Mörderische Teatime - Ivy Paul - E-Book

Mörderische Teatime E-Book

Ivy Paul

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Beschreibung

Anne Cleary, Moderatorin der berühmten Vorabendshow "Teatime with Annie", wird bei der Vorbereitung der Dreharbeiten im B&B "Tae agus Ceapaire" ermordet. Am Abend zuvor hatte sie sich mit ihrer Jugendfreundin Mae Pennywether gestritten, worauf diese ihr wutentbrannt einen qualvollen Tod gewünscht hatte. Mae gerät daher unter Tatverdacht und beginnt zu ermitteln, um den wahren Täter zu finden. Als kurz darauf jemand versucht, Annes Co-Moderator zu vergiften, verdichten sich die Hinweise, dass die Tearoom-Besitzerin Clarissa Nelson nicht nur Gelegenheit, sondern auch Motive für beide Verbrechen hatte. Schließlich kannte auch sie Anne aus Jugendtagen und war von ihr für eine Karriere beim Fernsehen aufs Übelste im Stich gelassen worden. Doch wie soll Mae Clarissas und ihre eigene Unschuld beweisen?

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Ähnliche


Mörderische Teatime

Ein Irland-Krimi

von Ivy Paul

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Glossar

Impressum

Lesetipp

Tee ist die Lösung für jedes Problem. Irische Redensart

Kapitel 1

»Ob ich morgen leben werde, weiß ich freilich nicht. Aber dass ich, wenn ich morgen lebe, Tee trinken werde, weiß ich gewiss.« Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)

»Sie wollen, dass ich mit Anne Cleary spreche! Ausgerechnet mit dieser verlogenen Natter, diesem Furunkel am Arsch einer dreibrüstigen Missgeburt, dieser bösartigen Hexe!«, zeterte Mae in den Hörer.

Rabia, ihre jüngste Tochter, seufzte am anderen Ende der Leitung. »Mammy, ist es möglich, dich gewählter auszudrücken?«

»Wieso? Wegen Anne? Ich würde ihr am liebsten die Nase blutig schlagen, und ich bin weiß Gott kein aggressiver Mensch!«

»Gott bewahre, du doch nicht«, entgegnete Rabia trocken. »Bevor du jetzt weiter deinen Tobsuchtsanfall pflegst: Was hast du mit Anne Cleary zu schaffen, und wer will, dass du dich mit ihr unterhältst?«

»Wenn es nur das Unterhalten wäre!«, schnaubte Mae entrüstet. Ihr Herz begann zu stechen und sie rieb darüber, während sie ihrem Spiegelbild einen finsteren Blick zuwarf. Wenn sie wegen dieser Ziege Anne einen Herzschlag bekäme, wäre sie wirklich zornig. »Du weißt doch, dass der Verlag will, dass ich für Interviews zur Verfügung stehe.«

»Moment mal! Geht es hier um das, was ich denke?«, wollte Rabia wissen. »Meine Mutter, Mae Pennywether, Bestsellerautorin eines Teekompendiums, in einer Vorabendshow? Du veralberst mich!«

»Hab ich nicht nötig«, brummte Mae. »Mein Verlag hat beschlossen, es wäre angebracht, wenn die Leser mich besser kennenlernen würden – im Rahmen eines Interviews bei Teatime with Annie …«

Rabia begann aufgeregt zu kreischen.

»Meine Güte, Rabia, reiß dich zusammen! Du bist siebenunddreißig Jahre alt, kein Grund, auszuflippen wie ein Teenager«, sagte Mae augenrollend, sobald sie die Gelegenheit dazu hatte.

Ihre Tochter führte sich ja auf, als sei Anne Cleary ein Superstar. Dabei war sie nur eine drittklassige Fernsehtante, die das Glück hatte, die beliebteste Vorabendshow Irlands zu moderieren. Rabia dagegen hatte viel mehr vorzuweisen: Sie war mit achtzehn ausgebüxt, um eine Weltreise zu unternehmen, dann als Friseurin in Hollywood gelandet, später mit einem Hippie nach Goa ausgewandert und in den folgenden Jahren nicht weniger abenteuerlustig gewesen als Mae früher selbst. Irgendwann hatte es sie dann wieder in die Heimat zurückgezogen …

»Aber Annie interviewt dich, Mammy!«, unterbrach Rabia Maes Gedanken. »Du bist berühmt.«

»Übertreib mal nicht, Liebes!«, sagte Mae verlegen. Dennoch fühlte sie sich geschmeichelt. Sie lächelte ihr Spiegelbild an.

»Auf jeden Fall ist es eine große Ehre, dass sie dich für ein Interview wollen. Überleg mal, Ireland Channel ist der größte Fernsehsender Irlands! Und wahrscheinlich hast du mit Anne Cleary gar nichts zu tun, außer vor der Kamera mit ihr zu sprechen.«

Rabia war eine fabelhafte Tochter! Bestimmt hatte sie recht. Anne Cleary hatte sich schon immer für etwas Besseres gehalten und würde sich gewiss nicht dazu herablassen, mehr Kontakt als nötig mit Mae oder den Leuten hier aus der Gegend zu haben. Für sie waren das doch sowieso nur unzivilisierte Bauern.

Kapitel 2

»Tee als ständiger Begleiter stimmt auch an miesen Tagen heiter.« Deutsches Sprichwort

Mae kniete auf einem Kissen vor den Blumenrabatten in ihrem Vorgarten und zupfte Unkraut. Eigentlich war sie der Ansicht, dass es sinnvoller wäre, eine Sense oder gar einen Flammenwerfer zu benutzen. Da ihr aber weder das eine noch das andere zur Verfügung stand und sie zudem eine Beschäftigung für ihre Finger benötigte, hatte sie sich an die Arbeit gemacht. Sie hatte schon ein ganzes Stück geschafft, als Brandon seinen altersschwachen Geländewagen vor dem Zaun parkte und ausstieg.

»Granny, was treibst du da?«

Verbissen zerrte Mae an einem Büschel rebellischen Gestrüpps, ehe es nachgab und sich samt Wurzeln dem Boden entreißen ließ. Die Erdbrocken rieselten herab, während Mae sich mühsam erhob.

Brandon musterte sie nachdenklich. »Geht es dir gut?«, fragte er.

Ärgerlich schüttelte Mae ihre Hand, dann warf sie das Grünzeug in den bereitstehenden Eimer. »Ich muss mich feinmotorisch betätigen, sagt der Arzt. Ist gut gegen die Polyarthrose in den Fingern«, behauptete sie. »Wolltest du nicht abreisen?«

»Ich wollte dir persönlich tschüss sagen, ehe ich fahre.«

Mae spürte einen Kloß im Hals, ließ sich aber nichts anmerken. Dass es ihrem Enkel hier auf dem Land als Detective Inspector zu langweilig geworden war, konnte sie nachvollziehen. Schließlich hatte sie früher als Ethnologin auch die halbe Welt bereist. Und er hatte sich nur nach Galway versetzen lassen. Nun ja, immerhin war es deutlich größer als Badger’s Burrow, das beschauliche Dörfchen, in dem sie lebte. Aber inzwischen wollte sie auch gar nicht mehr irgendwo anders sein …

Brandon riss sie aus ihren Gedanken. »Möchtest du mich nächstes Wochenende besuchen kommen? Vielleicht mit Tante Rabia?«, fragte er und umarmte sie.

Mae befreite sich. Zu viel Gefühlsduselei machte sie immer nervös und gab ihr das Gefühl, alt zu sein. Alt und tattrig. Sie sah auf ihre erdverschmierten, faltigen Hände. Gut, taufrisch war sie nicht mehr, aber sie würde den Teufel tun und zugeben, dass sie alt war.

»Brady, nichts lieber als das!«, antwortete sie. »Aber das Fernsehteam für mein Interview trudelt irgendwann am Freitag ein, und gedreht wird die Chose am Samstag oder Sonntag. Normalerweise hätten sie mich einfach für die Aufzeichnung ins Studio geholt, aber es ist die Abschiedssendung von Anne Cleary, und die soll was Besonderes werden.« Das Ganze passte ihr immer noch nicht, doch was sollte sie tun? Sie hatte ihre Zusage erteilt, und eine Mae Pennywether stand zu ihrem Wort. »Lass uns reingehen, ich koch uns Tee!«, schlug sie vor. »Oder ist dir eher nach einem Whiskey?« Hoffnungsfroh sah sie Brandon an.

Der schüttelte lachend den Kopf. »Grandma, du weißt doch: kein Alkohol vor dem Fahren!«

»Dann trinken wir eben Tee«, bestimmte Mae, während sie auf das Haus zugingen. »Und du nimmst eine Flasche O’Mulligan’s Green mit – damit du uns nicht vergisst.«

»Euch vergessen? Bestimmt nicht! Außerdem ziehe ich nur nach Galway, nicht nach Nowosibirsk«, erwiderte Brandon und öffnete Mae die Haustür. »Und mein Angebot steht: Lass das Interview sausen und komm mich am Wochenende besuchen!«

»Geht nicht, meine Verlegerin zieht mir die Hammelbeine lang, wenn ich das tue«, brummelte Mae. Sie trat ein und ging direkt in das kleine Badezimmer neben der Haustür, um sich die Hände zu waschen.

Unterdessen sprach Brandon weiter: »Ich werde ständig an euch denken.« Er seufzte. »Versprich mir nur, nichts zu tun, was ich nicht auch täte.«

»Du verlangst viel von mir, aber wenn du so anfängst: Ich hatte nicht vor, zur Superverbrecherin Irlands zu mutieren. Ich hatte überhaupt nicht vor, irgendetwas zu tun, was die Verbrechensstatistik in unserem County versaut, immerhin ist sie die niedrigste in ganz Irland. Wäre es nicht so, hättest du dich nicht in die große Stadt versetzen lassen«, entgegnete Mae.

Brandon schnalzte mit der Zunge. »Du weißt genau, was ich meine, Grandma. Letztes Jahr diese Sache mit Loreena – das hätte wirklich schiefgehen können. Und auch sonst deine verrückten Einfälle.«

Mae funkelte ihn an. »Vorsicht, mein Junge!«

»Ich will einfach nicht, dass dir was passiert. Bitte versprich mir, dass du keinen Unsinn anstellst, jetzt, wo ich weg bin!«, beschwor Brandon sie.

Mae lenkte ein: »Also gut, Brady – ich verspreche dir, gut auf mich aufzupassen. Und jetzt lass uns Tee trinken! Ich hab da einen neuen Lieferanten für Teeblumen aufgetan. Jasmin und Schwarztee, du wirst begeistert sein.«

Brandon verzog das Gesicht. »Vielleicht muss ich gehen, um nicht Gefahr zu laufen, um meine Geschmacksnerven gebracht zu werden. Ständig tischst du mir deine Spezialitäten auf. Das ist jetzt aber nicht wieder etwas, was mir den Magen verdirbt, oder?«

Kapitel 3

»Tee ist Ruhe und nicht Eile.« Tibetisches Sprichwort

Dass die Fernsehleute angekommen waren, erfuhr Mae, noch bevor sie das Tae agus Ceapaire in Ballymahon betreten hatten. In dem Tearoom ihrer Freundin Clarissa Nelson sollten das Vorgespräch und später auch das Interview stattfinden, zudem würden Anne Cleary und ihre Kollegen in den vier Pensionszimmern über dem Gastraum übernachten. Orla Kanturk, eine weitere gute Freundin Maes, hatte auf ihrem Heimweg einen Geländewagen mit Dubliner Nummernschild auf der kurzen Landstraße von Badger’s Burrow nach Ballymahon gesehen. Sie hatte sofort im Tearoom angerufen, um Mae und Clarissa Bescheid zu sagen.

Mae trank gerade eine Tasse Grüntee und knabberte dazu asiatische Cracker. Sie konnte es nicht erwarten, dass dieses Wochenende, vor allem aber das unsägliche Interview, endlich hinter ihr lagen. Auch Clarissa wirkte an diesem Tag in sich gekehrt, und Mae ahnte, dass ihre Freundin ähnlich begeistert von Annes Abstecher in die alte Heimat war wie sie selbst.

Sie seufzte und sah sich im Tearoom um. Auf einem Regal neben dem Tresen stand Clarissas Sammlung verschiedener Zuckerdosen, jede etwas anders gestaltet und mit unterschiedlichen Zuckerarten befüllt. Wenn Mae sich nicht irrte, gab es ein paar neue. Clarissa liebte die originellen Behälter – und ihre Gäste offenbar auch. Gelegentlich kam es vor, dass eine der Zuckerdosen nach dem Besuch fremder Gäste verschwunden war, daran änderten auch die im Gastraum ausliegenden Flyer mit der Kontaktadresse der Töpferin nichts. Clarissa nahm es mit stoischer Ruhe, was Mae schon so manches Mal gewundert hatte, war ihre Freundin doch sonst immer bereit, ihren Tearoom zu verteidigen. Das kleine Lokal war ihr Lebensinhalt, nicht erst seit dem tragischen Unfall ihres Mannes.

Maes Aufmerksamkeit wurde von einem Geländewagen abgelenkt, der gerade vorfuhr und parkte. Das musste das Auto des Fernsehteams sein, von dem Orla gesprochen hatte. Maes Magen verkrampfte sich. Schnell drehte sie ihren Stuhl so, dass sie einen besseren Blick aus dem Fenster hatte, ohne aufstehen zu müssen. Als sie sah, dass zwar zwei Frauen aus dem Auto ausstiegen, doch keine von ihnen Anne Cleary sein konnte, weder vom Alter noch vom Aussehen her, entspannte sie sich wieder.

Die Frau, die am Steuer gesessen hatte, war eine lässig gekleidete Blondine mit Pferdeschwanz. Sie schlug die Fahrertür zu und sagte etwas zu ihrer Begleiterin. Die betrachtete den Tearoom und strahlte. Dann holten beide ihr Gepäck aus dem Wagen und gingen zur Eingangstür. Sie traten ein und schauten sich um. Clarissa lief zu ihnen und begrüßte sie. Obwohl die Teestube nicht sonderlich groß und der Geräuschpegel niedrig war, konnte Mae nur ein paar Wortfetzen ihres Gesprächs aufschnappen. Nun ja, sie würde schon noch früh genug alles Wichtige erfahren. Gelassen trank sie den letzten Schluck ihres grünen Tees. Als sie die Tasse abstellte, wusste sie, dass sie nun bereit für eine Begegnung mit ihrer Erzfeindin war.

Clarissa kam an Maes Tisch, die beiden jungen Frauen folgten ihr. »Mae, ich möchte euch miteinander bekannt machen«, sagte Clarissa und deutete auf die Blondine. »Das ist Siobhan Mowbray von Ireland Channel.«

Die Frau streckte Mae die Hand entgegen. »Bitte nennen Sie mich Siobhan, Mrs Pennywether!«

Mae erhob sich. »Aber nur, wenn Sie Mae zu mir sagen«, erklärte sie und schüttelte ihr die Hand. »Keiner hier in der Gegend nennt mich Mrs Pennywether.« Dann lächelte sie der anderen, brünetten Frau mit der sportlich-eleganten Kurzhaarfrisur zu. Irgendwie kam sie ihr bekannt vor, und plötzlich fiel es ihr ein: »Sie müssen Ruby Keegan sein, die Co-Moderatorin von Teatime.« Mae reichte ihr ebenfalls die Hand.

Die Frau nickte. »Für Sie Ruby«, sagte sie und lachte. Sie hatte etwas ungeheuer Sympathisches an sich. »Wir beide werden uns nachher auch ein wenig unterhalten, und Siobhan wird …«

»Probeaufnahmen machen«, beendete die Blondine ihren Satz. »Dann kann ich heute Abend einen Drehplan ausarbeiten.«

Etwas verwirrt schaute Mae sie an.

»Oh, bitte entschuldigen Sie, das hatte ich noch gar nicht erwähnt«, sagte Siobhan schnell. »Ich bin Mrs Clearys Assistentin und verantwortlich für die Kameraaufnahmen. Wenn Sie irgendwelche Fragen oder Probleme haben, können Sie jederzeit gern zu mir kommen.«

Mae nickte stumm.

»Auch Sie würde ich gerne interviewen, Mrs Nelson«, wandte Ruby sich an Clarissa. »Vielleicht können wir das als Einleitung für die Sendung verwenden.«

»Natürlich, gerne«, antwortete Clarissa und wollte noch etwas ergänzen.

Doch in diesem Moment ertönte lautes Reifenquietschen von draußen, und sofort richteten sich alle Augen auf ein rotes Sportcoupé, das gerade vor dem Tearoom einparkte. Ein Mann sprang aus dem Wagen, holte eine Reisetasche von der Rückbank und betrat dann den Tearoom. An der Tür blieb er zunächst stehen, schaute sich um und kam schließlich auf die Frauen zu.

»Einen schönen guten Tag«, sagte er, trat zwischen Clarissa und Ruby und stellte seine Tasche auf dem Boden ab. Er war etwa Mitte vierzig und Mae zutiefst unsympathisch mit seiner Solariumbräune und seinem breiten, strahlend weißen Zahnpastalächeln. »Ich bin Fergal Thurnpike, Moderator von Teatime«, stellte er sich vor und musterte Mae. »Und Sie müssen unser Interviewgast für die Jubiläumssendung sein, Mae Pennywether, nicht wahr?«

»Stimmt auffallend, junger Mann.«

Fergal Thurnpike legte den Arm um Rubys Schultern. »Du hättest mit mir fahren sollen! Eine hübsche Frau wie du gehört in einen Sportflitzer und nicht in diesen klobigen Landstraßenpanzer.«

»Eine Frau wie ich gehört als Allererstes auf ihr Zimmer, um sich frisch zu machen«, entgegnete Ruby, nahm Fergal Thurnpikes Hand von ihrer Schulter und rückte ein Stück von ihm ab. »Mrs Nelson, wir haben zwar nur Bed & Breakfast gebucht, aber gibt es später vielleicht auch die Möglichkeit, bei Ihnen etwas zum Abendessen zu bestellen?«

»Der Schuppen hier ist doch viel zu altjüngferlich, Ruby«, mischte Fergal Thurnpike sich ein und musterte die Einrichtung des Tearooms mit deutlichem Missfallen. »Lass uns drüben in Longford zu Abend essen oder noch besser in Athlone, nur wir zwei!«

Mae musste Clarissa gar nicht ansehen, um zu wissen, dass sie vor Wut kochte. Fergal Thurnpike dagegen schien davon nichts mitzubekommen – oder es war ihm egal. Auffordernd blickte er Ruby an.

»Nein danke, Fergal«, sagte die. »Wir haben hier noch einiges zu tun.« Dann wandte sie sich wieder Clarissa zu: »Bitte entschuldigen Sie! Also, wie sieht es mit einem kleinen Abendessen aus? Anne – Mrs Cleary – wird sicher Hunger haben, wenn sie eintrifft.«

»Es tut mir leid, aber mehr als Sandwiches kann ich Ihnen und Ihrem Team nicht anbieten. Wenn Sie hier in der Nähe essen gehen wollen, empfehle ich Ihnen den Pub in Badger’s Burrow. Mit dem Auto sind es nur zehn Minuten, und Aileen kocht wirklich hervorragend«, erklärte Clarissa.

Fergal Thurnpike rümpfte die Nase. Interessiert stellte Mae fest, dass Siobhan ihn ebenfalls nicht zu mögen schien. Sie wirkte auf einmal genervt, ihr Lächeln gekünstelt, besonders wenn sie Fergal ansah. In Momenten wie diesen dachte Mae sich, dass sie ihre Feldforschungen über soziale Interaktionen jetzt im Alter mit nicht weniger Faszination in der Heimat fortsetzen konnte. Als Ethnologin hatte sie viele Jahre lang die gesellschaftlichen Strukturen verschiedener Stämme studiert, jedes ihrer vier Kinder war in einem anderen Land geboren worden. Mae lächelte und konzentrierte sich wieder auf die Unterhaltung.

»Ich will lieber vor Ort bleiben, schließlich sind wir nur zwei Nächte hier«, sagte Ruby gerade.

Fergal Thurnpike trat wieder näher an sie heran. »Okay, wir riskieren den Pub drüben in Badger’s Burrow. Lass uns gemeinsam essen gehen, nur wir zwei!«

Ruby legte ihre Hand auf seinen Unterarm. »Es tut mir leid, Fergal, aber soweit ich weiß, will Anne mit uns den Abend verbringen und noch letzte Details besprechen.« Sie sah zu Mae. »Werden Sie uns beim Abendessen Gesellschaft leisten?«

Mae zuckte zusammen. Mit Anne auch noch dinieren? Bloß nicht! Also schüttelte sie den Kopf.

Da ihr die Frauen jedoch sympathisch waren und sie nicht wusste, wie sie zu Anne standen, nahm sie Zuflucht in einer Höflichkeitslüge: »Meine Liebe, in meinem Alter isst man abends kaum noch etwas und geht früh schlafen. Wenn es nicht zwingend notwendig ist, ziehe ich es vor, daheimzubleiben.«

Ruby nickte verständnisvoll. »Machen Sie sich keine Sorgen! Wenn Sie sich vorher noch mit Anne und uns zusammensetzen und alles besprechen, können wir morgen die Aufzeichnung machen und gegebenenfalls am Sonntag nachdrehen.«

»Das klingt wunderbar«, sagte Mae erleichtert und ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken.

Clarissa räusperte sich. »Also gut, dann werde ich Ihnen mal Ihre Zimmer zeigen. Bitte kommen Sie mit!« Sie ging hinüber zur Theke, nahm drei Schlüssel, die dort bereitlagen, und händigte sie den Fernsehleuten, die ihr gefolgt waren, aus.

Bevor sie alle in dem Gang verschwanden, von dem aus eine Treppe nach oben zu den Pensionszimmern führte, sah Siobhan noch einmal zu Mae herüber und nickte ihr zu. Mae lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und wartete geduldig darauf, dass Clarissa wieder herunterkam und ihr eine weitere Tasse Tee machen konnte, bevor Anne im Tae agus Ceapaire erschien. Ihr Anblick würde Mae den Appetit ganz sicher verderben. Eigentlich hatte sie nicht erwartet, Anne jemals wiederzusehen, nachdem die ihren Heimatort Ballymahon verlassen hatte, um beim Fernsehen Karriere zu machen.

Mae seufzte. Hieß es nicht, man sah sich immer zweimal im Leben? Vielleicht hatte Anne sich ja geändert und bereute, was sie Mae, aber vor allem Clarissa angetan hatte. Nein, so naiv war Mae nicht. Genauso wenig, wie Kühe Tunnel gruben, würde Anne sich in irgendeiner Weise schuldig fühlen.

Clarissa kehrte zurück in den Gastraum, doch bevor sie sich Mae zuwenden konnte, musste sie ein Pärchen abkassieren und deren Tisch abräumen. Erst danach kam sie zu Mae und setzte sich ihr gegenüber. Sie nestelte an ihrer Kameebrosche herum.

»Die beiden jungen Frauen sind sehr nett, nicht wahr?«, begann sie.

»In der Tat«, bestätigte Mae, beugte sich vor und legte ihrer Freundin die Hand auf den Unterarm. »Was beunruhigt dich, meine Liebe? Ist es wegen der Sendung?«

»Wegen Anne!«, platzte Clarissa heraus, sah sich erschrocken um und vergewisserte sich, dass niemand in Hörweite war. Dann flüsterte sie: »Warum kommt sie nach all den Jahren plötzlich wieder zurück? Ich will sie nicht hierhaben!« Sie strich sich fahrig über den akkuraten Dutt.

»Ich glaube nicht, dass es ihre Entscheidung war, und noch weniger, dass sie gern hierher zurückkommt«, versuchte Mae sie zu beruhigen. »Sie ist nicht dumm – sie weiß, dass sie nicht willkommen ist.« In diesem Moment bemerkte sie, wie die Eingangstür geöffnet wurde und eine mondän gekleidete Dame mit einem riesigen Trolley eintrat. Mae runzelte die Stirn. Clarissa und sie mussten so vertieft in ihre Unterhaltung gewesen sein, dass sie gar nicht mitbekommen hatten, wie ein weiteres Auto vorgefahren war.

Die Dame nahm ihre Sonnenbrille ab und schaute sich um. Geringschätzung spiegelte sich auf ihrem Gesicht, das noch immer Ähnlichkeit mit dem des jungen Mädchens von damals hatte. Mae erkannte sie sofort: Anne Cleary. Die zog sich das Tuch, das sie um den Kopf gebunden hatte, herunter und stopfte es in ihre teure Handtasche. Mit dem rechten Zeigefinger wischte sie über die Theke neben sich, als wolle sie die Sauberkeit testen, und hob dann den Blick. Als sie zu Mae und Clarissa herübersah, weiteten sich ihre Augen und sie rümpfte kaum merklich die Nase.

»Meine Güte, seid ihr beide alt geworden! Ich hätte euch auf der Straße nicht mehr erkannt«, rief sie aus und kam auf sie zu. Den Trolley ließ sie neben der Theke stehen.

»Nicht jede kann sich den Luxus leisten und ihren Lebenslauf frisieren, damit sie offiziell noch mal mitten in den Wechseljahren steckt«, erwiderte Mae grimmig. Sie kannte die Version des Fernsehsenders, aber auch Annes wahres Alter.

Anne betrachtete sie von oben bis unten. »Sehr witzig, Mae.« Sie rollte mit den Augen und wandte sich dann Clarissa zu.

Die stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hätte wirklich nicht erwartet, dass du die Nerven hast, dich noch mal nach Ballymahon zu wagen!«

»Der Sender hielt es für eine gute Idee, im Tae agus Ceapaire zu drehen«, entgegnete Anne ungerührt und betastete ihre Frisur. »Sie fanden, ein klassischer Tearoom, in dem eine Autorin aus der Nachbarschaft verkehrt, die einen Schinken über verschiedene Teesorten und die Teezeremonien der Welt verfasst hat, wäre der richtige Aufhänger für die Jubiläumssendung.« Sie sah sich erneut um. »Ganz passabel für ein Lokal in der Provinz.«

Mae konnte Clarissas Gesicht nicht sehen, doch sie wusste, dass jemand wie Anne das Tae agus Ceapaire gewiss nicht kritisieren durfte. Sie straffte sich, um gegebenenfalls dazwischengehen zu können, denn es stand zu befürchten, dass die beiden gleich wie die Bullterrier aufeinander losgingen.

Tatsächlich hatte Clarissas Stimme deutlich an Schärfe gewonnen, als sie sagte: »Meinetwegen kannst du sofort umdrehen und wieder fahren, wenn es dir nicht gefällt.«

Anne zog die Augenbrauen hoch. »Mach dich nicht lächerlich, Clarissa Nelson! Du kannst mir nachher mein Zimmer zeigen. Aber erst muss ich noch ein paar Worte mit der guten alten Mae sprechen.« Sie setzte sich.

Clarissa holte tief Luft. »Kann ich dich mit ihr alleine lassen?«, fragte sie Mae. Die nickte stumm, und so ging Clarissa hinüber zu einem anderen Tisch, um dort die Bestellungen aufzunehmen.

»Die Zeit hat es wirklich nicht gut mit dir gemeint, Mae«, sagte Anne spöttisch.

»Immer noch dasselbe Biest wie früher!« Mae versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Es war erstaunlich, doch all die Jahrzehnte, die seit Annes Verrat vergangen waren, reichten tatsächlich nicht aus, ihn vergessen zu machen. Der Schmerz stach noch immer in ihrem Herzen. Gern hätte sie Anne die Faust ins Gesicht gerammt, aber sie war nun mal kein gewalttätiger Mensch.

»Wir müssen ein paar Details wegen des Interviews besprechen. Bist du später noch hier? Wenn ich’s recht bedenke, möchte ich doch zuerst auf mein Zimmer gehen und mich frisch machen.«

»Nur zu, ich werde in der Zwischenzeit eine weitere Tasse Tee trinken«, entgegnete Mae gelassen, obwohl sie Anne am liebsten an die Gurgel gegangen wäre.

Anne schnippte mit den Fingern. »Clarissa!«

In diesem Moment öffnete sich die Eingangstür, und eine Gruppe von fünf Leuten trat ein. Sie schauten sich um, nickten zustimmend und setzten sich. Kurz darauf kam Clarissa und legte einen Schlüssel mit einem großen Anhänger, auf dem eine Zahl stand, vor Anne auf den Tisch.

»So was Dummes aber auch, Anne, ich muss mich jetzt leider um die neuen Gäste kümmern. Du wirst allein nach oben gehen müssen.« Sie deutete auf den Gang. »Da hinein und die Treppe hinauf.« Dann ging sie zu der Gruppe hinüber.

Anne starrte ihr ungläubig hinterher. »Also, das ist doch …«

Mae kümmerte sich nicht weiter um sie, sondern zog es vor, die anderen Gäste zu beobachten. Nachdem Anne offenbar eingesehen hatte, dass ihr nichts anderes übrig blieb, erhob sie sich ohne ein weiteres Wort, holte ihren Trolley und zerrte ihn hinter sich her in den Gang hinein.

Als Clarissa wenig später an Maes Tisch vorbeikam, hielt sie kurz inne. »Was darf ich dir noch bringen, Mae?«

»Ein Kännchen Earl Grey, einen deiner Schokomuffins und einen Whiskeylikör. Ich brauch das, um das Gespräch mit Anne zu überstehen«, sagte Mae und rieb sich die Stirn.

»Wer nicht?«, entgegnete Clarissa. »Ich bring dir gleich alles.« Sie trat hinter die Theke, goss sich verstohlen einen großen Schluck Whiskey in eine Teetasse und trank. Dann lehnte sie sich für einen Moment an, holte tief Luft und seufzte.

Mae hatte sich den Likör und den Muffin schmecken lassen. Gerade spülte sie die letzten Krümel mit ein paar Schlucken Tee hinunter, als sich Anne zu ihr setzte. Sie hatte sich umgezogen und sah mit ihrer schwarzen Hose und der weißen Bluse sehr schick aus – ganz im Gegensatz zu Mae, die man in ihrer Aufmachung ebenso im Reitstall hätte antreffen können.

Anne legte ihre gefalteten Hände auf die Tischplatte und ließ ihren Blick schweifen. »Es sind in der Zwischenzeit einige Gäste gekommen.«

»Das ist jeden Tag so: Um die Mittagszeit ist es eher ruhig, davor und danach wird es recht voll«, gab Mae zur Antwort.

»Erstaunlich«, meinte Anne.

Ihr Tonfall erinnerte Mae daran, dass ihr in ihrem langen, abwechslungsreichen Leben niemand je so unsympathisch gewesen war wie diese Frau.

Anne winkte Clarissa zu und deutete auf Maes Tasse, dann sagte sie: »Ich spreche mit dir nur das Interview durch, alles andere klären Ruby und Siobhan mit dir ab.«

Mae antwortete nicht, denn in diesem Augenblick sah sie Fergal Thurnpike herankommen. Er schlenderte lässig auf sie zu, legte Anne die Hand auf den Arm und beugte sich zu ihr herunter, um ihr einen Kuss auf die Wange zu drücken.

»Anne, meine Liebe, du siehst wie immer fabelhaft aus.«

Anne kicherte wie ein Mädchen. »Fergal, schön, dass du schon da bist! Wir trinken zusammen einen Kaffee, wenn ich hier fertig bin, ja?« Sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern wandte sich wieder Mae zu. »Du hast Fergal Thurnpike, meinen Nachfolger bei Teatime, schon kennengelernt?«

Verwundert sah Mae sie an. »Er wird der neue Moderator? Und was ist mit Ruby? Ich dachte …«

»Da hast du wohl falsch gedacht«, unterbrach Anne sie. »Aber das macht nichts, in deinem Alter verwechselt man schon mal das eine oder andere.« Sie lächelte Fergal Thurnpike zu. Dennoch hatte ihr Gesichtsausdruck etwas Boshaftes an sich.

Fergal Thurnpike holte eine Schachtel Zigaretten aus seiner Jackentasche. »Ich gehe ein wenig an die frische Luft.«

»Nur zu!«, sagte Anne und wedelte mit der Hand, als wolle sie ein lästiges Insekt verscheuchen. »Wir besprechen noch kurz das morgige Interview.«

Die folgende halbe Stunde verlangte Mae einiges ab. Ihre Befürchtung bestätigte sich leider: Anne hatte sich kein bisschen geändert, im Gegenteil. Sie stichelte und lästerte die ganze Zeit. Mae war kurz davor, die Nerven zu verlieren, als sie bemerkte, wie Fergal Thurnpike zurück in den Tearoom gehastet kam. Er wirkte irgendwie angewidert und verschwand direkt in dem Gang, der zu den Pensionszimmern führte. Mae, die mit Anne beschäftigt war, dachte nicht weiter darüber nach.

Eben lehnte Anne sich zurück und schnalzte missbilligend mit der Zunge, während sie Mae musterte. »Weißt du, Mae, es ist wirklich lächerlich. Du trägst mir immer noch die Sache mit Padraic nach.«

Mae zuckte zusammen. Diese Aussage war völlig aus dem Nichts gekommen, sie hatten das Thema nicht einmal ansatzweise gestreift. Mae hätte es auch gern vermieden, nur daran zu denken. Padraic Kelly war ihre erste große Liebe gewesen, bis fast zum Ende ihres Studiums waren sie ein Paar gewesen. Dann hatte Anne sich eingemischt. Wie sollte sie je vergessen, was Anne ihr angetan hatte?

»Ich werde dir deinen Verrat nie vergeben, Anne!«

Anne schnaubte. »Himmel, er war doch nur ein Bauer! Wie ich gehört habe, bist du in der Welt umhergereist, zu den exotischsten Plätzen, die man sich vorstellen kann. Du solltest mir dankbar sein.« Jedes ihrer Worte triefte vor Hohn und Herzlosigkeit. Natürlich, jemand wie Anne, die nur um sich selber kreiste, konnte nicht verstehen, was es hieß, den Mann, den man liebte, zu verlieren. Für sie war Padraic nichts als ein Zeitvertreib, eine Trophäe gewesen.

Maes Herz stach, und zugleich kroch Wut in ihr hoch. Sie fühlte einen Druck in der Kehle, den sie tapfer zu bekämpfen versuchte.

»Padraic und ich hätten geheiratet, wärst du nicht gewesen«, erklärte sie, und ihre Lippen fühlten sich taub an. Am liebsten hätte sie Anne geohrfeigt. Um sich davon abzuhalten, griff sie nach ihrer Tasse und umklammerte sie wie einen Rettungsanker. Sie trank einen Schluck, doch der Tee war inzwischen längst kalt.

»Sei froh, dass ich das verhindert habe!«, sagte Anne arrogant. »Padraic war der langweiligste Mensch, dem ich je begegnet bin. Was du oder irgendeine andere Frau an ihm hätte finden können, verstehe ich bis heute nicht.«

Mit einem erstickten Aufschrei sprang Mae auf, und ehe sie darüber nachdenken konnte, was sie tat, hatte sie Anne den Inhalt ihre Teetasse ins Gesicht geschüttet. Anne keuchte erschrocken und blinzelte. Sekundenlang starrten die beiden Frauen einander an, dann stand Anne auf. Ein Tropfen, der an ihrer Nasenspitze hing, löste sich und fiel auf die Tischplatte. Anne griff nach einer Serviette und begann ungerührt, sich den kalten Tee abzutupfen. Vermutlich passierte ihr so etwas öfter. Verwunderlich war das nicht.

Mae ballte die Hände zu Fäusten und stopfte sie in ihre Westentaschen. »Ich wünsche dir einen langsamen und bestialischen Tod, Anne Cleary!«, fauchte sie. Dann drehte sie sich um, ließ Anne einfach stehen und stapfte aus der Teestube.

Als Mae eine halbe Stunde später zu Hause eintraf, war sie immer noch wütend. So sehr, dass sie Herzschmerzen hatte. Noch bevor sie die Haustür aufgemacht hatte, hörte sie das Klingeln ihres Telefons. Sie ahnte, dass die Gerüchteküche bereits auf Hochtouren lief und irgendjemand wegen des Vorfalls mit Anne anrief. Ohne Eile öffnete sie die Tür, ging zum Telefon und nahm das Gespräch an.

»Mammy, was hast du schon wieder angestellt?«, fragte Rabia entnervt.

»Was soll ich getan haben?« Mae warf die Schlüssel auf die Kommode neben den Schrumpfkopf, so wie sie es immer tat.

»Willa Greening hat mich angerufen, sie hat es von Geoff O’Reilly gehört, der das Ganze beobachtet hat«, erzählte Rabia.

»Anne hat mich zur Weißglut getrieben, und bei Gott, sie kann froh sein, dass ich nicht zur Gewalt neige!«

»Du hast sie mit dem Tod bedroht!«

»Hab ich nicht, ich hab ihr nur einen bestialischen Tod auf den Pelz gewünscht.« Jetzt im Nachhinein tat es Mae leid, dass sie derart die Fassung verloren hatte. »Vermutlich überlebt sie uns alle. Beruhigt dich das?«

Rabia seufzte gequält. »Geht es dir gut?«

»Bestens.«

Als Mae das Gespräch beendete, hatte sich ihre Laune gebessert, weil sie sich eines bewusst gemacht hatte: Achtundvierzig Stunden, dann war alles vorbei, und sie würde Anne nie wiedersehen.

Nachdem Mae die Toiletten geputzt und sie in einen Zustand von frühlingsfrischer Hygiene versetzt hatte, war sie so weit beruhigt, dass sie sogar etwas Appetit verspürte. Sie machte sich ein Fertiggericht heiß, und während sie es verspeiste, wanderten ihre Gedanken in die Vergangenheit. War das alles tatsächlich schon so lange her? Ganze fünfzig Jahre? Die Zeit war verflogen, und sie hatte es gar nicht richtig mitbekommen. Sie seufzte und beschloss, ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen – Erinnerungen an eine Zeit, bevor sie ihren späteren Mann Dorian kennengelernt hatte, aber auch an ihn. Sie hatte es ihm wirklich nicht leicht gemacht, sie zu erobern, denn sie hatte nicht glauben wollen, dass er es ernst mit ihr meinte. Doch das hatte er getan, sie hatten zusammen ein wundervolles Leben gehabt, die Welt bereist und ihre Kinder großgezogen.

Mae holte ihre Fotoalben heraus, blätterte darin und dachte an Personen und Ereignisse zurück, die ihr schon lange nicht mehr durch den Kopf gegangen waren. Ab und zu blinzelte sie eine Träne fort und genehmigte sich schließlich einen Whiskey. Nachdem sie das Nosingglas geleert hatte, brühte sie sich einen Silver Needle Yin Zhen in ihrer gläsernen Teekanne auf. Die sogenannte kaiserliche Pflückung war einer der berühmtesten weißen Tees der Welt und so selten, dass Mae ihn nur ergattert hatte, weil sie Beziehungen hatte. Während sie andächtig eine Tasse genoss, beobachtete sie, wie sich die Teeblätter, die wie Maiglöckchenblätter geformt waren, in der Kanne aufrecht stellten.

Als sie von der anderen Straßenseite her Stimmen, Türenschlagen und Schritte hörte, sah sie auf die Uhr. Es war mittlerweile kurz vor zweiundzwanzig Uhr, der ganz normale Abendbetrieb im gegenüberliegenden Pub hatte also begonnen. Mae stand auf und trat ans Fenster, um nachzusehen, wer sich dort draußen herumtreiben würde. Als Erstes fiel ihr Blick auf die Person, die sie am allerwenigsten hatte sehen wollen: Anne Cleary. Sie stand unter einem der erhellten Fenster des Pubs im Kreis ihrer drei Kollegen. Die Gruppe schien in eine leidenschaftliche Diskussion verstrickt zu sein.

Anne lachte, und mit einem Anflug von Neid bemerkte Mae, wie toll sie noch aussah. Sie konnte sich offenbar nicht nur teure Pflegeprodukte leisten, sondern hatte von Mutter Natur auch gute Gene erhalten. Mae riss sich von ihr los und widmete ihre Aufmerksamkeit nun den anderen Fernsehleuten. Fergal Thurnpikes Miene strotzte nur so vor eitler Selbstgefälligkeit, während Siobhan eher säuerlich und irgendwie außen vor wirkte, so als wäre sie nicht wirklich Teil des Gesprächs. Ruby hingegen sah unglücklich aus, zumindest schloss Mae das aus ihren hängenden Schultern. Doch als die junge Frau kurz in Maes Richtung blickte, erkannte Mae Wut, die das Gesicht verzerrte.

Durchaus verständlich, dachte Mae, wenn man es mit Anne zu tun hat.

Ob die zur Schau gestellte Harmonie in der Sendung tatsächlich echt war? Mae hatte sich nicht dazu durchringen können, sich eine Folge anzusehen, doch sie hatte Orla Kanturk und Rabia darüber ausgefragt, und beide hatten behauptet, die Show wirke so, als säßen Freunde beisammen, die zwanglos plauderten. Freundschaft und entspannte Unterhaltung in Verbindung mit Anne kamen Mae unglaubwürdig vor, aber offenbar empfand der Rest Irlands das anders. Andererseits kannte der Großteil der Zuschauer Anne, das intrigante Biest, auch sicherlich nicht persönlich.

Mae konzentrierte sich wieder auf die kleine Gruppe, die immer noch vor dem Pub stand. Fergal Thurnpike ließ den Ring seines Autoschlüssels auf seinem Zeigefinger kreisen. Dabei betrachtete er Ruby auf eine Art, die Mae nicht deuten konnte. Siobhan berührte Ruby kurz am Oberarm, und die beiden lächelten sich flüchtig an, ehe sie sich wieder Anne zuwandten. Die hielt offenbar einen Monolog, dem vor allem Siobhan mit verkniffenem Mund lauschte. Anne schien zumindest eine Person in ihrem Team zu haben, die sie nicht anbetungswürdig fand.