Morgen war ein schöner Tag - Christian Eckl - E-Book

Morgen war ein schöner Tag E-Book

Christian Eckl

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Beschreibung

Unschuldig verurteilt – doch die Welt dreht sich weiter: Thriller aus einem anderen Deutschland Wiedervereinigung – Ende der Sowjetunion – Wirtschaftskrisen ... Was wäre, wenn du 30 Jahre Weltgeschichte im Gefängnis verpasst hättest? Und dabei trotzdem mitten im Herzen des Geschehens warst? Damals ... November 1989: Ein junger russischer Geheimdienst-Offizier tobt. Der schmächtige KGB-Mann ist in Dresden stationiert und erlebt, wie die sozialistische Welt rund um die Wende aus den Fugen gerät. Nicht von ungefähr erwirbt er sich in diesen Tagen seinen Ruf als "Giftzwerg". Mit rücksichtsloser Brutalität wütet er unter der protestierenden Bevölkerung. Eines der ersten Opfer seiner Intrigen ist der junge DDR-Bürgerrechtler Berthold Grün. Mit Hilfe geschickt fingierter Beweise lässt ihn der KGB-Agent für mehrere Morde verurteilen, die er nicht begangen hat. ... und heute 30 Jahre später hat der ehemalige Geheimdienst-Offizier in Russland unermessliche Macht angehäuft und einen Krieg im Herzen Europas entfesselt, der die ganze Welt in den Abgrund zu stürzen droht. Als Berthold Grün nach endloser Haftzeit entlassen wird, erkennt er Deutschland nicht nur wegen des DDR-Mauerfalls kaum wieder. Schon bald muss er eine Mordserie aus seiner Jugend aufklären, deren Hintergrund der Schlüssel zur Lösung seiner persönlichen Probleme ist. Doch die Verstrickungen des Falls reichen über drei Jahrzehnte hinweg: Bis hin zur deutschen Bundeskanzlerin - und einer Verschwörung in den höchsten Kreisen der internationalen Politik. Fiktiv, und doch erschreckend nahe an der Realität: "Tarnkäppchen" ist ein spannender Verschwörungsthriller, ein klug konzipierter Wirtschaftskrimi und eine Polit-Satire mit einem frischen Blick auf deutsche Zeitgeschichte!

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Morgen war ein schöner Tag

Polit-Thriller von Christian Eckl

 

Inhaltsverzeichnis

 

Einleitung

Erster Teil 1989

Zweiter Teil 2020

Dritter Teil Frühjahr 2021

Rückblende 2006

Vierter Teil Sommer 2021

Fünfter Teil 2022

Nachbemerkung des Autors

Dank

Über den Autor

Haftungsausschluss

Impressum

 

Einleitung

 

Kurz vor der Wende wird der DDR-Bürgerrechtler Berthold Grün im November 1989 aus seinem Alltag herausgerissen und inhaftiert. 30 Jahre später macht er Erfahrungen, die ihn zutiefst verstören. Und muss schon bald eine Mordserie aus seiner Jugend aufklären, deren Hintergrund nicht nur der Schlüssel zur Lösung seiner persönlichen

Probleme ist. Denn die Verstrickungen des Falls reichen über drei Jahrzehnte hinweg bis in die höchsten Kreise der internationalen Politik.

 

Erster Teil1989

 

30. August 1989

 

Der Adler ist gerupft.

So fühlte sie sich. Wie ein stolzer Vogel, dem man übel mitgespielt hatte. Gerade erst hatte sie ihre Schwingen im Leben ausgebreitet, sich ein wenig etabliert. Doch jetzt hatte sie dieser Mann ganz klein gemacht.

Er war selbst ein eher kleiner Mann, der mit seiner Silhouette eigentlich gar nicht so viel Sonnenlicht vor dem Fenster aussperren konnte, an dem er gerade stand. Dennoch war es plötzlich abgrundtief dunkel im Raum geworden.

Sie war 35 Jahre alt. Und er 39. Wenn er sprach, rollte er das „R“ mit einem unangenehmen Klang. Fast, als wäre er ein Südosteuropäer. Dabei kam er nur aus Rostock.

Als er sich ihr zuvor genähert hatte, war es noch viel unangenehmer. Klar hatte sie in ihrem Alter schon einige Erfahrungen mit Männern. Sogar eine Ehe hatte sie hinter sich. Aber das hier war anders. Sie fand die Situation einfach abstoßend. Nur wusste sie nicht, wie sie sich ihr entziehen sollte.

Man sollte im Sozialismus doch etwas offener sein, nicht so verklemmt. Vielleicht musste man dem Sozialismus in Deutschland auch nur ein anderes Gesicht geben, ein helleres, ein freundlicheres Gesicht.

Morgen wollte sie damit anfangen.

Heute musste sie sich erst einmal von dem erholen, was ihr soeben widerfahren war. Wenn der Kerl endlich weg war.

Sie hatte sich an diesem Mittwochvormittag ursprünglich auf eine ruhige Restwoche in ihrem Ferienhaus in Hohenwalde gefreut. Ihr Freund würde nicht dabei sein. Er musste in Berlin-Adlershof arbeiten. Sie selbst hatte sich Arbeit mitgenommen, die sie an ihrem kleinen Schreibtisch in Hohenwalde erledigen konnte.

Ihr Vater hatte sie am Abend zuvor gebeten, einem Kollegen aus Rostock-Evershagen einige Predigten der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Mecklenburg weiterzureichen, die der befreundete Pastor am Vormittag bei ihr abholen würde. Er hatte ohnehin in der Gegend zu tun.

Weil sie öfter für ihren Vater solche kleinen Gefälligkeiten über-

nahm, dachte sie sich nichts weiter dabei. Doch als der Mann wenige Stunden zuvor bei ihr auftauchte, benahm er sich nicht gerade wie ein Pastor. Er machte ihr ziemlich eindeutige Avancen. Dabei wusste sie, dass er eine Familie hatte. Und auch sie war fest liiert.

Aber der Mann war mit ihrem Vater bekannt und sie wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Die mangelnde Vehemenz ihrer Ablehnung interpretierte er als Zustimmung und bedrängte sie so plötzlich, dass der richtige Zeitpunkt für ein klares „Nein“ viel zu schnell überschritten war.

Sie ließ es geschehen und hasste sich sofort selbst für ihr Phlegma. Es fühlte sich abartig an, denn der anfänglich ruhig und gelassen wirkende Mann entwickelte plötzlich Gewaltphantasien und lebte diese unter Ausstoß unappetitlicher Worte teilweise auch aus. So etwas mochte sie gar nicht, vielmehr hing sie oft romantischen Tagträumen nach. Jetzt fühlte sie sich beschmutzt. Wenigstens würde er bald gehen. Dachte sie. Doch stattdessen kam es noch schlimmer.

Er wandte sich vom geöffneten Fenster ab und richtete das Wort an sie, als er seinen Gürtel schloss. „Ich glaube, wir sind ein gutes Team. Zusammen könnten wir etwas bewirken.“

Ihr blieb der Mund offen stehen. Was sollte dieses Gerede? „Du bist verheiratet und ich habe einen festen Freund. Außerdem bin ich nicht interessiert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das heute ein vielversprechender Start für irgendetwas war.“

„Das sehe ich anders.“ Er lächelte verschlagen. „Ich denke, du kannst deine eigenen Interessen nicht richtig einordnen. In dir steckt viel mehr, als du selbst glaubst. Außerdem geht es nicht nur um uns beide.“

„Ich verstehe nicht.“

„Das ist mir klar. Aber ich will es gerne näher erläutern.“

„Wie ich bereits sagte, bin ich nicht interessiert.“ Wieder ärgerte sie sich über sich selbst, weil sie so leise, ohne Nachdruck, ohne Emotionen sprach.

„Auch wenn du glaubst, nicht an mir interessiert zu sein, lässt dich die Entwicklung unserer Gesellschaft möglicherweise nicht völlig kalt.“

„Ich wüsste nicht, was das eine mit dem anderen zu tun hat.“

„Vielleicht mehr, als du glaubst, Anne.“

„So heiße ich nicht, das weißt du.“

„Aber du könntest fast so heißen, meine Schöne.“

„Und schön bin ich auch nicht.“ Sie biss sich auf die Lippe. Das wollte sie diesem Mann gegenüber eigentlich nicht herauslassen. Sie wusste, dass sie keine Schönheit in klassischem Sinne war. Aber ihr hintergründiger Humor und ihr zurückhaltendes Lächeln konnten durchaus eine gewinnende Wirkung entfalten. Nur wäre dieser Typ der letzte gewesen, mit dem sie solche differenzierten Betrachtungen anstellen wollte. Doch schon wechselte er das Thema.

„Wie dem auch sei. Eigentlich wollte ich mit dir über deine Zukunft sprechen.“

„Die geht dich nichts an.“

„Die Zukunft dieses Landes aber schon.“

„So bedeutend sind wir nicht.“

„Das könnte sich irgendwann ändern.“

„Glaub doch, was du willst.“

„Das mache ich sowieso. Denn ich glaube, dass wir für die Menschen in diesem Land etwas erreichen können.“

„Na, schönen Dank, jetzt habe ich mich zu allem Überfluss auch noch mit einem Größenwahnsinnigen eingelassen.“

„Das Volk ist bedeutend und in diesem Sinne ist jedes einzelne Mitglied des Volkskörpers relevant.“

„Hör auf, von Körpern zu reden. Damit habe ich mich heute schon viel zu viel beschäftigt.“

„Du weißt genau, was ich meine. Oder glaubst du nicht an den Sozialismus?“

„Irgendwie schon. Aber mich erstaunt es, dass ein evangelischer Pastor dem Sozialismus das Wort redet.“

„Na ja, Jesus war gewiss kein Kapitalist. Jedenfalls würde ich unseren Erlöser eher in Richtung Che Guevara als bei Helmut Kohl verorten.“

„Da mag etwas dran sein“, stimmte sie widerwillig zu. „Aber ich weiß nicht, ob man das noch Sozialismus nennen kann, was wir hier in diesem Land gerade erleben.“

Der Pastor klatschte in die Hände. „Siehst du, genau solche Leute wie dich brauchen wir.“

„Du redest in Rätseln. Ich verstehe nicht, wodurch Leute wie ich definiert sein sollen und wer solche Menschen brauchen könnte.“

„Wenn man dir genau zuhört, wird klar, dass du der Idee des Sozialismus aufgeschlossen gegenüberstehst. Nur gefällt dir nicht, was hier daraus gemacht wird.“

„Irgendwie schon“, räumte sie zögerlich ein.

„Dann lass uns etwas anderes machen, einen besseren Sozialismus. Dazu müsstest du eigentlich einen Draht haben. Du warst doch bei der FDJ für Propaganda zuständig.“

„Woher weißt du das?“

„Man hat seine Quellen, ist aber unwichtig. Jedenfalls glaube ich, dass du nicht zu denen gehörst, die dieses Land vollständig ausradieren wollen.“

„Eigentlich nicht“, nickte sie langsam. „Die besseren Ideen sollten überleben.“

„Dann lass uns gemeinsam an diesem Ziel arbeiten. Der Staat ist jetzt offen wie nie für Veränderungen.“

„Das mag sein. Aber noch einmal: Mit dir will ich nicht arbeiten.“

„Schon verstanden, obwohl ich das ein bisschen albern finde. Nun gut, dann wird dich eben jemand anders kontaktieren.“

„Unterhalten kann man sich immer. Doch nur damit eins klar ist: Bei der Stasi werde ich keinen Vertrag unterschreiben.“

„Keine Sorge, ich bin dort auch kein offizieller Mitarbeiter. Wir werden schon den passenden Decknamen für dich finden, irgendetwas mit Herz. Weil du doch so ein Herzchen bist.“

Sie lief rot an. Aber nicht vor Scham, sondern vielmehr vor Wut. Jedes salbungsvolle Wort, das über die Lippen dieses Typen kam, klang wie eine bodenlose Frechheit und war offensichtlich auch so gemeint.

Sie öffnete den Mund und schnappte nach Luft, um etwas deutlichere Worte zu finden. Doch dann stieß sie ganz andere Sätze hervor. „Was machst du denn da? Was soll das?“

Der Kerl schaffte es immer wieder, sie aus dem Konzept zu bringen. Jetzt hatte er ein Bein über die Fensterbank im Erdgeschoss

gehoben und stand mit einem Fuß im Vorgarten. „Still“, zischte er. „Da draußen ist jemand. Wir werden beobachtet.“

„Meinst du, die Stasi ist schon hier?“ Sie hielt sich eine Hand vor den Mund.

„Unsinn, die führen keine Maßnahmen gegen uns durch. Schließlich stehen wir auf der gleichen Seite. Wir wollen diesen Staat retten.“

„Hoffentlich wissen die das auch.“

„Darauf kannst du wetten. Wie ich schon sagte, ich bin im Gespräch. Redenden Menschen kann geholfen werden.“

„Aber wer soll das da draußen sonst sein?“

„Radikale Elemente, Staatsfeinde, was weiß ich? Eben RechtsTerroristen und Kapitalisten, die unser Land an den Westen verkaufen wollen.“

„Glaubst du denn, die beobachten mich?“

„Dich nicht, jedenfalls noch nicht. Aber mir könnten sie hierhin gefolgt sein. Ich denke, die wissen genau, wie sie mich einordnen müssen.“

Mit diesen Worten schwang der stabil gebaute Pastor auch das andere Bein über die Fensterkante und sprintete mit erstaunlicher Dynamik ins Gebüsch. Kurz darauf drangen aus dem Laub mehrere dumpfe Geräusche und heftige Atemzüge. Hier fand offensichtlich ein Handgemenge statt.

Mit einem tiefen Seufzer ging die junge Frau durch die Tür hinaus. Was hatte sie sich da nur eingehandelt? Doch sie konnte auch nicht ignorieren, was sich gerade unmittelbar vor ihrem Ferienhäuschen abspielte.

Erst als sie einige Zweige beiseiteschob, erkannte sie den Ernst der Lage. Der Pastor kniete über einem schmächtigen jungen Mann mit dunklen Haaren und drückte ihm den Hals zu.

Dabei zeigte das Opfer erstaunliche Widerstandskraft und schlug mit seinen sehnigen Armen die Hände des Angreifers immer wieder weg.

„Du miese Ratte“, keuchte der junge Mann. „Jetzt bist du geliefert, ich werde alles deiner Frau erzählen, deinen Kindern. Und nicht nur denen, die ganze Gemeinde in Rostock soll es erfahren. Dann kannst du dich nirgends mehr blicken lassen.“

„Jetzt blas dich nicht so auf, du kleiner Moralapostel“, knurrte der Pastor und legte seine Hände wieder um den Hals des Mannes. „Glaubst du wirklich, mit der Nachricht über eine kleine Affäre könntest du mein Leben zerstören?“

„Damit alleine nicht“, stieß das Opfer hervor und befreite seinen Hals durch heftige Windungen erneut aus dem Griff des Pastors.

„Aber es passt alles ins Bild. Wenn die Leute hören, dass du für die Stasi arbeitest, bist du endgültig unten durch.“

„Das muss ja keiner erfahren.“

„Dafür werde ich schon sorgen. Dann bist du erledigt. Und deine feine Freundin gleich mit.“

„Gar nichts wirst du.“ Plötzlich hielt der Pastor einen großen Stein aus dem Gestrüpp in der Hand. Blitzschnell stieß der Mann die Hand des Geistlichen beiseite. Der Stein rollte zurück ins Gebüsch.

„Was stehst du da dumm herum? Hol mir den Stein wieder her, schnell“, herrschte der Pastor die Frau an.

„Aber…“ Die Angesprochene blieb wie angewurzelt stehen und brachte keinen weiteren Laut hervor.

„Wenn du mir nicht sofort den Stein gibst, stehen dir bald einige unangenehme Befragungen bevor“, zischte der Pastor. „Dann kann ich für nichts garantieren.“

Mit zitternden Händen wühlte die Frau wortlos im Gebüsch. Schließlich fand sie den Stein und ließ ihn mit einer fahrigen Geste in die ausgestreckte Hand des Geistlichen fallen.

Dieser schlug die primitive Waffe sofort mit explosionsartiger Wucht gegen die Schläfe des unter ihm liegenden Mannes.

Der Getroffene gab einen gurgelnden Laut von sich. Noch in der gleichen Sekunde hörte er auf zu atmen und blieb mit offenen Augen sowie seltsam verdrehter Kopfhaltung regungslos liegen. Keuchend erhob sich der evangelische Geistliche und blickte auf sein Opfer herab.

Die junge Frau war in regelrechte Schockstarre verfallen. „Du hast ihn totgeschlagen“, flüsterte sie.

„Was hätte ich denn sonst machen sollen? Er hätte uns verraten.“

„Uns?“

„Ja, klar, hast du doch gehört. Mitgefangen, mitgehangen, aus

der Nummer kommst du nicht mehr heraus. Man wird sich bei dir melden.“

Der Pastor warf sich den toten Körper, der nicht viel wiegen konnte, über die Schulter und stapfte mit schweren Schritten in den Wald hinein.

„Was machst du denn da?“, rief ihm die Frau hinterher.

„Ich lasse die Leiche verschwinden. Wir können keine überflüssigen Fragen gebrauchen.“

„Ich werde dich anzeigen.“

„Das wirst du schön bleiben lassen. Schließlich hat der Typ uns beiden gedroht und sein Tod lag auch in deinem Interesse.“

„Ich kann mich nicht erinnern, dich zu so einer Tat aufgefordert zu haben.“

„Du hast mir den Stein gegeben. Schon vergessen? Sollte mich die Polizei vernehmen, werde ich deine Mittäterschaft bezeugen.“ Der Pastor hob eine Hand und winkte zum Abschied. Ohne sich umzudrehen, verschwand er in Richtung des Parkplatzes, der hinter dem kleinen Wäldchen lag. Dort musste sein Trabi stehen, mit dem er aus Rostock gekommen war. „Halt dich also besser bedeckt.“

Die nahezu lautlosen Schritte des anderen Mannes, der den Totschlag aus einem sicheren Versteck heraus beobachtet hatte und sich jetzt in die entgegengesetzte Richtung durch das dichte Gestrüpp davonmachte, nahm sie nicht wahr.

 

31. August 1989

 

Auszüge aus dem Tonprotokoll der Sitzung des Politbüros – Zentralkomitee der SED im Sitzungssaal des ZK-Gebäudes am Werderschen Markt in Ost-Berlin

 

Vorsitzender: Erich Honecker, Generalsekretär des Zentralkomitees

 

Beginn: 10:00 Uhr

 

Erich Honecker: Herzlich willkommen, liebe Genossen. Ich begrüße euch zur heutigen Sitzung des Politbüros. Gibt es Anträge zur Tagesordnung? ... Nein. Dann beginnen wir mit dem ersten Punkt, der Erörterung der aktuellen politischen Lage. Haben wir hierzu Wortmeldungen? … Bitte.

Erich Mielke: Die Protestbewegungen machen mir zunehmend Sorgen. Nicht nur hier in Berlin, auch in Leipzig und anderen Städten. Erich Honecker: Danke, Genosse. Dafür, dass du dir Sorgen machst, wirst du bezahlt. Aber ich sehe das ganze Bild und deshalb bin ich zuversichtlich. Wir wissen doch, den Sozialismus in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf.

Erich Mielke: Aber manchmal verstehen das die Ochsen nicht. Erich Honecker: Dafür bist du ja da, um die lieben Tierchen daran zu erinnern. Ich darf doch davon ausgehen, dass du das wie immer vorbildlich im Griff hast?

Erich Mielke: Selbstverständlich, wir haben unsere Spitzel überall. Auch unmittelbar in den Reihen des Gegners, dort, wo sie niemand vermutet. Deshalb wissen wir auch, dass in Leipzig für kommenden Montag eine erste große Demonstration geplant ist.

Erich Honecker: Und? Sind wir darauf vorbereitet?

Erich Mielke: Immer. Ich nehme an, Einzelheiten will hier niemand wissen.

Erich Honecker: Das dürfte kaum nötig sein. Uns ist doch klar, dass wir uns stets auf dich verlassen können. Die Sache darf nur nicht aus dem Ruder laufen, weder in die eine noch in die andere Richtung.

Erich Mielke: Unmögliches wird sofort erledigt, Wunder dauern etwas länger.

Werner Felfe: Vielleicht sind diese Demonstrationen gar nicht so schlecht.

Joachim Herrmann: Wie bitte? Was soll denn daran gut sein? Werner Felfe: Schon einmal von Glasnost und Perestroika gehört? Unser großer sozialistischer Bruderstaat im Osten, die UdSSR, macht es gerade vor.

Erich Honecker: Damit haben wir nichts zu schaffen. Das ist der falsche Weg. Darüber werde ich mit Michail Gorbatschow noch zu reden haben, wenn er uns im Oktober zu den 40-Jahr-Feiern unserer glorreichen sozialistischen Republik besucht.

Werner Felfe: Du hast ihn gar nicht den Genossen Gorbatschow genannt.

Erich Honecker: Ich bin mir nicht sicher, ob sich der Generalsekretär der KPdSU mit seinem Reformkurs in der UdSSR noch auf dem Boden des Marxismus-Leninismus bewegt. Ich weiß nicht einmal, ob er wirklich ein Sozialist ist.

Werner Felfe: Vielleicht lässt das Leben ihm keine andere Chance. Vielleicht gibt es für uns alle keine Alternative.

Kurt Hager: Keine Alternative wozu?

Werner Felfe: Keine Alternative dazu, den Forderungen unserer Bürger nachzugeben.

Erich Mielke: Das ist feiger Defätismus. Die angekündigte Demonstration hat noch gar nicht stattgefunden und wir sollen schon aufgeben?

Werner Felfe: Das hat nichts mit aufgeben zu tun. Wenn wir diesen Staat und die Idee des Sozialismus retten wollen, müssen wir mit der Zeit gehen. Dazu gehört auch, dass wir den Menschen die Freiheiten geben, die sie so lautstark fordern.

Hermann Axen: In Ungarn kann man besichtigen, wohin das führt. In die Republikflucht.

Werner Felfe: Vielleicht würden die Menschen freiwillig bleiben, wenn man sie nicht einsperrt.

Heinz Keßler: Eine unglaubliche Unterstellung. Wir sperren niemanden ein. Wir schützen nur unsere Grenzen.

Erich Honecker: Über dieses Thema sprechen wir gleich noch.

Werner Felfe: Wie dem auch sei, ich glaube, ich werde mir das einmal ansehen.

Erich Mielke: Was?

Werner Felfe: Die Demonstration am Montag in Leipzig. Joachim Herrmann: Wie? Du willst da hin? Willst du etwa mitmarschieren?

Werner Felfe: Warum nicht?

Willi Stoph: Und was soll das?

Werner Felfe: Ich werde mir persönlich ein Bild der Lage vor Ort machen. Wenn mir die Forderungen der Demonstranten vernünftig erscheinen, werde ich sie unterstützen. Wir müssen wieder viel näher am Volk sein, um das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen.

Hermann Axen: Das ist Verrat.

Werner Felfe: Das ist gelebte Politik. Wir müssen endlich den Tatsachen ins Auge sehen. Die wirtschaftliche Lage in diesem Staat ist desolat.

Harry Tisch: Du verwechselst Ursache und Wirkung, mein lieber Genosse. Wenn sich die ökonomische Basis kapitalistisch gestaltet, kann sich der sozialistische Überbau nicht halten.

Werner Felfe: Die ökonomische Realität sagt uns, dass wir ohne die Kredite aus dem Westen längst im Staatsbankrott wären und die Produktivität der BRD mehr als dreimal so hoch ist wie in unserem Staat.

Erich Honecker: Nun mach mal halblang, Genosse. Man könnte ja fast meinen, dass wir hier einen West-Agenten unter uns haben. Genosse Mielke, ich gehe davon aus, dass du diesen Fall mit der Staatssicherheit im Auge behalten und bei Bedarf unverzüglich handeln wirst.

Erich Mielke: Mit aller Konsequenz. Darauf kann sich jeder hier verlassen.

Erich Honecker: Darum will ich auch gebeten haben. Kommen wir zum nächsten Punkt der Tagesordnung, den bedauerlichen Vorfällen in Ungarn.

Günter Mittag: Und in Polen und der Tschechoslowakei ebenso. Das macht mir nun wirklich Sorgen.

Erich Honecker: Ja, diese beiden Länder dürfen wir auch nicht

vergessen. Aber die Entwicklung in Ungarn ist besonders bedenklich. Es ist noch keine zwei Wochen her, dass die ungarische Regierung ganz einfach ohne Absprache mit uns für drei Stunden die Grenze nach Österreich geöffnet hatte.

Hermann Axen: Skandalös, ich habe davon gehört. Der Schießbefehl wurde einfach missachtet. 800 Bürger der Deutschen Demokratischen Republik konnten Republikflucht begehen.

Erich Honecker: So etwas wird nicht wieder vorkommen. Ich habe offiziell massiven Protest dagegen eingelegt. Die Botschaften der BRD in Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei sind bereits geschlossen, ebenso wie deren ständige Vertretung hier in Ost-Berlin.

Egon Krenz: Ganz schön viele Baustellen, die wir da haben. Hoffentlich behalten wir die alle im Blick.

Erich Honecker: Das lass´ mal meine Sorge sein. Die Zeit arbeitet für uns.

Erich Mielke: Das sagst du so. Nicht dass morgen wieder der 17. Juni ausbricht.

Erich Honecker: Dann haben wir immer noch dich und deine große Stunde würde schlagen. Doch so weit wird es nicht kommen.

Günter Mittag: Woher nimmst du diesen Optimismus?

Erich Honecker: Am 7. Oktober feiern wir den 40. Gründungstag der Deutschen Demokratischen Republik. Gratulanten und Staatsgäste ersten Ranges aus der ganzen Welt werden kommen. Dann wird jeder die Überlegenheit und den Glanz unseres sozialistischen Systems erkennen. Die Anwürfe der asozialen und zersetzenden Elemente auf den Demonstrationen werden spätestens zu diesem Zeitpunkt wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Egon Krenz: Und wenn es doch nicht so kommt?

Erich Honecker: Neben dem Genossen Mielke verfügen wir in unseren Reihen über weitere hochkompetente Experten auf dem Gebiet der Staatssicherheit, die wir zu Rate ziehen können. Auch außerhalb dieses Gremiums. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir jederzeit auf die Eliten des Sozialismus zurückgreifen können. Das sind äußerst intelligente und tatkräftige Genossen.

Egon Krenz: Die würde ich gerne einmal kennenlernen.

Erich Honecker: Du kennst den einen oder anderen schon. Vermutlich hast du nur nicht gemerkt, mit wem du es zu tun hast. Aber du hast noch viel Zeit, um dazuzulernen.

Günter Mittag: Und diese Genossen könnten uns wirklich helfen?

Erich Honecker: Aber ganz gewiss. Nur glaube ich nicht, dass das überhaupt nötig sein wird. In sechs Wochen um diese Zeit wird sich die Lage ganz von selbst entspannt haben. So, jetzt ist es z wölf Uhr, ich schließe die Sitzung. Wir machen Mittag, Günter.

 

1. September 1989

 

Meteorologischer Herbstbeginn. Oder der Anfang der goldenen Jahreszeit, wie der Volksmund sie nannte.

Berthold Grün war an diesem Morgen nicht gerade euphorisch gestimmt, als er in seiner Mansardenkammer in Leipzig erwachte. Dabei hatte er vor 48 Stunden noch deutlich positiver in die Zukunft geblickt und tatsächlich auf so etwas wie ein goldenes Zeitalter gehofft. Endlich tat sich etwas in diesem Land.

Immer mehr Menschen begehrten auf. Mehr Freiheit schien möglich. Und er war ein Teil der großen Bewegung.

Doch jetzt wirkte seine Freude wie ausradiert. All seine Knochen schmerzten. Das lag weniger an seinem kräftezehrenden Marsch durch das Gelände zwei Tage zuvor. Vielmehr war es eine psychische Folge der Ereignisse, deren Zeuge er geworden war.

Die Erinnerung daran ließ ihn nicht los. Er brauchte nur den Kopf zu der leeren Matratze am Boden neben seiner eigenen Schlafstätte zu drehen. Nie wieder würde Gernot dort liegen.

Das Bild des ermordeten Freundes, den er vorgestern tot hinter diesem Ferienhaus in Hohenwalde zurücklassen musste, hatte sich in seine Netzhaut eingebrannt. Er war so geschockt und mitgenommen, dass er es gestern nicht einmal geschafft hatte, aufzustehen.

Es war Gernots Idee gewesen, den Pastor zu beobachten. Doch damit konnte sich Berthold selbst nicht beruhigen. Er hatte dem Freund nicht widersprochen und war einfach mitgegangen. Eigentlich hatte er sich sogar über dessen Vorschlag gefreut.

Das alles war ihm wie ein großes Abenteuer vorgekommen. Doch er hätte wissen müssen, dass sie sich in Lebensgefahr begaben. Er hätte Gernot besser gewarnt.

Jetzt war es zu spät. Berthold fühlte sich schuldig. Nicht nur, weil er mitgegangen war. Vielmehr noch, weil er untätig im Gebüsch verharrt und nichts unternommen hatte, um dem Freund zu helfen. Doch es war alles so schnell gegangen. Noch eine Sekunde zuvor hätte es Berthold nicht für möglich gehalten, dass der Pastor Gernot tatsächlich mit dem Stein totschlagen würde. Die Frau auch nicht. Das hatte er deutlich in ihrem Gesicht gesehen.

Aber der Pastor hatte es getan. Und er, Berthold, hatte regungslos zugesehen.

Nie wieder würde ihm so etwas passieren. Ab jetzt würde er nicht mehr zögern zu handeln. Mit einem Ruck stand er von seiner Matratze auf, wusch sich notdürftig und zog sich an. Gernots Tod durfte nicht ungesühnt bleiben.

Sein erster Weg führte ihn an diesem Freitagmorgen zu Gisela. Sie organisierte den Protest in Leipzig.

Als er den ansonsten leeren Altbau am Stadtrand betrat, der ihnen als Einsatzzentrale diente, saß sie mit einigen Freunden an einem großen Tisch.

„Berthold, was ist denn mit dir los? Du siehst ja entsetzlich aus.“ Gisela sprang auf und eilte auf ihn zu. „Komm, erzähl mal. Ein paar Minuten habe ich, auch wenn wir gerade die große Demonstration für den Montag vorbereiten.“

Als sie ihn in den Arm nahm und ins Nebenzimmer führte, traten ihm Tränen in die braunen Augen. Das war ihm lange nicht mehr passiert. Er wandte den Kopf ab.

„Gernot ist tot“, flüsterte er.

Gisela packte ihn an den Schultern, drehte ihn zu sich und sah ihn ungläubig an. „Was sagst du da?“

Berthold nickte. „Dieser Pastor war´s…“, setzte er an, doch dann versagte ihm die Stimme.

„Der Pastor, den er beobachten wollte?“, hakte Gisela nach und strich sich eine Strähne ihres rotblonden Haares aus dem Gesicht. „Der hat ihn umgebracht?“

Früher hatte Berthold diese Geste der resoluten jungen Frau immer fasziniert. Jetzt nahm er sie nicht einmal wahr. Er hielt den Kopf gesenkt und nickte weiter stumm.

Doch damit gab sich seine Gesprächspartnerin nicht zufrieden. „Du musst mir alles genau erzählen“, drängte sie ihn.

Zunächst stockend, dann aber immer flüssiger berichtete er, was geschehen war. „Ich bin schuld, ich habe einfach tatenlos zugesehen“, brach es schließlich aus ihm heraus.

„Unsinn“, antwortete Gisela. „Wenn du schuld wärest, bin ich es mindestens genauso, eher noch mehr. Denn ich habe Gernot auch nicht von seinem Plan abbringen können, den Pastor zu beobachten.“

„Du? Warum wolltest du ihm das denn ausreden?“

„Der Typ ist so ein entsetzlicher Schönsprecher und redet jedem nach dem Mund. Im Gespräch mit uns und anderen Mitgliedern der Bewegung gibt er sich ganz verständnisvoll. Und danach rennt er zur Stasi und erzählt denen brühwarm alles, was er gehört hat.“ Gisela schüttelte den Kopf. „Ich hätte wissen müssen, wie gefährlich der Kerl ist.“

„Warum sagst du das? Wieso hättest du das wissen müssen?“

„Ich habe schon einmal mit ihm gesprochen und einige von uns haben ihn öfter beobachtet“, räumte Gisela ein. „Deshalb hätte ich Gernot deutlicher vor dem Pastor warnen müssen.“

Berthold schüttelte ihre Hände von seinen Schultern ab und ballte die Fäuste. „So ein mieser Typ. Doch mit Mord kommt er nicht davon. Ich werde ihn anzeigen, jetzt gleich.“

Als er sich abwenden und gehen wollte, hielt ihn Gisela zurück.

„Warte. Wenn du das machst, erreichst du gar nichts. Die Stasi hält ihre Hand über den Typen. Er wäre dann nur gewarnt und du landest womöglich selbst im Bau.“

„In diesem Staat gibt es wohl gar nichts, was funktioniert. Aber wir können den Mord doch nicht ungesühnt lassen. Was sollen wir denn machen?“

„Hab´ nur etwas Geduld, unsere Zeit kommt noch, verlass dich darauf. Ich werde mich darum kümmern. Vertrau´ mir bitte.“ Berthold war alles andere als zufrieden, nachdem er die Einsatzzentrale am Stadtrand verlassen hatte. So hatte er sich das nicht vorgestellt. Unschlüssig nestelte er an seinem Moped, einer hellblauen Simson Schwalbe, das er an der nächsten Straßenecke abgestellt hatte. Mit unruhigen Fingern tastete er in seiner Hosentasche, fischte eine Zigarettenpackung hervor und zündete sich eine Duett an.

Er hatte gerade zu Ende geraucht und den Stummel in den Rinnstein geschnippt, als Gisela entschlossenen Schrittes aus dem Haus kam. Sie sah ihn nicht und ging zügig in die entgegengesetzte Richtung davon.

Einer unbestimmten Eingebung folgend ließ er sein Moped stehen und schlug zu Fuß in unauffälligem Abstand den gleichen Weg ein.

Es wurde ein langer Marsch. Wo sie wohl hinwollte? Er kannte Gisela schon ziemlich lange, die beiden waren etwa im gleichen Alter. Doch sie würde ewig ein Rätsel für ihn bleiben. Manchmal kam sie ihm unerreichbar weit weg vor. Längst hatte sie in der Protestbewegung eine führende Rolle übernommen und Berthold bewunderte sie dafür. Aber er hatte keine Ahnung, welche Ziele sie eigentlich verfolgte.

Auf jeden Fall bewegte sie sich jetzt Richtung Innenstadt. Bald waren sie am Dittrichring angelangt. In einem Hauseingang stand ein schmächtiger Typ mittleren Alters und rauchte. Sein Gesicht konnte Berthold nicht erkennen, denn er trug trotz des milden Wetters eine Schiebermütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte. Gisela ging zu ihm und ließ sich Feuer geben.

Im Schatten der Hauswand trat Berthold lautlos näher, ohne selbst gesehen werden zu können. Er verstand jetzt jedes Wort, das die beiden sprachen.

„Der Protest ist nicht mehr aufzuhalten“, erkannte er Giselas relativ dunkle Stimme. „Am Montag geht´s los.“

„Hab´ ich schon gehört, am 4. September, mitten in Leipzig“, erwiderte der Mann. „Das wird der Partei nicht gefallen.“

„Ich kann´s nicht ändern.“

„Willst du doch auch gar nicht. Aber es könnte Blut fließen, viel Blut.“

„Damit ist niemandem geholfen. Unseren Leuten nicht und euch ebenfalls nicht“, gab Gisela zu bedenken. „Wie steht ihr dann in der Öffentlichkeit da? Die Welt schaut auf euch.“

„Wer sind eure Leute und wer sollen wir sein? Kann man das wirklich immer so einfach auseinanderhalten?“

„Klar, wir sind die Reformbewegung und ihr seid die Stasi.“

„So einfach ist das nicht. Wer bist du zum Beispiel, Gisela? Du sprichst nicht nur mit uns, du arbeitest sogar mit mir zusammen, diskret und heimlich.“

„Aber nur, weil ich meine Ziele erreichen und Gewalt verhindern will.“

„Das will ich doch auch. Aber ich würde nicht meine Hand dafür ins Feuer legen, dass deine Leute dir deine Kooperationsbereitschaft verzeihen würden, wenn sie davon wüssten. Man könnte

das auch als doppeltes Spiel bezeichnen.“

„Was willst du eigentlich?“, fauchte Gisela.

„Das gleiche wie du: Gewalt verhindern.“

„Dann sag´ deinen Männern, sie sollen ihre Schlagstöcke stecken lassen.“

„So einfach ist das nicht. Ich muss erst meine Vorgesetzten überzeugen.“

„Du hast selbst alle Argumente genannt und kennst die Sachlage. Gewalt hilft niemandem weiter.“

„Das reicht aber nicht“, erwiderte der Mann. „Wenn die Stasi diese Demonstration am Montag stillschweigend hinnehmen soll, müssen wir ihr etwas geben. Du musst ihr etwas geben.“

„Und was soll das sein?“

„Dich.“

„Ihr habt mich doch längst in der Hand, du hast es gerade gesagt. Wenn ihr den Leuten in der Bewegung einen Wink gebt, dass ich mit euch zusammenarbeite, bin ich geliefert.“

„Das nützt uns aber nichts. Du musst etwas für uns tun.“

„Das mache ich die ganze Zeit. Ich schütze euch, ich decke euch, ich halte euch aus allem heraus.“

„Du?“, lachte der Mann spöttisch. „Wie das?“

„Vor zwei Tagen erst hat einer eurer inoffiziellen Mitarbeiter ein Mitglied meiner Bewegung erschlagen. Der Freund des Ermordeten wollte die Sache an die große Glocke hängen und den Fall öffentlich zur Anklage bringen. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten.“

„Davon wusste ich gar nichts.“ Die Stimme des Mannes klang jetzt deutlich nachdenklicher. „Erzähl.“

Gisela berichtete alles, was sie von Berthold erfahren hatte.

„Das könnte tatsächlich ein entscheidender Punkt sein, der uns weiterbringt“, meinte der Mann, als Gisela ihre Schilderung der Ereignisse abgeschlossen hatte. „Du musst den Typen weiter im Auge behalten und uns regelmäßig von ihm berichten. Doch du kannst noch mehr für uns tun. Dann gibt es gute Chancen auf eine friedliche Demonstration am Montag. Komm mit.“

Der Mann trat blitzschnell aus dem Hauseingang und Gisela folgte ihm. Glücklicherweise gingen die beiden in die andere

Richtung davon und entdeckten Berthold nicht, der gerade mit weichen Knien mit dem Rücken an der Mauer entlang in die Hocke sackte. Er konnte nicht fassen, was er da gehört hatte.

Gisela war eine Verräterin, eine Informantin der Stasi. Sie hatte sogar ihn verraten, er hatte es soeben selbst gehört. Nicht nur ihn, auch den armen Gernot. Sein Tod sollte nie gerächt werden, er war ihr schlichtweg egal. Alles begründete sie mit der Durchsetzung ihres Protestmarsches. Das war einfach nur zynisch.

Schnell hatte sich Berthold gefangen, stand wieder auf und setzte seine Beschattung in sicherem Abstand fort. Sie gingen weiter den Dittrichring entlang, bis Gisela und der Stasi-Mitarbeiter in einer Eckkneipe verschwanden. Ganz in der Nähe lag die Zentrale der Leipziger Stasi.

Aus der Entfernung beobachtete Berthold, wie Gisela und ihre Kontaktperson an einem einzelnen Tisch in der ansonsten um diese Zeit leeren Kneipe mit einem Mann verhandelten, dessen Gesicht er durch die bunten Glasscheiben nicht erkennen konnte. Worüber sie sprachen, konnte er noch viel weniger hören. Aber er hatte eine bittere Ahnung.

Sein flaues Gefühl im Magen verstärkte sich, als sich die Tür der Kneipe wieder öffnete und Gisela, ihr Führungs-Offizier und die dritte Person hinaus auf den Gehsteig traten und sich verabschiedeten. Jetzt konnte Berthold das Gesicht des fremden Mannes identifizieren. Er hatte es schon öfter gesehen, im Lokalteil der Zeitung, aber auch bei anderen öffentlichen Anlässen. Generalleutnant Manfred Hummitzsch war Leiter der Bezirksverwaltung der Stasi vor Ort. Gerade schüttelte er Gisela die Hand.

Hinter einem Kleinbus am Straßenrand trat Berthold näher, ohne gesehen zu werden. Von hier aus hörte er wieder alles.

„Wir sind uns einig“, bekräftigte Hummitzsch in väterlichem Tonfall. „Sie bekommen Ihre Demonstration am Montag in der Innenstadt und wir halten uns zurück. Sie dürfen Freiheit fordern, aber Sie verhalten sich dabei friedlich. Und ich will auch Stimmen hören, die für ein Leben in unserem sozialistischen Vaterland plädieren.“

„Sollen Sie haben“, stimmte Gisels zu. „Am 4. September um 17:00 Uhr geht´s los.“

„Ein guter Zeitpunkt, dann sind die Geschäfte noch offen, wir haben viel Betrieb und Sie schaffen es in die Abendnachrichten des Westfernsehens. Ich sehe, Sie sind ein Profi.“

„Außerdem stört uns kein SED-Mitglied. Die halten um diese Uhrzeit montags immer ihre Parteiversammlungen ab.“

„Wir verstehen uns.“ Hummitzsch lächelte. „Aber das wichtigste dürfen Sie nicht vergessen.“

„Ich weiß“, seufzte Gisela. „Keine Anklagen gegen die Staatssicherheit.“

„Auch und gerade nicht wegen Mordes“, betonte der Generalleutnant. „Jeder, der diese Absprache gefährdet, muss uns unverzüglich gemeldet werden. Ihnen sollte klar sein, dass wir mit unerbittlicher Konsequenz reagieren. Wer keinen gemäßigten und einvernehmlichen Kurs hält, hat in diesem Staat kein Lebensrecht mehr.“

„Aber…“, wandte Gisela ein.

„Kein aber“, schnitt ihr Hummitzsch das Wort ab. „Menschen, die sich so kooperativ wie Sie verhalten, dürfen an unserer sozialistischen Zukunft teilhaben. Doch auch in Ihrer Bewegung gibt es kriminelle Elemente, die extrem rechts außen stehen. Die müssen wir gnadenlos und nachhaltig aussortieren.“

„Wenn das der Preis für eine friedliche und erfolgreiche Protestbewegung ist…“, setzte Gisela an.

„Ist es“, beendete der Generalleutnant kurz angebunden das Gespräch und reichte ihr wortlos einen Stift sowie einen kleinen Notizblock.

Kopfschüttelnd notierte Gisela einige Namen und gab den Block mit verkniffenen Lippen zurück.

 

4. September 1989

 

Die erste Montagsdemonstration in Leipzig wurde ein voller Erfolg. So nahmen es zumindest die westlichen Medien wahr und so erlebte es auch der weitaus größte Teil der Demonstranten. Sogar unmittelbar am berüchtigten Runden Eck, der Leipziger Stasi-Zentrale, zog der Protestmarsch ungehindert und friedlich vorbei.

Transparente mit den Aufschriften „Mauer weg“ und „Wir wollen raus“ waren genauso zu lesen wie „Wir bleiben hier“. Einige Transparente wurden von den Behörden eingezogen, andere nicht.

Begonnen hatte an diesem Spätnachmittag alles mit einem Friedensgebet in der Nikolaikirche. Im Anschluss versammelten sich auf dem Kirchenvorplatz rund tausend Menschen. Da gerade die Leipziger Messe stattfand, waren viele westliche Journalisten vor Ort. Besonders freuten sich die Initiatoren der Demonstration um Gisela Ortheil, dass sogar einige unzufriedene SED-Mitglieder die Parteiversammlung schwänzten und sich lieber dem Protestzug anschlossen.

Auch Berthold Grün marschierte mit. Doch ziemlich weit hinten. Von der Führungsgruppe hielt er sich lieber fern. Was er drei Tage zuvor am Freitagabend von Giselas Machenschaften mitbekommen hatte, reichte ihm vorerst. Damit wollte er nichts zu tun haben.

Doch vielleicht war es schon zu spät, um sich wirksam abzugrenzen. Berthold war zutiefst geschockt gewesen, als er gesehen hatte, wie Gisela die Namen für Hummitzsch notiert hatte. Das könnte eine richtige Todesliste gewesen sein. Namen von extremen Demonstranten, die besonders staatsfeindlich gesonnen waren. Vielleicht stand sein Name auch auf der Liste. Das konnte er nicht wissen. Immerhin war die Stasi bereits informiert, dass er den Pastor anzeigen wollte.

Sollte man nach ihm suchen, wäre er in der Gruppe der Marschierenden mit seinen kurz geschnittenen roten Haaren und seinem gestutzten Vollbart in gleicher Farbe relativ leicht auszumachen gewesen. Seine stämmige Gestalt von mittlerer Größe konnte

man schnell identifizieren.

Kurzfristig fühlte er sich einigermaßen sicher. Im hinteren Teil des Protestzuges erkannte er weder vertraute Gesichter, noch schien er vom Rand her beobachtet zu werden.

Nachdem die Demonstranten auf den Goerdelerring eingebogen waren, tippte ihm jemand von hinten auf die Schulter. „Verzeihen Sie“, sprach ihn ein älterer Herr an. „Wissen Sie vielleicht, ob dieser Demonstrationszug noch lange weitermarschiert?“ Berthold zuckte zusammen und blickte in wässrige blaue Augen hinter dicken Glasbausteinen. Doch sogleich entspannte er sich wieder. Er erkannte den Mann, hatte sein Gesicht sogar schon öfter im Fernsehen gesehen.

Von ihm konnte eigentlich keine Gefahr ausgehen. Werner Felfe war im Politbüro der DDR in Berlin für Landwirtschaft zuständig. Einen so prominenten Vertreter des Regimes würde die Regierung kaum als gedungenen Mörder losschicken.

Dennoch war Berthold erstaunt, ihn hier zu sehen. „Ich denke, dass sich der Marsch bald auflösen wird. Sein Zweck dürfte für heute erreicht sein“, antwortete er.

„Schade, ich hätte gerne mit den Initiatoren des Protestes gesprochen.“

„Das könnte dennoch möglich sein“, erläuterte Berthold. „Frau Ortheil marschiert vorne in der ersten Reihe. Mit ihren rotblonden Haaren ist sie gar nicht zu verfehlen.“

„Vielen Dank, junger Mann. Dann will ich mal mein Glück versuchen.“

„Dürfte ich Sie nur kurz noch fragen, was Sie hierher führt, Herr Felfe?“

„Sie haben mich erkannt?“ Der Angesprochene lächelte dünn und lüftete den Strohhut mit der schmalen Krempe.

„Ich hoffe, das stört Sie nicht.“

„Eigentlich nicht. Nur bin ich heute inoffiziell in Leipzig. Ganz einfach als bewegter Mensch und nicht als Mitglied des Politbüros.“

„Hört sich interessant an.“

„Ich habe viel Verständnis und Sympathie für die Anliegen der Menschen hier“, erklärte Werner Felfe.

„So etwas hört man aus Ihrem Gremium eher selten. Gewiss ist das für viele Demonstranten eine große Ermutigung.“

„Wenn ich Ihre Gruppe unterstütze, dann geschieht das aus tiefer Überzeugung. Ich denke, dass Sie auf dem richtigen Weg sind. Deshalb bitte ich um Nachsicht, dass ich mich jetzt sputen muss. Ich will Frau Ortheil noch erreichen.“

Berthold sah dem davoneilenden Felfe nach und rief ihm einen Gruß hinterher. „Viel Glück. Auf dass Sie in gute Hände geraten.“

„Frau Ortheil“, rief der ältere Herr laut, als er die Spitze des Zuges fast erreicht hatte.

Berthold beobachtete, wie Gisela nur einen kurzen Blick über die Schulter warf und den Kopf gleich wieder nach vorne drehte. Mit einem fast unmerklichen Nicken gab sie zwei kräftig gebauten Männern in dünnen Trenchcoats am Rande des Zugs einen Wink. Die beiden Gestalten traten in geschmeidiger Bewegung hinter Werner Felfe, griffen ihm unter die Arme und drängten ihn blitzschnell in eine Seitengasse.

Berthold spurtete hinterher und lugte vorsichtig um die Ecke. Doch es war schon zu spät. Felfe lag in seinem eigenen Blut auf dem Kopfsteinpflaster. In Bauch und Hals klafften offene Wunden. Jeder der beiden Männer, die ihn abgeführt hatten, hielt ein russisches Polizeimesser der Marke „Dornhai“ in den Händen. Werner Felfe hatte bereits aufgehört zu atmen.

Entsetzt wandte sich Berthold um und wollte flüchten. Doch der Rückweg war ihm versperrt. Aus dem mittleren Bereich des Protestzuges kamen drei Männer gelaufen, die offensichtlich nicht zur Gruppe um Gisela Ortheil gehörten. Sie hatten anscheinend beobachtet, dass hier zwei Stasi-Schergen handgreiflich geworden waren und einen älteren Herrn aus dem Demonstrationszug abgeführt hatten. Jetzt wollten sie wohl nachsehen, was mit dem Mann geschehen war.

Berthold blieb nur die Flucht nach vorn. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und schlenderte wie ein unbeteiligter Passant auf die beiden Männer zu, die am Boden vor der Leiche knieten. Berthold blieb stehen und zündete sich gemächlich eine Duett an.

Die beiden Stasi-Mitarbeiter bemühten sich verzweifelt, sich so vor ihrem Opfer zu postieren, dass Berthold die offenen Wunden nicht sehen konnte.

„Na, Jungs, ist eurem Freund schlecht geworden?“, sprach er sie unbefangen an.

„Weitergehen, sofort“, herrschte ihn einer der beiden Männer an und hielt ihm seine Stasi-Dienstmarke unter die Nase.

Der andere zückte eine kleine Kamera und fotografierte das Gesicht des vermeintlich zufällig vorbeigekommenen Spaziergängers.

Murrend schritt Berthold zügig aus und verschwand um die nächste Hausecke. Dort blieb er stehen und beobachtete vorsichtig, was hinter ihm geschah.

Inzwischen waren die drei Demonstranten in der Seitengasse angekommen und abrupt vor der Leiche auf dem Kopfsteinpflaster stehengeblieben.

„Ihr Schweine habt ihn umgebracht“, brüllte einer.

„Damit kommt ihr nicht durch, diesmal nicht“, fiel der zweite ein.

„Presse, Fernsehen, Kameras, hierher“, rief der dritte.

Doch sein Ruf ging in ein Gurgeln über, als ein scharfes Messer tief durch seine Kehle fuhr.

Der zweite Demonstrant gab nicht einmal mehr einen Laut von sich, nachdem eine andere Klinge mitten in sein Herz gestoßen worden war.

Auch der letzte noch stehende Mann hatte keine Chance und wurde von den beiden Stasi-Mitarbeitern mit mehreren Messerstichen regelrecht abgeschlachtet.

Jetzt lagen vier Leichen in ihrem Blut in der Seitengasse.

Berthold wandte sich mit Grausen ab und sprintete im Laufschritt davon. Die Morde waren weitgehend lautlos abgelaufen. Niemand außer ihm hatte etwas bemerkt.

 

 

11. September 1989

 

Auszüge aus dem Tonprotokoll der Sitzung des Politbüros – Zentralkomitee der SED im Sitzungssaal des ZK-Gebäudes am Werderschen Markt in Ost-Berlin

 

Vorsitzender: Erich Honecker, Generalsekretär des Zentralkomitees Beginn: 18:00 Uhr

 

Erich Honecker: Absolut fatal, Genosse Mielke. So etwas hätte nie passieren dürfen.

Erich Mielke: Ihr wolltet doch nichts Genaues wissen. Also beschwert euch jetzt nicht über Details.

Erich Honecker: Das sind mehr als Details, das weißt du genau. Einer von uns ist getötet worden. Von unseren eigenen Leuten. Erich Mielke: Darf ich aus dem Protokoll unserer Sitzung von vor einer Woche zitieren? „Ich gehe davon aus, dass du diesen Fall mit der Staatssicherheit genau im Auge behalten und bei Bedarf unverzüglich handeln wirst.“ Deine Worte, Genosse Honecker. Ich habe gehandelt. Und damit nur deinen Befehl befolgt. Erich Honecker: Keiner erteilt hier Befehle. Bei uns wird alles im Kollektiv beschlossen. So, wie sich das im Sozialismus gehört. Dabei hat gewiss niemand beschlossen, den Genossen Felfe zu ermorden. So etwas kannst du doch nicht machen, ohne das vorher hier in diesem Gremium mit uns zu diskutieren.

Erich Mielke: Wenn die Zielperson selbst mit am Tisch sitzt? Wie soll das denn gehen? Der Mann war nicht mehr zu halten, völlig außer Rand und Band. Wir mussten ihn liquidieren. Da gab es überhaupt keinen Spielraum.

Erich Honecker: Und jetzt? Wie stehen wir nun da? Wie eine Bananenrepublik, die ihre eigenen Leute liquidiert.

Günter Mittag: Von Bananen kann bei uns wohl keine Rede sein. Erich Honecker: Ich verbitte mir solche dummen Zwischenrufe. Zur Sache: Was hast du zu deiner Verteidigung vorzubringen, Genosse Mielke?

Erich Mielke: Ich muss mich nicht verteidigen, ich habe nur meine Pflicht getan. Wir konnten keinesfalls zulassen, dass ein

Mitglied unseres Kreises in aller Öffentlichkeit mit dem Klassenfeind fraternisiert.

Erich Honecker: Dafür stehen wir jetzt als seine Mörder da. Das ist gewiss auch nicht besser.

Erich Mielke: Nicht unbedingt. Bei dieser Demonstration sind noch weitere Menschen zu Tode gekommen.

Harry Tisch: Etwa auch durch unsere Hand?

Erich Mielke: Möglicherweise. Aber das ist nicht relevant. Vielleicht lässt sich dieser Umstand sogar zu unserem Vorteil nutzen. Es kommt ganz darauf an, welches Narrativ wir dazu nutzen.

Egon Krenz: Narra…was?

Hermann Axen: Welche Geschichte wir dazu erzählen, meint der Genosse. Jetzt bin ich gespannt.

Erich Mielke: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ihr auch das vorher gar nicht so genau wissen wollt. Dann könnt ihr euch hinterher wieder umso empörter entrüsten.

Erich Honecker: Deine Frechheiten kannst du für dich behalten, Genosse Mielke. Aber allzu viel solltest du uns wirklich nicht erzählen. Nur vielleicht einen kleinen Hinweis, in welche Richtungen deine Gedanken gehen.

Erich Mielke: Also gut, auf deine Verantwortung. Es gab in der Nähe der Opfer zu deren Todeszeitpunkt noch andere Personen, die weder zu den Organen der Staatssicherheit noch zu unseren politischen Gremien gehören. Da lässt sich vielleicht etwas konstruieren.

Erich Honecker: Von wie vielen Personen sprechen wir hier? Erich Mielke: Mindestens von einer. Aber das würde uns schon reichen.

Erich Honecker: Dann gehen wir davon aus, dass du dieses Thema konstruktiv weiterverfolgst und deine Maßnahmen hier baldmöglichst konkretisierst. Mehr sollten wir zu diesem Zeitpunkt wirklich nicht erörtern.

Erich Mielke: Ich arbeite mit Hochdruck daran. Doch insgesamt scheint mir das in unserer gegenwärtigen Lage eher ein kleineres Problem zu sein.

Erich Honecker: Wie dürfen wir das verstehen?

Erich Mielke: Nun, heute ist wieder Montag und die Berichte aus Leipzig, Berlin sowie anderen Städten, die mich in diesen Minuten erreichen, sind höchst bedenklich.

Erich Honecker: Inwiefern?

Erich Mielke: Die Protest-Demonstrationen gewinnen stündlich an Zulauf. Außerdem stürzen sich die Vertreter der internationalen Presse auf das Thema wie die Aasgeier. Das Medien-Echo weltweit ist überwältigend. Das scheint mir deutlich mehr als ein vorübergehendes Phänomen zu sein.

Erich Honecker: Jetzt übertreib mal nicht, Genosse Mielke. Wir wissen doch alle, wie wichtig du und deine Arbeit für unsere sozialistische Republik sind. Aber mit unserer 40-Jahr-Feier im Oktober werden sich diese kleinen Sorgen sowieso in Luft auflösen. Die Welt wird auf uns schauen und nicht umhinkönnen, uns zu bewundern.

Erich Mielke: Die Welt wird dann aber auch unsere Probleme umso deutlicher sehen. Dabei geht es keineswegs um mich persönlich oder um mein Ministerium.

Erich Honecker: In gewissem Sinne schon. Dein Ministerium ist personell bestens bestückt. Sollten wir wider Erwarten doch auf größere Probleme stoßen, hast du genau die richtigen Leute zu deren Lösung.

Erich Mielke: Das trifft gewiss zu. Deshalb möchte ich anregen, dass wir in unserer nächsten Sitzung ein verdientes Mitglied meines Hauses hinzuziehen.

Erich Honecker: Das scheint mir ein wenig voreilig. Warten wir zunächst einmal unser Jubiläum ab. Danach sehen wir weiter.

Erich Mielke: Wenn die Montagsdemonstrationen unsere einzige Sorge wären, könnte ich das möglicherweise ähnlich gelassen sehen wie du, Genosse Honecker.

Erich Honecker: Was ist denn jetzt noch?

Erich Mielke: Die Ungarn haben heute ihre Grenzen zum Westen offiziell geöffnet.

Heinz Keßler: Aber dort halten sich gerade Tausende von Bürgern unserer Deutschen Demokratischen Republik auf, die von dort gesetzwidrig in den Westen ausreisen wollen.

Erich Mielke: Genau für die haben die Ungarn die Grenzen ja

geöffnet.

Joachim Herrmann: Das geht doch nicht.

Erich Mielke: Du siehst ja, dass es geht. Es ist gerade geschehen. Willi Stoph: Das ist skandalös. Wie müssen sofort einschreiten. Erich Mielke: Was sollen wir denn machen? In Ungarn einmarschieren?

Kurt Hager: Unsinn. Das ist ein Fall für unseren großen sozialistischen Bruderstaat im Osten. Die Sowjets müssen hier mit aller Härte durchgreifen.

Erich Mielke: Der Genosse Gorbatschow erweckt gerade nicht den Eindruck, als ob er zu einem solchen Schritt geneigt wäre. Erich Honecker: Das lass mal meine Sorge sein, Genosse Mielke. Die Weltpolitik ist vielleicht doch eine Nummer zu groß für dich. Ich sehe, dass ich viel mit Michail Gorbatschow zu besprechen habe, wenn er uns im nächsten Monat hier seine Aufwartung macht. Ich setze den Punkt auf die Themenliste…So, genug Sorgen für heute. Die Sitzung ist geschlossen.

 

 

12. September 1989

 

Die Abendsonne fiel schräg durch das Dachfenster in Berthold Grüns Mansardenkammer. Ihren Glanz schien sie längst verloren zu haben.

Oder Berthold nahm ihn nicht mehr wahr, weil er seit über einer Woche von der Außenwelt nichts anderes gesehen hatte als das rotblonde Sonnenlicht vor seinem Fenster. Auch von der zweiten Montagsdemonstration gestern hatte er sich ferngehalten.

Dabei teilte er die Ideen und Ideale der Demonstranten nach wie vor. Doch mit Gisela und den anderen Organisatoren der Protestmärsche wollte er nichts mehr zu tun haben. Am Montag zuvor hatte er endgültig verstanden, dass er niemandem trauen konnte. Gisela hatte nicht nur eine Liste mit Namen an die Stasi geliefert. Ihr fast unmerkliches Kopfnicken hin zu Werner Felfe vor einer Woche war dessen Todesurteil gewesen. Damit hatte sie ihm die Schergen der Staatssicherheit auf den Hals gehetzt, die kurzen Prozess mit dem Mann gemacht hatten. Jetzt lag er bereits in einem kalten Grab.

Berthold war fast die Zeitung aus der Hand gefallen, als er Mitte der Woche im SED Zentralorgan Neues Deutschland gelesen hatte, dass der Genosse Werner Felfe, Mitglied des Zentralkomitees der SED, nach kurzer schwerer Krankheit plötzlich und unerwartet verstorben sei. Man würdigte seine politische Arbeit sowie seine Treue zu Sozialismus und Partei in einigen kurzen Sätzen und kündigte seine Beerdigung schon für den nächsten Tag an. Von einem Staatsbegräbnis wie für andere verstorbene Mitglieder des Politbüros war keine Rede.

Verlogener ging es nicht. Berthold fühlte sich angewidert. Wenn es noch eines weiteren Beleges bedurft hätte, hätte er spätestens jetzt verstanden, dass es in diesem Staat keine Gerechtigkeit gab. Nur Selbstgerechtigkeit. Aber davon jede Menge. Sie stieg proportional mit dem Rang, den die sogenannten Staatsdiener in der Partei einnahmen.

Für Berthold Grün war das eine frustrierende Erkenntnis. Bis vor wenigen Wochen hatte er immer noch gehofft, dass der Staat reformierbar sein könne und an die Möglichkeit eines besseren

Sozialismus geglaubt. So schlecht war die Idee doch auch nicht, dass alle Menschen gleiche Rechte und Chancen haben sollten. Nur schien niemand in diesem System Interesse daran zu haben, ein solches Ideal ernsthaft zu realisieren. Genauso wenig wie an echter Gerechtigkeit, die eben nichts mit Selbstrechtfertigung und Selbstgerechtigkeit zu tun hatte. So hielt es Berthold mittlerweile für vollkommen naiv, daran zu glauben, dass seinem ermordeten Freund Gernot, dem freundlichen Werner Felfe und den anderen verschwiegenen Todesopfern der Demonstration vom vorletzten Montag in diesem Staat Gerechtigkeit widerfahren würde.

Zu den drei von der Stasi getöteten namenlosen Demonstranten gab es nicht einmal eine Randnotiz in der Zeitung. Weder im Inland noch international. Diesen Vorfall hatte der SED-Staat offensichtlich geschickt verschleiert.

Bis vor wenigen Tagen wollte Berthold nichts mehr, als in diesem Staat friedlich und mit etwas mehr Bürgerfreiheit zu leben. Doch jetzt war ihm innerhalb kürzester Zeit klar geworden, dass nur die Zerschlagung des politischen Systems der DDR ein menschenwürdiges Leben möglich machen würde.

Diese Erkenntnis erschreckte ihn umso mehr, weil ihm gleichzeitig klar wurde, dass die Herbeiführung einer solchen Veränderung weit über seine Möglichkeiten hinausging. Deshalb fühlte er sich machtlos und ausgeliefert. Schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr kommen.

Seine Gedanken drückten ihn nieder, als es unerwartet an der Tür klingelte. Das Schrillen war penetrant und wollte gar nicht mehr aufhören. Offensichtlich hatte jemand den Daumen auf den Klingelknopf gedrückt und wollte ihn nicht wieder herunternehmen. Als das Geräusch schließlich doch endete, wirkte die darauf folgende Stille umso bedrohlicher. Aber sie hielt nur wenige Sekunden an. Gleich darauf folgte ein donnerndes Klopfen gegen das Türblatt der kleinen Wohnung.

„Staatssicherheit. Aufmachen, Herr Grün, sofort“, ertönte eine geisterhaft heisere Stimme. Sie waren also schon oben vor der Wohnung. Sollte es hier enden? Vielleicht war es besser so. Mit einem tiefen Seufzer stemmte sich Berthold von seiner Matratze hoch und schlurfte zur Tür. Mit einem Mal fühlte er sich uralt.

Als er das Schloss öffnete, wurde die Tür von außen aufgestoßen. Nur durch einen schnellen Schritt zurück konnte Berthold verhindern, dass sie ihm ins Gesicht schwang. Fast erwartete er jetzt einen Schuss in die Brust. Doch der schmal gebaute Mann, der vor ihm stand, hielt nicht einmal eine Waffe in der Hand.

„Wir müssen Sie bitten, uns unverzüglich zu begleiten“, forderte er ihn mit dünner Stimme auf. Ein zweiter, wesentlich größerer und kräftiger gebauter Kollege drängte sich ebenfalls in die Wohnung. Widerstand schien zwecklos.

„Ins runde Eck?“ erkundigte sich Berthold, obwohl er die Antwort schon kannte.

„Ganz recht. In der Zentrale der Staatssicherheit gibt es einige Kollegen, die Sie dringend kennenlernen möchten.“

 

Als Berthold kurze Zeit später in einem schmucklos eingerichteten Verhörzimmer saß, war er zwar weder dem örtlichen Stasi-Chef Manfred Hummitzsch noch Giselas Führungsoffizier begegnet, doch der Vernehmungsleiter, der ihm gegenübersaß, wirkte kaum weniger bedrohlich.

„Am Montag vor einer Woche gab es bei den Demonstrationen hier in Leipzig einige bedauerliche Todesfälle“, eröffnete der kompakt und kastenförmig gebaute Stasi-Beamte mit der überdimensionierten Nase das Gespräch.

„Sind Sie sicher?“, konterte Berthold. „Darüber stand doch gar nichts in der Zeitung.“