Mörder-Quoten - Leo Lukas - E-Book

Mörder-Quoten E-Book

Leo Lukas

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Beschreibung

Was macht ein Auftragskiller, dem jemand die Arbeit abgenommen hat? Unbezahlte Überstunden. Er muss dringend herausfinden, wer ihm zuvorgekommen ist – und den Mord aufklären, den er selbst hätte begehen sollen. Schließlich hat er einen Ruf zu wahren. Zusammen mit seinem unfreiwilligen, aber keineswegs wortkargen Assistenten ermittelt der Killer in der Welt des kleinen Glücks, der Wettcafés, Buchmacher und illegalen Spielhöllen … Sie entdecken eine Verschwörung, die bis in höchste Regierungskreise reicht.

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Über das Buch

Was macht ein Auftragskiller, dem jemand die Arbeit abgenommen hat? Überstunden.

Er muss dringend herausfinden, wer ihm zuvorgekommen ist – und den Mord aufklären, den er selbst hätte begehen sollen. Schließlich hat er einen Ruf zu wahren. Äußerste Vorsicht ist geboten, um nicht ins Visier der ermittelnden Chefinspektorin zu geraten. Zusammen mit seinem unfreiwilligen, redegewaltigen Assistenten beginnt der Killer nachzuforschen. Die Spur führt in die Welt des kleinen Glücks, der Buchmacher, Sportwetten, legalen und illegalen Spielhöllen. Und zu Verstrickungen, die bis in höchste Kreise reichen …

Mit feinem Witz und viel schwarzem Humor erzählt Leo Lukas einen spannenden Krimi voller überraschender Wendungen.

Inhalt

Prolog

DONNERSTAG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

FREITAG

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

WOCHENENDE

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Zwischenspiel

MONTAG

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

DIENSTAG

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

MITTWOCH

Kapitel 25

Nachbemerkung

Leo Lukas über „Mörder Quoten“

Prolog

Sieben Minuten vor deinem Tod geht es dir so gut wie schon lange nicht mehr. Du spürst den Marillenschnaps. Das ist aber nicht der billige Fusel vom Diskonter. Sondern feinere Ware. Aus Ungarn. Der dings; der so heißt wie ein amerikanischer Präsident … Du denkst nach, schnalzt mit der Zunge, klatscht die flache Hand an die Schläfe. Aber es will dir nicht einfallen.

Macht nichts. Bald wird die Welt noch unschärfer werden. Du freust dich darauf.

Deine Wohltäter schenken nach. Sie prosten dir zu, rufen „Auf ex!“ Selber nippen sie nur. Sie glauben, du merkst es nicht. Dabei ist es dir bloß egal.

Fünf Minuten vor deinem Tod werden dir die Augenlider schwer. Du schwankst, hast Mühe, nicht im Sitzen umzukippen.

Wie unhöflich von dir! Du möchtest die netten Leute, die so unvermittelt so spät noch aufgetaucht sind, um Entschuldigung bitten. Mehr als unverständliches Gelalle bringst du jedoch nicht heraus.

Nachsichtig winken sie ab, klopfen dir auf die Schultern. Du stellst den Plastikbecher auf den Boden, weil er dir aus den Fingern zu fallen droht. Man hilft, indem man dir die Flasche direkt an die Lippen hält. Du trinkst, säufst wie ein Ross, bis du nach Luft schnappen musst.

Drei Minuten vor deinem Tod tropft dir ein Gemisch aus Schnaps und Speichel aus dem Mundwinkel. Dafür genierst du dich. Du hast ein schlechtes Gewissen, weil du dich derart gehen lässt.

Zugleich keimt Misstrauen gegenüber deinen edlen Spendern auf. Wer sind sie noch gleich? Was führt sie zu dir? Warum haben sie dich so vehement zum Trinken verleitet?

Okay, schwer zu überreden warst du nicht. Eigentlich mussten sie nur die Einladung aussprechen und die Flasche entkorken. Obama! So heißt er, der Schnaps, genau. Deine Freunde und du, ihr dürft ihn beim Vornamen nennen: Barack.

Der süßlich-scharfe Geruch war Argument genug … Dir wird übel. Was für eine bejammernswerte Kreatur du doch darstellst! Wie konntest du so tief fallen?

Dass die Reue ein wenig spät kommt, ist dir klar. Sie wirkt auch nicht ernüchternd. Vielmehr störend. Du wischt sie fort, mit dem Handrücken quer über den Mund, und dämmerst weg.

Zehn Sekunden vor deinem Tod schreckst du hoch. Mit einem Schrei, vor Schmerz. Warme, klebrige Flüssigkeit rinnt dir die Wange herunter, das Kinn entlang. Du greifst hin. Kneifst die Augen zusammen, glotzt deine roten Fingerspitzen an.

Kann das wahr sein? Hat man dir gerade tatsächlich …?

„He, der ist noch nicht voll hinüber!“, ruft jemand.

„Aber gleich“, sagt eine andere Stimme.

Etwas blitzt auf. Die Flasche, oder ein Messer. Vielleicht auch etwas ganz anderes, du siehst ja nur verschwommen. Es saust durch die Luft. An Ducken oder gar Ausweichen ist nicht zu denken. Du fuchtelst mit den Armen, vergeblich. Der Hieb trifft dich hart am Kopf.

Du fällst nach hinten und hinunter, immer tiefer, in die leere Dunkelheit.

DONNERSTAG

„Der Oane kränkt si z’Tod.

Dar Aundre schind’t si wund.

Wer amol herzkraunk is,

Wird neamma gsund.“

(Kern Buam, „Der Weltverdruss“)

Kürbisschaumsuppe

*

Gefülltes Brathendl mit Risipisi

o d e r

Käferbohnengulasch mit Polentaschnitte

*

Gebackene Holunderblüten Vanilleeis mit Kernöl

1

Es gibt schon Zufälle, da glaubt man nicht mehr an Zufall.

Ich meine, wie hoch ist die Chance, dass die Kundin, die einen Karibikurlaub gewinnt, justament das „Gspusi“ des Filialleiters ist? Oder dass der Verteidiger, der in der 89. Minute ein Eigentor schießt, niemanden kennt, der einen Haufen Geld auf Unentschieden gewettet hat?

Eben. Manchmal muss man halt ein bisserl nachhelfen.

Obwohl das Schicksal auch ganz allein Kapriolen schlagen kann, frage nicht. Nehmen Sie den Bravo und mich. Eine Paarung, sehr viel unwahrscheinlicher geht’s kaum. Zwei verschiedene Welten, fast ohne Berührungspunkte.

Unter uns: Wäre es dabei geblieben, würde ich mich auch nicht beschweren.

Da kann man schon ins Philosophieren kommen. War es irgendwie vorherbestimmt, dass ich den Bravo getroffen habe? Hat uns die Vorsehung zusammengespannt, oder gar ein höheres Wesen?

„Der Mensch denkt, und Gott lenkt“ … Angenommen, das stimmt; dann wäre ich vehement dafür, dem Herrn die Lenkerberechtigung zu entziehen. Weil ganz auf der Höhe kann er nicht gewesen sein, als er sich das ausgedacht hat.

Gut, eine gewisse Mitschuld streite ich nicht ab. Mein lockeres Mundwerk, wieder mal. Ich hätte mir einfach auf die Zunge beißen sollen, und nichts wäre passiert. Bis heute wüsste ich nicht, dass jemand wie der Bravo überhaupt existiert.

Aber der Reihe nach.

Ich war in Graz, wegen eines Sprecherjobs. Mein südsteirischer Akzent ist zwar nach mehr als 20 Jahren in Wien weitgehend abgeklungen, lässt sich aber relativ überzeugend wiederbeleben. Manche Werbeagenturen buchen mich, wenn sie verbalakustisches Lokalkolorit brauchen.

Außerdem fand am Abend die Geburtstagsfeier einer ehemaligen Geliebten statt. Unsere Affäre liegt einige Jahre zurück und dauerte nur wenige Wochen. Falls die Erinnerung mich nicht trügt, exakt, bis ich draufkam, dass die Dame mich hauptsächlich dazu benutzte, ihren Ehegatten eifersüchtig zu machen. Gleichwohl lädt sie mich alle Jahre wieder zur Party ein, obwohl wir sonst keinen Kontakt mehr haben. Jetzt werden Sie nicht ganz unberechtigt fragen, warum ich dann trotzdem hinfahre.

Ja, sehen Sie, mit der Zeit habe ich den Gatten schätzen gelernt. Wir teilten, stellten wir fest, weit mehr gemeinsame Interessen und Vorlieben als bloß seine Gemahlin. Deren Geburtstags-Gelage sind außerdem echt vom Feinsten, und zu später Stunde, wenn sich die übrigen Gäste getrollt haben, fachsimpeln Bernhard und ich genüsslich über diverse Ballsportarten. Öfter als einmal jährlich brauche ich das auch nicht, aber in dieser Frequenz passt’s.

Ich schlief im ehemaligen Kinder- und nunmehrigen Gästezimmer. Tags darauf brunchten wir zu dritt, wie eine sehr in die Jahre gekommene Römerquelle-Werbung. Dann nutzte ich die Gelegenheit, um einen anderen alten Bekannten zu besuchen.

Gustav Guthmann, genannt „Gugu“, war einer meiner besten Kumpels im Gymnasium gewesen. In der sechsten Klasse war er sitzengeblieben, wie übrigens fast alle Banknachbarn von mir, wegen meines ständigen Geblödels. Unserer Freundschaft tat das keinen Abbruch. Während des Studiums teilten wir für einige Jahre eine Wohnung und manche Freizeitaktivität, insbesondere amouröse Abendgestaltungen mit Vertreterinnen des anderen Geschlechts. Nachdem ich nach Wien gezogen war, verloren wir einander allmählich aus den Augen. Gugu legte eine beachtliche Karriere als Psychiater und Psychotherapeut hin, sich ein hübsches Häuschen am Stadtrand zu und den alten Spitznamen ab. Bald waren wir froh, wenn wir uns mehr als einmal im Jahr sahen. Schade eigentlich, aber so spielt das Leben.

Die Praxis lag im Geidorfviertel. Ich hatte mich für späten Vormittag angekündigt, ohne einen genauen Zeitpunkt zu vereinbaren; wollte ja nur kurz vorbeischauen und Gugu, pardon: Gustav, ein Buch übergeben, um das er mich gebeten hatte, einen Sammelband mit einem Beitrag von mir. Wenn irgend möglich, erledige ich so etwas persönlich. Außerdem steht man sich auf der Post die Füße in den Bauch, seit sie eine Filiale nach der anderen aufgelassen haben.

Jedenfalls, das schmucke Gründerzeit-Haus war eine typische Ärzteburg: im Erdgeschoß Orthopädie, erster Stock Uro- und Gynäkologie, zweiter Stock Interne und Augen; ab dem dritten Stock die Psycho-Abteilung, insgesamt vier Therapeuten und Therapeutinnen.

„Professor Guthmann kommt in wenigen Minuten“, sagte die Empfangsdame, sobald sie meinen Namen auf der Liste gefunden hatte. Das kurz geschnittene, weißblond gefärbte Haar kontrastierte reizvoll mit der dunklen Haut. Früher hätten Gugu und ich einer solchen Schönheit um die Wette den Hof gemacht. Was mittlerweile, aufgrund des Altersunterschieds, außer peinlich nur peinlich gewesen wäre. „Wenn Sie bitte so lange im Wartezimmer Platz nehmen.“

„Sein Zimmer ist …?“

„Nummer zwo.“

„Ah ja. Was hat die Koryphäe auf Nummer eins für einen Titel?“

„Dort ordiniert Primaria Orecchietti.“

Ich verkniff mir einen Scherz über ohrenförmige Nudeln. Die letzte Antwort hatte ohnehin schon etwas spitz geklungen. Wie so oft, sah ich mich dem Dilemma gegenüber, dass ich nicht wusste, ob sie wusste, wer beziehungsweise was ich war. Von uns professionellen Komikern wird nämlich erwartet, dass wir entweder jederzeit wahnsinnig originelle Witze reißen oder aber privat wortkarge, melancholische, schwer depressive Trantüten sind. Außerdem kennen mehr Leute meine Stimme als mein Gesicht. „Ich bin’s dein Geschirrspüler …“ und so weiter.

Während ich wartete, fiel mir ein, dass Gugu, als man noch Gugu zu ihm sagen durfte, bei meiner zweiten Hochzeit als Beistand fungiert hatte. Damals hatte ich die rituelle Frage „Wollen Sie, Herr Peter Szily, Frau Nora Irgolic-Milenkova zur Frau nehmen?“ verneint, zur nicht gelinden Überraschung sämtlicher Anwesender. Der Grund war gewesen, dass die Standesbeamtin zwei der drei Nachnamen falsch ausgesprochen hatte und ich einen Schreibfehler in den Dokumenten befürchtete. Mit derlei hatte ich reichlich leidvolle Erfahrungen gemacht. Wer ebenfalls ähnlich wie ein Würzkraut heißt, weiß, wovon ich rede. Gugu und die Beiständin meiner zukünftigen Ex brachen in haltloses Kichern aus. „Wir sind hier nicht im Comedyclub!“, fauchte die Standesbeamtin erbost. Das Missverständnis konnte rasch bereinigt werden. Gleichwohl stand die Ehe unter keinem guten Stern, aber das ist eine andere Geschichte.

Wo war ich? Richtig, im Wartezimmer. Es gab nur uralte, zerfledderte Ausgaben von Psychologie heute sowie das übliche Ecktischchen mit grindigem Kinderspielzeug, auf dem sich mehr Bakterienkulturen tummelten als in den Labors der Geschoße unter uns. Längst waren zehn Minuten verstrichen. Mir wurde langweilig. Zudem hatte ich geplant, den Zug um 12.26 Uhr zu nehmen, und Mittag war nicht mehr weit. Deshalb beschloss ich, das Buch mit einer flotten Widmung zu versehen und im Zimmer meines Freundes zu deponieren.

Ich malte also schwungvoll: „Für Professor Doktordoktor Gugu Guthmann, den alten Synapsenschlosser!“ – Spaß muss sein – und begab mich in Zimmer Nummer 2. Die Einrichtung entsprach haargenau den Vorstellungen, die man sich von Psychotherapeuten macht: Bücherwand voller dicker Wälzer, mächtiger Schreibtisch, zwei Polstersessel, Sigmund-Freud-Memorial-Couch, alles da. Wie ich ja überhaupt im Laufe meines Lebens festgestellt habe, dass die allermeisten Klischees zutreffen. Staatspolizisten zum Beispiel tragen so gut wie immer Trenchcoats und lächerliche Schlapphüte. Bevor Sie mir unterstellen, ich würde diese oder jene Berufsgruppe verunglimpfen wollen: Nichts läge mir ferner! Habe schließlich auch schon das eine oder andere Mal die Dienste eines Seelenklempners in Anspruch genommen und häufig davon profitiert. Obwohl ich es bei therapeutischen Sitzungen immer wieder komisch finde, wenn ausgerechnet ich jemand dafür bezahle, dass er oder sie mir dabei zuhört, wie ich mein Innenleben ausbreite …

Eben hatte ich das Buch mitten auf der edlen ledernen Schreibtischunterlage abgelegt und wandte mich zum Gehen, da öffnete sich, ganz leise quietschend, die Tür. Herein trat – nicht Gustav Guthmann. Sondern jemand, so durchschnittlich und unscheinbar, dass ich mehrfach blinzelte, um mich zu vergewissern, dass ich mich nicht getäuscht hatte und wirklich nicht mehr allein im Zimmer war.

„Guten Tag“, sagte der Neuankömmling, mit einer Stimme, ebenso unauffällig wie seine gesamte Erscheinung. Sie klang keineswegs monoton, auch nicht flach oder zu leise, bloß … absolut eigenschaftslos. „Wir haben einen Termin. 11 Uhr 45, Raum zwei. Stimmt das?“

„Ja, sicher. Äh. Klar“, stotterte ich. Gefasster fügte ich hinzu, weil mir nichts Geistreicheres einfiel: „Pünktlichkeit ist eine Zier, man sagt auch, die Höflichkeit der Könige.“

Zu meiner Ehrenrettung sei vermerkt, dass mich die Begegnung auf dem falschen Fuß erwischte. Ich hatte mir Zutritt zu Gugus Zimmer verschafft, ohne die Empfangsdame zu informieren, und fühlte mich gewissermaßen ertappt.

Gleichzeitig war das Merkwürdige an dem Fremden, dass eben nichts an ihm merk-würdig war. Blickte ich kurz weg, hatte ich ihn schon fast wieder vergessen. Es handelte sich wohl um eine Art Gabe, ein spezielles Talent, eine angeborene oder anerzogene Fähigkeit, wie sie mir noch nie untergekommen war. Die Gesellschaftsschichten, in denen ich mich gewöhnlich bewege, strotzen vor offensiven Selbstdarstellern. Die „Szene“ heißt so, weil alle immerzu ein Theater aufführen, vor den anderen, aber auch vor sich selbst. Alle geben etwas vor, niemand gibt etwas zu, schon gar keine Zweifel an der eigenen Wichtigkeit.

Dieser Mann hingegen erweckte nicht im Mindesten den Eindruck, sich in den Vordergrund stellen zu wollen. Vielmehr hinterließ er gar keinen Eindruck. „Mir wurde versichert“, sagte er ruhig und sehr beherrscht, „dass Sie der Schweigepflicht unterliegen. Nichts, was hier geredet wird, verlässt diesen Raum. Richtig?“

„Richtig.“ Ich räusperte mich und setzte zu einer Erklärung an.

„Nichts wird aufgezeichnet?“ Er zog ein schlankes silbriges Kästchen aus der Hosentasche. Ein grünes Lämpchen leuchtete auf. „Keine Wanzen.“ Es war nicht als Frage formuliert.

„Die Praxisgemeinschaft beschäftigt einen sehr guten Kammerjäger“, sagte ich.

„Wieso?“

„Gegen Ungeziefer. Kammerjäger – Wanzen. Sie verstehen?“

„Ja. Sehr witzig.“ Als der Humor verteilt wurde, hatte der Typ sich definitiv nicht vorgedrängt. „Wir haben eine Dreiviertelstunde vereinbart. Keine Zeit für Floskeln. Darf ich gleich anfangen?“

Das war der Moment, in dem ich spätestens hätte sagen sollen: „Pardon, Sie verwechseln mich. Ich bin kein Psychiater, nur ein zufälliger Besucher.“

Stattdessen deutete ich schwungvoll auf den Stuhl links neben dem Schreibtisch. „Bitte, nehmen Sie Platz.“

Ich meine, streng genommen hatte ich nicht gelogen, oder? Alle von mir getätigten Aussagen waren wahr gewesen. Vor allem aber faszinierte mich der „Mann ohne Eigenschaften“ mindestens im selben Ausmaß, wie er mir unheimlich war. Schon rein berufsbedingt musste ich ihn näher studieren, solange ich die Möglichkeit dazu hatte. Falls es mir gelang, seine seltsame, so kontrolliert unpersönliche Stimmgebung zu kopieren, konnte ich damit vielleicht einen eigentümlichen Charakter für ein Hörspiel kreieren.

Kaum hatte er sich gesetzt, sagte er: „Mir ist etwas passiert, das ich kaum glauben kann. Ich möchte sichergehen, dass ich nicht unter Gedächtnisverlust oder Wahrnehmungsstörungen leide. Sie kennen sich doch damit aus?“

Die zweite Chance, seinen Irrtum aufzuklären, erschien vor meinem geistigen Auge wie ein hübscher, vernünftig karierter Schmetterling, der ohne Hast, fröhlich mit den Flügeln winkend, an mir vorbeiflatterte. „Sicher“, sagte ich.

„Gut. Sie müssen wissen“, sagte er, „ich bin ein Bravo. Das ist ein anderes, älteres Wort für Auftragskiller. Im Wiener Kunsthistorischen Museum gibt es sogar ein Gemälde von Tizian, das den Titel ‚Der Bravo‘ trägt. Es zeigt einen Meuchelmörder, der gerade den Dolch zückt.“

„Ah ja.“

Ich war erleichtert, fast schon wieder beruhigt. Offensichtlich handelte es sich bei meinem Gegenüber doch um einen harmlosen Verrückten. Schließlich befanden wir uns in einer psychiatrischen Ordination. Andere Patienten mochten sich für Jesus halten, für Napoleon oder Richard III. mitsamt seinem Pferd.

„Sie stehen im Dienst der Mafia?“, fragte ich, um das Gespräch weiter anzukurbeln. „Oder eines anderen Verbrechersyndikats?“

„Nein; beziehungsweise nicht dauerhaft. Ich bin selbstständig und arbeite strikt allein. Meine Auftraggeber kenne ich normalerweise gar nicht.“

„Ah ja. Erzählen Sie mir doch bitte mehr!“ Insgeheim rieb ich mir die Hände. Einen derartig vielversprechenden Fund machte unsereins nicht oft.

„Ich bin hier“, sagte er, „weil ich ausschließen möchte, dass mich meine Erinnerung trügt.“

„Sehr vernünftig. Sie wissen, dass allgemein auf das menschliche Gedächtnis wenig Verlass ist?“

Darüber hatte ich kürzlich gelesen. Die Details waren mir entfallen, aber ich fand, der Einwurf klang ungemein gescheit. Beinahe hätte ich zu einem Exkurs über den Rashomon-Effekt angesetzt, jenes nach Kurosawas Filmkunstwerk benannte Phänomen der selektiven Wahrnehmung; hielt mich dann aber doch im Zaum.

„Ja“, sagte er. „Ich bin unsicher, ob ich einen Mord, den ich hätte ausführen sollen, tatsächlich begangen habe.“

Ich spürte, dass sich mir die Nackenhaare aufstellten. Weidlich bemühte ich mich, das Gefühl zu ignorieren, ich würde in eine Sache hineingezogen, die mir alsbald über den Kopf wachsen könnte. „Unangenehm“, sagte ich, Verständnis vortäuschend. „Was bringt Sie zu dieser Vermutung?“

„Das Ganze war überhaupt nicht mein Stil. Vielmehr im Endergebnis ein Pfusch, wie er mir niemals unterlaufen würde.“

„Ah ja.“ Ich nickte, breitete aufmunternd die Arme aus. „Schildern Sie doch einfach, was Sie daran bedrückt.“

Und das tat er.

2

Ins Haus zu kommen, ist keine Hexerei. Der Bravo hat einen Generalschlüssel, wie ihn sämtliche Wiener Zeitungsausträger besitzen. Als solcher ist er auch verkleidet, passend zur frühen Morgenstunde. Jedes Detail stimmt, bis hin zu den Verhältnissen in der dicken Umhängetasche: fünfmal Krone, zweimal Kurier, je einmal Presse und Falter.

Seiner Recherche zufolge gibt es im Stiegenhaus keine Kameras. Trotzdem geht der Bravo auf Nummer sicher, prinzipiell. Er trägt eine hauchdünne Maske, die nur aus nächster Nähe als solche zu erkennen ist und die biometrische Aufzeichnung charakteristischer Gesichtsmerkmale verunmöglicht. Sein Bild findet sich in keiner polizeilichen oder sonstigen Datenbank. Er legt Wert darauf, dass das noch länger so bleibt.

Auch für die Hintertür des Wettbüros benötigt der Bravo keinen Dietrich. Der Schlüssel, hat er herausgefunden, hängt in der gegenüberliegenden Gangtoilette an einem rostigen Nagel.

Kann man deswegen der Zielperson sträflichen Leichtsinn vorwerfen? Nein. Pekarek, so heißt der Buchmacher, bewahrt zu keinem Zeitpunkt größere Bargeldbeträge in seinem Lokal auf. Falls er einmal, selten genug, höhere Gewinnsummen auszahlen muss, erledigt er das per Überweisung. Vermutlich wickelt er nebenbei auch illegale Wetten ab, wie viele seiner Branche. Aber wenn es dafür einen Safe gibt, dann in Hugo Pekareks Wohnung. Die wiederum liegt in einem stolzen Simmeringer Gemeindebau, wo ein Einbruch etwas schwieriger zu bewerkstelligen wäre.

Nur wenn an einem Dienstag oder Mittwoch Champions-League-Spiele mit populären Mannschaften stattfinden, hat das Lucky Star Casino bis weit nach Mitternacht geöffnet. Dann fährt Pekarek nicht mehr heim, sondern schläft auf einem Feldbett in der Abstellkammer zwischen dem Lokal und dem Stiegenhaus.

So geräuschlos, wie sich der Bravo auf weichen Kreppsohlen bewegt, öffnet er die Klotür und nimmt den Schlüssel vom Haken. Er muss seine Taschenlampe nicht bemühen. Das Streulicht, das von der Straßenbeleuchtung durchs Gangfenster fällt, reicht völlig aus.

Einige ruhige Atemzüge lang lauscht der Bravo. Nichts zu hören außer Schnarchen aus einem der darüber liegenden Stockwerke und, einen Häuserblock entfernt, die Fahrgeräusche der ersten Straßenbahn. Der Bravo sieht auf die Armbanduhr: 4:56:32, ganz nach Plan. Die Wiener Linien sind pünktlich wie meist.

Er zieht die Handschuhe an, greift in die Umhängetasche, unter das Zeitungsbündel, und holt die Spritze heraus. Sie enthält Beta-Antiarin. Die Dosis würde für drei Erwachsene reichen. Dennoch besteht eine gar nicht so geringe Chance, dass das Gift hinterher nicht bemerkt wird. Hugo Pekarek ist schwer übergewichtig und hat bereits zwei Stents in den Herzkranzgefäßen. Gut möglich, dass die Behörden davon absehen werden, eine Obduktion anzuordnen. Ein Infarkt zieht ungleich weniger Arbeit und Papierkram nach sich als ein Mordverdacht …

Der Bravo schließt die Tür auf und schlüpft in die Kammer. Noch bevor er die Mini-Taschenlampe einschaltet, riecht er, dass etwas furchtbar faul ist.

Die Leiche sieht nicht gut aus.

Wer meint, Leichen wären generell kein schöner Anblick, irrt. So manche Person hat nach der finalen Behandlung durch den Bravo erstmals entspannt, friedlich und sympathisch gewirkt.

Auf die sterblichen Überreste des Buchmachers Hugo Pekarek trifft dies nicht zu. Das Gesicht ist in Agonie zu einer Grimasse entstellt und blutverschmiert. Über Stirn, Nase und Wangen ziehen sich mehrere Schnittwunden, wie von einem Säbel oder einem großen, scharfen Messer. Blut verklebt auch den grau melierten Schnauzer und Kinnbart. Trotz alldem besteht kein Zweifel an der Identität des Opfers. Der Bravo hat Pekarek mehrmals beobachtet und so ausgiebig studiert, wie er es stets bei Zielpersonen tut.

Die Verletzungen deuten auf einen Kampf hin. Aber die Position der Leiche widerspricht diesem Eindruck. Pekareks Oberkörper liegt quer über dem Feldbett, die Beine sind gespreizt, die Absätze der Turnschuhe ruhen auf dem Boden. Keinerlei Wunden an den Armen und Fingern, nicht einmal Abschürfungen. Todesursache war ein tiefer, klaffender Schnitt durch die Kehle. Hugo Pekarek ist ausgeblutet. Das grün-weiß gestreifte T-Shirt mit dem Logo des Fußballklubs Rapid wird auf der ganzen Brust und großen Teilen des Bauchs von gestocktem, braunrotem Blut überdeckt.

Der Bravo steckt die Spritze wieder ein und beugt sich hinab. Er muss den Schädel nicht anfassen, um die fast hühnereigroße Beule am Hinterkopf zu ertasten. Seine Gedanken rasen. Pekarek wurde niedergeschlagen, kurzfristig betäubt, dann getötet und hernach im Gesicht verstümmelt.

Von wem?

In den meisten Branchen wäre man nicht unbedingt beleidigt, falls einem unverhofft die Arbeit abgenommen wird. Jeder Hausmeister freut sich, sollte ein Nachbar den Gehsteig bereits vom Schnee geräumt haben. Stubenmädchen in Hotels lieben die an die Türschnalle gehängte Mitteilung, dass der Gast nicht gestört werden will und sein Bett selber macht. Und so weiter.

Übt man allerdings den Beruf eines Auftragsmörders aus, besteht erheblicher Grund zur Besorgnis, wenn einem jemand zuvorgekommen ist. Der Bravo weiß, dass er nicht der Einzige seiner Zunft und seines Niveaus in Österreich ist. Er kennt die Konkurrenten nicht persönlich, natürlich nicht, jedoch die Spitznamen und den jeweils bevorzugten Modus Operandi. Nicht selten kann er aus knappen Zeitungsmeldungen herleiten, wann höchstwahrscheinlich jemand von den anderen zugeschlagen hat. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie nicht so kindisch sind, irgendwelche individuelle Signaturen zu hinterlassen. Sowieso ist der beste, weil sauberste Mord immer noch der, den die Kripo gar nicht als solchen registriert. Insofern sieht dies hier eher wie die Tat eines Amateurs aus.

Andererseits gehört Tarnen und Täuschen zum Geschäft, und gewisse Duftmarken …

Der Bravo richtet sich wieder auf und schnüffelt. Pekareks saure Alkoholfahne und der Gestank des im Todeskampf entleerten Darms erfüllen die enge Kammer. Dazu etwas Modriges, wohl von den grünlichen Schimmelflecken an der Seitenwand. Billiges Plastik: die Ordner im windschiefen IKEA-Regal. Vergammelte Reste von Tomatensoße und Mozzarella in einer halb unter die Pritsche geschobenen Pizzaschachtel.

Und … noch etwas. Ein Hauch von Schwefel. Plötzlich wird dem Bravo anders. Als wäre ihm diese Szene nicht neu, als hätte er sie schon einmal genau so durchlebt, wie ein Déjà-vu. Jetzt bemerkt er auch das nahezu unhörbare Zischeln aus dem nebenan gelegenen Hauptraum des Wettbüros.

Erdgas ist ein ziemlich sicherer Energieträger und ursprünglich geruchlos. Die Wiener Versorgungsnetze „odorieren“ es jedoch, soll heißen: sie mischen ihm einen Duftstoff bei, damit auf Gebrechen, wie etwa Lecks in den Leitungen, noch rechtzeitig reagiert werden kann. Schon in geringer Konzentration tritt intensiver Schwefelgeruch auf und signalisiert einen Notfall.

Dass Pekarek in seinem Wettbüro einen Gasherd betrieben hat, um die Kundschaft mit Würsteln und Gulaschsuppe zu versorgen, ist naheliegend. Für denjenigen, der ihm das Lebenslicht ausgeblasen hat, gäbe es kaum eine sicherere Methode, die Spuren zu beseitigen, als eine Gasexplosion. Welche beileibe nicht bloß durch Hantieren mit offenem Feuer, etwa Kerzen oder Zigaretten, ausgelöst werden kann. Wurde der Gashahn lange genug offen gelassen, genügt es, irgendein elektrisches Gerät zu betätigen, damit im wahrsten Wortsinn der Funke überspringt. Lichtschalter, Türklingel, Handy … oder ein elektronischer Wecker.

Der Bravo blickt auf die Armbanduhr.

4:59:47. 13 Sekunden bis fünf.

Mit einem Mal spürt er, dass es brenzlig wird. Sein Auftrag hat beinhaltet, dass er einen speziellen Gegenstand birgt, mit sich nimmt und später unauffindbar entsorgt. Hektisch schwenkt er den Strahl der Lampe über die Regalbretter. Im Vorbeifahren erfasst der Lichtkegel ein Einmachglas. Darin befindet sich das Gesuchte. Auf dem ausgebleichten Etikett steht „Feine Cornichons“. Aber das Gefäß enthält keine Gewürzgurken, sondern ein menschliches Ohr. Der Bravo schnappt sich das Glas, packt es in die Tasche und flieht durch das Stiegenhaus, so schnell ihn die Beine tragen.

Seine innere Uhr zählt den Countdown der Sekunden herunter. Als sie bei null angelangt ist, hat der Bravo gerade einmal ein paar Schritte Abstand zu dem Haus gewonnen, an dessen Fassade im Erdgeschoss die Neonschrift „Lucky Star Casino“ rot und blau blinkt. Hinter einer Litfaßsäule wirft er sich in Deckung.

Der Blitz ist grell, der Knall ohrenbetäubend. Die umliegenden Häuser am Dombrowski-Platz geben das Echo der Detonation mehrfach wieder.

Als der Nachhall verebbt ist, steht der Bravo auf und geht weg, ohne sich umzusehen, gemessenen Schrittes, als wäre nichts geschehen. Niemand begegnet ihm auf dem Weg zur Tramway-Haltestelle. Die Straßenbahn kommt, er steigt ein. Sirenen heulen auf. Wenig später hört er Folgetonhörner von Einsatzfahrzeugen der Polizei, der Rettung und der Feuerwehr. Sie nähern sich aus verschiedenen Richtungen. Aber da ist er schon in Sicherheit.

Wäre alles nach Plan gelaufen, hätte sich der Bravo jetzt noch für zwei Stunden hingelegt. Nach vollbrachter Tat ist er gewöhnlich entspannt und schläft sehr gut.

Diesmal jedoch findet er keine Ruhe. Wie immer duscht er gründlich. Er stopft die einmalig verwendete Tasche und Kleidung in einen Müllsack, obwohl am Tatort mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht die kleinste Faser übrig ist. Dann starrt er lange das entwendete Gurkenglas an. Auftragsgemäß sollte er es ebenfalls so schnell wie möglich beseitigen, mitsamt dem bizarren Inhalt. Aber der Bravo zögert. Er weiß nicht, ob er das belastende Indiz nicht vielleicht doch noch benötigen wird, und er hasst nichts mehr als Ungewissheit.

Schließlich verstaut er das Glas mit dem Ohr sorgfältig im Geheimfach der Anrichte. Es ist vorläufig der einzige Hinweis darauf, was hinter dieser Sache stecken könnte. Der Bravo setzt sich auf das Kanapee, steht wieder auf, geht in der Küche hin und her. Statt geschützt in seinem Schlupfwinkel, den niemand außer ihm kennt, fühlt er sich eingesperrt. Alle paar Minuten sieht er auf die Uhr. Endlich, um Punkt 7.30, richtet er sich das Frühstück. Der Bravo frühstückt immer, wenn irgend möglich, um halb acht, und immer dasselbe: zwei Scheiben Roggenmischbrot der Sorte Gestaubter Wecken mit Kalbsleberstreichwurst sowie Sirius-Camembert. Dazu eine Tasse Nescafé. Dies dient ihm als Ausgleich dafür, dass er sich in der Öffentlichkeit keinerlei Regelmäßigkeiten gestattet. Eingeschliffene Gewohnheiten können so verräterisch sein wie Fingerabdrücke. Ein guter Bravo wechselt seine von Fremden nachvollziehbaren Verhaltensmuster so häufig wie die Unterwäsche.

Und er ist ein guter Bravo; einer der besten und gefragtesten hierzulande!, versucht er sich zu beruhigen, während er an dem Streichwurstbrot kaut. Aber der innere Frieden, den ihm dieses Ritual sonst verschafft, will nicht einkehren. Ungeheuerliches ist geschehen. Er hat einen Mordauftrag nicht ausgeführt.

Hat er das wirklich nicht?

Die Zielperson, der Buchmacher Hugo Pekarek, ist tot. Also wurde das gewünschte Endergebnis erreicht. Die erste Hälfte des Honorars ist bereits als Anzahlung überwiesen worden, auf ein nach allen Regeln der Kunst anonymisiertes, nicht bis zu ihm verfolgbares Bankkonto. Ob der zweite Teil wie vereinbart binnen zwei Tagen nachkommt oder auch nicht – der Bravo könnte die Episode ad acta legen und weiterleben wie bisher.

Kann er das?

Ihn stört, dass Pekareks Terminierung mit derart viel Tamtam vonstattenging. Eine Gasexplosion? Hallo! Es entspricht absolut nicht seinem Stil, Aufsehen zu erregen, und schon gar nicht, irgendwelche Unbeteiligte eventuell in Mitleidenschaft zu ziehen.

Freilich, wer wüsste davon, außer dem unbekannten Auftraggeber, der letztlich ja doch bekommen hat, was er wollte? Maximal zwei, drei Zwischenhändler; Relaisstationen, über die der Kontakt hergestellt wurde. Personen, deren Verschwiegenheit ihr wertvollstes Kapital darstellt.

Trotzdem. Der Bravo hat einen Ruf zu wahren. Nicht bloß aus Eitelkeit. Wer würde seine Dienste noch anfragen, wenn damit zu rechnen wäre, dass er nebenbei ein halbes Haus in die Luft sprengt?

Er selbst entkam nur mit knapper Not. Achtung: Könnte das Ganze nicht überhaupt eine Falle gewesen sein, zugeschnitten auf niemand anderen als ihn?

Wer sollte ihm eine solche Falle stellen? Und warum?

Der Bravo weiß von keinen persönlichen Widersachern. Jemand, den es als Person nicht gibt, hat keine Feinde. Geschweige denn, dass er jemals irgendeine Fehde angefangen oder sich auf etwas Vergleichbares eingelassen hätte.

Mitbewerber, die ihm die Erträge neiden? Mag sein. Aber wenn er in den vergangenen Jahren keinen groben Fehler gemacht hat – und das hat er ziemlich sicher nicht –, dann wissen die zirka zwei Handvoll anderen, richtig guten, in Mitteleuropa tätigen Profi-Killer nicht mehr über ihn als er über sie. Und es gibt nach wie vor mehr als genug Geschäft für alle, sodass man sich nicht in die Quere kommen muss.

Gleichwohl darf er diesen Aspekt nicht aus den Augen lassen. In Summe jedoch bleibt vorerst: Der Einzige, der ihm gefährlich werden könnte, ist – er selbst.

Dem Bravo wird mulmig. Ihm ist die Besonderheit seiner Existenzweise bewusst. Es macht etwas mit einem, wenn man von Berufs wegen immer wieder mal anderen die Lebenszeit drastisch verkürzt. Final. Aber da entsprechender Bedarf besteht, muss das irgendwer machen; und es hat niemand was davon, wenn man derlei Operationen einem Stümper überlässt … So hat der Bravo seine Tätigkeit bisher vor sich selbst gerechtfertigt. Er sieht weiterhin keinen Grund, von dieser Einstellung abzurücken. Indes hält er seit Langem für möglich, dass seine Irritationen zunehmen könnten.

Was er tut, basiert auf striktester Geheimhaltung. Deshalb agiert er tagaus, tagein auf eine Weise, die hart an Paranoia grenzt. Die Sicherheitsvorkehrungen, denen er sich nahezu pausenlos unterwirft, sind durchaus neurotisch zu nennen. Diesbezüglich hat er alles nachgelesen, was er finden konnte, und sich selbst peinlich genau überwacht. Bis jetzt konnte er keine bedenklichen Anzeichen feststellen. Bis vor Kurzem. Aber. Wenden sich seine Erkenntnisse und Maßnahmen nun doch gegen ihn? Hat sein Unterbewusstsein rebelliert, um den gesellschaftlich-moralischen Dauerdruck abzuschütteln?

Kurz gesagt: Könnte er selbst sich diese Falle gestellt haben? Hat er den heimlichen Wunsch, erwischt zu werden?

Die menschliche Wahrnehmung ist ungemein subjektiv, notgedrungen selektiv. Das Gehirn kann nicht die vollständige Fülle dessen verarbeiten, was an Außenreizen einströmt. Unaufhörlich. Über all diese verflixten, nicht willkürlich abschaltbaren Sinne. Der Verstand muss auswählen, reihen, Prioritäten zuweisen. Sinn stiften. Zusammenhänge postulieren, wo objektiv gar keine bestehen.

Überzeugt davon, dass er nicht wesentlich klüger ist als die Normalbürger, erkennt der Bravo, dass er, gerade er als Profi, professionellen Beistand in Anspruch nehmen sollte. Wie könnte er sich jemals wieder auf die Straße wagen, wenn er sich selbst nicht mehr völlig vertraute?

Seine verdeckten Suchanfragen werfen zwei Psychiater aus, denen im Schattennetz höchste Diskretion zugebilligt wird. Einer davon ordiniert in Linz. Er ist spezialisiert auf Aussteiger, die ihre rechtsradikale Vergangenheit hinter sich lassen wollen. Der andere, ein DDr. Gustav Guthmann, ist in Graz ansässig. Mehrere hymnische Einträge weisen ihn als einen Therapeuten aus, der nichts an die Behörden verrät, wie schlimm auch immer die Geständnisse seiner Klienten sein mögen.

Der Bravo telefoniert. Dann beendet er das Frühstück. Wieder etwas zuversichtlicher, räumt er die Küche zusammen, zieht angemessene Kleidung an, wirft den Müllsack in einen drei Häuserblocks weiter gelegenen Kübel und fährt nach Graz.

3

„Ah ja“, sagte ich. „Und da sind Sie nun.“

„Sie verstehen, was ich mir von Ihnen erhoffe?“

„Im Prinzip schon. Aber mir fehlen noch ein paar Details“, wich ich einer klaren Antwort aus. „Dieser Vorfall in Wien, wann war der genau?“

„Letzte Nacht“, sagte der Mann, der sich Bravo nannte, mit seiner gleichförmig unaufdringlichen Stimme. „Sie sind der Experte. Kennen Sie Erkrankungen, die auf meinen Fall zutreffen könnten?“

Quietschend ging die Tür auf. Professor Gustav Guthmann schlapfte herein, unter dem einen Arm eine Aktentasche eingeklemmt, in der anderen Hand das Endstück eines Salzstangerls, das er sich gerade in den Mund stecken wollte. Er hielt in der Bewegung inne, hüstelte und sagte „Oh. Servus, Pez. Beinahe hätte ich vergessen …“

Dann bemerkte er die andere Person im Raum und fragte, die Augen zusammenkneifend, „Und wer sind Sie?“

Peinlichen Konfrontationen wich ich prinzipiell aus, seit ich zu einigermaßen rationalem Denken fähig war. Deshalb rief ich Gugu nur aufgesetzt heiter zu: „Muss weg, zum Bahnhof! Buch liegt am Tisch“ und nahm rückwärts Reißaus.

Abgang Peter Szily, links hinten.

Kein Applaus, wie gewohnt.

Zum Glück war der Zug nach Wien recht schütter bevölkert. Keiner der Vierertische im ersten Waggon war gänzlich unbesetzt. Mit geübtem Blick erspähte ich jedoch eine allein reisende, üppig gebaute ältere Dame, deren buntes Dirndlkleid und kleines Gepäck – eine altrosa Kunstleder-Handtasche sowie ein praller Papiersack des Traditionskaufhauses Kastner & Öhler – zur Hoffnung Anlass gab, sie würde in Bruck an der Mur umsteigen, zwecks Anschluss in Richtung ihrer alpinen Heimat.

Mit meiner schmelzendsten Erbschleicherstimme fragte ich: „Ist hier bitte noch frei, gnädige Frau?“

Sie bejahte. Ich nahm Platz, packte mein iPad aus und atmete tief durch. Wenn ich ehrlich war, hatte mich die Unterhaltung mit dem Mann, der sich als Bravo ausgab, doch ziemlich aufgewühlt und verwirrt. Was er erzählt hatte, war teilweise zu realistisch geschildert gewesen, als dass ich es purer Fantasterei hätte zuschreiben können. Ergo googelte ich, sobald sich die wie immer zickige Internetverbindung der ÖBB etabliert hatte, die naheliegenden Stichwörter.