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Spannende Lektüre und geniale Weinempfehlungen in einem Band. Ob die Eifler Kuchenspezialität Birrebunnes, die seltene Rebsorte Blauer Wildbacher oder die Aachener Printe – keine kulinarische Spezialität ist vor Carsten Sebastian Henn sicher. Begegnen Sie auf Juist einem exzentrischen Maler mit einer fatalen Liebe für Roséwein. Erfahren Sie, wie schrecklich schief ein winterliches Grillen am Rursee gehen kann. Und werden Sie Zeuge von mysteriös-blutigen Geschehnissen im Restaurant von Henns berühmtem kulinarischen Detektiv Julius Eichendorff. Der besondere Clou: Zu jeder Geschichte reicht der Autor die passende Weinempfehlung..
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Seitenzahl: 355
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Carsten Sebastian Henn (*1973) ist nicht nur einer der einflussreichsten Weinjournalisten Deutschlands, sondern schreibt mit den Julius-Eichendorff-Romanen auch die erfolgreichste Weinkrimiserie im deutschsprachigen Raum. Seine Liebe zum Wein begann früh: Als Schüler nahm der gebürtige Kölner im Chemie-Unterricht die alkoholische Gärung durch und kam bei einem Klassenausflug an die Ahr auf den Geschmack. Als er achtzehn wurde, fuhr er mit seinem alten VW Käfer in alle deutschen Weinbaugebiete, betrank sich besinnungslos an Federweißem und schlief unter freiem Himmel in den Weinbergen. Später studierte er Weinbau in Australien und erwarb einen uralten Riesling-Weinberg an der Mosel. Sein eigener Wein stammt aus St. Aldegund an der Terrassenmosel und heißt wegen seiner verwegenen Steilstlage »Piratenstück«.
www.carstensebastianhenn.de
Dieses Buch ist eine Sammlung von Kurzgeschichten. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig. Wo es reale Vorbilder für Figuren gibt, sind die Geschichten vollständig fiktional.
© 2021 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/AlenKadr
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-791-0
Kulinarische Kurzkrimis
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»Sakradi, de Wocha geht scho guad o!«
Mathias Kneißl (1875–1902), bayerischer Räuber und Mörder, als er vom Gefängnisdirektor erfährt, dass sein Gnadengesuch vom Prinzregenten abgelehnt wurde und er hingerichtet wird
§ 1MIT SCHUSSODER:HOCHPROZENTIGE MORDE
Die Glorreichen
Iserlohner Pragmatismus
Die Ballade von Hans und Ros
Bis(s) im Ahrtal
Bier her
Ein Rosé ist ein Rosé ist ein Rosé
Rot die Reben, blau die Partei
Gute Vorsätze zum neuen Jahr
Halloweenberg
§ 2MÖRDERISCH LECKERODER:HERZHAFTE GRÄUELTATEN
Das Leben ist eine lange ruhige Straße (in der Eifel)
Bauer sucht Traumfrau
Mord mit Einsicht (Eine Hommage)
Atmen in Bad Sassendorf
Der Sprung
Ein ganz verrückter Sommer
Der tut nix, der will nur grillen
§ 3SÜSSER TODODER:HOCHKALORISCHES FINALE
Alles wegen der Breuers
Print it black
Alles Eifelkrimi, oder was?
Treuetest – Die Agentur deines Vertrauens
Das vierte Gebot – Biblisches Drama in einem Akt
Bu Bär findet eine Leiche
Saugen, blasen, Hand anlegen
Ich bin eigentlich ein friedfertiger Bursche. Nee, wirklich. Tu keiner Fliege was zuleide. Könnt ihr mir glauben. Ich weiß, ich seh was brutal aus, aber da kann ja keiner was für, wie er aussieht. Das kommt ja alles von den Genen. Es sei denn, man heißt Cher und gilt als Prestige-Objekt der Schönheitschirurgie. Dann sind Gene nur gut gemeinte Vorschläge der Natur.
Ich hab mein ganzes Leben nix Schlimmes gemacht. Also nix richtig Schlimmes. Aber das hat jetzt ein Ende.
Heut bringe ich den Jürgi um.
Die blöde Sau.
Was der Jürgi für einer ist? Ein Ehebrecher. Wie er aussieht? Wie hundertzwanzig Kilo Mett mit Schnäuzer.
Aber nicht mehr lange. Heute ist Vatertag, heute passiert’s.
Diesmal gibt’s keine Kutschfahrt mit Fässchen. Wir wandern. Und zwar richtig. Eifelsteig. Da heißt es: Bierplauzen hochschleppen und Schweißmauken anstrengen. Vielleicht bringt das den Jürgi ja schon um.
Ansonsten helf ich nach.
Die Strecke ist siebzehn Komma fünf Kilometer lang, und man braucht so um die sechs Stunden. Die Zeit für den Mord inbegriffen.
Die Jungs treffen nach und nach ein, alle mit Vereins-T-Shirt. Wir sind der Kegelclub »Die glorreichen Sieben«. Wegen dem Western mit Hotte Buchholz. Und dem Kerl mit der Glatze. Genau, Charles Bronson. Seit Winfried vom Gartenstuhl gefallen ist, sind wir allerdings nur noch sechs. Aber so einen schönen Namen, den ändert man ja nicht.
Die Laune ist gut. Noch. Erst mal heißt es eincremen mit Sonnenmilch und Insektenschutz. Meine Berte hat mir Stufe 50 eingepackt. Für Kleinkinder. Zeig ich den anderen natürlich nicht. Der Jürgi soll nix mehr zu lachen haben, bevor er ins Gras beißt.
Dann geht es los. Wir machen schwer Tempo. Jeder will zeigen, was seine Waden noch hergeben. Jürgi gibt tüchtig Gas. Hoffentlich fällt ihn ein Bär an. Dem würd ich als Dankeschön eine Imkerei schenken. Dann hätt ich kein Problem mehr, dank ’nem Problembär. Manchmal bin ich echt ein Dichter.
Erste Pinkelpause. Wolles Blase drückt mal wieder. Wolles Blase drückt immer. Sie muss das Fassungsvermögen einer Walnuss haben. Ich schmeiß eine Runde Obstler. Auch François, unser französischer Kegelbruder, nimmt einen. Ich glaub ja, der kommt gar nicht aus Frankreich, sondern aus Westfalen, weil der ist so penibel. Aber von mir aus soll er aus Frankreich kommen.
Nachdem er den Obstler geext hat, schwärmt François von der frischen Luft und steckt sich eine Fluppe an. Dann fängt er genüsslich an zu husten. Der François raucht auf Lunge, seit er zwölf ist. François ist einen Meter vierundneunzig. Wenn Rauchen wirklich das Wachstum behindert, könnte er heute ohne Fluppen wohl im zweiten Stock »Hallo« sagen – ohne die Treppe zu benutzen. Seine Haut hat die Farbe von Sichtbeton. Nur eine Frage der Zeit, bis er aus Versehen mal mit einem Graffiti besprüht wird.
Er nimmt noch einen Obstler. Ich hab ihn in pur und mit Kakao. Denen hau ich die Birne zu, bevor wir im Kloster Steinfeld sind. Dass sich ja hinterher keiner dran erinnert, was mit Jürgi passiert ist. Die Strecke geht entlang der Olef, dann hoch zum Nachtberg mit seinen vierhundertdreiundsiebzig Metern – und da heißt es: Gute Nacht, Jürgi. Mit den anderen wandere ich weiter, ein Stück am Selbach entlang, zum Kloster. Und da werd ich dann beichten. Ist das auch direkt abgehakt.
Warum ich den Jürgi um die Ecke bringen will? Weil er mit meiner Perle, der Berte, was hatte. Vor einem Vierteljahr. Er meint, ich hätte nix gemerkt, weil ich an dem Abend mit dem Tambourcorps Eintracht Blaugold unterwegs war. Aber ich hatte meine Flöte vergessen. Konnte sozusagen keinen »Tüt« machen. Zu Hause hab ich dann gehört, wie meine Berte ihm die Flötentöne beibrachte. Ich mach jetzt mal keine Witze über »Blasinstrumente«. Aber da hat es bei mir kräftig »Tüt« gemacht. Ich wollte ihn direkt zerhacken, aber dann hab ich mich zusammengerissen. Und den Plan ausgearbeitet. Will ja wegen dem Saukopf nicht in den Knast. Aber heute ist Zahltag. Und ich nehm Zinsen.
Ich hab auch Tee dabei. Eine Thermoskanne. Und die ist präpariert. Mit Rattengift, tödlich, hat mein Sohn für mich extra im Internet bestellt. Die Dosis reicht für dreihundert Ratten. Oder einen Jürgi.
Alle löten sich zu. Nur ich trink aus ’ner Buddel mit ohne. Also nur Kakao. Gut, ein kleiner Schluck Rum ist drin. Aber ich brauch das auch für den Kreislauf. Hat der Arzt gesagt. Okay, das ist mein Schwager. Aber der ist ein guter Arzt. Schreibt immer krank.
»Irgendwer Tee?«
Nur Jürgi mag Tee. Aber nur Früchtetee. Wegen seinen empfindlichen Magenschleimhäuten.
»Ist das Schwarzer?«, fragt er.
»Nee, Früchte.«
Er kommt. Ich füll ihm den Alubecher.
Plötzlich ist Wolle zurück. Von der Pinkelpause. Walnuss leer. Dann muss er immer ganz schnell nachschütten.
»Boah, hab ich einen Brand.«
Wo kam denn Wolles Hand jetzt so schnell her?
»Gib mal den Tee. Ist eh gesünder als der Obstler.«
Und schwupps, Becher leer.
»Der ist aber bitter. Haste zu lang ziehen lassen.« Ein Rülpser, der aus einem wohl zu Recht vergessenen Abschnitt von Wolles Magen zu stammen scheint, wird in die Welt entlassen. »Ich muss mal austreten. Geht ruhig schon weiter.«
»Wir machen uns hier keinen Stress«, sagt Jürgi. »Der ist schlecht fürs Herz.«
»Mir ist nicht so gut. Ich komm dann nach. Euch Schlafmützen hol ich selbst auf allen vieren ein.« Wolle lacht. Aber sein Gesicht ist schon grün.
Wir sehen ihn nicht wieder.
Ist wahrscheinlich besser so. Der Wolle hat doch sehr unter seiner Blase gelitten. Jetzt muss er sich da keinen Kopf mehr drum machen. Ich glaub, er hätte das so gewollt. Ist doch kein schlechter Tod. Kabelbrand im Herzschrittmacher ist schlimmer.
Na ja, ich hab ja nicht nur Gift dabei. Nee, nee, ich bin vorbereitet. Ein guter Handwerker rechnet immer mit dem Schlimmsten. Oder führt es selbst herbei. Der Jürgi wird sterben. Und dann sind wir nur noch »Die glorreichen Vier«. Dauern die Kegelabende auch nicht mehr so lang. Ich zahl eh immer drauf. Jetzt fällt es mir wieder ein, war gar nicht der Bronson. Der McQueen ist es aber auch nicht. Ich komm schon noch drauf.
Wir sind am Aussichtspunkt.
Jürgi setzt sich neben mich. Und legt seinen feisten Arm um mich, widerlich. Es ist, als würde mir jemand eine fette Nacktschnecke ins Genick drücken. Jürgi ist dicker als das Michelin-Männchen nach dem Mittagessen. Im XXL-Restaurant. Ich weiß gar nicht, warum meine Berte den rangelassen hat. Das muss ja gewesen sein, wie wenn man mit einem Gummibärchen Sex hat. Inklusive der Geräusche, wenn man einen Luftballon reibt.
Die Berte und ich, wir haben ja schon lange nicht mehr. Ich glaub, als Deutschland das letzte Mal Fußball-Weltmeister wurde, da waren wir beide so in Stimmung, dass wir uns vier Minuten Liebesglück gegönnt haben. Ja, der Mario Götze und ich. Haben an dem Tag beide spitzenmäßig einen reingemacht. War schön, wirklich. Nur die ganze Küsserei vorher hätt ich mir gern gespart.
»Ach, Hotte. Schön ist das hier. Der weite Blick. Und wir beide haben mal Zeit, was zu plaudern. Wie lang kennen wir uns jetzt schon? Fünfzig, sechzig Jahre?«
»Mhm.« Egal, wie viele es sind. Es kommt keins mehr dazu. Der soll bloß aufhören mit seinen Vertraulichkeiten. Ich bring ihn lieber schnell um. Dafür suche ich jetzt überrascht meine Jackentaschen ab. »Du, Jürgi, ich glaub, ich hab eben meine Geldbörse verloren. Hilfst du mir suchen?«
»Klar. Wie sieht die denn aus?«
»Schwarzes Leder.«
»Schwarzes Leder. Ungewöhnlich. Muss ein Sondermodell sein.« Er lacht blöd. »Keine Angst, die finden wir.«
Ist natürlich Blödsinn auf dunkelbraunem Waldboden. Gleich sind wir weit genug von den anderen weg. Dann jage ich ihm eine Kugel in den Kopf. Einmal durch. Von Ohr zu Ohr. Muss nur gucken, dass ich mich dabei nicht mit Blut bekleckere. Das geht ja so schlecht raus. Und mein Pullunder kommt immer in den Schonwaschgang. Eine Waffe mit Schalldämpfer. Hat mir mein Sohn übers Internet besorgt. Die macht beim Schießen nur »Pffft«. Klingt wohl wie beim Deospray. Nur dass dieses Deo nie versagt.
Die anderen können uns nicht mehr sehen. Ich hab denen den Obstlerkakao dagelassen. Bei dem Zeug merkt man gar nicht, was man sich reinpfeift.
Ich schleich mich von hinten an Jürgi ran. Der stellt sein Hörgerät immer auf leise. Um Batterien zu sparen. Deswegen kriegt er das nicht mit. In dem Fall ist Geiz wirklich geil für mich. Dann lege ich an, ziele auf den Hinterkopf.
Pffft.
Und Herbert ist tot. Ich hab ihm durchs Nasenloch geschossen.
Aber Jürgi steht immer noch vor mir und sucht meine Börse.
Den Herbert nennen wir alle nur Bratpfanne. Er meint, weil er so große Füße hätte. Das stimmt aber nicht. Der heißt Bratpfanne, weil er so viel Grips wie eine hat. Aber große Füße hat er natürlich auch. Wie Sechs-Pfund-Brote. Leider. Mit denen stolpert er gerne. Wenn Obstlerkakao in seinen Adern fließt, noch öfter.
Pfft.
Jürgi hat nichts gemerkt.
Aber François. Der rennt direkt zum Herbert. Denkt wohl, er sei gefallen. François beugt sich runter.
»Was hast du denn da in der Hand? Lass mal sehen …«
Pffft.
Durchs Herz. Vorne rein, hinten raus.
Zack, liegt der auch auf dem Boden.
Jetzt sind wir also »Die glorreichen Drei«. Reicht zum Skatspielen.
Mensch, wie hieß denn der mit der Glatze noch? Der Savalas hat da doch gar nicht mitgespielt, oder?
»Du, ich find dein Portemonnaie nicht … Was ist denn mit Bratpfanne und François?«
»Besoffen.«
»Dein Obstlerkakao ist aber auch teuflisch. Sollen wir sie hier schlafen lassen?«
»Soll ja nicht regnen, ist wohl am besten. Die liegen ja schön weich auf Moos.«
»Wenn die mit ’nem dicken Brummschädel aufwachen, fühlen die sich später wie erschossen.« Er lacht wieder. Noch.
Ich muss mich erst mal erholen und wandere ein Stück. Wenn man gerne wandert, ist der Weg schön. So abwechslungsreich. Wald-, Panorama-, Tal- und Höhenwege. Der Ort Olef hat zwar einen beknackten Namen, so als hätten sie Olaf mit Schnupfen ausgesprochen oder als würden hier nur Dänen leben, aber der historische Kern bringt Jürgi zum Fachsimpeln. Er schießt auch ein paar Fotos. Aufgrund von Vandalismus fehlt die Beschilderung. Der Eifelsteig ist hier nur durch die Markierungszeichen zu erkennen. Die Jugend von heute, die hat auch kein bisschen Anstand mehr.
Erst als wir an Erdhügeln und Erdgruben vorbeikommen, die vom Bergbau übrig sind, hab ich wieder genug Kraft gesammelt, um Jürgi umzubringen. Da merkt man, dass ich kein Profi bin. Ich hol mein Schweizer Offiziersmesser aus dem Rucksack. So ein original rotes mit Kreuz drauf. Mit vierzehn Sachen dran. Auch Dosenöffner, Pinzette, Zahnstocher, Schrauben- und Korkenzieher. Mit dem würde ich Jürgi ja am liebsten den Skalp abschneiden. Aber es muss wie ein Unfall aussehen. Wobei ich nicht weiß, wie ich der Polizei die anderen Unfälle erklären soll. Das sind ja doch ganz schön viele. Sieht nicht mehr so irre nach Unfall aus. Mit einem »Herr Wachtmeister, heute ist einfach nicht mein Tag« wird es da wohl nicht getan sein. Werd ich halt alles dem toten Jürgi in die Schuhe schieben. Er muss jetzt nur unglücklich in die große Klinge fallen. Mit dem Herzen. Vielleicht beim Apfelschneiden. In Wahrheit muss ich ihm das Ding natürlich in die Brust stoßen. Womöglich mehrfach. Mag ich ja nicht so. Kann kein Blut sehen. Aber es muss wohl. Die Pistole hab ich eben nämlich bei Herbert liegen lassen, damit’s aussieht, als hätte er abgedrückt.
Plötzlich nestelt einer an meinem Rucksack rum. Beate. Unser bester Kegler. Beate heißt wirklich Beate. Ein Missverständnis bei seiner Geburt. Die Hebamme sah schlecht und meldete, dass ein Mädchen geboren sei. Sie schlug Beate direkt in ein Handtuch, und der Priester war praktischerweise auch schon anwesend und sprach gleich den Segen für Beate. Beim Standesamt konnten sie wenigstens noch einen ordentlichen Namen angeben: Franz-Josef. So nennt er sich auch auf der Arbeit bei den Stadtwerken, aber seine Freunde dürfen ihn Beate nennen. So wie er vor Gott heißt.
»Was machst du denn da?«, frage ich ihn.
Irgendwas scheppert.
»Sekunde«, sagt Beate. »Das ist ja so heiß heute.«
»Klar ist es heiß, was machst du denn da?«
»Was trinken.«
»In der roten Kanne ist aber nur Kakao ohne Obstler.«
»Alles klar.«
Ich überlege, wo ich das mit dem Schweizer Offiziersmesser am besten mache. Aber ich muss sowieso warten, bis Beate wieder vorgeht. Der ist so ein Vorgeher. Will auch immer als Erster kegeln. Was vorlegen.
»Öchö«, hör ich ihn sagen. »Röchö.«
»Sag mal, was hast denn du getrunken?«
»Den Kakao, aber vorher hab ich noch in die Stulle gebissen, die ich mir aus deinem Rucksack stibitzt hab.«
Die Stulle, ach so, da waren Rasierklingen drin. Ganz kleine, hab ich mit einer Metallsäge klein gemacht. Die hat mein Sohn für mich extra im Internet bestellt.
Beates Gesicht ist bereits dunkeltürkis. Kann auch Altrosa sein. Mit einem Stich Eitergelb um die Augen.
»Tschüss, Beate. Ich konnt dich gut leiden.«
»Was?« Da plumpst er auf den Boden wie ein reifer Apfel.
Die glorreichen Zwei. Und Jürgi wird auch gleich dran glauben müssen.
Dann gibt es nur noch den glorreichen Hotte.
Jedes Mal das Gleiche. Ich hasse solche Situationen. Das wird mich mal wieder den Schlaf kosten. Ich komme einfach nicht auf den Namen von diesem Schauspieler. Dabei seh ich ihn genau vor mir. Der mit der Glatze halt.
Jürgi hat überhaupt nicht mitbekommen, was mit Beate passiert ist. Er hat die ganze Zeit nur vor sich hin gestarrt. Jetzt legt er mir wieder seinen dicken Arm um die Schulter.
»Hotte, ich muss was loswerden. Sag jetzt nix, das muss raus. Ist wie ein Geschwür in der Seele. Ich will dir das schon lange sagen. Vor einem Vierteljahr, da bin ich abends bei euch – also bei Berte und dir – vorbeigekommen, um einen Kuchen fürs Pfarrfest vorbeizubringen. Meine Frau hatte mich geschickt. Deine Berte war an dem Abend komisch, weißt du, so richtig komisch. Also nicht komisch wie ein Clown, eher seltsam, verstehst du? Die hatte den Film mit der Romy Schneider gesehen, ›Sissi‹, den dritten Teil, und hat geheult. Sie hatte wohl auch was getrunken und hat mir auch eingeschenkt, immer wieder, dabei wollte ich gar nicht, und dann wurde sie so … kuschelig. Weißte? Ich wollte gleich wieder weg. Und dann packt die mich plötzlich.« Jürgi kommen die Tränen. »Hotte, ich will echt nicht sagen, wo mich deine Berte angefasst hat. Und eh ich mich versah … Also, Hotte, schön war das nicht. Ich hab das auch gar nicht gewollt. Ich hab auch die ganze Zeit dabei gelitten und gebetet. Aber da ist man als Mann ja wehrlos. Mach mit mir, was du willst, Hotte. Ich hab es verdient. Wir sind doch Freunde, und so was macht man nicht mit einem Freund.«
»Nee«, sag ich. »Wirklich nicht. Aber mit dessen Frau anscheinend. Wie wär das denn, wenn ich mit deiner Ilse?«
»Das willste nicht wirklich, Hotte! Glaub es mir. Ich nehm vorher immer Schmerztabletten. Vierhunderter Ibuprofen. Drei Stück.«
Jürgi bleibt stehen. Ich krampfe meine Hand um das Schweizer Offiziersmesser. Ich bin so irre wütend, dass ich den Dosenöffner aufklappe. Schön stumpf. Der wird Jürgi richtig wehtun. Nix merkt der von meiner Absicht, der redet immer noch weiter.
»Und Hotte, wo wir so offen reden. Die anderen ausm Verein. Wolle, Herbert, François und sogar Beate, die haben alle, na ja, also, es war nicht immer ›Sissi‹, nee, nee, wohl auch mal ›Der Frosch mit der Maske‹, da hatte sie wohl Angst bekommen und wurde dann auch … so kuschelig. Ganz zu schweigen von ›Zur Sache, Schätzchen‹ mit der Uschi Glas.«
»Nee«, sage ich. »Das ist jetzt nicht wahr.«
»Doch, Hotte. Ist es. Das werden dir die Jungs bestätigen.«
Nee, das werden sie nicht. Es sei denn, Zombies dürfen auch den Eifelsteig wandern.
»Sind wir noch Freunde, Hotte?«
Ich drehe mich um. Da ist keiner mehr. Ich habe meine ganzen Kumpels umgebracht. Und womit? Mit Recht. Sie haben es verdient, aber schade ist es trotzdem. Jürgi ist mein letzter Freund.
»Jürgi«, sage ich deshalb. »Du bist sogar mein allerbester Freund.«
Wir umarmen uns. Männer machen so was zwar nicht, aber uns ist einfach danach. Ich habe an diesem Tag einen guten Freund wiedergefunden. Als Strafe für das Stelldichein mit Berte wird er bis an sein Lebensende die Runden in der »Jägerstube« übernehmen müssen. Eigentlich ein gutes Geschäft.
Am Kloster Steinfeld wartet meine Berte auf uns. Sie hat sich bereit erklärt, uns was zum Grillen herzufahren.
»Und? Hat alles geklappt?«, frag ich sie.
»Da drüben steht die Kühltasche. Ich bleib aber nicht zum Grillen. Heute läuft ›Die Mädels vom Immenhof‹ im ZDF. Und der Mann von der Uschi wollte noch was vorbeibringen, das ich morgen für ihn auf dem Trödelmarkt an der Kirche verkaufen soll.«
»Berte?«
»Ja, Hotte?«
»Aber erst trinkst du eine Tasse Tee mit uns.«
Ich schütte ihren Becher bis oben hin voll.
»Wo sind eigentlich die anderen?«, fragt sie.
»Mach dir keine Sorgen«, antworte ich. »Die wirst du gleich zu sehen bekommen.«
Sie trinkt das Zeug in einem Zug. So ist sie meine Berte. Oder besser: So war sie.
Yul Brynner! Natürlich. Yul Brynner. Jetzt werd ich ruhig schlafen können.
Wenn Sie sich wie ein Teil der »Glorreichen« fühlen wollen, sollten Sie zu Schnaps-Kakao greifen. Raten kann ich Ihnen das aber nicht. Ich finde, für Wanderungen ist ein anderes alkoholisches Getränk ideal: ein schön gekühlter, frischer und trockener Weißwein, der nicht zu viel Alkohol aufweist. Luftlinie die nächstgelegene Quelle für solch einen Tropfen ist das Ahrtal, genauer der Ort Altenahr. Dort sitzt mit dem Weingut Sermann auch der Weißwein-Spezialist des kleinen Anbaugebiets, das vor allem für seine Rotweine von Spät- und Frühburgunder bekannt ist. Ein Wanderwein sollte preislich im Rahmen liegen und richtig Spaß machen, um die Lebensgeister wieder in Schwung zu bringen. So einer ist der Altenahrer Riesling »von den Terrassen«, ein trockener Tropfen mit knackigen Apfel- und reifen Pfirsicharomen. Danach geht man garantiert noch ein paar Kilometer extra.
Oder legt sich mit der Flasche ins Gras.
Das Risiko sollten Sie aber eingehen.
Ich sag mal so: Wir wollten einen Junggesellinnenabschied, aber stilvoll. Also nicht mit dem Bauchladen auf dem alten Rathausplatz Kondome, Gleitcreme und Dildos verkaufen. Sondern schön essen gehen, natürlich auch schön Prosecco trinken, halt Mädels unter sich. Die Orga hatte ich, da die Braut, also Bettina, ja meine Schwester ist. Bettina ist echt der absolute Oberhammer. Wobei, »Bettina« stimmt ja gar nicht mehr, sie lässt sich ja seit einiger Zeit Bibi nennen. Sie sieht aber auch nicht mehr aus wie eine Bettina, hat sich völlig runderneuern lassen: neue Spoiler, Hochglanzpolitur, tiefergelegt, wenn Sie wissen, was ich meine. Also Lid- und Bauchdeckenstraffung, Lippen- und Nasenkorrektur, auch eine Intimkorrektur (ich hab da lieber nicht weiter nachgefragt) und vor allem die Brüste, gleich dreimal. Was da entstanden ist, muss man schon als Kunst bezeichnen, die Natur bekommt so was auf jeden Fall nicht hin. Schwerkraft ist für diese Dinger kein Thema. Und da Männer optische Wesen sind, ist es auch kein Wunder, dass quasi ganz Iserlohn hinter ihr her war. Auch Dirki, der Bräutigam, ehemals mein Dirki, der dann eben das neuere Top-Modell aus demselben Haus gewählt hat. Bevor Sie fragen, ich bin da längst drüber weg. Mein Slogan war immer schon: Nur das Beste für mein Schwesterherz!
Deshalb auch Gut Lenninghausen in Drüpplingsen. Das liegt so idyllisch über dem Ruhrtal. Und es gab noch einen anderen Grund: Wir konnten die Männer in der Brennerei auf dem Anwesen parken. Das war meine Idee, ich bin immer für pragmatische Lösungen. Die Kerle sollten Dirkis Abschied vom Junggesellenleben mit einer Schnapsprobe feiern, während wir Mädels im Gewölbekeller nebenan sitzen und bis spät in die Nacht gesittet trinken würden. Oder auch ein bisschen ungesittet.
Das war zumindest der Plan.
Das Ergebnis kennen Sie ja.
Aber Sie haben ja gesagt, ich soll alles noch mal erzählen, also mach ich das. Ist ja wichtig, dass Sie von der Staatsanwaltschaft keine falschen Schlüsse ziehen.
An dem Tag haben wir Bettina natürlich zuerst bei sich abgeholt, ganz stilvoll in der Stretchlimo mit Chauffeur im dunklen Anzug. Dann in den Beautysalon und so richtig aufstylen – nicht dass Sie denken, Bettina würde immer aussehen wie eine russische Luxusnutte! Das war das Melania-Trump-Special! War im Angebot. Da bin ich ganz pragmatisch.
Dann haben wir rund ums Gut Lenninghausen noch ein Fotoshooting mit uns allen gemacht. Ich hatte Accessoires besorgt, also bunte Perücken, lustige Brillen, Schminke, falsche Wimpern. Das hat uns allen viel Spaß gemacht. Bevor Sie fragen, weil Sie bei Bettina so extrem viel Promille im Blut gefunden haben: Da haben wir schon angefangen, ein bisschen was zu trinken. Also eigentlich schon in der Limo. Ganz eigentlich bei Bettina in der Wohnung, als wir sie überrascht haben. Man muss ja erst mal anstoßen und vorglühen!
Wo war ich? Ach ja, Fotoshooting rund ums Gut Lenninghausen. Da waren auch ein paar gewagte Aufnahmen dabei, das haben Sie ja vielleicht schon gesehen.
Danach ging es für uns Mädels in den Gewölbekeller vom Restaurant, den hatten wir an dem Abend ganz für uns. Mit »wir Mädels« meine ich die Bettina, also die Bibi, die Annika, also die Anni, die Dini, die heißt eigentlich Daniela, dann die Tanja, die Andrea, die Vanessa, die Henny, die Anke und die Elsbeth, also die Oma von Bettina und mir. Die hört und sieht zwar kaum noch was, aber ist immer gern unter Menschen. Da sie auch nix isst, hat das nicht extra gekostet.
Von dem Fotoshooting hatten wir alle total Hunger. Das Menü hatte ich vorher mit dem Koch abgesprochen: ganz traditionell sauerländisch, also Potthucke, Himmel und Erde, Bockwurst, Pumpernickel, so ein Best-of-Heimat. Auch um eine ordentliche Grundlage für den Alkohol zu schaffen. Da bin ich ganz pragmatisch.
Der Abend lief auf jeden Fall superduper. Ich hatte noch einen Film auf einer Leinwand gezeigt, den ich über Bettina und Dirki gemacht hab, also Kindheitsvideos zusammengeschnitten, Interviews mit dem Freundeskreis und den Eltern, total funny. An Musik liefen an dem Abend nur Bettinas Lieblingsbands, also dieser ganze Rap- und Hip-Hop-Kram. Und dann, nach dem Dessert, da war es so halb elf, kam dann der Höhepunkt: der Stripper!
Und ja, den hatte ich auch ausgesucht. Natürlich! Da müssen Sie gar nicht so gucken, ich hab die ja nicht vorher bei mir Probe tanzen lassen. Ich bin da nur nach den Fotos gegangen. Da gab es Kurt Klöte, Lasse Latte und natürlich Rudy Rohr. Auch einige amerikanische Stripper waren im Angebot wie Dickie Big Balls und Woody McStiff. Warum mir gerade Captain Long John and his Ding-Dongs am besten gefallen hat, kann ich Ihnen gar nicht mehr sagen, wahrscheinlich weil er als Pirat auftritt. Einen Feuerwehrmann, der mit seinem – zwinker-zwinker – Schlauch spielt, fand ich zu öde. Feuerwehrmänner sieht man in Iserlohn ja manchmal, aber Piraten? Nie! Also außer damals im Stadtrat.
Auf jeden Fall erklingt plötzlich Piratenmusik, und er kommt rein in kompletter Jack-Sparrow-Montur. Bettina musste sich auf einen Stuhl setzen, und dann flog bei dem Piraten ein Fetzen nach dem anderen, die waren alle mit Klettverschlüssen festgemacht. Voll pragmatisch, fand ich gut. Vor dem Gesicht hatte er aber die ganze Zeit so einen Schleier mit Segelschiff drauf. Allerdings hab ich bei ihm, da muss ich ganz ehrlich sein, eigentlich kaum ins Gesicht geguckt. Aber was will frau auch machen? Diese Muskeln überall! Und das ganze Geschlackere untenrum. Von links nach rechts, sogar in Kreisen! Er rieb sich auch an Bettina und wurde erregt, also zum Teil. Wie nennt man das? Mittelerregt? Mediumhart? Halbsteif? Ja, ich komm zum Punkt, ist ja gut. Bettina hat super mitgemacht, ihm die Brust eingeölt und so.
Dann zog er theatralisch die Maske ab.
Und es war, Sie wissen das jetzt natürlich schon, Christoph Wüschel. Bettinas Ex. Der immer noch total in Bettina verschossen ist und ihr ständig WhatsApps schickt. Der Mann, auf den Dirki so gar nicht kann.
Die Mädels kannten ihn natürlich auch alle und kreischten auf – also alle bis auf Elsbeth, die hat von dem Ganzen kaum was mitbekommen und die ganze Zeit nur glücklich vor sich hin gelächelt und an ihrem Bierchen gesüppelt. Alle anderen schossen Fotos mit ihren Handys oder filmten die ganze Chose. Und Bettina, zu diesem Zeitpunkt schon lattenstramm, also wortwörtlich … ’tschuldigung, dass ich lachen muss! Hier ist natürlich gar nichts zum Lachen … So … bin wieder ernst!
Wenn jetzt einige behaupten, ich hätte vorher gewusst, dass der Stripper Bettinas Ex ist, sag ich: Moment mal! Wie hätte ich bitte wissen können, dass hinter Captain Long John der Christoph steckt? Ein Pfarrerssohn aus Griesenbrauck? Da wasche ich meine Hände in Unschuld, aber porentief!
Jetzt kommen Sie mir bloß nicht mit dem Video, das Dirki in dem Moment sofort auf sein Handy bekommen hat. Ich kann nur sagen: Da ist eine an meinem iPhone gewesen und hat das gemacht. Das Ding lass ich ja immer irgendwo rumliegen, und alle wissen, dass mein Geburtsdatum das Kennwort ist.
Aber wer immer das gemacht hat, böse war es ganz sicher nicht gemeint. Sondern nur lustig, so neckisch lustig halt.
Dirki bekam auf jeden Fall diesen Videoclip geschickt, auf dem der Christoph der Bettina gerade seinen Long John und seine Ding-Dongs präsentiert und sie ihm an den Po packt.
Als Dirki das gesehen hat, war er schon nicht mehr ganz nüchtern.
Normalerweise verkostet man bei einer Probe in der Brennerei nur fünf Schnäpse oder Liköre. Aber Norbert, also der andere Trauzeuge, hat dafür gesorgt, dass die Jungs die ganz große Hafenrundfahrt bekommen haben, also alles, was das Haus zu bieten hat. Zwetschge, Himbeere, Mirabelle, Williams, Obstler, Wacholder, Doppelwacholder, Korn, Doppelkorn, Schlehenlikör, Kümmellikör, Weihnachtslikör, Gin-Bim und Eierlikör. Und bei dem Eierlikör, das hat der Norbert mir nachher erzählt, da war das Gegröle dann so richtig losgegangen. »Mehr davon! Männer brauchen Eiweiß!« und »Ist gut für meine Eier!« oder »Wer am meisten davon säuft, hat die dicksten Eier!«. Sie können sich das ja sicher gut vorstellen. Die bekamen sich gar nicht mehr ein und pfiffen sich das Zeug rein wie nix Gutes. Und das hat zwanzig Umdrehungen! Merkt man nicht, ist aber so. Dazu gab es noch eine kleine Zaubershow – als hätten die nicht so schon lauter Sternchen gesehen!
Als Dirki den Videoclip gesehen hat, hielten sich die Jungs auf jeden Fall nur noch mit Mühe in der Senkrechten.
Als Erstes hat Dirki sein Handy volle Möhre an die Wand geschmissen. Und als Zweites ist er zu uns in den Gewölbekeller rübergerannt, wobei »gerannt« … Also sagen wir mal: schnell getorkelt. Die Bettina hat davon natürlich gar nichts mitbekommen, die hatte gerade einen Piratenpopo mit Totenkopf-Tattoo vor dem Gesicht. Also auf einer Backe war das Totenkopf-Tattoo, auf der anderen ein Pfeil, über dem geschrieben stand: »Captain Long John befiehlt: Hier knutschen!« Und da die Bettina für jeden Spaß zu haben ist, hat sie das dann auch gemacht. Die hat ihn richtig abgeschlabbert, unter lautem Gejohle von uns natürlich.
Da war es dann auch vorbei mit halbsteif, das kann ich Ihnen aber sagen.
Auftritt Dirki.
Ich frag mich bis heute, woher er das Messer hatte. Muss er sich von einem der anderen Tische gegriffen haben. War so ein kleines, gar nicht besonders spitz. Um damit irgendwo reinzustechen, muss man schon ziemlich viel Kraft aufwenden, um … also … Eigentlich Respekt, dass er das geschafft hat!
Dirki also mit Messerchen stürmt auf Bettina und Captain Long John los. Oder besser: Er fällt auf sie los. Der Captain bringt sich im letzten Moment in Sicherheit, Bettina nicht. Weil: sitzt ja auf dem Stuhl, gefesselt mit Seidentüchern. So schwarzen, die aussehen wie kleine Piratenflaggen. Total süß irgendwie. Egal, Dirki also mit ausgestrecktem Arm und Messer in Bewegung, total unaufhaltsam, und zack, steckt das Messer tief in Bettinas Busen. Also dem linken. Dem, wo das Herz ist. Gibt es bei Busen eigentlich einen Singular? Buser? Buso? Also die linke Titte, sagen wir es, wie es ist!
Bettina verlor sofort das Bewusstsein, vermutlich wegen des Schocks.
Dirki, der sich gerade wieder vom Boden aufgerappelt hatte, sieht das, schreit auf, will zu Bettina, rutscht auf dem Blut und so aus, fällt und schlägt dabei mit dem Hinterkopf auf eine Tischkante. Das ist so richtig doof für ihn gelaufen.
Aus der Bettina ploppt das Messer raus, und es fängt an, aus der Wunde zu spritzen. Zuerst rot, aber dann viel mehr so beige. Das ist ja eigentlich gar keine richtige Farbe, aber das war so beige halt. Wir dachten, die Bettina hat es erwischt, aber denkste! Das Silikonimplantat hat sie gerettet. Mit echten Möpsen wär sie erledigt gewesen, garantiert.
Ich bin natürlich direkt zu Bettina und hab versucht, die Blutung, also die Spritzung, zu stoppen und sie wach zu bekommen, währenddessen haben die anderen sie losgemacht und den Notarzt gerufen. Erst durch einige wirklich feste Schläge hab ich sie wieder unter die Lebenden prügeln können. Schön war das nicht, aber musste ja sein. Ich bin da ganz pragmatisch.
Und was sieht Bettina als Erstes, nachdem sie die Augen wieder aufhat? Ihren Dirki auf dem Boden liegen, bewusstlos, Blut um seinen Kopf. Ich möchte an der Stelle noch mal erwähnen, dass auch die Bettina schon richtig knülle war. Wir hatten ja nicht nur Prosecco getrunken, sondern auch den Eierlikör, müssen Sie wissen. Und da kann man sich so richtig festtrinken! Das ist ein teuflisches Zeug, wirklich.
Bettina sieht also Dirki, bekommt einen Kreischanfall, zittert am ganzen Leib, greift sich das Messer vom Boden und geht auf Captain Long John los. Wenn Sie jetzt fragen, warum da keiner dazwischengegangen ist: Das ging alles so schnell! Auch der splitterfasernackte Captain Long John – das heißt, den Piratenhut, den hatte er immer noch auf –, also der wusste nicht, was passiert, als die Bettina schreiend auf ihn zukam, ihn umrannte, sich auf ihn setzte und ihm das Messer in die Brust rammte.
Und der hatte natürlich keine Silikonmöpse.
Die Bettina hat dann auch nicht nur einmal zugestochen, die macht ja keine halben Sachen. Die hat den so richtiggehend perforiert. Wie im Wahn. Dafür war das Messer natürlich gar nicht gemacht, und irgendwann, so nach dem zwanzigsten, dreißigsten Mal, ist es abgebrochen. Sonst würde die Bettina wahrscheinlich heute noch zustechen … ’tschuldigung, dass ich schon wieder lache, aber ist doch wahr.
Jetzt kommt Dirki wieder zu Bewusstsein, sieht Bettina auf dem nackten Captain sitzen, voller Blut, und fällt wieder in Ohnmacht. Dabei hat er sich wieder gestoßen, diesmal zwar mit dem Hinterkopf nur auf den Steinfußboden, aber da war wohl so eine fiese spitze Kante an der Fußleiste, auf jeden Fall fing das Bluten wieder an. Das war eine Riesensauerei, kann ich Ihnen sagen! Die Rechnung für die Endreinigung war richtig happig.
Dirki kam dann ja erst im Notarztwagen wieder zu sich. Da war der Tod vom Captain schon festgestellt worden. Haben Sie die Spitze von dem Messerchen eigentlich mittlerweile wieder aus ihm rausbekommen, oder war die zu tief …? Ist jetzt ja auch egal. Tot ist tot, und Schnaps ist Schnaps. Die Sanitäter haben Dirki dann wohl erklärt, dass die Bettina in Gewahrsam genommen worden ist, aber er hat das wegen seiner Kopfverletzungen nicht richtig verstanden. Das ist auch bis heute so geblieben. Er lächelt immer glücklich, schafft es aber nicht mehr, seine Schuhe zuzubinden.
Das war es natürlich mit der Hochzeit.
Also mit der von Dirki und Bettina. Ich heirate nächste Woche den Norbert. Ich sehe in Ihren Augen, dass Sie das dumme Gerede über ihn gehört haben. Aber es ist eine dreiste Lüge, was die anderen Jungs da erzählen, dass Norbert dem Dirki immer nachgeschüttet hätte, obwohl der gar nicht wollte. Der Dirki ist schließlich erwachsen, da kann man seinen Rausch niemand anderem als sich selbst zuschreiben. Also ehrlich! Und der Norbert hat ihm auch nicht das kleine Messer in die Hand gedrückt. Dass es gar nicht zum Besteck vom Restaurant passt, sondern zu dem in seiner Wohnung, ist ein blöder Zufall. Das sagt sein Anwalt auch. Das Messer ist von Ikea, das hat jeder Zweite in der Schublade.
Meinen Junggesellinnenabschied feier ich auf jeden Fall schön im Gut Lenninghausen.
Trotz allem hab ich gute Erinnerungen daran. Vor allem an den Eierlikör.
Ich bin da ganz pragmatisch.
Es ist kaum zu glauben, aber Eierlikör ist wieder in. Als ich jung war, stand er für mich auf einer Stufe mit Klosterfrau Melissengeist als Omma-Glück – tatsächlich sind achtzig Prozent der Käufer Frauen. Mittlerweile gibt es etliche Hipster-Varianten für entsprechendes Kleingeld, aber zu dieser Geschichte passt natürlich nur der Iserlohner Eierlikör der Brennerei Bimberg, der zwanzig Umdrehungen bietet – und den es im Hochsommer nicht gibt.
So deutsch Eierlikör auch klingen mag, seine Wurzeln hat er tatsächlich in Brasilien, bei den Ureinwohnern des Amazonas. Im 17. Jahrhundert entdeckten europäische Kolonialisten dort ein Getränk namens Abacate aus Avocados. Zusammen mit Rohrzucker und Rum wurde daraus »Advocaat«. Es war wohl Eugen Verpoorten, der das Getränk in Antwerpen nachstellen wollte und keine Avocados zur Hand hatte, dafür aber Eier. Der Eierlikör war geboren.
Auf dem Kreuzfahrtschiff, da geht’s hoch her
Doch einem fällt das Leben schwer
Hans aus der Schweiz denkt grad an Mord
Seine Frau, die Ros, muss über Bord
Zu Haus in Zürich verkauft er Dosen
Die Ros mag lieber ihre Rosen
Und trinkt seit jeher sprudelnden Wein
Drum schenkt er ihr nun tüchtig ein
Ein teurer Cava soll es sein!
Das Schiff fährt prächtig, die Segel voll
Hans und die Ros im Gleichklang: Toll!
Spät am Abend, das Deck ist nass
Und Hans, der rollt schon wie ein Fass
Flanieren will die Liebste nun
Hans will das gerne mit ihr tun
Das Schiff, es schwankt nun doch schon sehr
Viel Seegang, es geht recht hoch her
Auf dem Lido gibt’s ’ne Probe
Auf dem Lounge-Deck Wein-Gelobe
An der Bar raucht man Zigarren
Im Fitnessraum turnt man am Barren
Na gut, ein Barren ist es nicht
Doch Laufband reimt sich fürchterlich-t
Die Küste, sie zieht sanft vorbei
Tarragona einwandfrei
Die Ros blickt froh über die Reling
Der Hans fühlt sich als Bismarckhering
Übel ist ihm, kalkweiß die Haut
Er hat schon sehr schwer abgebaut
Bordarzt Christian, denkt er eben
Rettet ihm nachher das Leben
Die Ros derweil die Aussicht preist
Hans wünscht, sie wär schon »abgereist«
Doch Ros, die hat längst mitbekommen
Warum Hans sie hat mitgenommen
»Du«, sagt die Ros, »schubst du mich nun?
Sag, muss ich das gar selber tun?
Betrunken bin ich doch nun fein
Von Cava, Merlot, all dem Wein
Doch schlecht ist nun dir
Denn in dein Bier
Schüttete ich Gift, und nicht zu knapp
Die schöne Welle macht gleich Schwapp
Rufen kannst du jetzt nicht mehr
Die Zunge ist dir viel zu schwer
Grüß mir die Fische, grüß das Meer
Mein Leben ist nun nicht mehr schwer
Deine Geliebte folgt im Hafen
Von Barcelona, wenn alle schlafen
Sie mag doch Fisch so gern verspeisen
Dank Gift wird sie danach entgleisen
Eine schön’re Leich gab es noch nie
Doch tot ist tot, und hie ist hie!«
Und was ist die Moral von der Geschicht?
Wenn’s Wein gibt, trink das Bier bloß nicht!
Dieses kleine Krimigedicht ist auf einer Weinkreuzfahrt entstanden, die ich mit der »Sea Cloud II« machen durfte, als »Autor an Bord«. Tarragona wird genannt, wo wir auch ein Weingut besuchten, aber wenn ich mich heute an die Reise erinnere, dann kommt mir Cava in den Sinn, den wir an Deck genossen haben wie auch viele andere Passagiere. Der Champagner Spaniens ist – in seiner klassischen Form – ganz anders als der berühmte französische Bruder. Das liegt an den Rebsorten Xarello, Macabeo und Parellada. Großartig ist zum Beispiel der »Clos Nostre Senyor Gran Reserva Premium Brut Nature« von Mestres, dem ersten Haus, das jemals den Namen »Cava« verwendete. Hier werden die Schaumweine extrem lang gelagert und nicht – wie zumeist in der Champagne – während der Reifung auf der Hefe mit Kronkorken verschlossen, sondern mit Korken. Das führt zu einer ganz feinen Oxidation und vielen Nuss- und Röstnoten, aber auch einem Hauch Marzipan – natürlich alles in knochentrocken. Ein hochindividueller Schäumer!
Der Mond strahlte am Himmel über Heppingen wie ein frisch poliertes Fünf-Mark-Stück. Diese Münze war zwar seit vielen Jahren nicht mehr im Umlauf, aber Gernot dachte stets im großen zeitlichen Rahmen. So schöne Nächte wie diese, mit einem lauen Windchen und einer wie entfesselt aufknospenden Natur, waren selten. Egal, wie viele Jahrhunderte man schon lebte.
Das Schicksal meinte es heute gut mit ihm. Denn auch das Ambiente war beim Essen von großer Wichtigkeit. Und er würde gleich hier essen, in dem Gebüsch hinter sich, das weit von der Straßenlaterne entfernt war. Wenig Licht fiel darauf, niemand würde erkennen können, wenn er herzhaft zubiss. Selbstverständlich nur mit einem Zahn. So machten es alle seit dem großen Missverständnis im Jahr 1897, als der irische Theatermann, dieser Bram Stoker, einen Roman über den rumänischen Fürsten Vlad III. Drăculea veröffentlichte. Seitdem dachte jeder bei zwei Einstichen am Hals gleich an Vampire. Weswegen alle nur noch einseitig bissen. Nur keine Aufmerksamkeit erregen. Glücklicherweise vergaß Stoker, das Serum zu erwähnen. Das Prozedere glich dem der Stechmücken. Diese spritzten in die Saugstelle Proteine ein, um das Gerinnen des Blutes zu verhindern. Das taten Vampire auch, doch in ihrem Speichel befand sich zudem ein leichtes Narkotikum, welches das Opfer seine kurze Zeit als Nahrungsspender auf der Stelle vergessen ließ.
Die Natur war bewundernswert erfinderisch.
Gernot hatte seit einer Woche gefastet, um sich heute die Blutbahnen richtig vollschlagen zu können. Der Durst brodelte in ihm, und er merkte, wie sich Wahnsinn in sein Verlangen mischte. Doch der heutige Genuss würde das Warten wert sein. Der Höhepunkt seines Lebens als Gourmet-Vampir. Niemand wusste besser als er, wo schmackhaftes Blut zu bekommen war. Zum Beispiel diese kleine Māori-Tanzschule an Neuseelands Südostküste, wo der salzige Geschmack dem Blut einen besonderen Kick gab. Oder diese eine, ganz besonders entlegene Ranch in Argentiniens Hochland, wo die Männer sich nur von gegrilltem Fleisch ernährten, wodurch ihr Blut eine glutige Würzigkeit besaß. Gernot berichtete regelmäßig in seinem Internetblog über die Funde. Natürlich passwortgeschützt.
Doch über sein heutiges Festmahl würde er nichts schreiben. Es sollte sein Geheimnis bleiben. Schließlich war es ihm auch als solches anvertraut worden.
Trat da schon jemand aus dem Restaurant »Zur alten Eiche«? Ja … aber nur zum Telefonieren. Und zum Rauchen! Raucher würde er heute nur zur Not aussaugen. Das ganze Nikotin war schlecht für seinen Blutkreislauf. Es gab allerdings Vampire, die schreckten nicht davor zurück. VIP-Sauger zum Beispiel. Die bissen nur Berühmtheiten. Und wer Altkanzler Helmut Schmidt in seiner Sammlung hatte haben wollen, der musste eben ein gerüttelt Maß an Teer in Kauf nehmen.
Der Mensch beendete sein Gespräch und ging zurück ins hell erleuchtete Sternerestaurant des berühmten Julius Eichendorff. Ein Mann mit exquisitem Geschmack, dem Gernot vermutlich auf ewig dankbar sein musste.
Und ewig konnte man in diesem Fall wörtlich nehmen.
Gernot trat näher an den Glaskasten mit der aktuellen Menükarte. Ein marmoriertes Blatt kündete vom heutigen Event. »Frühburgunder-Abend« stand dort. Einmal im Monat veranstaltete Eichendorff einen solchen. Es gab nichts anderes Alkoholisches als diese Rebenspezialität des kleinen Ahrtals, alle Gerichte waren so konzipiert, dass sie perfekt dazu passten.
Und nichts vermählte sich dermaßen gut mit Menschenblut wie Frühburgunder.
Es war, als würden einem Teufelchen auf die Zunge pieseln.
So hatte sein Onkel Friedensreich es beschrieben. Ein Nennonkel, der Gernot in seinen ersten Jahren als Vampir ab und an zur Seite gestanden hatte. Friedensreich hatte im Ahrtal gelebt. Bis er vor Kurzem gestorben war. Es musste fürchterlich gewesen sein. Geschwollene Zunge, blutunterlaufene Augen, Pusteln auf der eisigen Haut. Mit seinen letzten Worten hatte er einen Brief an Gernot diktiert und ihm von diesem Restaurant erzählt. Auf diese Weise hatte er Frieden schließen wollen, denn sie waren zerstritten gewesen. Gernot war mit Friedensreichs Gefährtin durchgebrannt, jugendlicher Hitzkopf, der er vor einigen Jahrhunderten noch war. Danach hatten sie nie mehr miteinander gesprochen, obwohl Gernot es mehr als einmal versucht hatte.
Frühburgunder-Blut, hatte Friedensreich geschrieben, sei der Beweis, dass Gott den Vampiren ihre Schuld vergebe. Doch nur im Ahrtal sei es so köstlich, wegen des Devonschiefers, auf dem die Trauben hier reiften.
Heute Abend würde Gernot das Elixier endlich kosten!
Seine Arterien und Venen waren mittlerweile so vertrocknet, dass er sie bei jeder Bewegung knistern hören konnte. Seine letzten verbliebenen Blutstropfen kratzten durch die Bahnen.
Die große, gusseiserne Tür des Restaurants öffnete sich wieder. Abermals trat ein einzelner Mensch heraus, männlich, knöpfte den Mantel zu – und zündete sich keine Zigarette an.
Abendessen war fertig.