Perry Rhodan Neo 45: Mutanten in Not - Leo Lukas - E-Book + Hörbuch

Perry Rhodan Neo 45: Mutanten in Not E-Book und Hörbuch

Leo Lukas

4,0

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Beschreibung

Mai 2037: Seit Perry Rhodans Begegnung mit den Arkoniden verläuft die Entwicklung auf der Erde so rasant, dass sich manche Menschen überfordert fühlen, wenngleich die meisten euphorisiert sind. Das Tor zu den Sternen steht offen, und es gibt immer mehr Kontakte zu Außerirdischen. Zu diesen zählen die menschenähnlichen Ferronen aus dem Wega-System oder die riesenhaften Naats, die auf viele Menschen bedrohlich wirken. Damit die Naats ein positiveres Image bekommen, wird - auf den ersten Blick - ein bizarrer Plan entwickelt: ein Rugby-Spiel zwischen den Naats und einer Weltauswahl. Weniger sportlich sind die Taten des Mutanten André Noir. Seine Morde ziehen eine Blutspur durch Europa. Zwei junge Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten heften sich an seine Fersen: Sie wollen verhindern, dass seine düstere Vision von der Zukunft der Erde Wirklichkeit wird ...

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Zeit:6 Std. 7 min

Sprecher:Hanno Dinger
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Band 45

Mutanten in Not

von Leo Lukas

Mai 2037: Seit Perry Rhodans Begegnung mit den Arkoniden verläuft die Entwicklung auf der Erde so rasant, dass sich manche Menschen überfordert fühlen, wenngleich die meisten euphorisiert sind. Das Tor zu den Sternen steht offen, und es gibt immer mehr Kontakte zu Außerirdischen.

Zu diesen zählen die menschenähnlichen Ferronen aus dem Wega-System oder die riesenhaften Naats, die auf viele Menschen bedrohlich wirken. Damit die Naats ein positiveres Image bekommen, wird – auf den ersten Blick – ein bizarrer Plan entwickelt: ein Rugby-Spiel zwischen den Naats und einer Weltauswahl.

»Wer Erfahrung hat mit heißer Suppe,

bläst auch auf Fischsalat.«

Japanisches Sprichwort

»Erfahrungen bezahlt man selbst teuer,

obwohl man sie beim Nachbarn billiger haben könnte.«

Armenisches Sprichwort

»Der Weise kratzt sich auch dann,

wenn ihn fremde Erfahrungen jucken.«

Sprichwort aus Java

»Erfahrung ist ein Kamm, den dir das Leben schenkt, wenn du bereits glatzköpfig bist.«

Argentinisches Sprichwort

Prolog

Unter den Ästen des Reiherbaums

Ende April des Jahres 2037 saß ein unauffällig gekleideter Mann mit kurzen schwarzen Haaren im Gastgarten eines Bistros am Place de l'Arbre aux Hérons von Nantes und rührte versonnen in seinem Milchkaffee. Der Mann war mittelgroß und sehnig, fast ausgemergelt; das schlanke, kantige Gesicht hätte zu einem Langstreckenläufer gepasst oder zu einer anderen Art von Asketen. Sein Blick ging ins Leere beziehungsweise nach innen; das Spektakel auf dem weitläufigen Platz, der im milden Licht der Nachmittagssonne lag, schien ihn nicht zu interessieren.

Dabei hätte es viel zu sehen gegeben. Ein gewaltiges Gebilde, zugleich Bau- wie Kunstwerk, dominierte das gesamte Areal: ein Baum aus Stahl, 35 Meter hoch und 50 Meter durchmessend, mit 22 Ästen, zwischen denen sich blühende, hängende Gärten spannten. Hunderte Menschen tummelten sich in der Baumkrone und bestaunten eine Vielzahl überlebensgroßer, mechanischer Tiere. Manche davon kreisten als Gondeln unter den beiden riesigen, hölzernen, auf den höchsten Spitzen thronenden Reihern, deren Schwingen sich majestätisch langsam hoben und senkten.

Auch am Fuße des Baums herrschte reges mechanisches Leben. Eine dreizehn Meter lange Spinne aus Metall und Pappelholz umkreiste den Stamm. Auf den Rücken nicht viel kleinerer Ameisen und Skorpione ritten jauchzende und winkende Kinder, jeweils ein halbes Dutzend. Das fröhliche Chaos wurde noch verstärkt durch zahlreiche Straßenmusiker und Akrobaten, darunter ein Mann mit Halbglatze, der trotz seines sichtlich fortgeschrittenen Alters auf einem fast vier Meter hohen Einrad fuhr und mit brennenden Fackeln sowie einer laufenden Kettensäge jonglierte.

So bunt gestaltete sich das Treiben, dass die aus einer Seitengasse gekommene Gruppe, die soeben im Halbkreis um eine Fremdenführerin Aufstellung nahm, nicht sonderlich hervorstach – obwohl die rund fünfzehn Personen allesamt blauhäutig waren und Raumfahreroveralls trugen. Mancher Beobachter mochte sie für weitere, dunkelblau geschminkte Schauspieler halten; aber die meisten wussten wohl, dass es sich um Ferronen handelte, bis auf die Hautfarbe und einige kleinere physiologische Unterschiede frappierend menschenähnliche Außerirdische, die aus dem 27 Lichtjahre entfernten System der Sonne Wega stammten.

Außerirdische! Noch vor einem knappen Jahr hatten die meisten Erdenmenschen die Existenz von intelligentem Leben anderswo im Kosmos für extrem unwahrscheinlich gehalten. An die Möglichkeit einer tatsächlichen Begegnung mit Fremden von einer anderen Welt hatte sowieso kaum jemand geglaubt. Wie sollten die interstellaren Distanzen bewältigt werden? Galt denn die Schranke der Lichtgeschwindigkeit nicht als unüberwindbar?

Nicht mehr.

Und das war beileibe nicht das einzige Dogma, das sich als falsch entpuppt hatte. Die Welt hatte sich radikal verändert, beinahe über Nacht, in einem Ausmaß wie vielleicht noch niemals zuvor. Seit Perry Rhodan von seiner Mondmission zurückgekehrt war, zusammen mit dem Arkoniden Crest da Zoltral, konnten nur noch die allerverbohrtesten Anhänger der allerkrudesten Verschwörungstheorien leugnen, dass es Außerirdische gab und dass diese leibhaftig unter den Menschen wandelten.

Die Fremdenführerin, eine zierliche, doch energisch wirkende Frau mit weinrot gefärbten, zu einem Pagenkopf geschnittenen Haaren, erläuterte den Ferronen, dass der Reiherbaum nach jahrzehntelangen Vorarbeiten 2029 fertiggestellt worden war, als vorerst letztes und größtes Projekt der in Nantes ansässigen Kunstwerkstatt »Les Machines de l'île«. Die mechanische, 37 Tonnen schwere Riesenspinne, genannt »La Princesse«, war eine frühere Schöpfung des Zusammenschlusses von Künstlern, Ingenieuren und Handwerkern, ebenso wie eine Fülle kleinerer kybernetischer Tiere und das »Karussell der Meereswelten«, ein vierstöckiges 360-Grad-Theater aus begehbaren Skulpturen am Ufer der Loire, direkt gegenüber dem Jules- Verne-Museum.

»Die Imaginären Kreaturen und Welten von Les Machines«, sagte die Fremdenführerin, »greifen Ideen Leonardo da Vincis, eines historischen Universalgelehrten, sowie des phantastischen Schriftstellers Jules Verne auf. Dieser große Sohn unserer Stadt beschrieb übrigens schon vor eineinhalb Jahrhunderten Raumflüge und viele andere ›Außergewöhnliche Reisen‹, als kaum ein Zeitgenosse davon zu träumen wagte.«

»Dann muss er sich immenser Verehrung als Prophet erfreut haben«, sagte einer der Ferronen in akzentfreiem Französisch.

»Nun ja ... Verne wurde zwar ein reicher Mann, aber die künstlerische Anerkennung blieb ihm zeitlebens verwehrt. Er bewarb sich vergebens um Aufnahme in die Académie française; man akzeptierte seine Romane nicht als seriöse Literatur. Vielleicht neidete ihm mancher Kollege ja auch den weltweiten Publikumserfolg. – Wenn Sie mir bitte weiterfolgen ...«

Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung, stockend und mit jener Trägheit, wie sie jeder Herde von mehr als drei Touristen im gesamten bekannten Universum zu eigen war. Nach wie vor erregten die Blauhäutigen nicht mehr Aufsehen, als es anderen einheitlich Gekleideten widerfahren wäre, etwa einer Trachtengruppe oder einem Rudel Fußballfans. Wenige Blicke blieben an ihnen hängen, kaum jemand tuschelte mit dem Nachbarn, keiner zeigte mit dem Finger auf sie. Unter den stählernen Ästen des Reiherbaums herrschten Toleranz, friedvolle Koexistenz, Freude an der Vielfalt.

In Nantes, der Stadt, die sich binnen weniger Jahrhunderte von einer Drehscheibe des Sklavenhandels zum Mekka der Träumer und Utopisten gewandelt hatte, wurden alle Gäste ungeachtet ihrer Herkunft willkommen geheißen, Menschen wie Außerirdische. An diesem Ort, so schien es, war Perry Rhodans Vision einer geeinten Menschheit, die sich den Herausforderungen des Kosmos öffnete, Wirklichkeit geworden.

So schien es.

Der Mann am Bistrotisch horchte auf. Sein Blick klärte sich. Er neigte leicht den Kopf und lauschte.

Nun bemerkten auch andere den Misston, der sich in den Lärm aus Musik, Stimmengewirr, Begleitgeräuschen der mechanischen Attraktionen, Marktgeschrei und Kinderlachen mischte. Martialisches Stampfen näherte sich, hervorgerufen von Hunderten beschlagenen, im Gleichschritt marschierenden Stiefeln.

Um die Ecke eines Palais bog ein Demonstrationszug auf den Platz ein: fast ausschließlich Männer, viele in Tarnanzügen, mit Glatzen oder millimeterkurz geschorenen Haaren. Fahnen mit dem rotblauen Flammensymbol der Nationalen Front wurden geschwenkt. Auf Transparenten stand: »Keine Macht den Aliens!«, »Heimat muss Heimat bleiben!«, »Fort mit Orks, Schlümpfen und anderem fremden Gezücht!«, »Die Erde den Menschen!« und dergleichen mehr. Außerdem wurden Schilder mit Karikaturen getragen, die Naats zu bluttriefenden Mittelerde-Monstern entstellten und Ferronen als bekannte, franko-belgische Comicfiguren mit charakteristischen, an phrygische Mützen erinnernden Kopfdeckungen verhöhnten.

Es mochten etwas weniger als zweihundert Demonstranten sein. Sie verschafften sich rücksichtslos Raum. Etliche hatten Baseballschläger geschultert. Auf ein gebelltes Kommando hielten sie an. Ein letztes Mal stampften sie donnernd auf, die Fäuste hochgereckt. Wie es der Zufall wollte, stand ihnen die Gruppe der Ferronen direkt gegenüber; wenige Meter trennten sie von der ersten Reihe der grimmig, ja hasserfüllt Dreinschauenden.

Schlagartig senkte sich der Geräuschpegel. Die Musik verstummte. Nur noch das Knirschen mechanischer Gelenke, das Pfeifen von Hydrauliken und einzelne, verängstigte Kinderstimmen waren zu hören.

Der Rädelsführer plärrte in ein Megafon. Seine Parolen wurden von der grölenden Meute wiederholt: »Wehret der Knechtschaft durch Außerirdische! – Tod und Verderben den Verrätern der Menschheit! – Jagt die Fremdlinge zurück hinter den Mond! – Hier regiert ...«

Ein erschrockenes Aufseufzen ging über den Place de l'Arbre aux Hérons, als der Jongleur auf seinem Hochrad mitten in die Gasse zwischen den Ferronen und der Phalanx der Demonstranten fuhr, in einer Hand die brennenden Fackeln, in der anderen die laufende Motorsäge. »Mein Name ist Mister Marcus«, rief er herunter, verstärkt durch ein Wangenmikro und einen Minilautsprecher am Gürtel. »Ich werde nicht dulden, dass die wunderbare Stimmung an diesem wunderbaren Ort zerstört wird. Sie haben Ihre Position bereits zum Ausdruck gebracht. Sagen Sie, was Sie glauben, das darüber hinaus noch unbedingt gesagt werden muss, aber auf zivilisierte, respektvolle Weise; und danach gehen Sie wieder Ihrer Wege.«

»Und was, wenn nicht?«, brüllte ein besonders stiernackiger Glatzkopf zurück. »Du bist schneller von deinem Rad geholt, als du piep sagen kannst. Bring mich besser nicht auf Ideen, was ich mit dir und deiner Säge anstellen könnte. Ich habe heute ohnehin noch keinen Clown gefrühstückt.« Seine Kumpane johlten bekräftigend.

La Princesse, die mechanische Spinne, bewegte sich langsam, doch zielstrebig auf den Demonstrationszug zu. Drohend schwangen die Rechtsradikalen ihre Knüppel. Die Ferronen wiederum fächerten auseinander und nahmen eine Körperhaltung an, die darauf hindeutete, dass sie in waffenlosem Kampf versiert waren.

Im Hauseingang des Eckpalais zischte ein Polizist hektisch in sein Armbandfunkgerät. Man musste nicht verstehen, was er sagte, um zu wissen, dass er dringend Verstärkung anforderte. Wie es aussah, würde sie zu spät kommen – eine gewaltsame Konfrontation stand unmittelbar bevor.

Der unauffällige Mann am Tisch vor dem Bistro trank seinen Milchkaffee aus, tupfte sich mit der Serviette den Mund ab, stand auf und schlenderte gemächlich zum Brennpunkt des Geschehens.

Mister Marcus auf seinem Einrad – dem höchsten Europas, wie er in seinen Presseinfos gern betonte – kam allmählich zum Bewusstsein, dass er sich, impulsiv wie er nun einmal war, zu weit vorgewagt haben könnte. Der stiernackige Schlagetot hatte leider vollkommen recht. Was wollte ein Gaukler gegen diese Übermacht ausrichten?

Mit ein paar brennenden Fackeln und einer Minikettensäge imponierte man gutwilligem Publikum, aber nicht einer derartig feindseligen Horde. Da auch die Ferronen auf der anderen Seite, obwohl weit in der Minderzahl, einen durchaus wehrhaften Eindruck erweckten und ihnen die Artisten von Les Machines zu Hilfe eilten, lief Marcus Gefahr, gleich zwischen den Fronten zerrieben zu werden. Er sollte, sagte er sich, schleunigst einen einigermaßen ehrenvollen Abgang hinlegen ...

Aus der umgebenden Menge der passiven Beobachter löste sich ein auf den ersten Blick unscheinbarer, mittelgroßer Mann und ging schnurstracks auf den Anführer der Fremdenfeinde zu. Der dünne Mann erschien alles andere als souverän. Die zu weit geschnittene Kleidung verlieh ihm das Aussehen einer lächerlichen Figur. Seine Hose schlotterte um die Beine.

»Was willst jetzt du?«, fuhr ihn der feiste Oberdemonstrant an, das Megafon vor dem schwabbeligen Doppelkinn, sodass sich ein quäkendes Echo ergab.

»Wart's ab!«, sagte der Schwarzhaarige leise, doch gut verständlich.

Im selben Moment fiel ein Schatten über die beiden, als hätte sich plötzlich eine Wolke vor die schon recht tief stehende Sonne geschoben. Marcus blinzelte, weil ihm die Sicht verschwamm. Seltsam. Normalerweise tränten seine Augen dank des Bühnenadrenalins nie während eines Auftritts. Das konnte er sich in seiner Profession nicht leisten.

Die Dunkelheit ging so jäh vorüber, wie sie gekommen war. Der dürre Mann wandte sich ab, als sei alles erledigt. Sein fetter Widerpart drehte sich zu seinem Gefolge um und schrie ins Megafon: »Abrücken, Männer! Wir haben uns schon genug zu Narren gemacht. In der Bude gibt's Starkmost auf meine Kosten bis zum Abwinken, und dabei werden wir uns einmal darüber unterhalten, wer unsere wirklichen Feinde sind. – Rechts um! Uuund links, zwo, drei, vier, links, zwo, drei, vier ...«

Befehl war Befehl. Die Schar gehorchte, wie sie es eingedrillt bekommen hatte. Wenngleich nicht wenige Streitbolde reichlich verdattert dreinschauten, marschierten sie zackig von dannen.

Nach einer halben Minute war der Spuk vorüber. Kollektives Aufatmen folgte. Zögerlich kehrte das unbeschwerte Leben auf den Platz des Reiherbaums zurück.

Gern hätte Mister Marcus ein paar Worte mit dem Mann gewechselt, der die Krise auf so unerklärliche, spektakulär unspektakuläre Weise bewältigt hatte. Aber wohin der Jongleur auch schaute, die asketische Gestalt war verschwunden, wie vom Erdboden verschluckt.

Der mysteriöse Mann, ein gebürtiger Franzose, hieß André Noir. Seine Eltern hatten ihn nicht nach katholischem Ritus getauft; das wäre ihrer Überzeugung zuwidergelaufen. Sie waren hoffnungslose Idealisten gewesen, und dieses Erbe schlug wohl immer noch gelegentlich durch. Sonst hätte er sich nicht dazu hinreißen lassen, seine Kräfte anlässlich einer derart unbedeutenden Episode zu verschwenden.

Andererseits bereitete es ihm einen gewissen Spaß, sich vorzustellen, was demnächst in der Bude der chauvinistischen Idioten vorgehen würde. Ihnen musste ihr Wortführer wie ausgewechselt erscheinen – und damit hatten sie ausnahmsweise einmal völlig recht.

1.

Die Herausforderung

Der 29. April 2037 war der erste richtig warme Frühlingstag seit Bestehen der Stadt Terrania. Nach dem langen, harten Winter in der Gobi kletterte die Thermometersäule endlich über zwanzig Grad Celsius. Die Terraner, wie sich viele Bewohner der buchstäblich aus dem Wüstenboden gestampften, neuen Weltmetropole mittlerweile nannten, genossen den strahlenden Sonnenschein, wenn möglich im Freien; und wie so oft in Übergangszeiten war jeder Zweite erkältet.

Auch Caroline Frank schnupfte vor sich hin. Sie machte sich nicht viel daraus. Um diese Jahreszeit war es ihr, als sie noch in Deutschland gelebt und bei der Bundespolizei gearbeitet hatte, meist ähnlich ergangen. Sie kam nicht einmal auf die Idee, einen der Ärzte des Lakeside Institute oder des Terrania Central Hospitals zu konsultieren; die hatten mehr als genug mit wirklich schweren Fällen zu tun. Nasentropfen und Vitamin C konnte sie sich auch selber verschreiben. Außerdem hegte sie insgeheim die Befürchtung, man könnte ihr, obwohl sie ziemlich sicher war, kein Fieber zu haben, sicherheitshalber Bettruhe verordnen. Gerade an einem herrlichen Tag wie diesem wollte sie keinesfalls auf eine ausgedehnte Joggingrunde verzichten.

Caroline nieste und wischte sich die Nase ab, ohne ihren lockeren Trab zu verlangsamen.

»Gesundheit«, sagte eine Stimme zu ihrer Linken.

Sie blickte zur Seite und konzentrierte sich. Neben ihr lief ein schmächtiger Jugendlicher, fast noch ein Kind. Lekoche Kuntata selbst verstand sich freilich als erwachsenen Mann. Schließlich war er vor vier Monaten durch den Ritus der Beschneidung zum Krieger geworden, zum Morran, wie der Begriff in der Sprache der Massai lautete.

Kurz danach war er verschwunden; genauer gesagt, unsichtbar geworden.

In Wahrheit hatte sich seine Paragabe manifestiert: Lekoche wurde, ob er es wollte oder nicht, übersehen. Offenbar strahlte er etwas aus, was jedermann in seiner Umgebung quasi seine Anwesenheit vergessen ließ.

Möglicherweise war das seltsame Talent zum Ausbruch gekommen, weil er für die Enkipaata-Zeremonie, die der Emuratare genannten Beschneidung voranging, zum Olopolosi olkiteng auserkoren worden war, zum nominellen Häuptling der Jungen, der allerdings sämtliche Sünden seiner Altersgruppe auf die Schultern nehmen musste. Hatte Lekoches Unterbewusstsein einen Weg gesucht, sich dem Joch der Verantwortung zu entziehen, und auf diese radikale Art gefunden? Möglich. Die Begabung, aufs Erste mehr Fluch als Segen, wirkte jedenfalls nur, wenn er bei Bewusstsein war, und technische Geräte wie Kameras oder Bewegungsmelder wurden davon nicht beeinflusst.

Zeitgleich war der Junge schwer erkrankt. Zu seinem Glück hatten ihn Ärzte entdeckt, die gegen die bei den traditionell lebenden Massai-Stämmen in Kenia weitverbreiteten HIV-Infektionen ankämpften. Und zwar nach von Dr. Frank Haggard entwickelten Methoden – weshalb die Ärztegemeinschaft mit Terrania Central in Verbindung stand. Dorthin war der komatöse Lekoche überstellt worden und nach erfolgreicher medizinischer Behandlung im Lakeside Institute gelandet, wo ihn Caroline Frank kennengelernt hatte.

Ihre Affinität lag auf der Hand.

Caroline besaß ebenfalls ein Psi-Talent; man nannte sie die Findermutantin. Sie vermochte die Verbindung zwischen einem verlorenen Gegenstand oder verschwundenen Personen und den jeweiligen Suchenden zu erspüren. Auf diese Weise hatte sie, noch als Polizistin, nach abgängigen Kindern und Jugendlichen gefahndet und später, nachdem sie sich Perry Rhodan angeschlossen hatte, unter anderem zur Lokalisierung der arkonidischen Unterwasserkuppel vor den Azoren beigetragen sowie Sid González auf die Fährte des entführten Fantan in den Anden gebracht.

Gegen Lekoche Kuntatas Pseudounsichtbarkeit war selbst Caroline nicht immun. Aber dank ihrer Findergabe fiel es ihr relativ leicht, die parapsychische Täuschung abzuschütteln. Was Wunder, dass die beiden sich im Lakeside angefreundet hatten.

»Du musst nicht jedes Mal ›Gesundheit‹ sagen, wenn ich niese, junger Krieger.«

»Ich wollte nur höflich sein.«

»Das weiß ich. Trotzdem ... Oh, schau mal, da vorn ist Haggard!«

»Wo?«

»Äh ... Zu spät. Er wurde soeben in Grund und Boden geackert. Siehst du den Haufen aus dreckverschmierten Leibern?«

»Ja?«

»Darunter.«

Dr. Frank Haggard, seines Zeichens Träger des Nobelpreises für Medizin des Jahres 2032, war erstens Arzt, zweitens Australier und drittens glühender Rugby-Fan. Für einige Jahre hatte er diesen Sport sogar professionell betrieben. Kaum aus seiner Klinik in Äthiopien nach Terrania umgezogen, hatte er eine Rugby-Mannschaft auf die Beine gestellt. Seither bemühte er sich, wann immer es seine spärliche Freizeit erlaubte, um die Etablierung einer Terranischen Amateur-Liga.

Der Spielplatz lag an der Peripherie der Stadt, in jener Zone, wo die zahlreichen, rund um die Uhr betriebenen Baustellen abrupt in unberührte, karge Staubwüste übergingen. Das hundertvierzig Meter lange und halb so breite Feld war ein leuchtend grüner Fleck inmitten der graubraunen Einöde. Allerdings hatte der Rasen schon ziemlich gelitten, was auch für nicht wenige der Spieler galt.

Erstaunlich flott löste sich der Pulk aus ineinander verhakten, muskelbepackten Männerkörpern auf. Der eiförmige Ball wurde aufgenommen und schräg nach hinten gepasst. Kaum hatte Haggard sich hochgerappelt, stürzte er sich schon wieder ins Getümmel. Er lief zurück, forderte und bekam den Ball, rannte damit einige Schritte auf die Gegner zu, ließ mit einer Körpertäuschung ein, zwei Verteidiger ins Leere stolpern, aber gleich darauf wurde er unsanft zu Fall gebracht. Allerdings hatte er diesmal im letzten Moment, bevor er umgerissen wurde, den Ball weitergereicht und zugleich eine Lücke für seine Mitspieler geschaffen, die sofort die entstandene Überzahlsituation ausnutzten. Eine rasche Folge kurzer Pässe seitwärts, mehrere beeindruckende Sprints, dann landete das Ei wieder bei Haggard, der es mit einem Hechtsprung hinter der Torlinie ablegte.

Der Schiedsrichter pfiff. Haggards Mannschaft jubelte und wenig später gleich nochmals, als auch der Erhöhungskick verwandelt worden war, von keinem Geringeren als Haggard persönlich.

»Faszinierend«, kommentierte Lekoche Kuntata. »Und da bezeichnet man uns Massai als Exoten mit archaischen Gebräuchen ...«

Caroline lachte. Inzwischen waren sie bis zum Spielfeldrand vorgedrungen. Angesichts des schönen Wetters hatten sich einige Hundert Zuschauer auf der gegenüberliegenden, schlichten Tribüne versammelt. Auch Ferronen waren darunter; nicht zufällig, denn einige ihrer Artgenossen hatten mitgespielt.

Drei, vier Minuten verstrichen ohne weiteren Punktgewinn eines Teams, dann erfolgte der Abpfiff. Frank Haggard ließ sich gebührend feiern. Schließlich humpelte er vom Feld, entdeckte Caroline und kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. »Hallo! Welche Ehre!«, rief er. »Bist du schon länger hier? Hast du unsere Schlussoffensive gesehen? Was für ein Comeback! Drei Versuche plus Erhöhungen am Stück!«

»Das heißt, ihr habt gewonnen?«

»Einundzwanzig zu neunzehn. Knapp, aber doch.« Der Arzt hatte eine Schwellung über dem rechten Jochbein und sah recht lädiert, aber sehr zufrieden aus.

»Gratuliere.«

»Ebenfalls«, sagte Lekoche.

Haggard kniff die Augen zusammen. »Kuntata, bist du das?«

»Ja. Hier, direkt vor dir.«

Caroline zog ihren Pod aus der Nierentasche, schaltete die Aufnahmefunktion ein und reichte das Gerät an Haggard weiter, damit er leichter mit dem Jungen kommunizieren konnte. »Wir haben ein paar Kilometer entlang des Stadtrands abgespult.«

»Sei gegrüßt, Lekoche.« Den Pod vorm Auge, reichte Haggard dem Massai die Hand. »Schön, dass du wieder unter die Leute gehst.«

»Na ja, sie bekommen nicht viel davon mit.«

»Vorerst noch. Aber ich bin zuversichtlich, dass du über kurz oder lang lernst, dein Talent bewusst einzusetzen; beziehungsweise es immer dann zu unterdrücken, wenn du als ganz normaler Mensch erscheinen willst.«

»Einstweilen habe ich, ehrlich gesagt, nicht die leiseste Ahnung, wie ich das anstellen soll.« Der Junge bemühte sich, einen optimistischen Unterton in seine Stimme zu legen. Dennoch klang eine tiefe Verzweiflung durch.

Stell dir das einmal vor, dachte Caroline. Von einem Augenblick zum nächsten bist du für deine engsten Angehörigen nicht mehr wahrnehmbar, außer du schläfst. Viele fürchten sich vor dir, weil sie dich für verhext halten, und meiden dich deshalb erst recht. Wie einsam muss sich ein Heranwachsender in dieser Lage fühlen?

Kaum etwas war schlimmer für einen Menschen, als wie Luft behandelt zu werden und sich nicht bemerkbar machen, geschweige denn mitteilen zu können. Lekoche Kuntata hatte diesen Horror erlebt. In abgemilderter Weise lebte er ihn immer noch, trotz der guten Betreuung im Lakeside Institute.

Haggard legte ihm die Hand, an der Erde und Grashalme klebten, auf den Oberarm. »Vertrau John Marshall, mein Junge! Er weiß aus eigener Erfahrung, dass man mühevoll lernen muss, eine Psi-Gabe zu beherrschen. Das gelingt einem nicht von heute auf morgen. Hab Geduld, auch wenn's in deinem Alter schwerfällt!«

Caroline nieste.

»Gesundheit!«, sagte Lekoche.

Spieler und Anhänger beider Teams drängten sich um Frank Haggard. Einhellig gratulierten sie ihm zum Sieg und zu seinen persönlich erzielten Punkten.

Der Arzt gab sich bescheiden. Er sei zwar der Älteste auf dem Platz gewesen, aber eben auch der Erfahrenste und beim Rugby gäben keineswegs nur Kraft und Schnelligkeit, sondern in hohem Maße auch Übersicht und Ballbehandlung den Ausschlag. Viele Mitwirkende verfügten nicht annähernd über seine Spielpraxis; die beteiligten Ferronen waren in diesem irdischen Sport überhaupt blutige Anfänger; einige nun im wahrsten Wortsinn ...

Caroline wollte sich gerade verabschieden, da teilte sich die Schar der Gratulanten. Sie schufen Raum für zwei wahre Kolosse, gut drei Meter hoch, mit fülliger Statur, stämmigen Säulenbeinen, langen Armen und schwarzer, lederartiger Haut. Im massiven, völlig haarlosen Kugelschädel saßen drei große Augen und ein ovaler, dünnlippiger Mund, der bei einem der beiden Riesen senkrecht, beim anderen diagonal stand. Die Naats – denn um solche handelte es sich – trugen leichte, kurzärmelige Hemden und Hosen in schlammigen Grün- und Brauntönen.

Synchron verneigten sie sich.

»Doktor Haggard?«, fragte der eine, vielleicht um ein weniges größere.

»Der bin ich.«

»Ich grüße Sie. Mein Name lautet Khrundool, meine Funktion entspricht jener eines Stellvertretenden Schiffskommandanten und Verbindungsoffiziers.« Sein Englisch klang ein wenig guttural, war jedoch ausgezeichnet verständlich. »Das ist Tevaan, mein Adjutant. Wir haben zufällig Ihrem Spiel beigewohnt.«

»Herzlich willkommen! Hat es Ihnen gefallen?«

»Sehr sogar. Es besaß großen Unterhaltungswert. Mein Volk kennt nichts Vergleichbares. Wir haben kaum Ballsportarten und diese ausschließlich als Wurfduell Mann gegen Mann. Ich bin äußerst beeindruckt von Ihrer Darbietung. Diese Kombination aus individuellen Fähigkeiten und ausgeklügelter Kleingruppentaktik, aus Eigeninitiative und Teamgeist, Härte und Fairness ...«

»Freund von den fernen Sternen«, rief Haggard enthusiastisch, »Sie haben das herrliche Rugby-Spiel auf Anhieb besser kapiert als der ignorante Großteil der Erdbevölkerung! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie mich das freut. Hätten Sie nicht Lust, es selbst zu probieren?«

»Genau deswegen habe ich Sie angesprochen. Was halten Sie von einem freundschaftlichen Kräftemessen in dieser Sportart?«

»Wie? Ein Match Naats gegen Menschen?« Haggard war athletisch gebaut und keineswegs kleinwüchsig. Dennoch musste er den Kopf in den Nacken legen, um dem Furcht einflößenden Koloss in die drei Augen sehen zu können. »Äh ... grundsätzlich klingt das verlockend, aber ...«

»Uns ist vollkommen klar, dass wir Ihnen vom Spielverständnis her keineswegs ebenbürtig sind. Dieses Manko hoffen wir jedoch durch unsere Grundkonstitution ausgleichen zu können, sodass sich trotzdem ein interessanter Wettstreit ergeben könnte. Allerdings müssten Sie uns das Regelwerk zukommen lassen. Und etwa zehn bis zwanzig Tage zum Trainieren sollten Sie uns schon auch einräumen.«

»Ja. Klar. Kein Problem.« Caroline sah Haggard an, wie seine Gedanken rasten. Er war reichlich perplex. Aus Vernunftgründen hätte er rundweg ablehnen müssen. Andererseits gab ein stolzer Aussie nicht so mir nichts, dir nichts klein bei ... »Tolle Idee. Das machen wir. Ich setze mich demnächst wegen der Details mit Ihnen in Verbindung. Wie kann ich Sie erreichen?«

Der Adjutant beugte sich herab und übergab ihm eine Visitenkarte, wie sie schon lange aus der Mode gekommen waren. Die Naats hatten sich über menschliche Etikette wohl in einem nicht mehr ganz taufrischen Benimmratgeber schlau gemacht. »Hierauf sind sämtliche Kontaktdaten verzeichnet.«

»Danke.« Haggard atmete tief durch. »Nun, äh ... möchten Sie nach den Regeln von Rugby Union oder von Rugby League spielen?«

»Diese Entscheidung überlasse ich Ihnen«, sagte Khrundool. »Ich wusste bis jetzt nicht einmal, dass es unterschiedliche Varianten gibt.«

»Findest du es wirklich klug, dich darauf einzulassen?«, fragte Caroline, nachdem die Naats sich wiegenden Gangs zurückgezogen hatten. »Das ist Wahnsinn. Diese Ungetüme werden euch niederwalzen, dass euch Hören und Sehen vergeht. Und soviel ich weiß, enden ihre Zweikämpfe unweigerlich mit dem Tod des Verlierers.«

»Nein, nur die rituellen Duelle, ein verschwindend geringer Prozentsatz. Ansonsten ist bei den Naats die Gewaltanwendung, wiewohl erwünscht, strikt normiert. Darum reizt«, Haggard blickte auf die Visitenkarte, »Khrundool ja der Rugby-Sport, wo es sich diesbezüglich recht ähnlich verhält.«

Caroline zuckte die Achseln. »Du bist der Fachmann. Für mich jedenfalls klingt das wie Selbstverstümmelung mit Anlauf.« Sie schnäuzte sich. »Lekoche und ich müssen weiterlaufen, bevor wir zu sehr auskühlen.«

Aber erneut wurden sie aufgehalten.

Einer von Haggards Teamkameraden kam herbeigeeilt, mit einem Pod wedelnd. »Dringliche Mitteilung für dich, Frank.«

»Und schon ruft wieder die Pflicht.« Haggard nahm das Gerät entgegen und las die Nachricht ab. »Verstehe. Mein Typ wird in Terrania Central verlangt. Ein Notfall.«

Unweigerlich sprang Carolines professionelle Neugier an. »Worum geht's?«

»Die NESBITT-BRECK wird in Kürze landen. Sie bringt Betty Toufry vom Mars zurück. Dort hat man außerdem zwei Kadetten der Raumakademie geborgen, beide schwer verletzt und nicht ansprechbar. Einer davon ist Sid González ... Sein Zustand wird als kritisch beschrieben. Ich muss sofort los.«

2.

Parallelen

Tags darauf fand im Büro von Administrator Homer G. Adams eine Besprechung statt. Fast die gesamte Führungsspitze der Terranischen Union war anwesend.

Der geräumige Sitzungssaal lag im fünfzigsten Stockwerk des Stardust Towers. Die Vollverglasung gestattete einen beeindruckenden Blick über Terrania, die niemals ruhende, unaufhörlich wachsende, neue Hauptstadt einer neuen Menschheit.

Caroline Frank fühlte sich geehrt und unsicher zugleich. Sie nahm zum ersten Mal an einer Konferenz auf höchster Ebene teil. John Marshall hatte sie kurzerhand eingeladen. Schließlich stünden auch Belange der Mutanten auf der Tagesordnung, hatte der Telepath und Leiter des Lakeside Institute gemeint.

Adams – wie meist in einen Maßanzug gekleidet, der schon bessere Zeiten gesehen hatte, bevor Caroline geboren wurde – eröffnete mit den Worten: »Ich danke Ihnen allen für das pünktliche Erscheinen. Diese Besprechung wurde einberufen, weil einige von uns jüngst Einblicke in wahrhaft kosmische Zusammenhänge gewonnen haben. Betty, würden Sie bitte den Anfang machen!«