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18 Millionen Obstbäume und ein Mord im Alten Land. Im Alten Land liegt etwas in der Luft: Die Berlottis werden zu Schlossbewohnern wider Willen, Mamma Carmela versucht mit übersinnlichen Methoden, ihren Sohn zu verkuppeln, und als wäre das nicht genug, bekommt es Kommissar Berlotti auch noch mit einer seltsam verstümmelten Leiche zu tun – ausgerechnet während der Obstblüte. Die Spur führt einmal quer durch die Republik und wieder zurück ins Alte Land, wo Berlotti über Leben und Tod entscheiden muss.
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Seitenzahl: 380
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Daniel E. Palu ist Krimi-Autor und arbeitet als Journalist für fast alle großen Zeitschriftenverlage. Mitunter kann er beides verbinden, wenn er für Kriminalmagazine recherchiert oder den True-Crime-Podcast »Hollywood Crime« schreibt, der von Fernsehmoderator Steven Gätjen eingesprochen wird. Mit dem Ermittler aus seinem Kriminalroman teilt Daniel E. Palu die italienische Herkunft und die Vorliebe für guten Kaffee. Wer die Augen offen hält, kann ihn in einem Hamburger Café bei der Arbeit an Berlottis nächstem Fall antreffen.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2022 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: Montage aus shutterstock.com/BERNATSKAIA OKSANA, shutterstock.com/Natalia Bazilenco
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Carlos Westerkamp
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-913-6
Originalausgabe
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Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Bettina Querfurth, Frankfurt am Main.
Oh, hätte ich die Flügel einer Taube!
Ich flöge fort, ich flöhe weit fort und hätte Ruhe.
Ich fände meinen Zufluchtsort weit entfernt
von Unwetter und Sturm.
Ēriks Ešenvalds: »A Drop in the Ocean« nach Psalm 55: 7–9
Welche geheimnisvolle Macht
zerrt mich gegen meinen Willen
fort von diesem Schreckensort und führt mich
dem verhassten Licht entgegen?
Claudio Monteverdi: »L’Orfeo« (1607)
Eins
Je älter man wird, desto größer wird der Kindergarten.
Der Morgen ließ einen jener Altländer Tage vermuten, die sich nicht entscheiden können, was sie werden wollen, und deshalb in einem unansehnlichen Grau verharren. Dieses Wetter gibt »Fifty Shades of Grey« eine ganz neue Bedeutung, dachte Berlotti, als er das Portal hinter sich zuzog und jemanden seinen Namen rufen hörte.
Suchend ließ er den Blick schweifen und sah den Schlossverwalter unter den jahrhundertealten Eichen auf sich zueilen. Berlotti ging ihm entgegen und traf ihn auf Höhe des von einer hohen Buchshecke umgebenen Rosengartens. Moritz Schönbeck war untersetzt und trug stets ein gutmütiges, meist sogar fröhliches Gesicht spazieren, das ihm an diesem frühen Morgen allerdings abhandengekommen zu sein schien.
»Gut, dass ich Sie treffe, Herr Berlotti. Ich wollte fragen …«
Schönbeck sah auf den Boden, als läge unter dem Kies das Satzende verborgen. Berlotti dämmerte, dass es sich um keine zufällige Begegnung handelte. Verlegen blickte der Schlossverwalter zu Berlotti herauf, der ihn um einen halben Kopf überragte, obwohl er selbst nicht gerade ein Riese war.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte Berlotti. »Ich bin auf dem Weg zur Arbeit …«
»Als Ihre Frau Mutter anrief, nachdem Ihr Haus gebrannt hatte, und mich fragte, ob ich einen Ort wüsste, wo Sie vorübergehend unterkommen könnten … also …«
Die Hände in den Taschen, trat Schönbeck von einem Fuß auf den anderen und suchte noch immer nach den richtigen Worten. Auch die Frühlingsanfangssonne schien nicht so recht zu wissen, wohin mit sich, und hielt sich bedeckt hinter der dichten Wolkendecke. Berlotti ahnte inzwischen, worauf der Mann hinauswollte. Und nicht nur, weil er das Wort »vorübergehend« dezent betont hatte.
»Wissen Sie schon, wie lange Sie noch bleiben?«, brachte Schönbeck schließlich zerknirscht hervor. Er hatte einen roten Kopf, der auch deshalb überdeutlich zutage trat, weil sich sein Haarausfall von der hohen Stirn und den Geheimratsecken bis zur kreisrunden Tonsur am Hinterkopf vorgearbeitet hatte. »Ich bin ja nur der Verwalter, und der eigentliche Pächter steigt mir langsam aufs Dach.«
Der Mann war sich dessen bewusst, dass er rot war, und schien sich seiner Scham zu schämen. Berlotti tat er leid. Und er selbst schämte sich, dass der Mann überhaupt in solch eine Situation geraten war. Er hatte sich nie wirklich daran gewöhnt, plötzlich Schlossherr zu sein. Nachdem Unbekannte Berlottis Elternhaus mit Molotowcocktails in Brand gesetzt hatten, hatte seine Mutter einige Bekannte angerufen, die fast alle ihre Hilfe angeboten hatten. Am Ende hatte sie aus einer ganzen Reihe an Möglichkeiten wählen können, und Berlotti hatte es nicht überrascht, dass sie ausgerechnet das Angebot von Moritz Schönbeck angenommen hatte, einem ehemaligen Stammkunden ihrer Pizzeria in Neu Wulmstorf, vorübergehend im Dachgeschoss von Schloss Agathenburg unterzukommen.
Von der ersten Minute an hatte sie die Rolle als Burgfräulein in dem Schloss am Rande des Alten Landes auf halber Strecke zwischen Elbe und Stade eingenommen. Seitdem führte sie in jeder freien Minute ihren großen Bekanntenkreis im Schlossgarten herum, als hätte sie ihn selbst angelegt, oder wirbelte in der Küche, von der aus allerdings das Schlosscafé bewirtschaftet werden musste. Mehr als einmal hatten Gäste des Cafés bestellen wollen, wonach es im ganzen Schloss duftete – Spinatlasagne, mit Antipasti belegte Focaccia, Vitello tonnato, Pasta alla puttanesca –, und waren enttäuscht von dannen gezogen, weil es zwar hervorragende Kuchen, aber eben kein italienisches Drei-Gänge-Menü gab.
Berlotti wollte gerade antworten, als das Smartphone in seiner Sakkoinnentasche vibrierte. Er sah aufs Display und warf Schönbeck einen entschuldigenden Blick zu, während er abnahm.
»Katharina? Kann ich gleich zurückrufen?«
»Moin, Chef, falls du schon in Hamburg bist, kannst du gleich wieder umdrehen.« Im Hintergrund war eine Radiostimme zu hören, die über eine Terminierung der verschobenen Wahl zur Hamburger Bürgerschaft berichtete. »Ich bin auf dem Weg in deine Richtung. Sebastian Weller hat mich kontaktiert.«
»Weller? Da klingelt was bei mir, ich komm nur gerade nicht drauf.« Berlotti gab dem Schlossverwalter mit dem Zeigefinger zu verstehen, dass er gleich wieder für ihn da sein würde. »Der Streifenpolizist, der uns im Journalistenfall auf die Spur des Täters geführt hat?«
»Genau der. In Neuenfelde liegt eine merkwürdig verstümmelte Leiche, so was hätte er noch nie gesehen, nicht mal im Fernsehen. Ich hab gesagt, wir übernehmen das.« Und dann, etwas verunsichert, schob sie nach: »War doch okay, oder?«
»Verstümmelte Leichen sind mein Spezialgebiet«, entgegnete Berlotti und fing sich einen verstörten Blick von Schönbeck ein. »Schick mir die Adresse, ich bin schon so gut wie unterwegs.«
Er legte auf, rieb sich die Augen und strich sich durch die dunkelbraunen, mittellangen Locken. »Wie mein Vater immer zu sagen pflegt: ›L’ospite è come il pesce, dopo tre giorni puzza.‹«
Erwartungsgemäß sah ihn sein Gegenüber ratlos an, weshalb er hinzufügte: »›Besuch ist wie Fisch, nach drei Tagen beginnt er zu stinken.‹«
»Das habe ich nicht … So war es nicht gemeint!«
Berlotti winkte ab. »Wir sind Ihnen sehr dankbar für die großzügige Gastfreundschaft, die wir niemals so lange hätten beanspruchen dürfen. Ich kümmere mich darum, versprochen.«
Als sich die Andeutung eines Lächelns in Schönbecks pausbäckigem Gesicht breitmachte, traute sich auch die Morgensonne zaghaft hinter einer Wolke hervor, deren Umrisse Berlotti an ein Gummibärchen erinnerten. Während er noch über dessen tieferen Sinn nachdachte, stieg er in seinen Fiat 500Cabrio und machte sich auf den Weg.
***
Neuenfelde lag, vom Schloss Agathenburg aus gesehen, am entgegengesetzten Ende des Alten Landes. Mit Francop und Cranz stellte es den Osten und zugleich Hamburger Teil des Alten Landes dar. Sehnsüchtig dachte Berlotti an das Haus seiner Eltern in Rübke, das nur wenige Kilometer vom neuen Tatort entfernt war, und wunderte sich gleichzeitig darüber, dass es sich schon wieder wie Heimat angefühlt hatte, obwohl er kaum mehr als ein paar Tage darin gewohnt hatte, ehe er daraus vertrieben worden war. Aus Protest ignorierte er auch diesmal wieder die unsägliche Autobahn durchs Alte Land und lenkte seinen dunkelgrauen Fiat Cinquecento über die Panoramastrecke durch Mittelnkirchen und Jork, vorbei an endlosen Obstbaumreihen.
Ich muss schnell eine ordentliche Behausung finden, ging es ihm durch den Kopf. Gleich morgen würde er noch einmal Druck bei der Versicherung machen und auf eine rasche Entscheidung drängen, damit die Gelder für ein Ausweichquartier endlich bewilligt würden. Die Wohngebäudeversicherung seiner Eltern, die angeblich nur unzureichend gegen Brandstiftung abgedeckt war, hatte einen ebenso unanständigen wie unzulässigen Versuch unternommen, sich vor der Zahlung der Versicherungssumme zu drücken. Er musste das lösen. Und seine Eltern zurück in ihre Heimat, zurück auf ihr Grundstück im Alten Land verfrachten. Denn alte Bäume verpflanzte man nicht. Seine Eltern hatten mit der Migration nach Deutschland vor fast vier Jahrzehnten schon genug Wurzeln gekappt. Dann und erst dann bestand die Aussicht, zu so etwas wie Normalität zurückkehren zu können.
Was Katharina wohl damit gemeint hatte, die Leiche sei merkwürdig verstümmelt? Bevor er eine Antwort darauf finden konnte, funkte schon eine weitere Frage dazwischen. Warum war Weller, ein Hamburger Streifenpolizist, als Erster an einem Tatort im Alten Land? Und vor allem: Warum rief er ausgerechnet Katharina an? Berlotti war nicht entgangen, dass Weller sich bei ihrer ersten und seines Wissens bislang einzigen Begegnung für die Kollegin interessiert hatte. Umgekehrt hatte sie kein Interesse gezeigt. Oder hatte er sich getäuscht? In diesem Zusammenhang kamen ihm die Gerüchte über seine Kollegin in den Sinn: »Die Braut, die sich nicht traut.« – »Schon Anfang dreißig, aber total bindungsunfähig.« – »Flüchtet sich in belanglose Abenteuer.« Aber selbst wenn zwischen Weller und ihr etwas lief, was ging es ihn an?
Ein Traktor bog aus einer Einfahrt auf die Straße, sodass Berlotti eine Vollbremsung hinlegen musste und mehrmals laut hupte. Vom Fahrer ignoriert, tuckerte er nun mit zwanzig Stundenkilometern seinem Tatort entgegen.
Gelber Löwenzahn sprenkelte die sattgrünen Wiesen neben der Fahrbahn. Und darüber sprossen Millionen Blüten aus wenige Stunden zuvor noch nackten Zweigen und öffneten ihre weißen Köpfe Richtung Sonne. So weit das Auge reichte, waren die Äste der Kirschbäume über Nacht aufgesprungen und trugen dicke Knospen. Es war nur eine Frage von Tagen, bis sie seine Heimat in einen rosa-weißen Blütenteppich verwandelten. Und die Apfelbäume würden ebenfalls nicht mehr lange auf sich warten lassen.
»Auf Wiedersehen im Alten Land«, wollte ihn bereits ein Schild verabschieden, vor dem er aber abbog. Kurz darauf stellte er seinen Wagen am Friedhof von Neuenfelde ab. Er hatte schon mitbekommen, dass für manche Bewohner des Alten Landes Neuenfelde als Hamburger Stadtteil allenfalls geografisch dazugehörte. Angeblich störte es die Neuenfelder wiederum wenig, die das Naserümpfen der Altländer gleichmütig zur Kenntnis nahmen.
Altländer war nun einmal Altländer, egal, in welchen Winkel der Region es einen verschlagen hatte.
Neben ihm standen vier weitere Zivilfahrzeuge. In den beiden Polizeiautos saß niemand. Obwohl mindestens ein halbes Dutzend Kollegen vor Ort sein musste, konnte er keinen einzigen von ihnen entdecken.
Berlotti nahm ein paar Plastiküberzieher aus dem Handschuhfach und stieg aus seinem Cinquecento. Keine Menschenseele war zu sehen oder zu hören. Kein Anwohner weit und breit, um einen Blick auf den Tatort zu werfen, was wohl der frühen Morgenstunde geschuldet war.
Wo waren denn alle? Er folgte dem Kiesweg ans hintere Ende des Friedhofs, vorbei an einem Aufsitzrasenmäher und der Friedhofskapelle zu seiner Linken und einem Entwässerungsgraben zu seiner Rechten. Der Pfad endete an einem Steg, der in ein düsteres Gewässer ragte. Sogar die Büsche und Bäume, die den Teich umgaben, hatten etwas Bedrohliches. Die Sonne war wieder hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden, sodass kaum Licht das Gewässer erreichte. Wozu der Steg? Der Teich war zu klein für Boote, und dem Geruch nach zu urteilen hatten Blaualgen das Kommando übernommen, sodass sicher auch niemand auf die Idee kommen würde, darin zu baden. Kein Lebewesen schien sich freiwillig hier aufhalten zu wollen. Kein Vogel war zu hören, keine Ente zu sehen, die ihre Runden drehte. Gedämpft drangen nun Stimmen zu ihm. Ein Mord an diesem verschlafenen Fleck Erde? Ausgerechnet am Rande eines Friedhofs?
Es gab Fälle, die warfen Fragen auf, ehe man überhaupt angefangen hatte, sich näher mit ihnen zu beschäftigen. Er ging um einen niedrigen Schuppen herum auf die Stimmen zu und stand plötzlich vor einem Baum, von dem Berlotti nicht erkennen konnte, um was für ein Exemplar es sich handelte, weil er noch kahl war. Katharina, die mit ihrem Handy Fotos von etwas machte, auf das ihm der Blick durch zwei Männer verstellt blieb, bemerkte ihn.
»Bääääääh!«, schrie es in diesem Moment hinter ihm, und Berlotti machte vor Schreck einen Satz nach vorn. Wenige Meter neben dem mutmaßlichen Tatort waren auf einer schmalen Rasenfläche einige Schafe eingepfercht, die an den Seiten von einem Fleet und besagtem Teich begrenzt wurden.
»Bääääääh!«, wiederholte das Schaf, diesmal vorwurfsvoller, wie es Berlotti schien. Vermutlich konnte es sich Besseres vorstellen, als in aller Herrgottsfrühe gestört zu werden.
»Jaaa, is ja gut«, beschwichtigte Berlotti. »Sag mir einfach, was du gesehen hast, dann lassen wir dich in Frieden weitergrasen.« Er langte über das Gatter, um das Schaf zu streicheln, doch er erntete nur einen vielsagenden Blick und schaute kurz darauf auf ein wollenes Hinterteil, das blökend davontrabte.
»Vernimmst du die ersten Zeugen?«, erkundigte sich Kriminalkommissarin Katharina Meinhold. Obwohl sie erst seit wenigen Monaten zusammenarbeiteten, war jedes Zusammentreffen mit Katharina für Berlotti wie eine Begegnung mit einer guten Freundin. In ihrer blauen Jeans und der weißen Bluse sah sie ebenso elegant wie leger aus. Ihre dunkelbraunen Locken und die Sommersprossen betonten den seriös-attraktiven Look noch.
»Ich versuche die Aussage noch zu entschlüsseln«, gab Berlotti schulterzuckend zurück. »Und hier so?« Er zeigte auf die Stelle, auf die sich die Aufmerksamkeit der Kollegen konzentrierte. »Klang ja geheimnisvoll am Telefon.«
In diesem Moment trat Sebastian Weller zu ihnen und gab Berlotti zur Begrüßung die Hand. Er strahlte den Hauptkommissar an, während er ihm die Finger zermalmte.
»Bonntschorno. Schön, Sie wiederzusehen!« Vereinzelt fielen Weller blonde Strähnen seiner Surferfrisur ins Gesicht.
Der leuchtet ja geradezu von innen. Nicht sehr pietätvoll, grollte Berlotti, keine fünf Meter neben einer Leiche ein Feuerwerk der guten Laune abzufackeln.
Er deutete ein unbestimmtes Nicken an, konnte seine Mundwinkel aber nicht dazu überreden, sich freundlicherweise nach oben zu bewegen. Die beiden Streifenpolizisten, die eben noch die Sicht versperrt hatten, gaben nun den Blick frei auf einen älteren Mann, der mit dem Rücken an dem blattlosen Baum lehnte, die Beine von sich gestreckt.
Berlotti hatte dem Tod schon oft ins Auge gesehen. Und doch war es diesmal anders.
Der Kopf ruhte überstreckt an dem Stamm, als säße der Mann zum Sonnenbaden hier. Die geschlossenen Augen hätten den Eindruck noch verstärkt, hätten nicht zwei Löffelschalen aus ihnen herausgeragt. Blut und eine durchsichtige Flüssigkeit waren aus den Höhlen gelaufen und verliehen ihm die Aura einer Madonnenstatue, die blutige Tränen weinte. Einen gänzlich unheiligen Eindruck vermittelte dagegen der Mund der Leiche: Er war geöffnet, unnatürlich in die Breite gezogen, eine fortwährende lautlose Anklage. Unwillkürlich musste Berlotti an Edvard Munchs »Schrei« denken. Das Gemälde behagte ihm ebenso wenig wie dieser Anblick. Die Hände waren von einem Gegenstand durchbohrt, den er nicht sofort identifizieren konnte. Was ging in einem Menschen vor, der jemand anderen derart zurichtete?
Berlotti gab sich seit Jahren keiner Illusion mehr hin. Töten lag in unserer Natur, das war ihm durch seine Arbeit längst klar geworden. Es war eben nicht so, dass überwiegend abnormale Menschen zum Mörder wurden. Er war unzähligen völlig normalen Leuten begegnet, die jemanden getötet hatten. Ihre Motive waren ebenso profan wie menschlich nachvollziehbar gewesen: Entweder wollten sie Beute machen, materieller oder sexueller Art. Oder es ging darum, Macht auszuüben. Andere töteten aus Angst, Notwehr oder Eifersucht. Erst vor einigen Tagen hatte er eine pensionierte Gymnasiallehrerin in einer Kultursendung im Radio die öffentliche Hinrichtung von Sexualstraftätern fordern hören. Sie war sogar so weit gegangen, anzubieten, das Todesurteil auch mit ihren eigenen Händen zu vollstrecken. So viel zum Thema, Mörder seien meist gestörte Extremisten. Doch diese Tat hier ging über all das hinaus. Bei einer solchen Hinrichtung war blanker Hass im Spiel. Es hatte etwas von einem Ritualmord, der Tote sollte zur Schau gestellt werden. Aber was wollte der »Künstler« ihnen damit sagen?
Ove Schwan von der Gerichtsmedizin kniete neben dem Mann. Hätte er seine Haare noch, könnte er als Ottfried-Fischer-Double auftreten, dachte Berlotti. Wie der Schauspieler nuschelte, keuchte und schnaufte auch Schwan sich durch eine Ermittlung. Schwan war Mitte fünfzig und sah eher aus wie ein freundlicher Metzgermeister als ein Gerichtsmediziner. Vielleicht lag das an dem weißen Kittel, der auch als Schürze eines Fleischereifachverkäufers durchgehen konnte, wenn man nicht allzu genau hinsah.
Aus einem Koffer, der dem Werkzeugkasten von Berlottis Vater Alfio ähnelte, entnahm Schwan ein etwa handflächengroßes Modul. Dessen Nadelelektroden befestigte er an den Lidwinkeln des Toten oder dem, was davon noch übrig geblieben war. Berlotti ging vor dem Toten in die Hocke, achtete darauf, nicht in die kniehohen Brennnesseln zu fassen, die hier überall wucherten, und näherte sich seinem Gesicht.
»Ah, die Frau Berlotti. Auch schon da! Wie immer als Letzte am Tatort.« Uwe Brehms durchdringende Stimme hätte fast dafür gesorgt, dass Berlotti vor Schreck das Gleichgewicht verloren hätte und nach vorne auf die Leiche gekippt wäre.
Uwe Brehm hatte einen Stiernacken, zu dem die schmale Nase mit den arroganten Nasenlöchern einen bizarren Gegensatz darstellte. Wie der Gerichtsmediziner war auch der Leiter der Spurensicherung auf dem Kopf komplett kahl. War es Schicksal oder eine böse Laune der Natur, dass ausgerechnet stets Brehm an seinen Tatorten auftauchte? Es musste doch noch mehr Mitarbeiter in diesem verdammten Dezernat geben! Dass Brehm auf seinen Vornamen anspielte, war zu einem ungeliebten Ritual zwischen ihnen geworden. Gabriele klang im Deutschen wie ein Frauenname. Sehr witzig.
»Wer im Glashaus sitzt …« Wie erwartet schaute Brehm ihn verständnislos an, weshalb Berlotti hinzufügte: »Wessen Vorname im Italienischen so ähnlich klingt wie ›runzlige Rosine‹, sollte sich vielleicht nicht zu weit aus dem Fenster lehnen.«
Mit grimmiger Genugtuung stellte Berlotti fest, dass er Brehm mit der sehr freien und gar nicht exakten Übersetzung kurzzeitig verunsichert hatte.
»Versauen Sie mir nicht meinen Tatort, sonst kriege ich Sie mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde dran!«
Berlotti ignorierte die Bemerkung. Katharina ging neben ihm in die Hocke. »Schon merkwürdig, oder?«, sagte Berlotti zu ihr und deutete auf das Gesicht des Toten. »Da steckt was quer im Mund.«
Schwan nickte. »Hole ich gleich raus, eins nach dem andern.«
»Hat was von Mafia-Methode, wenn Sie mich fragen«, fühlte Brehm sich bemüßigt zu sagen. Dass ihn niemand gefragt hatte, schien ihn nicht zu stören. Und Berlotti wusste schon, ehe Brehm es aussprach, was als Nächstes kommen sollte. »Sind Sie sicher, dass Sie nichts damit zu tun haben?« Sogar die Kunstpause, die Brehm einlegte, hätte Berlotti voraussagen können. »So als Hamburgs ermittelnder Kripo-Mafioso …«
»Da kennen Sie mich aber schlecht«, erwiderte Berlotti, schaute ihn aber nicht an. Er wollte nicht, dass Brehm ihm ansah, wie genervt er von den Sprüchen war. »Ich hätte es nicht wie eine Hinrichtung, sondern wie einen Unfall aussehen lassen.« Berlotti fuhr fort: »Wissen wir denn schon, ob ich ihn hier umgebracht oder nur hier abgelegt habe? Und ob ich die Tat allein begangen habe oder meine Mutter ihn festgehalten hat, damit ich seine Hände durchbohren konnte?«
Katharina schmunzelte, Brehm schnaubte und raunzte einen seiner Mitarbeiter an, der mit Schwarzfolie einen Schuhabdruck aufnahm.
»Woran erinnert Sie das?« Berlotti sah Katharina und Weller an, der mittlerweile ebenfalls neben ihnen in die Hocke gegangen war. Dabei imitierte er die Handhaltung der Leiche, indem er seine Hände ineinanderlegte. Weller zuckte die Schultern, Katharina überlegte kurz, schüttelte dann aber den Kopf.
»So steht man beim Abendmahl vorm Pastor und wartet darauf, den Leib Christi in die Hände gelegt zu bekommen.«
»Leib Christi?« Weller sah ihn ratlos an.
Berlotti war von seiner Mutter bis zu seinem achten Lebensjahr in Sizilien ausnahmslos täglich in den Gottesdienst geschleift worden. Seitdem befand er, genügend Zeit auf harten Kirchenbänken für zwei Leben verbracht zu haben. Angesichts Wellers Reaktion legte Berlotti die Stirn in Falten. Er wusste von Weller, dass der sich auf populistischen Nachrichtenseiten tummelte. Warum befürchteten eigentlich ausgerechnet jene Menschen den Untergang des christlichen Abendlandes, denen Kirche und Christentum zehn Kilometer am Allerwertesten vorbeigingen? Oder tat er Weller damit unrecht?
»Eucharistie, Hostie, Verwandlung, mein Leib für euch, Vergebung der Sünden?« Berlotti untermauerte seine Worte mit einer Scharade, indem er die imaginäre Hostie aus seinen ausgebreiteten Händen nahm und sich in den Mund schob. In Wellers Gesicht zeichnete sich ein einziges großes Fragezeichen ab. Vermutlich ging Weller allenfalls Ostern und Weihnachten in die Kirche, und da gab man sich wegen gnadenloser Überfüllung meist nicht mit etwas so Langwierigem wie dem Abendmahl ab.
Schwan hatte seine Messung abgeschlossen und widmete sich nun den Händen des Opfers. Vorsichtig hob er sie an, sodass deren Rückseite sichtbar wurde.
Berlotti kniff die Augen zusammen. »Eine goldene Gabel?«
»Dann müssen wir wohl nur nach jemandem suchen, dem zwei Löffel und ’ne Gabel im Besteckkasten fehlen, und schon haben wir unseren Täter!«, schlug Weller triumphierend vor.
Berlotti sah ihn entgeistert an. »Wie viel goldenes Besteck besitzen Sie denn …«
»Ich nicht, aber meine Mutter hat so’n Zeug noch von ihrer Aussteuer!«, fiel ihm Weller ins Wort.
»… das wahrscheinlich mehrere hundert Jahre alt ist?«, fuhr Berlotti unbeirrt fort. »Die Gegenstände sind historisch und offensichtlich wertvoll.«
Schwan griff dem Toten in den Mund und versuchte, das Objekt zu entfernen. Da ihm das nicht gelingen wollte, stemmte er sich mit einem Bein gegen einen Baum. »Mann! Wie hat der das denn darein bekommen?«, schimpfte er vorwurfsvoll, als würde er von dem Toten eine Antwort erwarten. Mit einem Ruck löste er den Stiel, was eine Blutfontäne zur Folge hatte, die aus dem Mund strömte. Dem Stiel folgte eine Schale, die anders als bei herkömmlichen Löffeln nicht oval war, sondern kreisrund und vergleichsweise winzig. Zudem war sie mit dem Stiel nicht waagerecht verbunden, sondern ragte im Fünfundvierzig-Grad-Winkel schräg nach oben.
»Was’n das für’n Teil? Zum Suppelöffeln eignet der sich aber nicht!«, meinte Weller.
»Wie lange ist der Mann schon tot?«, erkundigte sich Berlotti.
»Kann ich noch nicht sagen«, murmelte Schwan, der den löffelähnlichen Gegenstand in einen Papierbeutel steckte.
»Eher zwei Stunden oder zwei Tage?«
»Weder noch.«
»Ist die Schändung die Todesursache«, unternahm Berlotti einen neuen Anlauf, »oder wurde die Verstümmelung nachträglich inszeniert?«
»Na, den Löffel scheint er jedenfalls nicht abgegeben zu haben«, schaltete sich Brehm von der Spurensicherung ein, und seine Mundwinkel zuckten über den eigenen Gag.
Beinahe beneidete Berlotti den Toten, dass der sich Brehms Witze nicht anhören musste. Katharina, der nicht entging, dass ihr Chef kurz davor war, Brehm einen weiteren Spruch reinzudrücken, zog ihn zur Seite.
»Was bisher geschah, Herr Hauptkommissar.«
Indem sie die jeweils letzte Silbe der Halbsätze betonte, um ihn auf den wirklich wahnsinnig schlechten Reim aufmerksam zu machen, hatte sie Berlotti auch schon ein Grinsen entlockt, das sie ebenfalls zum Lächeln brachte.
»Eine Anwohnerin war mit ihrem Hund unterwegs, als der plötzlich losgerannt ist und den Mann gefunden hat. Sie sagt, das hier ist ihre tägliche Gassistrecke, die sie morgens vor der Arbeit und abends nach Einbruch der Dunkelheit entlanggeht. Deshalb kann sie versichern, dass der Mann gestern Abend gegen halb zehn noch nicht dort gelegen hat.« Dann fiel Katharina noch etwas ein. »Könnte sein, dass Hundespeichel an der Leiche klebt. Die Flüssigkeit in Augäpfeln scheint sehr verlockend zu riechen und zu schmecken.«
»Ich werd’s mir merken, für den Fall, dass der kleine Hunger wiederkommt«, entgegnete Berlotti trocken.
»Kollege Weller hat ihre Aussage schon aufgenommen. Anscheinend kennt sie den Mann nicht. Sie besteht darauf, dass er definitiv nicht von hier ist.«
»Wie kommt sie darauf?« Berlotti lehnte sich an das Gatter, hinter dem das Schaf graste. »Erstens war sein Gesicht entstellt, und zweitens wird sie wohl kaum sämtliche Einwohner von Neuenfelde kennen.«
»Offenbar doch.« Katharina stützte sich auf das Gatter, zog sich hoch und setzte sich obenauf. »Die Zeugin ist nicht nur im Kirchenvorstand und der hiesigen Jazztanzgruppe, sondern arbeitet vor allem als Sprechstundenhilfe des einzigen Hausarztes am Ort. Da sollte man schon die meisten der fünftausend hier lebenden Menschen kennen.«
Berlotti sah sie an und schüttelte den Kopf. »Die meisten bestimmt, aber garantiert nicht alle. Es wird Männer geben, die weder in die Kirche gehen noch Jazz tanzen und ihre intimen Gesundheitsangelegenheiten lieber vor jemand anderem ausbreiten als ausgerechnet vor der Frau, die am Sonntag den Kelch mit dem Blut Christi reicht.«
»Hm, da ist was dran.« Katharina sah ihn nachdenklich an.
Einen Moment lang schwiegen sie gemeinsam und schauten auf das Treiben der Spurensucher, das an einen Ameisenhaufen erinnerte. Jeder hatte seine Aufgabe, der er pflichtbewusst nachging.
»Wäre jedenfalls deutlich einfacher, wenn er Ausweispapiere bei sich hätte«, fuhr Katharina fort. »Hat er aber nicht. Handy auch nicht. Und wie er hierhergekommen ist, wissen wir ebenfalls noch nicht. Entweder zu Fuß, aber dann wäre er eben doch hier aus der Gegend. Oder mit dem Auto, aber dafür müssen die Kollegen sämtliche Fahrzeughalter ermitteln, deren Wagen hier noch rumstehen. Autoschlüssel hat er allerdings auch nicht bei sich.«
»Öffentliche Verkehrsmittel?«, schlug Berlotti vor und stieß sich mit dem Rücken vom Gatter ab. Katharina sprang mit Schwung herab und landete lautlos neben ihm.
»Neuenfelde ist nur mit dem Bus an den Verkehrsverbund angeschlossen«, sagte sie und kritzelte sich eine Notiz in ihr Buch. »Um das abzuklären, wäre ein Todeszeitpunkt hilfreich.«
Wer war dieser Typ? Wie war er hierhergekommen? Und warum lungerte er geblendet, stigmatisiert und ziemlich tot an einem trüben Teich neben einem Friedhof herum? Berlotti sah nachdenklich von Katharina zu Weller, dann weiter zu dem Toten, zu Brehm und Schwan. Die Sonne focht einen Kampf mit einer einzelnen wuchtigen Wolke aus, und während es vereinzelten Strahlen gelang, zu ihnen durchzudringen, ließ Berlotti den Blick in die Ferne schweifen, wo er in den Bäumen hängen blieb, die die Ostseite des Friedhofs säumten. Mit einem Mal rasteten in seinem Hirn zwei lose Enden ineinander, verschmolzen zu einem Gedanken und befahlen seinen Beinen, sich in Bewegung zu setzen. In seinem Rücken meinte er die fragenden Blicke seiner Kollegen zu spüren. Froh, dank seiner braunen Lederboots mit Gummisohle festen Stand auf dem rutschigen Gras zu haben, marschierte er los, sein Ziel fest im Visier.
***
Keine fünf Minuten später stand er vor dem wuchtigen Eingangsportal von St. Pankratius. Die barocke Pfarrkirche aus Backstein machte, anders als manche ihrer Geschwister, einen freundlichen, einladenden Eindruck. Er sah kurz hinauf zum sicher vierzig Meter hohen Glockenturm, ehe er an der Tür rüttelte, die sich wider Erwarten öffnen ließ.
Im Vorraum empfing ihn ein achteckiger Taufstein, dem man den Dienst an der Gemeinschaft über Jahrhunderte hinweg ansah. Auch der Kirchenraum war verwaist. Sein »Hallo« verhallte unbeantwortet. Er wollte sich schon wieder zum Gehen wenden, als ihm das große Deckengemälde auffiel, das die gesamte Holzkonstruktion über dem Altarraum ausfüllte. Jesus war dort als Weltenrichter im Jüngsten Gericht zu sehen, flankiert von Engeln, Propheten, Aposteln und Märtyrern. Für einen Moment verschlug es Berlotti den Atem. Er drehte sich einmal um sich selbst, um die ganze Pracht dieser Malerei auf sich wirken zu lassen. Dabei blieb sein Blick an der Kirchenorgel auf der Empore hängen, deren Spitzen mit der Holzdecke zusammengewachsen schienen.
Es dämmerte ihm, dass es sich um die Orgel des berühmten Orgelbaumeisters Arp Schnitger handeln musste, von der er vor einigen Jahren gehört oder gelesen hatte. Sofern er sich richtig erinnerte, lag der Mann mit seiner Familie sogar hier in der Kirche begraben, so prominent war er seinerzeit gewesen.
Er verließ die Kirche wieder und ging unter alten Lindenbäumen hindurch, an einigen Grabmalen vorbei, die mitunter von lebensgroßen Engeln bewacht wurden, durch einen schmalen Vorgarten zum Pfarrhaus.
Die Frau, die ihm nach mehrfachem Klingeln die Tür zu dem kleinen rot geklinkerten Haus mit Spitzdach öffnete, schien wie aus dieser Welt gefallen. Sie stand in der Tür und war doch abwesend. Ihr Gesicht aschfahl, ihr Blick leer, obwohl sie ihn ansah. Die schwarze Kleidung ließ ihre Haut noch grauer wirken. Auf dem Arm hielt sie eine hellgraue Siamkatze, die mindestens doppelt so schwer schien, wie ihr gutgetan hätte. Zu allem Überfluss trug der Vierbeiner ein gehäkeltes Outfit, dessen grobe Maschen vom Hinterteil bis über den Kopf reichten und in einem flauschigen Bommel auf dem Kopf gipfelten. Mit Mühe verkniff sich Berlotti ein Grinsen.
»Ja?« Die Stimme der Frau klang so brüchig wie die einer abgesungenen Mezzosopranistin.
Er nannte Namen und Dienstgrad. Berlotti war Erstaunen gewohnt, wenn er bei Menschen vor der Tür stand, auch Erschrecken, Unbehagen oder Misstrauen schlugen ihm häufig entgegen. Doch bei der Frau, die vor ihm stand, rief sein Erscheinen keinerlei Reaktion hervor. Und auch der wahr gewordene Traum eines jeden Katzenvideoliebhabers blickte ihn unbewegt aus seinen stahlblauen Augen an.
»Ich bräuchte einmal Ihre Hilfe«, unternahm er deshalb den Versuch, zu ihr durchzudringen. Als sie immer noch nicht reagierte und mehr durch ihn hindurch- als ihn ansah, fügte er hinzu: »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Mein Mann …«, sie verließ den Ort, an dem sie sich gedanklich eingerichtet zu haben schien, und nahm ihn zum ersten Mal wirklich wahr, »… lebt nicht mehr. Ich …«
Dann weinte sie.
Berlotti stutzte. Woher wusste sie vom Fund des Mannes auf der anderen Seite des Friedhofs? Hatte er die Identität seiner Leiche etwa schon herausgefunden? Berlotti legte eine Hand auf ihren Oberarm und drückte sanft zu. Ein heiserer Schluchzer entfuhr ihr.
»Es tut mir leid«, sagte er sanft. »Aber woher wissen Sie …? Ich meine, wann ist Ihr Mann denn gestorben?«
Wieder schluchzte die Frau, diesmal noch lauter. Wieder vergingen einige Augenblicke, in denen nichts geschah. Dann schloss sie wortlos die Tür. Auch wenn Berlotti sich zeitnah Antworten auf seine Fragen wünschte, wunderte er sich kaum über das Verhalten der Pastorin, hatte er doch häufig genug erlebt, wozu Trauer die Menschen trieb. Gerade als er noch einmal an die weiße Haustür mit den vier Milchglasfenstern klopfen wollte, öffnete sie sich wieder, und diesmal stand Schneewittchen vor ihm.
»Guten Tag«, sagte eine Frau in den Dreißigern mit einem armdicken geflochtenen Haarzopf, der seiner Trägerin bis über das Gesäß reichte. »Ich bin Olga, die Küsterin hier.« Sie strich sich eine Strähne ihres pechschwarzen Haares hinters Ohr, das ebenso schneeweiß war wie der Rest ihrer Haut, und sah ihn erwartungsvoll an.
Kurz darauf traten sie nebeneinander ins Halbdunkel der Kirche. Trotz der großen Fenster drang nur wenig Tageslicht zu ihnen.
»Arme Kerstin«, sagte Olga, während sie an barocken Kirchenbänken und farbenfrohen Wappen an den Wänden entlang, die mutmaßlich an wohlwollende Spender erinnern sollten, auf den Altarraum zugingen. »Sie hing sehr an Rudi.«
War das nicht selbstverständlich, dass Eheleute aneinander hingen? War man nicht deshalb verheiratet? Offenbar hatte Olga andere Erfahrungen gemacht, sonst hätte sie sich nicht zu dieser Bemerkung bemüßigt gefühlt. Oder wollte sie damit andeuten, dass die Zuneigung der Pfarrerin zu ihrem Gatten, mit dem sie sich die Pastorenstelle teilte, über ein normales Maß hinausging?
»Wie ist Herr … ähm … Rudi denn gestorben?«
»Autounfall mit Fahrerflucht vor zweieinhalb Wochen. Ist auf der Bundesstraße von der Fahrbahn abgekommen und mit hundert Kilometern pro Stunde vor einen Baum gefahren. Rudolf ist noch am Unfallort verblutet. Wegen der fremden Lackspuren auf der Fahrerseite nehmen Ihre Polizeikollegen an, dass er abgedrängt worden ist.«
Sie sagte das weder vorwurfsvoll noch traurig, sondern mitfühlend, als wäre er, Berlotti, es, den sie trösten musste angesichts der schlechten Nachricht.
Nachdenklich stand Berlotti neben dem barocken Taufstein, der von drei Putten getragen wurde. Sein Blick glitt nach oben, auf die meterhohe Bekrönung, die von der Decke herabhing und mit musizierenden Engeln üppig verziert war. Ein tödlicher Unfall mit Fahrerflucht? Und keine drei Wochen später lag ein Mann wenige hundert Meter vom Wohnort des Unfallopfers tot im Gebüsch?
»Was ist denn eigentlich passiert? Ich habe die Polizeisirene gehört. Sind Sie deshalb hier?«, erkundigte Olga sich, während sie am Altar herumhantierte.
»Ich darf Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nichts sagen.«
Aus einer verborgenen Tür im Altar, dessen Kreuzigungsszene so farbenfroh und lebendig wirkte, dass Berlotti beinahe erwartete, Jesus würde jeden Moment vom Kreuz zu ihnen herabsteigen, holte Olga den Kelch und eine Schale für die Hostien hervor und drückte sie ihm in die Hände. Enttäuscht musterte er die silbernen liturgischen Gerätschaften, die derart modern aussahen, dass sie so gar nichts mit den Gegenständen zu tun hatten, die in der Leiche steckten.
»Gehört zu den Sachen auch Besteck?« Obwohl er wenig Hoffnung hatte, wollte er seine Arbeit vernünftig machen und alle Möglichkeiten ausschließen.
»Besteck?« Sie sah ihn verständnislos an, als hätte er sie gerade nach ihrer Konfektionsgröße gefragt. »Wozu soll das gut sein? Sie müssen den Leib Christi nicht zersägen und sein Blut nicht aus dem Kelch löffeln.«
Eine Sackgasse. Aber was hatte er auch erwartet? Er wollte schon abdrehen, da platzte es aus ihr heraus.
»Löffel! Doch, natürlich!« Sie klatschte in die Hände. »Zumindest theoretisch …«
»Theoretisch?«, fragte Berlotti leicht verwirrt.
Ohne eine Antwort zu geben, stürmte Olga eine knarzende Holztreppe hinter dem Altarbild hinauf. Oben angelangt, entfernte sie das Vorhängeschloss zu einer schulterhohen Holztür. Aus der unbeleuchteten Abstellkammer murmelte, klapperte, klirrte und rumpelte es. Einem unterdrückten Kieksen entnahm Berlotti, dass sie entweder fündig geworden war oder in eine Mausefalle gefasst hatte. Kurz darauf präsentierte sie ihm einen acht Zentimeter langen Löffel, als hätte sie soeben den Heiligen Gral entdeckt. Berlotti nahm ihn ihr aus der Hand und betrachtete den gedrehten Stiel und die kleine runde Schale. Allerdings war er ebenfalls aus Silber und hatte nur ein vergoldetes Kreuz in der Mitte des Tellers.
»Ich konnte mich erst nicht daran erinnern, weil die Pastorin das Teil nie benutzt. Aber dann ist mir eingefallen, dass wir darüber in meiner Ausbildung zur Küsterin gesprochen haben.«
»Was macht man denn damit?«
»Früher war der Kelchlöffel im Gottesdienst gebräuchlich. Heute wird er zwar oft noch zum Kelch mitverkauft, weil er nach wie vor zur heiligen Messe gehört, allerdings nur noch theoretisch. Bei der Bereitung des Abendmahls fügt der Diakon dem Wein etwas Wasser bei und spricht leise die Worte: ›Wie das Wasser sich mit dem Wein verbindet zum heiligen Zeichen …‹«
»›… so lasse uns dieser Kelch teilhaben an der Gottheit Christi, der unsere Menschennatur angenommen hat‹«, fügte Berlotti gedankenverloren hinzu. Warum fielen einem bloß Formulierungen ein, die man dreißig Jahre lang nicht mehr gehört hatte? Man konnte zwar die Kirche hinter sich lassen, dennoch blieb sie stets ein Teil von einem.
Olga sah ihn erstaunt an und nickte bestätigend. »Früher wurden Wein und Wasser mit dem Kelchlöffel vermischt, heute kippt man es einfach von einem Gefäß ins andere. Und auch Verunreinigungen, die der Diakon früher mit dem Löffel aus dem Kelch fischte, gibt es heute nicht mehr.«
Berlotti wollte ihr die Hand geben, allerdings waren ihre Hände noch mit Messbesteck belegt, weshalb er ihr eine Hand sanft auf die Schulter legte. »Vielen Dank, Olga. Sie waren mir eine große Hilfe.«
»Das freut mich. Aber ich verstehe immer noch nicht …«
»Unweit von hier ist ein Verbrechen geschehen, ich weiß selbst noch nichts Genaues.«
***
Die Anzahl der Einsatzkräfte am Teich hatte sich amöbenartig vermehrt. Ein Schäferhund der Hundestaffel schnüffelte durchs Gebüsch auf der Suche nach einer Fährte des Täters. Der Erdboden hatte sich in ein Meer aus nummerierten Kunststofftafeln verwandelt. Ein Polizeifotograf machte Aufnahmen von allen und allem: dem Toten, dem Baum, den Berlotti inzwischen als Apfelbaum identifiziert hatte, sowie den umliegenden Häusern, die sich durch das dichte Geäst erahnen ließen. Berlotti, der solchen Menschenmengen an einem Tatort nichts abgewinnen konnte und den Toten und sein Umfeld am liebsten ungestört inspizierte, tröstete sich mit dem Gedanken, dass es jedem einzelnen der Anwesenden vermutlich ebenso ging.
Noch unbemerkt von seinen Kollegen, stellte sich Berlotti an eine Ecke des Teiches, versuchte, seinem Spiegelbild in die Augen zu schauen. Doch er blickte nur in einen unansehnlichen Teppich aus Entengrütze und fand das überaus sinnbildlich. Unweit einer Kirche wurde ein Mann mit Messbesteck geradezu hingerichtet, die Hände noch dazu in christlicher Haltung. Es wäre schon ein Zufall, wenn das Zufall wäre, dachte Berlotti.
Katharina war in dem Gedränge nicht zu sehen, ebenso wenig Weller. Schwan, der Gerichtsmediziner, hatte seinen Koffer zugeklappt. Berlotti tauchte unter dem Absperrband hindurch, das den Schotterweg vom hinteren Teil des Friedhofs zum Apfelbaum-Tatort abgrenzte, und gesellte sich zu ihm.
»Und?«
»Es zahlt sich immer aus, Profis ihre Arbeit machen zu lassen«, entgegnete Schwan vielsagend, ohne Boshaftigkeit in der Stimme. Das schätzte Berlotti an dem Schwergewicht. Ihm ging es nie ums eigene Ego, das unterschied ihn aus Berlottis Sicht elementar von Kollegen wie Brehm.
»Das Opfer ist ein Mann fortgeschrittenen Alters, mutmaßlich zwischen fünfzig und siebzig. Der Tod ist in den vergangenen zwölf Stunden eingetreten. Die Lidwinkel reagieren nicht mehr auf Reizstrom, also liegt der Zeitpunkt des Todes wohl acht bis zwölf Stunden zurück. Dafür spricht auch seine Körpertemperatur von dreißig Komma fünf Grad Celsius. Daraus lässt sich ableiten, dass der Mann seit neun bis zehn Stunden tot sein könnte. Genauer eingrenzen lässt sich das schlecht, und auch diese Angaben sind vorläufig, das will ich noch einmal betonen.«
»Das bedeutet …« Berlotti warf die Hirnzellen an, die fürs Kalkulieren zuständig waren. »Neun bis zehn Stunden …«, murmelte er und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Minus Gassirunde um halb zehn …« Wie ein Grundschüler nahm er seine Finger zur Hilfe. »Der Mann wurde irgendwann zwischen halb zehn und halb eins nachts umgebracht. Das ist genauer, als ich es mir hätte träumen lassen, Herr Schwan. Gute Arbeit.«
»Vorsicht!« Schwan zückte den Zeigefinger wie ein Dirigent seinen Taktstock. »Äußere Faktoren können das Ergebnis verfälschen. Ich lasse meine Messdaten im Institut noch einmal durch den Computer laufen, gemeinsam mit den Infos, die ich hier gesammelt habe. Dann wird das Ergebnis eventuell noch exakter.«
Während der Ausführungen des Gerichtsmediziners hatte sich auch Brehm zu ihnen gesellt. Berlotti versuchte ihn zu ignorieren und wandte sich weiter an Schwan.
»Woran ist der Mann gestorben?«
Schwan griff sich seinen Koffer, als würde der nicht mindestens fünfzehn Kilo wiegen. »Ehrlich gesagt kann ich dazu noch nichts abschließend sagen.«
»Meinen Sie, er war noch am Leben, als man ihn mit dem Besteck bearbeitet hat?«
»Puh, nageln Sie mich nicht darauf fest –«
Eine fragwürdige Formulierung, fand Berlotti, angesichts der ineinandergenagelten Hände, sagte aber nichts.
Stattdessen funkte Brehm dazwischen. »Wenn Sie nicht aus einem Fenster im sechzehnten Stock fliegen wollen, geben Sie dem Hauptkommissar lieber, was er von Ihnen will!«
Berlotti spürte einen Stich in der Brust. Nein, du bekommst wegen dem jetzt keinen Herzkasper, ermahnte er sich. Ohne dass es ihm bewusst war, hatten sich seine Hände zu Fäusten geballt. Vor seinem geistigen Auge durchlebte er die Szene erneut, die ihm in den vergangenen Monaten regelmäßig den Schlaf geraubt hatte: Der Mensch, den Berlotti des Mordes an zwei Journalisten verdächtigte, stand am zertrümmerten Fenster des Kommissariats und stürzte sich in die Tiefe, ehe er ihn daran hindern konnte. Nie würde er seinen letzten Blick zurück in Berlottis Augen vergessen. Nie das Gefühl vom Stoff der Kapuze, wie er zwischen seinen Fingern hindurchglitt, ohne dass er sie greifen konnte. Und nie den Anblick, wie der Körper auf dem Kopfsteinpflaster aufschlug.
Einige Medien hatten darüber spekuliert, dass Berlotti ihn aus dem Fenster gestoßen hatte, obwohl Videoaufnahmen das Gegenteil belegten. Dass Brehm auf diesen Zug aufsprang, war widerlich. In Gedanken brüllte er dem Leiter der Spurensicherung schlimme Dinge ins Gesicht. Äußerlich gefasst und mit ruhiger Stimme stellte er eine einzige Frage: »Haben wir ein Problem?«
Brehm lachte schnaubend durch die Nase und hob abwehrend die Hände. »Ich? Ein Problem? Mit Ihnen? Ich bin doch nicht lebensmüde!«
Schwan sah Brehm fragend an, als hätte er dessen Anspielung entweder nicht gehört oder ihre Bedeutung nicht verstanden, wofür Berlotti ihm dankbar war, und vollendete den Satz, den er angefangen hatte. »Nageln Sie mich nicht darauf fest, aber anhand der Blutungen an Augen und Händen ist es ziemlich wahrscheinlich, dass der Mann zu dem Zeitpunkt, als ihm die Löffel durch die Augenhöhlen ins Gehirn gerammt wurden, noch lebte.«
Berlottis Eingeweide zogen sich zusammen. Was für eine elende Art zu sterben. Qualvoll und unnötig! Wobei, korrigierte er sich umgehend, welche Art, gewaltsam zu sterben, war schon nicht unnötig?
»Dann müsste es aber doch zumindest einen heftigen Kampf gegeben haben«, hakte Berlotti nach.
Schwan zögerte einen Augenblick, stellte dann seinen Koffer noch einmal ab. »Sie haben recht. Es gibt keine Spuren eines Kampfes, soweit ich das bislang beurteilen kann. Keine Hämatome, auf den ersten Blick auch keine Kratzspuren oder fremden Hautbestandteile unter den Fingernägeln.«
Berlotti holte sein Notizbuch aus der Innentasche seines Cordsakkos. Doch anstatt etwas hineinzuschreiben, kaute er nachdenklich auf der Plastikkappe seines Stiftes herum. »Der Mann hat sich kaum freiwillig und ohne Gegenwehr derart misshandeln lassen. Da stimmt doch was nicht!«
»Das ist in der Tat merkwürdig«, pflichtete Schwan ihm schnaufend bei. »Nach der Obduktion kann ich Ihnen sicher mehr sagen.«
Berlotti bemühte sich, die seit einigen Minuten stärker werdenden Kreislaufprobleme ebenso zu unterdrücken wie eine aufkommende Gereiztheit, die ihn immer dann beschlich, wenn ein bedrohlich niedriger Koffeinpegel auf sich aufmerksam machte. »Wir müssen den Toten so schnell wie möglich identifizieren. Bevor die Leiche abtransportiert wird, nehmen wir Fingerabdrücke«, sagte er an Schwan gewandt.
»Sonst …«, mischte sich Brehm erneut ein und zog sich mit der ausgestreckten Hand den Hals entlang.
Berlotti sah Schwan an, zuckte mit den Schultern und sagte kopfschüttelnd: »Der Klügere gibt nach. Eine traurige Wahrheit, denn sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit.«
***
Die Wolke schien ihre Arbeit fürs Erste verrichtet zu haben. Eine kalte Sonne hatte sich inzwischen hervorgekämpft. Bevor Berlotti in sein Auto stieg, hielt er noch einmal Ausschau nach Katharina. Stattdessen entdeckte er Weller. Er sprach mit einer Frau, die im roséfarbenen Frotteebademantel in der Tür ihres Bungalows stand und sich mit beiden Armen umschlang.
Als Weller Berlotti entdeckte, hob er die Hand, wie um ihm zu winken. Er wechselte noch einige Worte mit der Frau, die zurück ins Haus ging und die Tür hinter sich schloss. Weller joggte die fünfzig Meter zu ihm. So frisch aus dem Ei gepellt, gut drauf und voller Endorphine, die ihn von innen heraus strahlen ließen, konnte doch niemand auf Dauer sein. Schon gar nicht am Tatort eines brutalen Mordes!
»Keiner der Anwohner scheint etwas mitbekommen zu haben, aber wir sind ja noch nicht durch.«
Berlotti nickte und öffnete die Tür seines Fiats. Dann fiel ihm noch etwas ein. »Wie kommt es eigentlich, dass man Sie angerufen hat und nicht die zuständige Polizeidienststelle?«
Weller grinste verschmitzt. »Bei denen in Finkenwerder sitzt mein Schwager. Ich hab dem gesagt, falls was richtig Krasses passiert, soll er mich anrufen, jederzeit. Will ja weiterkommen in meinem Job.«
Also hatten sie Wellers Ehrgeiz die Ermittlung zu verdanken. Berlotti wusste noch nicht so recht, was er von dessen Engagement halten sollte. Also nickte er nur unbestimmt und wollte sich in seinen Fiat setzen. Doch Weller schien noch etwas auf dem Herzen zu haben, zumindest ließ sein Dackelblick darauf schließen.
»Was ich fragen wollte …«
Berlotti sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»… darf ich mitmachen? Bei den Ermittlungen, meine ich.«
Mitmachen? Ernsthaft?
»Ich weiß, ich bin kein Kripobeamter. Aber ich werde hart arbeiten und bin doch sowieso schon Teil der Ermittlungen.« Noch während er das sagte, merkte er, dass er wohl etwas weit gegangen war. Weshalb er noch schnell ein »irgendwie« nachschob.
Berlotti hatte noch mit dem Wort »mitmachen« zu kämpfen. Je älter man wurde, desto größer wurde offenbar auch der Kindergarten. Andererseits: Was war gegen einen engagierten Polizisten einzuwenden, der sich reinhängte, seinen Job liebte und Karriere machen wollte? Im Leben ging es schließlich nicht darum, ob man gewann oder verlor. Es zählte doch bloß die Tatsache, dass man mitspielte. Oder mitmachte, irgendwie.
Berlotti murmelte etwas in den nicht vorhandenen Bart, das sich als »mal sehen« und »kümmere mich« identifizieren ließ. Er schwang sich auf den Fahrersitz, wendete und hörte dank des geöffneten Fahrerfensters, wie Weller ihm verdutzt ein »Tschau for now« hinterherrief. Was war mit ihm los? Er war weder eifersüchtig auf Wellers Aussehen noch auf die Verbindung, die er mit Katharina zu haben schien. Ja, Weller hatte eine populistische Ader, zumindest hatte er zugegeben, dass er die einschlägigen Nachrichtenseiten und Blogs las. Aber er konnte seine Mitarbeiter schließlich nicht aufgrund ihrer – mutmaßlichen – politischen Gesinnung casten. Weller war ein Kollege, der Zusammenhänge erkannte und ihnen nicht zuletzt diesen Fall beschert hatte. Insofern war er tatsächlich bereits Teil der Ermittlungen. Warum sollte er nicht über seinen Schatten springen? Eine schlimmere Bruchlandung als die mit dem Kollegen, den er beim Dezernat für Interne Ermittlungen angezeigt hatte, weil er Ermittlungen in seinem ersten Hamburger Fall gezielt boykottiert hatte, konnte er wohl kaum erleiden.
***
Die Knochen stießen ein unerträgliches Kreischen aus, als das Blatt der Kreissäge auf sie traf. Es klang, als würde sich der Körper unter Schmerzen winden, dabei war nichts mehr übrig, das noch hätte schreien können. Der Brustkorb war weit geöffnet, ebenso die Schädeldecke. Eingeweide lagen verstreut, Herz und Leber jeweils in Schalen, um gewogen zu werden, der Darm auf einem langen Tisch ausgebreitet neben einem Maßband, andere Organe, die Berlotti nicht identifizieren konnte, in Einmachbeuteln, die teils mit einem Knoten verschlossen waren, teils auch noch offen ihrem weiteren Schicksal harrten. Entgegen der weitläufigen Annahme roch es in der Rechtsmedizin nicht nach Verwesung oder Exkrementen, sondern nach Formalin und Desinfektionsmittel. Die Dämpfe hingen im gesamten Gebäude wie der Geruch eines Kadavers. Es war jedoch weder der Geruch noch der Anblick, der Berlotti zu schaffen machte. Es war das lautstarke Geräusch der Kreissäge, die der junge, blässliche Mitarbeiter am Nebentisch hingebungsvoll durch einen Toten trieb. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Schwan kam kaugummikauend in den Raum, die Hand zum Gruß erhoben.
»Und?« Berlotti hielt sich die Ohren zu und versuchte gleichzeitig die Kreissäge zu überbrüllen.
»Was?«
»Waaas?«
»Moment!«
»Waaaas?«
Schwan machte dem Kollegen am Nebentisch ein Handzeichen, dass er sein schweres Geschütz abschalten und sich einem anderen Körper im Raum widmen sollte. Der nickte und wandte sich dem Intimbereich einer männlichen Leiche mit schulterlangem schlohweißen Haar zu. Berlotti unterdrückte den Impuls, sich zu schütteln, um die Gänsehaut wieder loszuwerden, und unternahm einen zweiten Anlauf. »Und?«
»War gut«, schnaufte Schwan, verknotete den olivgrünen Obduktionskittel in seinem Rücken, streifte sich weiße Gummihandschuhe über und führte Berlotti zu einem Sektionstisch aus Edelstahl, auf dem er den Toten vom Morgen wiedererkannte. Eine Naht, die sich oberhalb der Augenbrauen einmal um den Schädel herumzog, ließ den Mann wie Frankensteins Monster aussehen, und die groben Stiche, die sich über den Oberkörper verteilten, verstärkten den Eindruck noch. Nichts an diesem Mann deutete darauf hin, dass etwas »gut« war, wie Schwan behauptete.
»Gut?«
»Eine Obduktion, wie ich sie mir wünsche, sehr erhellend.«