so gegangen. Wir haben jetzt einen neuen Bezirkspolizeipräsidenten, Arne Krogh-Arnesen. Vielleicht hast du schon von ihm gehört? Ein guter Mann. Däne. Jung und modern.«

»Modern?«

Åsa lächelte. »Hm. Mit frischen Ideen.«

Neue Denkweisen würden der Truppe sicher guttun. Einige Polizeikräfte betrieben die Ermittlungsarbeit noch wie in den Siebzigerjahren. Immer mehr saßen am Schreibtisch, und immer weniger waren zu handfester Arbeit im Außendienst in der Lage. Neue Polizeibeamten wurden direkt auf die Ermittlungsseite gezogen, wo ihre Unerfahrenheit eher für Be- als für Entlastung sorgte. Und am Ende übernahm in der hierarchischen Organisation, die doch immer befürwortet wurde, niemand die Verantwortung. Michelle hatte ihre eigene Meinung dazu, die sie früher noch vehementer vertreten hatte. Sie wusste, was es für sie bedeuten würde, wenn sie diesen Auftrag annahm.

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Sorry. Du musst dir jemand anderen suchen. Ich muss los.«

Åsa hielt sie am Arm fest. »Vergiss die Vergangenheit, Michelle. Wir alle müssen geben und nehmen. Bei Gott, das müssen wir.« Ihr Ton war sachlich. »Ich habe dir alles kopieren lassen, was du meiner Meinung nach brauchen könntest. Die Kontaktinformationen findest du ganz hinten. Hier.« Sie versuchte, Michelle dazu zu bringen, den Rucksack zu nehmen. »Ach, und übrigens: Einar ist auch dabei.«

»Einar?«

»Ja.«

Einar.

Als Michelle seinen Namen hörte, zog sich ihr Magen zusammen. Wenn sie an jemanden häufiger gedacht hatte, dann an ihn. Wie sie wusste, war er bei einem Zugriff in der Nordea-Filiale in Mölndals Bro verletzt worden und krankgeschrieben gewesen. War er wieder im Dienst? Sie konnte sich die Nachfrage nicht verkneifen.

»Es geht ihm ganz gut, Gott sei Dank.« Åsa lächelte kurz. »Vergiss das Prestige und all das, Michelle. Wir haben morgen früh eine Besprechung, und es wäre schön, wenn du …«

»Schon morgen?«, unterbrach Michelle sie.

»Du kennst das doch. Volle Kraft voraus.« Als Michelle wieder den Kopf schüttelte, fuhr sie fort: »Du musst natürlich bis dahin nicht alles durchgesehen haben.«

»Das hast du dir ja alles schön ausgedacht.«

Åsa legte den Kopf schief, sodass ihre Locken im Wind flatterten.

»Ist das ein Ja?«

In diesem Moment brummte es in Michelles Tasche. Sie zog ihr Handy heraus und sah aufs Display. Es war Katja, die Leiterin des Frauenhauses in Åkered. Michelle traf eine Entscheidung. »Okay. Aber ich verspreche nichts. Ich mache nur so viel, wie ich schaffe. Um wie viel Uhr morgen früh?«

»Um acht.«

»Ich werde da sein. Jetzt muss ich hier rangehen. Mach’s gut.« Hastig wandte sie sich ab und sprach ihren Namen ins Telefon. »Worum geht es?«

»Wo steckst du?« Katja klang halb hysterisch.

»Unterwegs. Ist etwas passiert?«

Kapitel 2

Das Frauenhaus Göteborg-West befand sich in einem flachen, rot angestrichenen Holzbau in Åkered. Es lag, nur einen Steinwurf von einem ruhigen Wohnviertel entfernt, direkt neben einem kleinen Gehölz und war von der Hauptstraße aus kaum zu sehen. Das war auch der Sinn des Ganzen: Hier konnten Frauen, die Schutz und Hilfe benötigten, sich ‒ mit Zustimmung der Stadtverwaltung ‒ verstecken.

Michelle hatte erfahren, dass die Räume schon immer von Vereinen genutzt worden waren. Hier hatte man unter anderem Schach gespielt und lateinamerikanische Tänze gelehrt, aber das war lange her. Nach einem schrecklichen Brand war die barackenähnliche Bruchbude vollständig renoviert worden und hatte eine neue Funktion erhalten. Leider gab es mehr als reichlich Frauen – junge wie ältere –, die aus einer Beziehung mit einem missbrauchenden und gewalttätigen Ehemann oder Partner heraus einen Neustart benötigten.

Während der Fahrt dachte Michelle über ihr Engagement bei der Frauenberatungsstelle nach. Manchmal fragte sie sich, ob ihr Unterbewusstsein sie dorthin geführt hatte. Als Betroffene und angesichts dessen, was mit Jörgen passiert war, hatte sie vielleicht das Bedürfnis gehabt, Gleichgesinnte zu treffen? Doch ganz so war es nicht gewesen. Die Frauen, die sie hier traf, waren in der Regel in schlechterer Verfassung, als sie selbst gewesen war. Wie dem auch sei, inzwischen widmete sie sich dieser Sache aus vollem Herzen und spürte jeden Tag, wie die mehr oder weniger ehrenamtliche Tätigkeit sie immer stärker in ihren Bann zog. Und auch wenn die Sache es wert war, nahm sie viel Zeit in Anspruch. Das wiederum war nicht gut. Sie musste mehr an sich denken.

Sie hatte sich längst vorgenommen, mit Katja darüber zu sprechen, doch immer war etwas dazwischengekommen. Zwar waren es nicht viele Stunden in der Woche, die sie dort als Beraterin arbeitete, doch es war eine kräftezehrende Tätigkeit, die sie im Großen und Ganzen unentgeltlich ausübte.

Mitten im Kreisverkehr in Åkered begann ihr Handy wieder zu brummen. Wieder Katja. »Michelle? Wo bist du?«

»Ich bin in ein paar Minuten bei dir. Muss nur noch durch den Kreisverkehr.«

»In Åkered?«

»Ja, natürlich.«

»Ach, Mist … Wir sind in der Notaufnahme im Sahlgrenska. Habe ich das nicht gesagt?«

Michelle fluchte innerlich. Das war so typisch für Katja. »Mit keiner Silbe. Was macht ihr dort?«

Katja klang resigniert. »Komm einfach her.«

Michelle wendete mitten auf der Straße und scherte sich nicht darum, dass ein Autofahrer wütend hupte. Auf der Straße zum Frölunda-Torg-Einkaufszentrum kurbelte sie das Fenster herunter und atmete ein paar Mal tief durch. Der Wind wehte den Geruch von frischem Tang von der Askims-Bucht herüber. Dies war ihr Viertel. Hier hatte sie länger gewohnt als jemals sonst an einem Ort, und die salzige Meeresluft weckte viele Erinnerungen. Jörgen hatte eine Zeit lang Angeln als Sport betrieben, und sie hatte ihn – frisch verliebt – begleitet und bei einigen denkwürdigen Gelegenheiten Makrelen gefangen. Damals hatte es genauso gerochen.

Sie musste sich beeilen, sie warteten auf sie. Was Katja wohl von ihr wollte? Was machte sie in der Notaufnahme?

Im Rückspiegel sah sie sich selbst und zuckte zusammen.

Wie abgekämpft sie aussah! Aschfahl im Gesicht, das lange blonde Haar unordentlich, vor allem jetzt, nachdem sie ihr Tuch abgenommen hatte. Die Falten über der Nasenwurzel waren tiefer als heute Morgen. Sie müsste ihr Make-up auffrischen, doch dafür war jetzt keine Zeit. Zeit war permanente Mangelware. Sie dachte an den Rucksack, den Åsa ihr gegeben hatte, und seufzte. Noch eine Sache, zu der sie Ja gesagt hatte, ohne näher darüber nachzudenken.

Sie hatte Glück und fand einen Parkplatz in der Nähe des Krankenhauseingangs, auf der Höhe des Campus Medicinareberget, und machte sich nicht die Mühe, die Parkgebühren zu bezahlen. Sollten hier Politessen herumlaufen, würde sie sich bei ihrer Rückkehr darum kümmern. Sie schloss den Rucksack in den Kofferraum ein und lief zum Verdruss der Autofahrer quer über die Per Dubbsgatan.

Die Notaufnahme war gerammelt voll.

Sie versuchte, zu Atem zu kommen, während sie ungeduldig die Glastüren öffnete und nach Katja Ausschau hielt. Doch sie konnte sie nicht entdecken. Gerade wollte sie ihr eine Nachricht schreiben, als Katja auftauchte. Sie sah aufgeregt aus, winkte sie hektisch herbei, das pinke Brillengestell so weit vorne auf der Nasenspitze, dass sie es unablässig hochschieben musste. Ihr weißes Haar war zu einem stacheligen Kurzhaarschnitt frisiert, den Michelle noch nie bei jemand anderem gesehen hatte. Sie vermutete, dass Rune, ihr Mann, dahintersteckte. Katja nahm es mit ihrem Äußeren einfach nicht so genau.

Ohne ein Wort zu sagen, zog sie Michelle mit sich den Flur hinunter. In der Notaufnahme schien Hochdruck zu herrschen, mehrere Patienten lagen in Betten, die entlang der Wände geparkt worden waren, und warteten darauf, an die Reihe zu kommen. Kurz darauf blieb Katja vor einer Tür stehen, klopfte vorsichtig an, bevor sie sie öffnete. Der Raum lag in einem stillen Halbdunkel, vier Betten waren durch mobile Wände voneinander abgetrennt. Ein schwacher Geruch von Reinigungsmitteln hing in der Luft. Das einzige Licht kam von einer gedämpften Lampe an der Wand.

Es schien, als würden alle schlafen. Alle bis auf eine.

Die Frau im Bett direkt an der Tür hatte Schwellungen unter den Augen und auch ihre Lippen waren angeschwollen. Eine Wange war blau verfärbt. Sie war unheimlich attraktiv – wenn man von ihrem verwüsteten Gesicht absah. Hohe Wangenknochen und ein interessantes Grübchen am Kinn. Blassgrüne Augen, fast wie die einer Katze, jedoch heller und so auffällig, dass ihr Blick beinahe ein wenig überheblich wirkte. Das glatte dunkelblonde Haar war lang und fiel in dicken, unordentlichen Wellen über ihre Schultern. Eine Krankenschwester verabreichte ihr gerade eine Spritze in den Arm.

Katja stellte Michelle der Frau vor. Sie hatten offensichtlich auf sie gewartet.

»Was ist passiert?«, fragte Michelle, nachdem die Krankenschwester verschwunden war.

Kurz erwiderte die Frau ihren Blick, wandte sich dann aber ab, ohne ein Wort zu sagen.

Katja sprang ein. »Es ist im Frauenhaus passiert.« Sie breitete in einer dramatischen Geste die Arme aus, dann beugte sie sich vor und flüsterte, damit die anderen Patienten sie nicht hörten: »Ihr Mann hat sie gefunden. Du siehst ja, wie sie aussieht.«

»Oh, verstehe.« Michelle wandte sich direkt an die Frau im Bett. »Wie heißen Sie?«, fragte sie.

»F-Frida Berg«, sagte sie leise, nachdem sie ihre Lippen mit der Zungenspitze befeuchtet hatte. Mit einem Mal traten ihr Tränen in die Augen. »Bitte. Helfen Sie mir … ich halte das nicht mehr aus … tut mir leid.«

»Hat Ihr Mann Ihnen das angetan?«, fragte Michelle.

Frida schien wegen der Schwellungen und der Schmerzen nur schlecht sprechen zu können. Sie wirkte zögerlich, so als würde sie sich schämen. Langsam kam heraus, was passiert war. Sie hatte den Müll hinausgebracht, als ihr Mann plötzlich aufgetaucht war, sie ins Gesicht geschlagen und, als sie am Boden lag, gegen Arme und Brust getreten hatte. Sie hatte versucht, sich zu wehren, doch er war außer sich vor Wut gewesen. Erst als Rune aufgetaucht war, hatte er aufgehört. Fridas Mann war verschwunden, sie wusste nicht, wohin. Glücklicherweise waren die Verletzungen nicht so schlimm; nach der Erstversorgung hier konnte sie entlassen werden. Doch gegen die Angst vor dem, was ihr Mann ihr noch antun könnte, gab es kein Heilmittel.

Unter Tränen flüsterte sie: »Er ist so brutal. B beim Schlafen habe ich einen H Hammer neben mir im Bett liegen … ich zucke zusammen, wenn ich Schritte höre. Ich weiß, dass er mich wieder finden wird. Was soll ich nur tun?«

Michelle und Katja schwiegen. Es gab nichts zu sagen. Beide hatten viel zu viele ähnliche Geschichten gehört, alle gleichermaßen verstörend. Ihre Blicke trafen sich, und Katja wies mit dem Kopf zur Tür. Kurz darauf standen sie im Flur, jede einen Becher Kaffee in der Hand. Pflegepersonal eilte den Gang hinauf und hinunter, und sie traten zur Seite, um nicht im Weg zu sein.

»Das darf nicht passieren«, sagte Michelle vorwurfsvoll.

Katja schüttelte den Kopf. »Ich weiß, aber … sie wird bald entlassen, ich weiß nicht, was wir tun sollen.«

»Was meinst du?«

»Ihr Mann hat gedroht, sie zu töten, verstehst du das nicht? In dieser Situation wage ich es nicht, sie ins Frauenhaus zurückzubringen, das ist zu riskant.«

»Für wen? Für sie?«

»Auch für uns. Er weiß, dass sie dort ist, und er wird sie dort wieder suchen, wenn die Polizei ihn nicht zuerst findet.«

»Wie lange ist sie bei dir gewesen?«

»Fünf Tage. Die meiste Zeit ist sie in ihrem Zimmer geblieben. Ich habe versucht, mit ihr zu sprechen, doch sie wollte nicht und … na ja. Gestern hatte sie sich eingeschlossen, einen Moment lang dachten wir, sie wolle sich das Leben nehmen. Rune hat sie dann in die Küche geholt und sie dazu gebracht, dort zu helfen.«

Michelle nickte, während sie zuhörte. Bei diesen Frauen waren Selbstmordversuche nichts Ungewöhnliches. Vor einiger Zeit hatte sie von einer Iranerin gehört, aus Teheran geflüchtet, die in Biskopsgården von ihrem Balkon gesprungen war, um ihrem gewalttätigen Ehemann zu entkommen. Die Frau hatte den Sturz mit zwei gebrochenen Beinen überlebt. Als sie im Krankenwagen aufgewacht war, hatte sie angefangen zu weinen. Nicht wegen der Schmerzen, sondern weil ihr Selbstmordversuch gescheitert war.

Im Frauenhaus investierte das Personal unter Katjas Führung viel Zeit und Mühe, damit die aufgenommenen Frauen sich öffneten und sich sicher fühlten, und meist gelang ihnen das auch, selbst wenn es eine Weile dauerte. Kaum jemand war wie Katja in der Lage, sich um die Menschen zu kümmern und sie zu stützen, trotz ihrer unterschiedlichen Hintergründe und Geschichten. Manchmal half Michelle dabei.

Eine Pflegerin schob ein leeres Bett vorbei.

»Was weißt du über Frida?«, fragte Michelle leise, während sie den Kaffeebecher zusammendrückte und in einem Mülleimer entsorgte.

»Sie hat einen Uniabschluss, ich erinnere mich nicht, worin. Könnte Zoologie gewesen sein.« Katja zuckte mit den Schultern. »Ich mag sie. Ihr Mann wurde wegen Misshandlung und Vergewaltigung bei der Polizei angezeigt, und sie wartet hier auf die polizeilichen Ermittlungen. Wir haben versucht, ihren Aufenthalt bei uns geheim zu halten, aber das ist uns offensichtlich nicht gelungen. Er ist hinter ihr her, Michelle. Ich mache mir wirklich Sorgen.«

»Hast du ihn gesehen?«

»Ich nicht. Aber Rune. Er sagt, er sei groß und stark … Er hat ihn draußen gesehen und damit gedroht, die Polizei zu verständigen. Da ist er weggelaufen. Es ist schrecklich. Sie hat panische Angst vor ihm. Na ja, du siehst es ja selbst.«

Michelle nickte. Wie viele Frauen in Fridas Situation gab es? Seit sie sich hier engagierte, kam es ihr so vor, als habe jemand die Büchse der Pandora geöffnet: Es wurden immer mehr. Irgendwo hatte sie eine Zahl gelesen, dass fast zehntausend Frauen im Land Zuflucht in einem geschützten Heim suchten. Frauen, die sich nichts anderes zuschulden kommen lassen hatten, als sich in einen Mann zu verlieben, der sie schlug. Es gab auch viele Kinder, denen es schlecht erging. Frustriert ballte sie die Fäuste.

»Hat sie Kinder?«, fragte sie.

»Nein.«

Gott sei Dank, dachte sie.

Katja zog ihr Smartphone aus der Tasche, wandte sich ab und begann, mit jemandem zu sprechen. Michelle ging zu Frida zurück, die gerade dabei war, ihren Mantel anzuziehen. Ihre Bewegungen waren die eines Models, obwohl der rechte Arm wegen des Verbands steif war. Sie war größer, als es im Liegen gewirkt hatte, und Michelle musste den Kopf heben, um ihr in die Augen zu sehen.

»T-tut mir leid«, sagte Frida wieder. »Ich will nicht zur Last fallen, und trotzdem tue ich es.«

»Wir werden eine Lösung finden«, sagte Michelle ausweichend und schielte auf die Uhr. Hinter ihr beendete Katja ihr Telefonat und forderte sie auf, wieder auf den Gang zu kommen.

»Wir haben ein Problem, Michelle.«

»Was ist los?« Ihr fiel ein, dass Fridas Mann auf dem Weg zum Krankenhaus sein könnte. »Kommt er her?«

Katja schüttelte den Kopf. »Nein, das ist es nicht. Kannst du sie mitnehmen?«

»Ich? Was meinst du?«

»Zu dir nach Hause?«

Die Frage überrumpelte Michelle. Konnte sie es? Zwar hatte sie viel Platz in ihrem Reihenhaus, doch sie wusste nicht, ob sie das schaffen würde. Es widerstrebte ihr, so tief in diese Sache hineingezogen zu werden.

»Ich weiß nicht.«

»Ich habe es überall versucht, aber nichts gefunden«, sagte Katja. »Es ist nur für ein paar Tage.« Sie war eine Meisterin der Überredungskunst. In ihrem Job musste sie das natürlich auch sein.

Michelle dachte an Åsa Kaspersson und den Rucksack im Auto.

»Es passt gerade nicht so gut«, sagte sie, hörte aber selbst, wie wenig überzeugend das klang.

»Quatsch. Ihr versteht euch doch gut, das sehe ich.« Katja lächelte verschmitzt und schob ihre Brille hoch. Dann wurde sie wieder ernst. »Das ist ja nicht schwierig. Und du hast ein ganzes Haus für dich allein. Es ist ein Notfall.«

»Hast du wirklich niemand anderen?«

Katja schüttelte resigniert den Kopf.

Michelle dachte nach. Eigentlich wäre es wirklich kein Problem, wenn sie nicht ausgerechnet heute Åsa versprochen hätte, den Inhalt des Rucksacks durchzusehen. Dafür brauchte sie Ruhe. Es würde sicher länger dauern als erwartet, das tat es immer. Sie war davon ausgegangen, allein zu Hause zu sein. Andererseits könnte sie auch ins Büro in der Stadt gehen. Es war Mittwoch, und dort war es um diese Zeit sicherlich leer. Sie musste endlich damit anfangen; eigentlich hatte sie sich noch etwas Bequemeres anziehen wollen, doch das musste warten.

»Wie lange soll ich ...?« Sie beendete den Satz nicht.

»Nur zwei oder drei Tage, versprochen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir bis dahin keine Lösung gefunden haben.«

»Na gut.«

»Danke, Michelle. Rune und ich bringen sie nachher zu dir, wenn wir hier fertig sind.«

Michelle war von der Idee nicht vollends überzeugt. Aber jetzt war es abgemacht. Sie zog ihren Schlüsselbund aus der Tasche. »Hier. Ich habe noch einen Ersatzschlüssel.«

»Du bist ein Engel, weißt du das?«

Michelle sah auf die Uhr. Gleich fünf. »Sag Frida, dass ich spät komme, wahrscheinlich mitten in der Nacht. Sie soll keine Angst haben. Gib mir zur Sicherheit ihre Handynummer.« Entschlossen strich sie eine lange Strähne aus dem Gesicht, die immer wieder in ihre Stirn fiel. »Bezieht das Bett im Arbeitszimmer oben. Bettwäsche findest du in der Kommode. Na ja, ihr werdet euch schon zurechtfinden. Ich muss los.«

Kapitel 3

Das Büro in der Sveagatan in der Stadtmitte befand sich in einer alten Jugendstilwohnung, die von der Universität Göteborg angemietet wurde. Es war ein Provisorium, in dem ziemliches Durcheinander herrschte ‒ eigentlich genauso wie in ihrem Leben insgesamt. Einst war dies eine elegante Wohnung für die feine Gesellschaft gewesen, doch jetzt wirkte sie heruntergekommen, an einigen Stellen hingen sogar die alten Tapeten herunter. Mit ihrer Lage in einem der oberen Stockwerke, den knapp drei Metern Deckenhöhe (sie hatte nachgemessen) und den hübschen Bogenfenstern war die Wohnung durchaus prachtvoll, die Aussicht hingegen ließ zu wünschen übrig: eine graue Betonwand und Fenster mit vorgezogenen Gardinen in allen Wohnungen auf der anderen Seite der Straße. Wenn man die Fenster öffnete und sich hinausbeugte, konnte man eine kleine Ecke des Sveaplan erahnen, ein kleiner Platz, auf dem Bars mit Außenbestuhlung im Sommer zu einem Glas Rosé einluden, der aber jetzt – mitten im tiefsten Winter – ziemlich leer dalag.

Das Büro bestand aus mehreren Räumen, und einer davon gehörte ihr. Genauer gesagt, ein halber. Der größte Raum wurde durch hässliche Blechspinde mit Vorhängeschloss unterteilt, die vollgestopft waren mit ihr unbekannten Dingen. Sie teilte sich ihren Bereich mit ein paar Kollegen, die sie nicht kannte und die sich mit verschiedenen Ausbildungsthemen beschäftigten. Ein großer Schreibtisch vor einer farbenfrohen Lithografie irgendeines unbekannten Künstlers; einige Sessel und ein niedriges Bücherregal bildeten die Möblierung. An einer Tafel hingen Zettel, die mit der Arbeit zu tun hatten. Die Zettel wurden regelmäßig ausgetauscht, obwohl Michelle noch nie jemanden gesehen hatte, der sie aufhängte.

In einer gerade erst eingebauten Pantry im Flur, direkt neben der Wohnungstür, gab es ein Spülbecken und eine (kaputte) Kaffeemaschine sowie einen brummenden Kühlschrank älteren Datums.

Dies war ihr Büro. Hier hielt sie »ihre Seancen« ab, wie die Sekretärin des psychologischen Instituts es manchmal nannte, wahrscheinlich in dem Versuch, witzig zu sein. Sie, die Sekretärin, kümmerte sich um Terminbuchungen und hatte alles im Blick.

Michelle hatte das Büro vom ersten Moment an gehasst.

Es war trist, hellhörig und unpersönlich, und wer sie hier aufsuchte, fühlte sich genauso wenig wohl wie sie. Unter allen, mit denen sie das Büro teilte, gab es eine respektvolle, unausgesprochene Übereinkunft: Wenn einer von ihnen Besuch bekam, hielten sich die anderen, so gut es ging, fern. Meist gingen sie dann raus, um sich etwas zu essen zu besorgen.

Offiziell arbeitete Michelle als »Hilfskraft« an der Universität Göteborg, und ihre Tätigkeit wurde direkt vom Rektor und dessen Sekretariat verwaltet. Ihre Funktion war ziemlich diffus: Einerseits hielt sie einige Vorlesungen im Fach »forensische Psychologie«, andererseits sollte sie dazu beitragen, »die Pädagogik des Instituts weiterzuentwickeln«, wie es hieß. Der Rektor hatte sie angeworben: Das Fach war neu an der Universität, und er kümmerte sich mit besonderer Hingabe darum.

Nach ihrer Zeit als Polizistin hatte sich Michelle für eine Weiterbildung entschieden und sich das besondere Talent, das ihr alle zusprachen, zunutze gemacht. Die zweijährige psychologische Ausbildung mit der Fachrichtung Familienrecht hatte perfekt zu ihr gepasst. »Klinische Psychologin« stand jetzt auf ihrer Visitenkarte.

Das Geld für das Studium hatte sie nach der Scheidung von Jörgen erhalten, auch wenn es nicht viel gewesen war. Die Scheidung war zwar aufreibend gewesen, hatte aber auch Gutes mit sich gebracht, weil sie sich völlig auf sich konzentrieren konnte. Sie hatte ihre Tage mehr oder weniger vollständig mit Lernen verbracht – und währenddessen alles dafür getan, das Geschehene zu verdrängen. Die Scheidung, den Prozess, die Zeit im Krankenhaus.

Jörgen hatte sie damit aufgezogen, dass sie nicht besonders ehrgeizig sei, und sie hatte ihm zeigen wollen, wie falsch er damit lag.

Ihre gemeinsamen Freunde waren fast alle verschwunden, die meisten nach der Scheidung, der Rest nach dem Prozess. Egal, eigentlich brauchte sie keine Freunde. War sie nicht so etwas wie ein einsamer Wolf? Jedenfalls schien sie inzwischen zu einem geworden zu sein. Außerdem traute sie den Menschen nicht mehr – ja, so war es wohl. Es war zu viel geschehen.

Bei dem Gedanken daran verspürte sie einen stechenden Schmerz in der Brust.

In der Einsamkeit lag Sicherheit, doch gleichzeitig fehlte natürlich auch etwas.

Michelle Mohlin widmete sich die meiste Zeit ihrer Arbeit, das wussten alle.

Viele fanden, sie habe nach ihrem Examen das große Los gezogen, denn es war nicht leicht, mit ihrer Fachrichtung einen Job zu finden. Auch wenn sie die Rolle als Referentin beziehungsweise Dozentin nicht gerade genoss, hatte sie gelernt, mit der Situation umzugehen.

Weil ihre Aufgaben ihren Alltag anfangs nicht vollständig ausgefüllt hatten, hatte sie hin und wieder bei psychologischen Gutachten geholfen, sowohl für Unternehmen als auch für die öffentliche Hand. Meist handelte es sich um Unterstützung für HR-Abteilungen, die auf diese Art versuchten, die »richtige« Person für die »richtige« Position zu finden.

Und eines Tages hatte die Bekannte einer Bekannten gefragt, ob sie vielleicht neben der Arbeit »bei einer kleinen Sache« helfen könne. Sie, die Bekannte, war beim Sozialdienst angestellt, der sich darum kümmerte, Pflegestellen einzurichten. Es ging um »psychologische Unterstützung« für Geflüchtete und andere. Keine besonders konkrete Beschreibung, und Michelle hätte das Ganze vielleicht besser durchdenken sollen. Doch stattdessen hörte sie sich beinahe sofort Ja sagen.

So hatte sie Katja kennengelernt.

Michelle gefiel, was sie tat – sie fühlte sich gebraucht. Auch wenn die finanzielle Entschädigung minimal war, die Arbeitsaufgaben nicht selten fordernd und zeitaufwendig, fühlte sie sich wohl.

Die Straßenlaternen führten einen ungleichen Kampf gegen die Dunkelheit, als Michelle den Türcode eingab. Sie verzichtete auf den Aufzug und nahm die Treppe. Als sie oben die Tür aufschloss, atmete sie schwer. Ihre Kondition war nicht die beste.

Wie sie gehofft hatte, lag das Büro leer und dunkel da.

Im Kühlschrank stand eine ungeöffnete Cola-Dose. Sie nahm sie ohne schlechtes Gewissen heraus, schaltete die Schreibtischlampe an und fluchte dabei über die wohlbekannte Schmerzwolke in der Schulter. Als sie den Rucksack auf den Schreibtisch stellte und vier gut gefüllte A4-Mappen herauszog, bereute sie, dass sie sich von Åsa so leicht hatte überreden lassen. Worauf hatte sie sich da nur eingelassen?

Kapitel 4

Sveagatan.

Der Mann am Steuer pfeift leise vor sich hin, als er die Lücke zwischen den beiden Autos sieht, hineinfährt und anhält. Er ist stämmig und bewegt sich ruckartig, als er die Tasche zu sich heranzieht, die Kamera mit dem langen Objektiv herauszieht und aussteigt. Mit halb zugekniffenen Augen sieht er sich um, wie ein Jäger, der sich vor der Jagd im Gelände orientiert; er bewegt sich zwischen den Autos, geht vorgebeugt, die Kapuze über den Kopf gezogen. Der Wind ist stark, und er hält den Kopf wegen der heftigen Böen gebeugt. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit: Vor allem will er nicht wiedererkannt werden.

Kurz darauf steht er an der genau richtigen Stelle, zieht seinen Notizblock hervor und sieht ihn durch. Auf den Blättern hat er bereits senkrechte Spalten vorbereitet: »Datum«, »Uhrzeit«, »Ort«. Und ganz rechts: »Beobachtungen«. Er trägt die Informationen, die er bisher hat, in die Zeile des heutigen Datums ein.

Die ganze Zeit bewegen sich Leute um ihn herum, so ist das nun mal in der Stadt. Er kümmert sich nicht um sie. Ein älteres Paar mit einem Kinderwagen nähert sich, sie schielen zu ihm herüber, während sie vorbeigehen.

Der Mann mit der Kamera sieht konzentriert aus.

Es ist offensichtlich, dass ihn eine bestimmte Tür auf der anderen Seite der Straße besonders interessiert. Er lehnt sich gegen die Hauswand und versucht, gelangweilt auszusehen.

In Wahrheit er ist alles andere als das.

Innerlich spürt er die Spannung. Er sammelt Informationen über sie. Will alles über sie wissen. Wo sie wohnt, wo sie arbeitet, mit wem sie ihre Zeit verbringt, was sie tut.

Wann sie kommt und geht.

Er muss alles wissen – alles! –, weil er Pläne für sie hat.

Doch hier kann er nicht länger stehen bleiben. Das wirkt verdächtig. Damit es wenigstens einigermaßen natürlich wirkt, darf er hier maximal zwanzig Minuten stehen. Er kann nicht aufhören zu pfeifen. Eigentlich pfeift er die ganze Zeit das gleiche Lied, weil es so gut zu dem passt, was er hier tut:

I’ll get you in the end.

Es ist ein Beatles-Song, und er mag die Beatles. Unter anderem.

Die Dunkelheit ist sein bester Freund. Ein Stück weiter steht zwar eine Straßenlaterne, doch ihr Licht erreicht ihn nicht: Sein Gesicht bleibt im Schatten. Ab und zu sieht er auf die Uhr, um den Anschein zu erwecken, dass er auf jemanden wartet. Dass er hier jemanden treffen soll. Doch es ist ein Spiel. Es ist Teil des Ganzen, das Spiel. Er tut so, als wäre er ein Schauspieler und stünde auf einer Bühne. Wenn er daran denkt, muss er beinahe kichern.

Der Gedanke amüsiert ihn ungemein.

Er nimmt das Handy heraus und liest eine SMS. Doch auch das dient nur dazu, den Schein zu wahren: Er lässt die Tür nicht aus den Augen, genauso wie die Menschen, die sich um ihn herum bewegen.

Er liebt es, zu warten.

Zwar hat er schon Bilder von ihr, doch die reichen ihm nicht. Er kann nicht genug von ihr bekommen. Er will sehen, wie sie im Alltag aussieht. Schließlich hat er mehrere Jahre auf sie gewartet. Er hat jeden Zug in diesem Spiel geplant. Die Jahre im Gefängnis sind nicht umsonst gewesen.

Ab und zu tritt er von einem Fuß auf den anderen, als würde er frieren (ebenfalls Teil des Spieles), ansonsten steht er völlig still da. Wie ein Fuchs in seinem Bau, der beobachtet, abwartet, auf seine nächste Beute lauert. Er schluckt, was ihm schwerfällt, denn er hat einen trockenen Hals.

Es liegt eine eigenartige, intensive Spannung in der Situation.

Da!

Sie kommt den Gehweg herunter. Er kann kaum atmen, als er die Kamera hebt und sie ablichtet, während sie den Code eingibt, den Türgriff herunterdrückt und die Tür öffnet. Seine Beine zittern, er spürt, wie schnell sein Herz schlägt, wie seine Atemfrequenz zunimmt.

Als ihr Mantel plötzlich vom Wind aufgeht und er einen kurzen Blick auf ihr hübsches Profil werfen kann – die Brüste und den Rock! –, fährt ein Stoß durch seinen Unterleib. Er schafft es, noch ein Bild zu schießen, bevor die Tür hinter ihr zufällt.

Sie ist fort. Ein Augenblick intensiven Glücks.

Er geht zurück zum Auto und muss zunächst ein paar Minuten still sitzen und sich beruhigen, bevor er den Notizblock nimmt und ein paar Zeilen unter »Beobachtungen« einträgt. Dann plötzlich startet er das Auto, und während er die Kastellgatan in Richtung Skanstorget hinauffährt, überlegt er, wie er es anstellen soll, an den Türcode zu kommen.

I’ll get you in the end. Oh yeah. Leise pfeift er die Passage vor sich hin.

Kapitel 5

Michelle zog die Gardinen vor, bevor sie sich an den Schreibtisch setzte. »J. A.«, stand auf den Mappen, die Fotos, Videobänder, Obduktionsprotokolle, Karten, Skizzen vom Fundort und Ausdrucke von Zeugenvernehmungen sowie Berichte der Kriminaltechniker und Hintergrundmaterial zum Opfer enthielten. Sogar ein altmodisches Polaroid-Foto gab es. Sie seufzte. Normalerweise würde es mehrere Tage dauern, dieses Material durchzugehen.

Sie spürte das ihr so gut bekannte Kribbeln im Bauch, als sie eine Mappe mit Kopien von Fotos aufschlug. Wie viel Polizistin steckte eigentlich noch in ihr? Hatten die letzten Jahre sie in etwas anderes verwandelt? Oder war doch etwas dran an dem Spruch: Einmal Polizistin, immer Polizistin?

Sie wusste, was von ihr erwartet wurde.

Åsa und ihre Gruppe wollten, dass sie sich mithilfe des Materials ein Bild des Opfers machte. Sie hatte so etwas schon früher getan, und das auf einem Niveau, das bei der Polizei für viel Aufmerksamkeit gesorgt hatte –, aber das bedeutete natürlich nicht, dass es dieses Mal auch funktionieren würde.

Mechanisch strich sie die Strähne aus der Stirn und hinter ihr Ohr.

Sie zögerte. Noch konnte sie aussteigen.

Sie fühlte sich, als stünde sie auf einem hohen Sprungturm und machte sich dazu bereit, sich ins Wasser zu stürzen. Sie wusste, würde sie diesen Schritt jetzt gehen, gäbe es keinen Weg zurück. Es würde anstrengend werden und viel Zeit kosten, Zeit, von der sie eigentlich jetzt schon zu wenig hatte. Doch im Grunde hatte sie die Entscheidung längst getroffen. Åsa musste zu dem Schluss gekommen sein, dass sie, Michelle, etwas beitragen konnte. Es war kein Geheimnis, dass Ermittlungen in eine Sackgasse geraten konnten. Dann brauchte es neue Ideen und Gedanken. »Interdisziplinär«, hatte Åsa betont, das klang interessant. Außerdem war bei der Jagd nach dem Täter jede Stunde kostbar. Auf eine Art fühlte sie sich verantwortlich: Wenn sie den Täter nicht schnell genug fanden, konnte er oder sie weiteren Menschen das Leben nehmen. Das hatte Åsa angedeutet.

Entschlossen schlug sie die oberste Mappe auf. Darin stand ganz oben, mit Bleistift von Hand geschrieben, ein Name: Jessica Elisabeth Sofia Andeby. Anhand des Geburtsdatums konnte Michelle schnell ausrechnen, dass Jessica zweiundzwanzig Jahre alt gewesen war, als sie ermordet wurde. Ganz unten stand ein Ortsname: Hyssna.

Sie blätterte. Bilder von der Obduktion. Die hatte sie sich eigentlich jetzt noch nicht ansehen wollen, doch es war zu spät. Sie drehte die Schreibtischlampe ein wenig und beugte sich gespannt vor.

Jessica Andeby lag nackt auf dem Rücken im Obduktionssaal auf einem Tisch aus rostfreiem Stahl. Das halblange blonde Haar bildete einen klebrigen Kranz um ihren Kopf. Die Augen waren geschlossen, die Lippen schmal und blutleer. Eigentlich sah sie nicht tot aus. Es schien, als würde sie sich nur ausruhen und könnte jederzeit die Augen aufschlagen. Ein langer Schnitt verlief vom Brustkorb bis zum Bauch, ein anderer durch den Schädel, wo man eine Knochensäge benutzt hatte, um das Gehirn freizulegen. Das nächste Bild musste aufgenommen worden sein, bevor der Gerichtsmediziner seine Schnitte gemacht hatte. Darauf konnte man sehen, dass Jessicas Körper mit kleinen und großen Wunden übersät war, sogar im Gesicht und an den Füßen. Hämatome, Schürfwunden und Schorf überall. Vor allem an den Knien. Füße und Hände, auch sie voller Wunden, waren seltsamerweise vom Täter gesäubert worden. Die Nägel waren sauber und geschnitten.

Außerdem war Jessicas Vagina mit Benzin ausgespült worden. Dafür gab es für Michelle nur einen Grund: um DNA-Spuren zu vernichten.

An Jessicas Hals waren typische Würgemale zu erkennen. Michelle wusste, dass die Halsorgane bei einem Verdacht auf Erdrosselung von den Gerichtsmedizinern als Letztes untersucht wurden. Muskeln, Drüsen und Nerven wurden mit Pinzette und Skalpell einzeln seziert. Das rechte obere Horn des Kehlkopfes sei gebrochen, stellte der Gerichtsmediziner in seiner sachlichen Prosa fest. Alles deutete darauf hin, dass der Mörder beide Daumen fest gegen den Kehlkopf gedrückt und gewartet hatte, bis der Tod eintrat. Dafür war der konzentrierte Einsatz eines entschlossenen, physisch starken Mörders erforderlich. Michelle spürte Mitleid mit Jessica. Was hatte das arme Mädchen durchmachen müssen?

Bei den nächsten Fotos handelte es sich seltsamerweise um Nahaufnahmen der Ohren. Die Wunden dort wiesen eine besondere Form auf, die auf beiden Seiten des Kopfes vorkam. Im Protokoll hatte der Gerichtsmediziner vermerkt: »Trense«. Jedoch mit einem großen eingekreisten Fragezeichen. Michelle biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. Trense? War das nicht etwas, das man bei Pferden benutzte? Was meinte er?

Es gab noch weitere Bilder, doch die legte sie zur Seite. Nicht jetzt.

Bei all dem ging es um Äußerlichkeiten, doch sie wollte in Jessicas Kopf blicken.

Was war passiert, als sie starb? Wie passierte es? Warum passierte es?

Die letzte Frage war wahrscheinlich die wichtigste. Um darauf eine angemessene Antwort zu finden, musste sie Jessica dort sehen, wo man sie gefunden hatte, außerdem am Tatort. Darüber hinaus musste sie mehr über sie als Person erfahren. Was war sie für ein Mensch gewesen? Wie hatte sie auf andere gewirkt? Schüchtern? Naiv? Aggressiv? Vielleicht provokant? Wie verhielt sie sich, wenn sie andere Menschen traf, vor allem bei Fremden? Welche Beziehungen hatte sie? Wie sah ihr Freundeskreis aus? Hatte sie einen Freund? Oder eine Freundin? Welche Erfahrungen hatte Jessica in ihrem kurzen Leben gemacht? Durch diese Einblicke in ihr Leben hoffte Michelle, sich ein Bild des Täters machen zu können.

Sie musste in Jessicas Haut schlüpfen.

Michelle spürte, wie Müdigkeit sie überkam. Sie nahm an, dass dies mit der Dunkelheit draußen zu tun hatte. Sie musste beinahe ununterbrochen gähnen. Zu dieser Jahreszeit war es ständig dunkel.

Bevor sie die Bilder des Fundortes heraussuchte, trank sie einen Schluck Cola.

Der schwarze Müllsack war aus verschiedenen Winkeln fotografiert worden. Er sah aus, als wäre er achtlos in die Natur geworfen worden.

Um ihn herum gab es nur hohe Bäume und Büsche.

Sofort drängten sich Fragen auf.

Warum ausgerechnet dort? Wie hatte der Täter seine schwere Last dort hinbringen können?

Sie blätterte zu einer Skizze des Gebietes.

Das Waldstück lag ein Stück von der nächsten Bebauung entfernt. Ein schmaler Waldweg verlief in einiger Entfernung. Der Mörder musste mit dem Auto gekommen sein und den Sack zu diesem Waldstück getragen haben. Er musste sich dort sicher gefühlt haben, weil er so etwas wie eine Einöde vorfinden würde. Doch woher hatte er das gewusst? War er vorher dagewesen?

Sie richtete sich kerzengerade auf: Dort hatte der Mörder Jessica nicht getötet.

Der Tatort war woanders. Bislang unbekannt.

Systematisch studierte Michelle weitere Fotos. Sie hielt die Bilder ins Licht, um besser sehen zu können. Der Täter hatte den gesamten Körper sorgfältig gewaschen. Sogar Benzin verwendet. Dafür hatte er Zeit und Platz gebraucht. War die Reinigung vielleicht rituell motiviert?

Man hatte keine DNA auf dem Körper gefunden.

Jessica hatte Male an Fuß- und Handgelenken. Das deutete darauf hin, dass sie gefesselt worden war.

Plötzlich wurde Michelle von Ekel erfasst.

Welcher Irre hatte das getan?

Sie trank die Cola aus, um den bitteren Geschmack in ihrem Mund wegzuspülen, bevor sie sich mit den Berichten der Kriminaltechniker befasste. Von den unzähligen Details bekam sie Kopfschmerzen. Nach einer Weile lehnte sie sich zurück und versuchte zusammenzufassen, was sie gelesen hatte. Im Müllsack war kein Blut gefunden worden, und es gab keine Spuren eines Kampfes. Jessica war bereits tot gewesen, als der Mörder sie in den Sack gesteckt hatte, und sie hatte keine Ringe oder Schmuck getragen. Es ließen sich keine Spuren oder Fasern finden, nichts, was als Hinweis dienen konnte.

Doch, etwas gab es. Die abgerissene Hälfte einer Spielkarte hatte man ganz unten im Sack gefunden.

Ein Pikass.

Seltsam. Was hatte es dort zu suchen?

Gehörte es vielleicht Jessica? Hatte sie es in der Hand gehalten, als er sie getötet hatte? Wollte der Mörder oder vielleicht die Person, die sie im Wald abgelegt hatte, uns damit etwas sagen? Oder war es einfach Zufall?

Eine halbe Spielkarte.

Die Gedanken wirbelten umher. Ihr schwirrte der Kopf.

Sie musste sich an das halten, was bekannt war, und aufhören, zu spekulieren.

Sie stand auf und streckte sich, dann ging sie zum Fenster und sah hinaus. Die Straße unter ihr lag friedlich da. Um diese Zeit, in der Dunkelheit, gab es beinahe keinen Verkehr. Gegenüber sah sie erleuchtete Fenster, Menschen, die atmeten und liebten, weinten und lachten, fernsahen, lebten.

Normale Menschen mit normalen Leben.

Doch irgendwo dort draußen gab es auch einen Mörder.

Sie nahm die Cola-Dose mit in die Pantry und füllte sie mit kaltem Leitungswasser.

Es herrschte eine kompakte Stille.

Ein Ton kündigte den Eingang einer SMS an, und sie zog verwundert die Augenbrauen hoch, als sie sie las. ALLES GUT BEI DIR? Und ein Smiley. Unterschrieben mit: FB. Wie Fredrik Bengtsson. Allgemein Fredde genannt. Der Journalist der Lokalzeitung, der einen kürzeren Artikel über ihren Kurs geschrieben und danach unverhohlenes Interesse an ihr gezeigt hatte. Er war ganz nett, aber sie war nicht interessiert. Auch wenn er anders zu sein schien als andere. Und im richtigen Alter. Gut aussehend? Vielleicht nicht im eigentlichen Sinne, aber er hatte etwas an sich. Auf jeden Fall Humor. Aber nein. Sie hatte keine Zeit für einen Freund, nicht jetzt. Und schon gar nicht für einen Journalisten. Von Zeit zu Zeit meldete Fredde sich, und das sollte er ruhig weiter tun.

Sie wollte ihn nicht weiter ermuntern und gerade etwas Entwaffnendes schreiben, kam aber nicht dazu, denn ihr Telefon klingelte. Mit einem leisen Stöhnen ging sie ran.

»Hallo Fredde?«

»Es tut mir wirklich leid. Ich wollte nicht stören, aber ich bin hier für heute fertig und dachte, du hättest vielleicht Lust auf ein Bier? Ein bisschen quatschen, rein privat.«

»Nein, ich muss mich um etwas kümmern.«

»Kein Problem. Ich wollte einfach jemanden treffen, der nicht über Politik oder andere seltsame Dinge spricht.«

»Und da hast du an mich gedacht?«

»Hm.« Einmal hatten sie ein Bier im Dubliners auf der Avenyn getrunken, als sie sich eines Abends im Kaufhaus Nordiska Kompaniet zufällig begegnet waren, und das hatte sich besser angefühlt, als sie erwartet hatte.

»Worum geht es bei dir?«, fragte er. »Das, worum du dich kümmern musst?«

Er war Journalist, er war immer neugierig, sie musste aufpassen.

»Nichts, worüber ich sprechen kann.« War er verheiratet? Sie wusste es nicht. Als sie sich getroffen hatten, hatte er keinen Ring getragen, aber das war keine Garantie.

Er lachte. »War ein Versuch. Das liegt einfach in meiner Natur.«

»Ja, das ist mir aufgefallen«, sagte sie kurz. »Ich muss jetzt auflegen. Bis bald.«

Etwas brüsk beendete sie das Gespräch.

Sofort bekam sie ein schlechtes Gewissen. Sie hätte ihn einfach bitten können, sich nicht mehr zu melden. Das wäre netter gewesen. Nach Jörgen war sie vorsichtig geworden, mit wem sie sich traf, ja, beinahe ängstlich. Auf der anderen Seite konnte sie ja nicht ewig Angst vor allen anderen Menschen haben. War es nicht schön, dass sich jemand für sie interessierte?

Sie schüttelte den Gedanken ab.

Wie viel Uhr war es? Es gab noch viel durchzusehen.

Ihr Magen begann zu knurren, doch sie unterdrückte entschieden ihr Hungergefühl, setzte sich wieder und schlug die nächste Mappe auf.

Kapitel 6

Es war schon nach zwei Uhr, als Michelle in die Straße einbog, in der ihr Reihenhaus stand. Endlich zu Hause. Der anhaltende Regen erschwerte das Fahren, vor allem weil die Straßenlaternen sie durch die Windschutzscheibe blendeten. Außerdem schien der Regen zuzunehmen, und sie bereute, keinen Regenschirm im Auto zu haben. Er hätte ja nicht viel Platz weggenommen.

Sie gähnte, als sie den Wagen abschloss und sich vor dem Regen duckte.

Das Haus lag im Dunkeln.

Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, dass Frida, die junge Frau, um die sie sich kümmern sollte, wenigstens eine Lampe eingeschaltet hatte, vielleicht in der Küche. Doch das war nicht der Fall. Wahrscheinlich schlief sie um diese Zeit. Michelle eilte ums Haus herum, stapfte über die vom Regen morastig gewordene kleine Rasenfläche, die ihren Garten ausmachte, und holte die Ersatzschlüssel aus dem Werkzeugschuppen auf der Terrasse. Sie spürte ihre müden, vor Trockenheit scheuernden Lider. Als sie die Schuppentür so leise wie möglich schloss, um Frida nicht aufzuschrecken, zerschrammte sie sich die Hand. Kurz darauf war sie wieder auf der Vorderseite des Hauses und steckte den Schlüssel vorsichtig ins Schloss. Kein Geräusch war zu hören, als sie die Tür öffnete und das Licht im Flur einschaltete. Fridas unförmiger Mantel lag auf einem Hocker, ihre Schuhe standen neben einer abgewetzten roten Reisetasche.

Leise zog Michelle ihre Jacke aus und hängte sie zum Trocknen in den Hauswirtschaftsraum. Das kleine Manöver im Garten hatte sie fast bis auf die Haut durchnässt. Barfuß schlich sie in die Küche und trocknete ihr Haar mit einem Küchenhandtuch, dann goss sie sich ein Glas Milch aus dem Kühlschrank ein.

Eine Weile stand sie nur da und lauschte angespannt.

Das alte Holzhaus aus den Sechzigerjahren hatte seine ganz eigenen Geräusche, doch gerade konnte sie keine ausmachen. Das Trommeln des Regens gegen die Scheiben und Fensterbleche übertönte alles.

Auch aus der oberen Etage war nichts zu hören.

Wieder spürte sie ihre trockenen Augen. Es war später geworden, als sie gedacht hatte. Sie musste schlafen, denn sie würde früh aufstehen müssen. So leise sie konnte, schlich sie zum kleinen Gästebad neben dem Wohnzimmer. Sie öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Und schrak zusammen, als sie in ein weißes Gesicht blickte. Frida. In einem grauen Kapuzenpulli und hellen Pyjamahosen saß sie auf dem Klodeckel und starrte Michelle verschreckt an.

»Was …!«, brach es aus Michelle hervor. Ihr Herz machte einen Satz. »Hast du mich erschreckt!«

Frida antwortete nicht.

»Ich dachte, du liegst oben im Bett und schläfst«, sprach Michelle weiter.

Doch Frida sah immer noch ernst aus, mit weit aufgerissenen Augen und einem verwirrten Blick. Auf der Stirn hatte sie ein großes Pflaster, und das Haar war zu einem unordentlichen Knoten geschlungen. Sie presste den bandagierten rechten Arm an ihren Körper und stand umständlich auf. Ihr Schweigen beunruhigte Michelle.

»Was ist los?«, fragte sie.

»T-tut mir leid …«

»Was tust du hier?«

Frida wirkte abwesend, vielleicht stand sie unter der Einwirkung von Tabletten. Allmählich hatte Michelle sich von dem Schreck erholt, ihr Herz schlug wieder ruhiger.

»Hast du angenommen, dass dein Mann kommt?«

Sie nickte.

»Wie lange hast du hier gesessen?«

Frida befeuchtete ihre Lippen. Dann sprach sie endlich. »Ich dachte, dass … ich habe im Garten ein Geräusch gehört …« Sie unterbrach sich.

Erst jetzt sah Michelle, dass sie etwas in der vorderen Tasche des Kapuzenpullovers verbarg. Einen Hammer. Sie tat, als hätte sie es nicht bemerkt, und begann, sich die Hände zu waschen. »Ich habe mir beinahe in die Hose gemacht«, sagte sie, um die Stimmung aufzulockern.