Perry Rhodan 3114: Das Chaos auf Ariel - Leo Lukas - E-Book

Perry Rhodan 3114: Das Chaos auf Ariel E-Book

Leo Lukas

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Beschreibung

In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2071 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem 6. Jahrtausend nach Christus, genauer dem Jahr 5658. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat. Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen. Terraner, Arkoniden, Gataser, Haluter, Posbis und all die anderen Sternenvölker stehen gemeinsam für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, womöglich umso stärker, seit ES, die ordnende Superintelligenz dieser kosmischen Region, verschollen ist. Als die Liga Freier Galaktiker durch drei Deserteure erfährt, dass in der Nachbarschaft der Milchstraße ein sogenannter Chaoporter gestrandet sei, entsendet sie unverzüglich ihr größtes Fernraumschiff, die RAS TSCHUBAI. Denn von FENERIK geht wahrscheinlich eine ungeheure Gefahr für die Galaxis aus. Während Perry Rhodan als Allianz-Kommissar in Cassiopeia, einer Andromeda vorgelagerten Kleingalaxis, auf der Suche nach dem Chaoporter ist, wird FENERIK in der Milchstraße aktiv: Die Meute Jochzor entfesselt DAS CHAOS AUF ARIEL ...

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Nr. 3114

Das Chaos auf Ariel

FENERIKS Meute im Solsystem – der TLD stellt eine Falle

Leo Lukas

Cover

Vorspann

Die Hauptpersonen des Romans

Prolog: Alles wird neu

1. Das Archiv der Merkwürdigkeiten

2. Ein uraltes Spiel und ein brandneues Projekt

3. Eine gründliche Besichtigung

4. Das Zertifikat heiligt die Mittel

5. Was gegen Othellos Gattin spricht

6. Harte Landung

7. Was man sehen kann, wenn man nichts sieht

8. Am Schreibtisch der Ratsherrin

9. Infiltration und Frustration

10. Dezenz ist Stärke

11. Zustände und Zuständigkeiten

12. Die wahre Freiheit

Epilog: Alles wird gut

Journal

Leserkontaktseite

Glossar

Impressum

In der Milchstraße schreibt man das Jahr 2071 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Dies entspricht dem 6. Jahrtausend nach Christus, genauer dem Jahr 5658. Über dreitausend Jahre sind vergangen, seit Perry Rhodan seiner Menschheit den Weg zu den Sternen geöffnet hat.

Noch vor Kurzem wirkte es, als würde sich der alte Traum von Partnerschaft und Frieden aller Völker der Milchstraße und der umliegenden Galaxien endlich erfüllen.

Terraner, Arkoniden, Gataser, Haluter, Posbis und all die anderen Sternenvölker stehen gemeinsam für Freiheit und Selbstbestimmtheit ein, womöglich umso stärker, seit ES, die ordnende Superintelligenz dieser kosmischen Region, verschollen ist.

Als die Liga Freier Galaktiker durch drei Deserteure erfährt, dass in der Nachbarschaft der Milchstraße ein sogenannter Chaoporter gestrandet sei, entsendet sie unverzüglich ihr größtes Fernraumschiff, die RAS TSCHUBAI. Denn von FENERIK geht wahrscheinlich eine ungeheure Gefahr für die Galaxis aus.

Während Perry Rhodan als Allianz-Kommissar in Cassiopeia, einer Andromeda vorgelagerten Kleingalaxis, auf der Suche nach dem Chaoporter ist, wird FENERIK in der Milchstraße aktiv: Die Meute Jochzor entfesselt DAS CHAOS AUF ARIEL ...

Die Hauptpersonen des Romans

Fedor Grimm – Der TLD-Agent erkennt Muster in chaotischen Vorgängen.

Aurelia Bina – Die Posmi schlüpft in die Rolle des Lockvogels.

Jochzor – Der Meutenführer ist fest entschlossen, sein Zertifikat zu erfüllen.

Marlene Prester und Anselm Harriman – Die Sekretäre finden sich plötzlich im Brennpunkt des Geschehens wieder.

Aoshana und Sharluppash LXXXVII.

24 der 27 Uranusmonde sind nach Figuren des antik-terranischen Autors William Shakespeare benannt, beispielsweise Oberon, Titania und Puck.

Dies gilt jedoch nicht für Umbriel und Belinda – und auch nicht für Ariel, obwohl im Theaterstück »Der Sturm« ein Luftgeist gleichen Namens vorkommt.

Vielmehr geht die Benennung auf eine Sylphe in Alexander Popes Gedicht »Der Lockenraub« zurück, in dem die Traditionen klassischer Epen parodistisch verspottet werden.

Ein unbedeutendes Detail, das aber seit unzähligen Generationen immer wieder mal als Fangfrage bei Prüfungen an der Flottenakademie Verwendung findet ...

(Enzyklopädia Terranica)

Jeder scheidet aus dem Leben, als wäre er eben erst geboren.

(Epikur von Samos, ca. 300 AZ)

Prolog

Alles wird neu

Es ist ein seltsames Gefühl, wenn ein anderer für dich denkt.

Nicht unangenehm, findet Aoshana, seit sie sich damit abgefunden hat. Die Welt erscheint ihr verschleierter und doch klarer als zuvor. Weil sie weiß, was sie tun soll, öfter denn je.

Auch die Zeit vergeht nun schneller. Als dürfe Aoshana zwischendurch immer ein wenig dösen, ohne es zu bemerken.

Dass fremde Maschinchen in ihrem Kopf zugange sind, stört sie nicht. Das ist sie gewohnt.

Wenn die Medonellen ihre Arbeit tun, wird Aoshana manchmal schummerig. Sowieso fällt es ihr fast immer schwer, sich zu konzentrieren.

Ihre Gedanken zerfasern und zerfließen wie Nebel zwischen Bäumen. Wie Nebel, den nun ein frischer Wind verbläst.

Die anderen winzigen, neu hinzu gekommenen Maschinchen sind strenger, findet Aoshana; aber dafür einleuchtender, logisch schlüssiger, zielführender. Sie verengen den Blick und mildern die Unsicherheit. Sie geben Halt im Durcheinander.

Veränderung.

Vieles verändert sich.

Etwas ist passiert.

Was genau, weiß Aoshana nicht. Jedoch ist sie sehr sicher, dass sie nichts gegen die fremden Gedanken tun kann. Nichts, außer sie kurz abzuschütteln, bloß für ein, zwei Augenblicke. Wie Tropfen aus den Haaren, obwohl man unter der Dusche steht und unaufhörlich Wasser nachfließt.

Woher? Wozu?

Vielleicht sollte sie sich in der Bordklinik untersuchen lassen. Oder im Quartier die Apparatur zu Rate ziehen, die den Medonellen hilft, sie wartet und gegebenenfalls repariert.

Aber eigentlich glaubt Aoshana nicht, dass etwas kaputt ist. Es geht ihr schließlich wunderbar.

Möglicherweise liegt das an den Gästen, an Frernad und seinen Freunden. Seltsame Leute. Mal sehen sie wie ganz normale Mehandor aus, dann wieder ... haarlos. Kantig.

Sie haben keine Beine oder viel zu viele. Etwas passt da nicht. Und sie schweben. In Sänften.

Nein, das soll Aoshana nicht denken, spürt sie. Es würde sie nur belasten. Besser niemanden stören.

Sehr richtig. Ruhig bleiben, in der Unterkunft, ganz entspannt. Höchstens nach den Fässern im Hangar schauen. Später.

Was hat Sharluppash gesagt? Demnächst werden sie ins Solsystem einfliegen. Dort warten die Kunden sehnlichst auf die Lieferanten, auf die Fässer und den Cragganmore darin.

Das Solsystem kennt Aoshana ganz gut. Sie hat Terra, Luna und andere Himmelskörper besucht, manche sogar öfters.

Soll sie sich auf ein Wiedersehen freuen? Aoshana horcht unentschieden in sich hinein.

1.

Das Archiv der Merkwürdigkeiten

8. Juni 2071 NGZ

Anselm Harriman bemühte sich sehr, nicht mit seinem Schicksal zu hadern.

Positiv denken!, ermahnte er sich. Du hast deine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen. Beileibe nicht als Jahrgangsbester, sondern mit eher unterdurchschnittlichen Zeugnisnoten. Da ist es nur logisch, dass deine erste Außendienststelle ebenfalls eher unterdurchschnittliche Bedeutung hat, oder?

Sowieso wurden Neulinge wie er nicht gleich an den heißesten galaktischen Brennpunkten stationiert. Selbst die Jahrgangsbesten mussten sich in der Etappe bewähren, sozusagen die Mühen der Ebene meistern, bevor sie an der Front Gipfel stürmen durften. Oder so.

Das Agentenhandwerk lernte man »von der Pike auf«, war ihnen eingedrillt worden, wieder und wieder.

Als an altertümlichen Redewendungen Interessierter wusste Anselm, dass die Pike vor Urzeiten eine Lanze und die einfachste Waffe eines Rekruten gewesen war. Damit begann anno dazumal die militärische Laufbahn jedes jungen Soldaten.

Andererseits war es möglicherweise ein Fehler gewesen, sein Faible für historische Nebensächlichkeiten so offen zu bekunden ...

Immerhin hatte man Anselm nicht auf einen hoffnungslos abgelegenen Hinterwäldlerplaneten versetzt. Bis auf Weiteres sollte er im Solsystem bleiben.

Das war das Positive.

Allerdings lag der TLD-Stützpunkt, dem man Anselm zugeteilt hatte, weitab von Terra. Er war von bloß zwei Agenten bemannt, was im Grunde bereits alles über seine Wichtigkeit aussagte.

Hinzu kam, dass der Kollege, den Anselm ablöste, sich in die wohlverdiente Rente verziehen würde. Anders ausgedrückt: Es handelte sich um einen Posten, auf dem man gemütlich absacken und seine Karriere ausklingen lassen konnte.

»Frisches Blut tut überall gut«, hatte sein Diplombetreuer ihn aufzumuntern versucht. »Mach das Beste daraus. Zeig, was du draufhast, dann stehen dir bald ganz andere Transmitter offen.«

Ja, eh.

Aber musste es unbedingt einer der Monde des Uranus sein? Und ausgerechnet Ariels Hibernopolis, die Winterstadt?

*

Das Kurierschiff, eine eher unterdurchschnittlich schnittige Raumfähre der LINUS-Klasse, setzte zum Landeanflug an.

Die Bilder der Außenbordkameras zeigten die Oberfläche des etwa 1200 Kilometer durchmessenden Trabanten, der Anselm Harrimans neue Heimat werden sollte: überwiegend eine unwirtliche, trostlos kahle Eiswüste. Regionen mit mal mehr, mal weniger Einschlagskratern wechselten einander ab.

Einige Eisfelder, die das Licht der fast drei Milliarden Kilometer entfernten Sonne reflektierten, wirkten relativ frisch. Ariel besaß die stärkste Albedo aller Uranusmonde.

Wie das Ringsystem umkreisten sie den Riesenplaneten nahezu senkrecht zu dessen fast in der Ekliptik liegenden Rotationsachse. Deshalb hing die Tageslänge fast überall und zu jeder Zeit nicht mit der Rotationszeit zusammen, sondern entsprach dem Uranusjahr. Lediglich im Äquatorumfeld gab es – für eine kurze Zeit nahe den Sonnwenden – von der Rotation bestimmte Sonnenauf- und -untergänge.

Während die Fähre tiefer ging, kam das einzige Anzeichen einer Besiedlung ins Bild: eine gigantische, grob ovale Glassitkuppel, 190 Kilometer lang und bis zu 51 Kilometer breit. Darunter befand sich Ariel Alpha, die Winterstadt, in der etwa 250.000 Menschen lebten; ganz besondere Menschen.

Der Canyonkomplex, den die Kuppel überspannte, gehörte zu einem System aus mehreren Tälern von weit über 1100 Kilometern Gesamtlänge. Es wurde Kachina Chasmata genannt.

Wie Uranus umkreiste Ariel die Sonne relativ zur Rotation praktisch auf der Seite. Daher zeigten seine Nord- und Südhemisphäre zur Zeit der Sonnenwende entweder direkt zur Sonne oder von ihr weg.

Das führte zu extremen jahreszeitlichen Effekten: Ariels Pole wurden jeweils über volle 42 Standardjahre pausenlos von der Sonne beschienen, oder sie lagen ebenso lange in permanenter Dunkelheit. Dann fiel die Außentemperatur auf unter minus 200 Grad Celsius.

Kein Wunder, dass Ariel nicht unbedingt im Ruf eines Urlaubsparadieses stand.

*

Am eher unterdurchschnittlich dimensionierten, dennoch keineswegs überfüllten Raumhafen nahmen Anselm Harriman zwei Personen in Empfang.

Beide waren so alt, dass sie locker seine Urururgroßeltern hätten sein können. Sie hielten sich aber ohne jegliche Gehhilfen kerzengerade.

»Du bist also mein Nachfolger«, sagte der Mann, der einen schlohweißen, weit über den Rücken hinab hängenden Pferdeschwanz trug. »Was hast du denn angestellt, dass du hierher geschickt wurdest?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich mir nur die falschen Hobbys zugelegt.«

»Ha! Dann war's ja fast dasselbe wie bei uns, was, Marlene?«

Die Frau hatte die vierschrötige, fast quadratische Gestalt einer Epsalerin: kurze dicke Säulenbeine, Schaufelhände, muskelbepackte Oberarme, einen stark gewölbten Rumpf mit unübersehbaren Brüsten. Das breite Gesicht war wettergegerbt und so runzlig wie eine Walnuss.

Sie lachte dröhnend. »Ich glaube, der Junge meint etwas anderes. – Lass dich ein letztes Mal drücken, Ignacio, alter Schwerenöter! Und wehe, ich bekomme nicht einen fetten Sack Oliven von deiner ersten Ernte auf Kreta!«

»Höchstpersönlich handverlesen, ich schwör's.« Sie umarmten einander herzlich.

Der Alte schulterte sein Bündel und schlurfte davon. Er würde mit derselben Fähre abfliegen, mit der Anselm gekommen war.

*

»Ignacio war Erster Sekretär des Archivs von Ariel, seit es eingerichtet worden ist«, sagte die Epsalerin, während sie einen Gleiter nicht eben modernster Bauart bestiegen. »Unmittelbar nach Ende der Cairanischen Epoche. Warst du da überhaupt schon auf der Welt?«

»Doch, aber noch nicht in der Schule. Ich werde nächstes Jahr dreißig.«

Sie seufzte. »Beneidenswert. Jedenfalls trittst du in Ignacios Fußstapfen. Beziehungsweise in meine, denn du fängst als Zweiter Sekretär an. Ich hingegen rücke vor, klar? Siebzehn Jahre als Stellvertreterin reichen mir.«

Illustration: Dirk Schulz

»Klar.«

Als würden diese Titel einen Unterschied bedeuten! Egal, ob nominell Erster oder Zweiter, Anselm war auf die Dienstältere angewiesen, die ungleich mehr Erfahrung und Kenntnisse über diesen Einsatzort besaß.

Marlene Prester – so hieß sie mit vollem Namen – startete den Prallfeldgleiter. In mäßigem Tempo flogen sie über eine geschwungene Hügelkette hinweg, die sich als aufgewölbter Rand eines mächtigen Kraters entpuppte.

Gleich dahinter ließ Prester die Maschine wieder absinken. »Dann wollen wir mal das Garagentor aufschließen«, sagte sie gut gelaunt und drückte eine Taste der Funkkonsole.

Unter ihnen an der Kraterflanke schoben sich die stählernen Flügel eines Portals auseinander, das die Form einer längs halbierten, an der Basis gut 30 Meter breiten Ellipse hatte. Prester steuerte den Gleiter hinein.

Der Tunnel führte steil hinab. Nach etwa 200 Metern mündete er in eine Luftschleuse, weiträumig genug, um selbst größere Gefährte aufzunehmen.

»Deine Vorgesetzten im Hauptquartier haben dich sicherlich instruiert«, sagte die Epsalerin. »Du weißt also, was es mit den Wintermenschen auf sich hat.«

»Ungefähr«, bestätigte Anselm Harriman vage.

*

Nach dem Austausch der Erde und ihres Mondes hatten die Cairaner den Bewohnern von Ariel Alpha jegliche Raumfahrt ausnahmslos untersagt.

Der Raptus war im Jahr 1614 Neuer Galaktischer Zeitrechnung geschehen, vor sage und schreibe 457 Jahren. Danach war die Bevölkerung der Winterstadt komplett isoliert gewesen, ausweglos eingeschlossen unter der Kuppel, in einem zwar großzügig bemessenen und technisch auf der Höhe der Zeit ausgestatteten Areal, aber doch vollkommen abgeschnitten vom Rest des Solsystems und der Galaxis.

Eine Art viele Jahrhunderte währender Winterschlaf ...

Erst mit der Rückkehr von Terra und Luna im Jahr 2046 NGZ war die Hibernopolis wieder kontaktiert worden. Seither stellte der Stadtstaat der Ariel-Terraner ein begehrtes Studienobjekt für die Extremsoziologie dar.

»Irgendwann haben sie begonnen, sich als Wintermenschen zu verstehen«, gab Anselm wieder, was er gelernt hatte. »Sie sind zurückhaltend, teils in sich gekehrt, leben gewissermaßen geduckt, bescheiden, unauffällig.«

»Das mag im groben Durchschnitt stimmen«, sagte Marlene Prester, »ist aber ein sehr oberflächlicher Befund. Sei auf die eine oder andere Überraschung gefasst, junger Mann!«

»Inwiefern?«

»Wart's ab!«

Knirschend öffnete sich das gegenüberliegende Schleusenschott. Der Druck- und Atmosphärenausgleich war erfolgt.

»Willkommen in der Winterstadt«, sagte die Epsalerin.

*

Selbstverständlich hatte Anselm sich auch einen Übersichtsplan des durch die Glassitkuppel geschützten Bereichs der Kachina Chasmata eingeprägt.

Vom weit über 100 Kilometer langen, bis zu 500 Meter tiefen Hauptcanyon zweigten etliche kürzere, oft in alle Richtungen verwinkelte Schluchten ab. Dort befand sich, neben Kraftwerken und Energiespeichern, nur eine Handvoll Ansiedlungen, meist Gehöfte von Eremiten, denen selbst die Nähe weniger Schicksalsgenossen zu viel geworden war.

Die überwiegende Mehrheit der insgesamt eine Viertelmillion zählenden Ariel-Terraner verteilte sich auf ein halbes Dutzend größere Ballungszentren entlang der Hauptachse. Auf der Karte hatte das gewirkt wie ein um einen Faktor zehn oder 20 aufgeblasenes Straßendorf.

In natura sah das Ganze freilich anders aus. Der Gleiter schwebte über Ansammlungen von Gebäuden hinweg, die mal Repliken frühzeitlicher terranischer Siedlungsformen zu sein schienen, mal glichen sie Miniaturversionen arkonidischer Trichterkelche. Andere wiesen architektonische Eigenheiten auf, die Anselm keiner ihm bekannten Kultur zuzuordnen vermochte.

Zwischen ihnen erstreckten sich Magnetschwebebahntrassen, mehrspurige altertümliche Eisenbahngleise oder zweifellos künstlich angelegte Flussläufe, auf denen Schifffahrt betrieben wurde. Äcker und Obstbaumhaine wechselten sich mit ausgedehnten, kargen Freiflächen und erstaunlich dichten Urwäldern ab. Dann wieder reckten sich plötzlich Hochhaustürme empor, die auch nach Terrania City gepasst hätten.

Gleichermaßen changierte die Beleuchtung: Einmal sorgten Kunstsonnen knapp unter der Kuppeldecke für gleißend helles Tageslicht. In anderen Sektoren durchbrachen bloß vereinzelte, orangerot glimmende, antike Straßenlaternen die Dunkelheit. In wieder anderen herrschte diffuse Dämmerung, durchzogen von den bunten Schlieren bioluminiszenter Pflanzen oder Pilze.

»Eine beeindruckende Vielfalt, was?«, sagte Marlene Prester trocken. »Nehme an, das fand keine Aufnahme in die Dossiers des TLD. Obwohl Ignacio und ich uns weidlich darum bemüht haben.«

»Nein«, bestätigte Anselm. Er räusperte sich. »Solche Details werden meist ausgespart«, sagte er lahm, da er sich nicht bemüßigt fühlte, die Führung des Liga-Dienstes zu verteidigen. »Deren Beurteilung überlässt man gemeinhin den Agenten vor Ort.«

»›Gemeinhin‹?«

»Pardon, ich habe eine Neigung zu selten gebrauchten Vokabeln.«

»Alter Geist im jungen Körper, was?« Sie kicherte. »Mich ›deucht‹ immer mehr, du bist der richtige Ersatz für Ignacio.«

»Hm.« Anselm selbst war sich da gar nicht so sicher.

»Jedenfalls, die Wintermenschen gehen unterschiedlichsten Tätigkeiten und Hobbys nach. Eliu Eskasoni, die amtierende Oberbürgermeisterin, achtet diese Tradition. Sie lässt den diversen Obsessionen möglichst freien Lauf.«

»Ah ja. Wie wirkt sich das in der Praxis aus?«

»Einige Teile der Winterstadt«, die Veteranin schwenkte einen Arm, worauf der Gleiter zur Seite driftete und der Schluchtwand bedenklich nahe kam, ehe sie ihn gerade noch rechtzeitig wieder abfing, »sind so etwas wie ein Freilichtmuseum. Simulationen, historisch ungenau. Ebenso zweifelhaft wie die Gegenden, in denen das Ambiente populärer oder auch nur bei esoterischen Nerds beliebter Trivid-Serien oder -Spiele nachgestellt wird.«

»Das klingt nach einem breit gestreuten Freizeitangebot«, sagte Anselm, dem seine Verbannung nach Ariel auf einmal nicht mehr ganz so trist erschien.

»Ist es auch. Solltest du Lust verspüren, dich mit Langschwert und Rüstung gegen Bogenschützen und Hellebardenträger zu wehren, nur zu! Du findest hier reichlich Gelegenheit für solche Späße. Außerhalb der Dienstzeit, versteht sich.«

»Versteht sich.«

»Apropos Lust: In einem der Seitentäler haust eine verschworene Gemeinschaft, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, sämtliche Spielarten der menschlichen Erotik und Pornografie zu katalogisieren sowie nachzuvollziehen. Ignacio hat Wunderdinge darüber erzählt. Also, falls dich der Stachel jucken sollte, gebe ich dir gerne die Adresse.«

»Äh ... danke für den Tipp.«

»Den allermeisten Wintermenschen gemeinsam ist«, setzte Prester fort, »dass sie es sich zum Ziel gesetzt haben, auch solche pseudohistorischen Detailinformationen zu bewahren, die sich als definitiv unrichtig herausgestellt haben.«

»Darüber wurde ich unterrichtet.«

In der restlichen Liga war man bemüht gewesen, die Verfälschungen durch Posizid und Datensintflut zu korrigieren. Aus den vorliegenden Millionen Versionen sämtlicher Dokumente, Romane, Filme, Theaterstücke und so weiter hatte man das jeweilige Original rekonstruiert.

Das war vor allem mithilfe der Archive der RAS TSCHUBAI sowie der zurückgekehrten Erde und des lunaren Gigantrechners NATHAN bewerkstelligt worden. Die Wintermenschen jedoch konservierten außerdem die verschiedensten falschen Fassungen!

»Frag nicht, was sie sich davon versprechen«, sagte Marlene Prester. »Jedenfalls findest du Versionen der Odyssee, in denen ein Odysseus niemals zu Hause auf Ithaka ankommt, weil er von Zyklopen gefressen worden ist; während ein anderer sich entschieden hat, bei der Zauberin Kirke zu bleiben. In vielen Dramen überlebt Hamlet. Gretchen heiratet Faust, und sie bekommen einen Haufen Kinder, die vor alpiner Kulisse das Edelweiß bejodeln. In den Museen und privaten Galerien hängen Gemälde, auf denen Jan Vermeers Dienstmagd keine Milch in die Schüssel gießt, sondern Wein in einen Krug, oder Vurguzz ins Colaglas.«

»Klingt witzig«, sagte Anselm mäßig euphorisch. Er war in Gedanken noch bei den Live-Rollenspielern und auch ein wenig bei den Erotiksammlern.

»Falls du Musikliebhaber bist, solltest du mal ins Beatles-Album Visiting Wega hineinhorchen oder ins Concert for the Robot-Ruler von Edith Presley. Oder du könntest dir die Cosmolodics-Paraphrase der Posbi-Oper Hundert Sonnen Lichtfunktionen zu Gemüte führen.«

»Moment. Gab's die nicht wirklich?«

»Test bestanden.« Die Epsalerin grinste. »Allerdings nicht in der Version, bei der vierzig schwere Shift-Kampfpanzer mit den Geräuschen ihrer Kettenantriebe die Bassfunktion übernehmen.«

»Verstehe. Hat man deshalb euer ... unser Archiv nahe der Winterstadt angesiedelt?«

»Mag sein.«

Sie steuerte eine weitere, kleinere Schleuse an. »Wir hätten auch oben drüber fliegen können. Dann wären wir schneller gewesen. Aber wir haben keine Eile, und ich wollte dir einen ersten Gesamteindruck geben.«

*

Außerhalb der Kuppel lagen, weit verstreut, noch etwa zwei Dutzend wesentlich kleinere Habitate. Manche hatten eigene Glassit-Abdeckungen, andere verließen sich auf dauerhaft installierte Prallschirme.

Das Archiv verfügte über beides, sogar einen umgebenden Park mit nach altfranzösischer Art geometrisch angeordneten Kieswegen und penibel gestutzten Zierbaum-Alleen. Eigentlich waren es drei identische Gebäude. Sie hatten die Form halb geöffneter Muscheln.

Wo die Rückseiten zusammenstießen, erhob sich ein schlanker, spitzkegliger Turm, etwa 50 Meter hoch. Ganz oben drehte sich gemächlich eine ausladende Schüssel, die an eine altertümliche Parabolantenne erinnerte. Da in Zeiten des Hyperfunks solche Anlagen längst nicht mehr benötigt, wurden, rief Anselm Harriman: »Aussichtsplattform?«

»Richtig. Mitsamt anderer Freizeiteinrichtungen, einem tadellosen Restaurant und sogar einem Schwimmbassin Marke ›Infinity Pool‹, in dem es sich herrlich planschen und den Ausblick genießen lässt.«

»All das wurde für eine Besatzung aus nur zwei TLD-Agenten eingerichtet?«

»Ignacio hatte Beziehungen. Und Argumente. Ursprünglich wusste man nicht, ob nicht doch mehr Mitarbeiter vonnöten wären. Außerdem wollte man für die Alteingesessenen Anreize zur Kooperation schaffen.«

»Hat das funktioniert?«

»Ja und nein. Sie bleiben weiterhin lieber unter sich. Die ›Himmelsschüssel‹ wird kaum frequentiert, obwohl uns eine sublunare Rohrbahn mit der vierzig Kilometer entfernten Hibernopolis verbindet. Aber den guten Willen würdigten die Wintermenschen. Sie haben unsere Präsenz vor Ort akzeptiert, und wir tauschen gelegentlich Daten aus.«

Prester brachte den Gleiter heil und kaum ruckelnd zu Boden und parkte ihn vor einer der Muscheln. Aus der Nähe erkannte Anselm, dass sich über die Öffnung eine gewölbte Glasfläche spannte, durchzogen von grünen Ranken. Sie trugen violette Weintrauben, prallrote tomatenähnliche und andere Früchte.

»Wenn du mich fragst«, sagte die Epsalerin, nachdem sie ausgestiegen waren und auf das Gebäude zugingen. »Hier lässt sich's leben. Glaub mir, Jungchen, du hättest es schlimmer treffen können.«

Anselm Harriman enthielt sich einer Antwort.

*

Das ihm zugedachte Quartier, in das seine Vorgesetzte ihn führte, ließ tatsächlich kaum Wünsche offen.

Es handelte sich um eine Suite aus luxuriös ausgestatteten Räumen. Anselm vermutete, dass sie nicht von seinem Vorgänger bewohnt worden war, sondern seit der Errichtung des Stützpunkts leer gestanden hatte.

Trotzdem fand sich keine Spur von Staub oder sonstigem Verfall. Alles war picobello eingerichtet, nahezu im selben Zustand wie damals, als man von einer deutlich höheren Belegung ausgegangen war. Daraus schloss Anselm, dass auf die Putzroboter Verlass war.

Als hätte sie seine Gedanken mitverfolgt, sagte die alte Epsalerin: »Auf überwiegend robotischen Betrieb umzustellen, war ebenfalls Ignacios Idee.«

»Er hat sich das Ganze bauen lassen und dann der TLD-Führung freimütig eingestanden, dass der Aufwand zum größten Teil übertrieben war?«

»Du hättest Ignacio kennenlernen sollen, als er noch in der Blüte seiner Kräfte stand. Damals setzte er so gut wie alles durch, was ihm in den Sinn kam. Unter uns, ich glaube, die Verantwortlichen des Liga-Dienstes auf Terra hätten ihm noch einen ganz anderen Palast aus dem Boden gestampft, nur um ihn loszuwerden.«

Roboter schleppten Anselms Gepäck herein. Es bestand aus mehreren Koffern und wasser- sowie luftdichten Containern.

Zwar war ihm zugesichert worden, dass er sich mit Kleidung und anderen Gegenständen des täglichen Gebrauchs leicht vor Ort eindecken könne. Aber er hatte dennoch lieber seine eigenen Habseligkeiten mitgenommen, nicht zuletzt den bevorzugten Lesestoff. Darunter befanden sich echte Bücher, teilweise uralte Folianten, die er auf keinen Fall missen wollte.

»Was war denn so Besonderes an Ignacio?«, fragte er.

»Das sollst du nicht wissen und willst du nicht wissen. Sagen wir, er hat viel für die gemeinsame Sache geleistet, sehr viel sogar, was niemand sonst hätte beisteuern können, das ist unbestritten. Ignacio hat sich aber auch die eine oder andere ... Unregelmäßigkeit erlaubt. In Summe ging er seinen Vorgesetzten furchtbar auf die Nerven. Mir übrigens auch, später, als wir miteinander auskommen mussten, weil ich ebenfalls sozusagen, ähem, strafversetzt worden war.«

Anselm hütete sich nachzufragen. Ihn überwältigte die Fülle der neuen Eindrücke schon mehr als genug. Da wollte er sich nicht auch noch eine möglicherweise tragische Vorgeschichte anhören.