Motiv: Sehnsucht - Kelvin Waiden - E-Book

Motiv: Sehnsucht E-Book

Kelvin Waiden

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Beschreibung

Er fing ganz normal an, der Ausflug nach Südfrankreich. Es sollten ein paar erholsame Tage werden, für Birger. Aber dann wird er in ein Abenteuer verwoben, das er mit seinen 18 Jahren nicht hätte für möglich gehalten. Und er wird feststellen, dass seine Gefühle und Zwänge nur lästiges Beiwerk in seinem Leben sind. Die wahre Natur seiner Sehnsüchte wird erkennbar. Und eine Liebe erwacht. Der schüchterne Cassian macht mehr zufällig die Bekanntschaft von Melanie. Es scheint Liebe auf den ersten Blick zu sein. Als er dann jedoch auf Melanies Geheimnis stößt, wird ihm sein eigenes Handicap erst richtig bewusst. Noch verschweigt er, dass er unter dem Tourette Syndrom leidet. Wie lange kann er seine Tics noch unterdrücken? Wie kommt er damit zurecht, dass Melanie als Prostituierte gearbeitet hat?

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EPUB
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Seitenzahl: 287

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Motiv:

Sehnsucht

Kelvin Waiden

©  2025 Kelvin Waiden

Illustration: S. Verlag JG

Verlag: S. Verlag JG, 35767 Breitscheid,

Alle Rechte vorbehalten

1.Auflage

ISBN: 978-3-96674-781-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Liebe ist der Entschluss das Ganze eines Menschen zu bejahen, die Einzelheiten mögen sein, wie sie wollen.

(Otto Flake)

Vielen Dank dem IVTS e. V. für seine großartige Arbeit.

Gerade für Jugendliche in der Pubertät ist das Tourette-Syndrom mehr als nur eine Herausforderung, es ist eine Kampfansage an alles Menschliche.

InteressenVerband Tic & Tourette Syndrom – IVTS e. V.

Inhalt:

Frankreich

Carcassonne

Verloren. Drei Jahre später

Der Weg des Lebens

Das Handicp

Verliebt ?

Gemeinsamkeit

Meine Liebe zu dir

Vergangene Liebe

Beziehungen

Frankreich

Als Christian den Bus endlich verlassen konnte, fiel ihm als Erstes der Mangel an jedweden Pflanzen auf. Soweit das Auge reichte, keine Grünanlagen, keine Bäume, keine Büsche. Es fehlte die Farbe Grün fast gänzlich in der Landschaft.

Man sah nur Sandfarben, Beige, Ocker und Weiß. Das Neubaugebiet Port Leucate war eine von staatlichen Planern in den 1960er Jahren entworfene Stadt für preisbewusste Reisende, die fast vollständig von Wasser umgeben war. Im kleinen „Ortskern“ am Rande eines der beiden Hafenbecken waren einfache Restaurants und Schnellimbisse platziert.

In einem weitläufigen Kranz rund um den „Ortskern“ waren ebenfalls überwiegend gleichförmige Feriensiedlungen und Appartementhäuser gebaut.  Die Appartements waren ein bis zweistöckig, ineinander verschachtelt und mit einem Flachdach versehen. Neben ihm stand sein Freund Georg. Oder besser gesagt, Freund, war etwas übertrieben. Sie wohnten im gleichen Ort und trafen sich auf dem gemeinsamen Weg zur Schule. Ab und an gingen sie auch in die gleiche Diskothek. Jedenfalls hatten sie sich dann doch zusammengefunden, um eine gemeinsame Sommerferienreise zu unternehmen. Zwei Wochen Südfrankreich.

Jetzt standen sie hier. Wie hingestellt und nicht abgeholt. So kam es Christian jedenfalls vor. Sein Kopf zuckte leicht. Er unterdrückte den Zwang, anstatt ihm nachzugeben. Das führte meist zu noch stärkeren Tics.

Sie teilten sich ein Appartement. Die meisten Räumlichkeiten bestanden aus Zweibettappartements. Sie reihten sich entweder nebeneinander oder waren im Winkel verbaut.

An diesem Abend trafen sich alle nur noch einmal während des Abendbrots. Man lernte sich langsam kennen, ging aber noch eigenen Beschäftigungen nach.

Christian und Georg richteten sich in ihren Räumlichkeiten ein. Den Sonnenuntergang über dem Meer bestaunte man von einem kreisförmigen Atrium, das an seiner, dem Meer zugekehrte Seite, offen war.

Als Christian die Augen am nächsten Morgen öffnete, war der Raum hell erleuchtet. Die Sonne strahlte bereits und der Himmel war wolkenlos. Sein Mitbewohner Georg war nicht mehr in seinem Bett. Christian hatte die Nacht schlecht geschlafen. Die neue Umgebung und das Nichtwissen, was in den nächsten Tagen auf ihn zukam, machte ihm schon zu schaffen. Es war angenehm warm im Zimmer.

Das kleine, angrenzende Bad war nur mit einem kleinen Waschbecken, einer Toilette und Dusche ausgestattet. Mehr passte auch nicht in den Raum.

Nachdem Christian sich ausgiebig erfrischt hatte, machte er sich auf den Weg zum Gemeinschaftsraum. Die Appartements, rechteckige und quadratische Räume, mit bis zu zwei Etagen übereinander, ließ er hinter sich und kam zum Frühstück an ein zentrales, einstöckiges Gebäude.

Davor war, als Versammlungsort vorgesehen, ein Vieleck aus Holz –und Steinbänken eingelassen.

Überall war als Bodenbelag feiner Sand vorhanden. Sand, der in der gleichen Form sich bis zu dem 200 Meter entfernten Strand ausbreitete.

Auf dem Weg zum Frühstück begegneten ihm zwei Mädchen und ein weiterer Junge. Anstatt zusammen in den Gemeinschaftsraum zu gehen, gingen sie ohne Begrüßung oder sonst ein Wort miteinander zu reden, getrennt weiter.

Georg erwartete ihn bereits am Tisch. Aber was war das für ein Tisch. Der ganze Raum bestand quasi nur aus einem Tisch. Die Tischplatte war gerundet und auf zwei Seiten offen. Man saß beidseitig im Halbkreis. Georg hatte sich rechts außen platziert. Viele Plätze waren noch frei. Man konnte direkt durch die ganz verglaste Wand nach außen sehen.

Vor der Wand war eine Art überdachte Veranda mit weiteren Sitzmöglichkeiten. Etwas weiter draußen schloss sich dann das Vieleck aus Holz –und Steinbänken an. Christian bediente sich und nahm sich Croissant, Baguette, Käse und Café au Lait, also ein richtiges französisches Frühstück.

„Hört mal alle her. Nach dem Frühstück treffen wir uns vor dem Gebäude. Dort bei den Holzbänken. Wir besprechen dann den weiteren Tagesablauf.“

„Das war einer der Betreuer“, Georg war immer bestens informiert. „Bin ja mal gespannt, was sie für ein Programm für uns haben.“

Als beide am Versammlungsort eintrafen, war schon kein Sitzplatz mehr frei. Sie mussten in zweiter Reihe stehen.  

Es wurde vereinbart, sich in einer halben Stunde hier in zwei Gruppen zu treffen. Die eine Gruppe sollte die nahegelegene ‚City’ erkunden und Gruppe Zwei wollte schwimmen gehen.

Christian und Georg waren bei Gruppe Zwei. Obwohl Christian liebend gerne mit der ersten Gruppe gegangen wäre. Die Einteilung war jedoch auch personenabhängig und diese wurden von den Betreuern bestimmt.

Am kommenden Tag sollte dann getauscht werden. Mit offenem Hemd und nur mit der Badehose bekleidet trafen Christian und Georg am vereinbarten Treffpunkt ein.

„Kommt ihr endlich. Es ist schon bald Mittag und wir stehen hier immer noch dumm herum.“

„Immer sachte Svenja.“ Jens, einer der Betreuer übernahm die Führung. „Wir haben den ganzen Tag Zeit. Und schließlich sind Ferien.“

„Du kannst noch früh genug deinen Luxuskörper zur Schau stellen“, Vanessa stichelte.

Neben Christian gingen zwei andere Jungs. Beide grinsten still vor sich hin.

„Melanie und Ronald, kommt ihr endlich.“ Sven rief den beiden hinterher. Sie standen einige Meter abseits und hielten sich in den Armen. Der kilometerlange Strand war bis auf wenige Ausnahmen menschenleer. Die Gruppe hatte viel Platz, um sich auszubreiten. Die Sonne stand schon ziemlich hoch und es gab keinen wirklichen Schatten, in dem man sich legen und sich schützen konnte. Überhaupt gab es keine Dünen, noch jedwede Art von Gras oder Büschen war vorhanden. Christian stand erst etwas ratlos zwischen den andern. Georg hatte ein Handtuch auf den heißen Sand gelegt und war im Begriff sich darauf zu legen. Die meisten jedoch liefen zum Meer und stürzten sich schreiend hinein. Mike und Marcel, die Zimmernachbarn von Christian und Georg, winkten ihnen zu.

Ein blondes Mädchen lief an Christian vorbei. „Was schaust du so dumm. Hast du Angst vor dem Wasser?“ Und schon stürzte sie sich in die Fluten und schwamm nach draußen.

„Svenja meint es nicht so.“

„Rebecca, kommst du“, erklang ein Ruf aus dem Wasser.

„Wir spielen Wasserball. Hast du Lust mitzumachen?“ Sie wartete nicht erst auf Christians Antwort, sondern war schon auf dem Weg zum Wasser.

Christian blickte kurz zu Georg. „Ich bleib hier liegen. Das Meerwasser stinkt mir zu sehr nach Fisch.“

Christian grinste und lief hinter Rebecca her. Sie stand bereits einige Meter im Meer und warf den Wasserball in seine Richtung.

Das Ballspiel ging so lange gut, bis mehrere Jungs Wasser spritzend auf die Mädchen zustürmten und versuchten, sie unter Wasser zu drücken. Es gab eine wüste Rangelei und die Gruppe bewegte sich immer mehr in Richtung Meer. Auch Christian war unter ihnen.

Als sie schon keinen Grund mehr unter den Füßen hatten, drückte Svenja von hinten Christian unter Wasser. Er schnaufte kurz und verlor völlig die Orientierung.

Seit er auf dem einen Ohr ein Loch im Trommelfell hatte, versuchte er es zu vermeiden, unter Wasser zu kommen. Jetzt war es zu spät.

Gleichzeitig baute sich ein bestimmter Druck in seinem Kopf auf; die verbalen Tics wollten ausgestoßen werden.

Sein Kopf ruckte hin und hier. Eine nie gekannte Angst erfüllte sein ganzes Innere aus.

Er ruderte wie wild mit Armen und Beinen. Bekam aber keine Bodenhaftung.

Erst als ihm bereits die Luft auszugehen drohte, fühlte Christian mit den Händen den Meeresboden. Das war die falsche Richtung. Mit aller noch vorhandenen Kraft stieß er sich in die vermeintliche Gegenrichtung ab. Er durchbrach die Wasseroberfläche und holte sofort tief Luft.

Da war bereits eine Welle über ihm und er schluckt Salzwasser. Hustend und mit den Armen um sich schlagend, versuchte er sich zu orientieren.

Ein paar Meter weiter tollten die anderen ohne Schwierigkeiten im Wasser. Ihnen machte es nichts aus, dass sie keinen festen Grund unter den Füßen hatten. Sie schwammen und tauchten gleichzeitig.

„Fuuudschiimii, muudiieh.“ Seine Tics kamen lautstark durch. Man hörte seine Koprolalie und wurde auf ihn aufmerksam. Sein Kopf ticte unaufhaltsam.

Die ersten Witze wurden über ihn gemacht. Aber das störte ihn erst einmal nicht.

Sein einziges Verlangen war, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen. Dann war er aus dem Wasser.

Von hinten kamen laute Rufe.

„Schlappschwanz“, war das einzige Wort, das er noch vernahm, da war er bereits bei Georg angekommen. Er ließ sich neben ihn in den Sand fallen und schaute kurz aufs Meer.

Georg öffnete gerade die Augen. „Na, hat es Spaß gemacht?“

Christian sieht ihn erschrocken an. „Wie man es nimmt.“ Mehr war nicht aus ihm heraus zu bekommen.

Die Gruppe von drei Mädchen und vier Jungs hatte begonnen, im Sand Strandball zu spielen. Christian stand etwas abseits und beobachtete sie. Mehrmals landete der Ball in der Nähe.

Einmal holte ihn ein Mädchen namens Vanessa. Als sie Christian sah, fing sie an zu grinsen, bückte sich, hob den Ball auf und nickte mit ihrem Kopf auf und ab, wie ein Huhn. Dabei schaute sie zurück zu den Wartenden und rief: „Muuuuufuuubuu.“ Alle lachten.

„Was haben die denn?“ Georg war zu Christian getreten.

„Was weiß ich.“ Christian drehte sich um und ging langsam landeinwärts.

Anscheinend sprach es sich wie ein Lauffeuer herum. Christians Kampf im Wasser und seine Schreie. Selbst am Mittagstisch vermeinte er immer wieder Laute wie: „Mmuuuhh“ und fuuuh“ zu hören. Und man tuschelte an den anderen Tischen.

Christian war auf dem Weg in Richtung Ortskern. Er ging alleine. Die Straße war leer. Links und rechts neben der gerade laufenden Straße standen die Quaderbauten; davor in einer Linie Büsche. Bäume waren sehr rar verteilt. Er schaute nicht sehr oft auf. Sein Kopf war vielmehr auf den groben Asphalt der Straße gerichtet. Er wollte von all dem hier nichts mehr wahrnehmen. Mit seinen 17 Jahren war er bereits Einsamkeit gewöhnt. Aber es ist schon was anderes, wenn sie nur von innen kommt, als wenn sie von außen entgegengeschleudert wird.

Er hatte sich sein Leben so nicht ausgesucht. Wahrlich nicht.

Die Sonne stand hoch am Himmel und schien kräftig. „Fuuuuuuggggd, muuuuuddiiiiie“, schrie er ganz laut. Er konnte zwar keine weiteren Spaziergänger sehen, aber das war ihm jetzt auch egal. Er schrie seinen Frust heraus, das heißt, er ticte seinen Frust heraus und ließ den Zwängen freien Lauf.

Es bildeten sich Schweißtropfen auf seiner Stirn. Aber Christian ignorierte sie. Nach etwa 30 Minuten Fußweg kam er an eine Kreuzung. Hier stand ein Wegweiser mit der Aufschrift‚ ‚Bar-Discotheque Stardust’.

Christian ging in die andere Richtung. Seine Gedanken kreisten weiter um Svenja, Vanessa, Erik, Mike und die anderen.

Gerade als er an einem parkenden Auto vor-beiging, hörte er hinter einem der Appartements Geschrei. Zwei dumpfe Schläge waren noch zu hören, dann nichts mehr. Christian blieb stehen und horchte.

Als er bereits wieder weitergehen wollte, kamen aus einem kleinen Seitenweg zwei Jungs auf ihn zu gerannt. Sie rannten nicht zum Spaß. Hinter ihnen kamen andere.

Es sah schon wie eine Verfolgungsjagd aus.

Keine 10 Meter vor ihm erreichten die Verfolger die Flüchtenden und brachten sie zu Fall. Sie wurden aber gleich wieder hochgerissen und gegen das parkende Auto gestoßen.

„Gib das Zeug heraus.“ Der eine Junge wurde mit dem Kopf gegen das Autodach gedrückt.

„Das ist unsere Gegend. Hier habt ihr nichts zu suchen!“

Der zweite Junge wurde von zwei anderen festgehalten, während ein Dritter seine Taschen durchsuchte.

Christian zählte insgesamt fünf Verfolger, die gemeinsam die zwei Taschen der Verfolgten auf dem Boden neben dem Auto ausschütteten. Dabei schubsten, schlugen und traten sie immer wieder auf sie ein.

Christian stand jetzt keine 5 Meter entfernt. Jedoch wurde er überhaupt nicht wahrgenommen. Er wollte sich gerade umdrehen und weitergehen, als er ein Aufblitzen in der Hand eines der Schläger erkannte. Das Schnappgeräusch der ausgleitenden Messerklinge hielt ihn zurück.

„Jetzt wirst du gekennzeichnet. Jeder soll sehen, dass du im falschen Revier warst!“

Der Typ holte gerade zum Schnitt aus, als Christian, anscheinend unbemerkt, weil leise, hinter diesem zum Stehen kam und ihm den Arm festhielt. Erstaunt sahen jetzt alle zu ihm hin.

„Was…“ Der Festgehaltene drehte sich zu ihm um. Er wollte sich losreißen, aber schaffte es nicht.

Christian hielt seinen Arm weiterhin fest.

„Lass sofort los, du Arsch.“

Mit der linken Hand versuchte er sich zu befreien. Jedoch gefehlt. Mit einem Hebelgriff entwaffnete Christian gekonnt seinen Gegenüber. Das Messer fiel auf den Boden.

Als nun die anderen ihrem Kumpel von zwei verschiedenen Seiten kommend, zu Hilfe eilen wollten, versetze Christian diesen in eine kurze Drehung, gab ihm einen Stoß und er flog den von rechts kommenden entgegen. Mit zwei gezielten Fußtritten und einem Karateschlag vor die Brust bekam Christian erst einmal Luft. Er fühlte sich auf einmal richtig frei. Und er hatte dabei ein gutes Gefühl.

Als zwei weitere Jungs versuchten, ihr Messer auszuklappen, war es bereits zu spät. Ihre Arme wurden zur Seite geschlagen; die Messer flogen im hohen Bogen davon und mit einigen kurzen Brustschlägen fielen sie wieder zu Boden.

Christian schob die am Boden liegenden Messer mit einem Fuß unter das Auto. Er stand jetzt fast genau in der Mitte der aufstehenden Jugendlichen.

Einer der zwei Verfolgten war bereits einige 100 Meter davongelaufen. Er schaute nur noch einmal kurz zurück und verschwand dann zwischen den Häusern. Der Zweite lehnte noch immer am Auto und schaute mehr als verdutzt der Auseinandersetzung zu. Christian stand breitbeinig und fing an, sich langsam im Kreis zu drehen.

„Ich bin jetzt warm geworden. Ob es jetzt erst richtig losgeht, entscheidet Ihr.“ Er sprach leise aber sehr betont.

Die Fünf sahen sich gegenseitig an. Einer bückte sich, um die Tasche aufzuheben.

„Liegenlassen!“

Er zuckte leicht zusammen und schaut zu dem Anführer. Das war anscheinend der, welcher zuerst das Messer in der Hand gehallten hatte.

Ein kurzer Sidekick, und ein Schrei war zu hören. Hinter Christian knickt ein Junge ein. Christian hatte ihm die Ferse zur Seite geschlagen, als er Anstalten machte zu Nahe zu kommen.

„Wir verschwinden!“ Alle zogen sich widerwillig in Richtung Haus zurück.

Am Ende der Straße war eine Gruppe von Touristen zu erkennen. Sie kamen in ihre Richtung. Christian ergriff die beiden Taschen und stellte sie dem Jungen am Auto vor die Füße.

„Hier, nimm mit. Ich will gar nicht wissen, was da drinnen ist.“

Der grinste zuerst. „Ich bin Marco. Danke, Mann. Hast was gut bei mir!“

„Christian“, sagte Christian. „Sonst alles klar bei dir?“

„Ja, ja, alles bestens.“ Marco nahm beide Taschen auf. „Komm, wir verschwinden erst einmal von hier.“

Ohne weiter auf Christian zu achten, ging er ein Stück auf dem betonierten Gehweg und bog dann langsam und um sich schauend in einen Seitenweg ab.

Christian stand noch unentschlossen an der gleichen Stelle. Als er nicht folgte, winkte Marco ihm zu. Der kurze Kampf hatte ihm gut getan. Körper und Geist waren wieder einmal für eine gewisse Zeit im Einklang gewesen. Er folgte Marco.

Marco lief nicht gerade langsam. „Weiß nicht, ob die ‚Frères Fiers’ nicht doch noch nach uns suchen. Und diesmal in einer größeren Anzahl.“

Christian lief ohne weitere Worte zu wechseln neben ihm her. Es ging quer Feld zwischen den Quarterbauten hindurch.

Über kleine Pfade, zwischen mannshohen Büschen hindurch. Zweimal überquerten Sie eine Straße. Aber Marco ging niemals parallel zur Straße.

Nach geschätzten 20 Minuten verließen sie den inneren Bereich der Feriensiedlung. Sie kamen auf relativ unbesiedeltes Gebiet. Es standen nur noch vereinzelt Bäume. Jedoch wimmelte es nur so von Büschen. Kleine, niedrige bis hin zu Büschen von einer Größe über 1,5 Metern. Aber es gab keine Bebauung mehr.

Marco lief entlang eines ausgetretenen Pfades. Christian folgte ihm jetzt in einem halben Meter Abstand. Sie liefen schweigend. Nach weiteren 20 Minuten erreichten Sie ein Areal ohne Büsche. Vor ihnen erstreckte sich eine Fläche von etwa 50 mal 50 Meter. Im Mittelpunkt stand ein Steinhaus mit Ziegeldach. Es sah aus, wie ein Bungalow. Eingeschossig mit einer Grundfläche von mindestens 100 Quadratmetern.

Marco blieb stehen. „Es ist zu ruhig hier“, sagte er nervös um sich blickend.

Christian verhielt sich ebenfalls ruhig.

„Ich versuche mich mal heranzuschleichen. Bleibe bitte mit den Taschen hier zurück“, Marco schaut ihn etwas nervös an.

„O. k., ich passe schon auf.“ Und bevor Marco losziehen konnte, hält Christian ihn zurück: „Und auf was, bitte, soll ich aufpassen?“

Marco zuckte etwas mit dem Kopf. „Weiß ich auch nicht genau. Halt die Ohren und Augen offen. Denke an vorhin.“

Er nickt ihm zu und verschwindet duckend in die links stehende Buschreihe.

Christian schaut sich etwas ratlos um. Der letzte Baumbestand, vor dem weiter hinten befindlichen Haus, befand sich einige Meter links von ihm. Er nimmt die beiden Taschen und begibt sich leise zu einem der letzten Bäume. Er legte die Taschen ab und setzte sich mit dem Rücken gegen den Stamm; immer noch das Haus im Blickfeld.

„Muuuuffguuuud“, kommt es laut über seine Lippen. Gleichzeitig zuckt sein Kopf und seine rechte Ferse haut mehrmals auf den Boden.

„Au, verflucht.“ Er hatte die Ferse zu stark auf den Boden geschlagen. Christian bückt sich, um zu erkennen, auf was er getreten war. In diesem Moment rascheln die Büsche in der unmittelbaren Umgebung und er sieht mehrere Jugendliche, die sich auf ihn zu bewegen.

Er rollt sich geistesgegenwärtig zur Seite ab und verschwindet hinter einem Busch.

„Hier“, hört er noch einen Ruf. Dann bleibt er regungslos liegen und horcht. Vier Personen tauchen in seinem Blickfeld auf.

„Hier, da liegen die Taschen.“ Zwei Jugendliche kommen näher. Keinen Meter vor seinem Versteck stehen die Taschen.

Jetzt griff jemand danach. Sollte er zugreifen? Jetzt zuschlagen, aus der Defensive, jedoch mit einem Überraschungseffekt? Er blinzelt leicht und schaut genau auf die Taschen. Die eine wurde bereits aufgenommen und als die Zweite ergriffen wird, sieht Christian genau in den Ausschnitt eines Mädchens. Sie trug anscheinend ein sehr enges T-Shirt. Er konnte vom Ausschnitt bis zum Nabel sehen.

Völlig erstarrt sieht Christian, wie sie beide Taschen aufhebt und zu den anderen geht.

„Hier sind die Taschen. Habt Ihr sonst etwas bemerkt?“ Es kam keine Antwort.

Christian zuckte nervös mit dem Kopf. „Nur nicht laut werden“, dachte er. Und schon beginnen seine Tics aufzuwachen. „Muuuuhh“, er unterdrückt den Ton.

Schweiß bildet sich auf seiner Stirn. Nur nicht auffallen. Ganz ruhig ein und aus atmen. Als er wieder aufblickte, sind die Vier bereits fort.

Er steht auf. Blickt um sich. Keine 20 Schritte vor ihm, auf dem Weg zum Haus, erkennt er sie. Leise schleicht er ihnen nach. Als sie auf dem freien Stück vor dem Haus angekommen sind, läuft ihnen doch tatsächlich Marco entgegen. Sie bleiben stehen.

Christian legt sich auf den Boden und robbt langsam weiter.

„Mann, hab schon gedacht, die ‚Frères Fiers’ hätten euch erwischt.“

„Das dachten wir eigentlich von dir!“ Das einzige Mädchen der Gruppe sieht Marco böse an.

Christian war mittlerweile unbemerkt etwa 10 Meter an die Gruppe herangerobbt.

„Wo habt ihr denn meinen Kumpel gelassen?“ Marco zeigt sich unbekümmert.

„Welchen Kumpel? Wir haben nur die Taschen geholt. Da war sonst niemand.“

„Was fantasierst du wieder für einen Blödsinn? Ich sage es doch immer wieder, man darf dich nicht alleine lassen.“

Ein großer, etwa Anfang zwanzig Jahre alter Junge kam vom Haus auf sie zu. Olivier, der Anführer der ‚Fleurs de sable’ tritt hinter Marco.

„Was redest du da. Christian hat mich doch vor den ‚Fères Fiers’ gerettet. Und er hat mir die beiden Taschen mit den ‚part de la vie’ überlassen. Die ‚Frères Fiers’ hatten mich und Hugo bereits geschnappt. Wo ist der überhaupt?“ Marco sieht in die Runde.

„Hugo ist seit heute Morgen nicht mehr hier gewesen.“ Bianca, das einzige Mädchen in der Gruppe schaut besorgt auf Olivier.

„Er war bei mir, als wir überfallen wurden. Dann ist er verschwunden.“ Marco sieht etwas ratlos in die Gruppe.

„Was ist das für eine Geschichte mit diesem Christian?“

Bevor irgendwer noch weitere Fragen stellen konnte, oder bevor Marco noch etwas sagte, stand Christian auf. Er hatte jetzt genug gehört, um diesen Schritt zu wagen. Immerhin waren es doch wohl Freunde von Marco, die hier beisammenstanden.

Es war jedoch, als sei eine Bombe eingeschlagen. Außer Marco stießen alle anderen einen Schreckensschrei aus. Gleichzeitig versuchten sie sich von der Gruppe zu trennen, und Christian zu umzingeln. Jedenfalls alle außer Bianca.

„Hab ich doch vorhin richtig gerochen“, sagte sie. Mir war so, als hätte ich ein bestimmtes Deodorant wahrgenommen, als ich die Taschen aufgehoben habe.“

Christian sieht sie jetzt keine zwei Meter vor sich stehen. „Angenehm, ich heiße Christian und du riechst nicht nur auch gut, du hast auch einen süßen Ausschnitt.“

Erst versteht sie nicht. Dann wird Bianca auf einmal rot. „Du... und sie macht zwei Schritte auf ihn zu, mit geballten Fäusten.

„Das würde ich nicht machen“. Marco sagt es betont aber leise. „Er hat fünf ‚Frères Fiers’ in die Flucht geschlagen, alleine!“

Bianca schaut irritiert auf Marco und senkt ihre Fäuste. Olivier bleibt entspannt: „Du hast fünf ‚Frères Fiers’ in die Flucht geschlagen? Alle Achtung.“

Und zu Marco gewandt: „Du bist dir sicher, dass man ihm trauen kann?“

„Ja natürlich. Sonst hätte ich ihn nicht mit hierher gebracht. Er hat sogar an unsere Beute gedacht!“

Olivier schaut Christian in die Augen. „Wenn Marco das sagt, dann ist das für uns in Ordnung.“ Er dreht sich zu den anderen.

„Oui patron“, kommt es aus deren Munde. „Lasst uns ins Haus gehen.“ Und zu Marco wendend: „Kümmere dich um unseren Gast.“

Christian steht auf einmal alleine. Marco winkt ihm zu. „Komm, du bist eingeladen.“ Gemeinsam gehen sie zum alten Haus.

Als die Tür von innen mit einem großen Querriegel verschlossen war, wurden die Taschen ausgeräumt. Es kamen allerlei Wertgegenstände und Geld zum Vorschein. Christian schaute etwas gequält.

„Das ist unser Überleben für die nächsten zwei Wochen, Mann. Was denkst du. Aber sei beruhigt, wir nehmen es nur von den reich Betuchten. Ganz im Gegensatz zu den ‚Frères Fiers’!“ Marco ging an ihnen vorbei in einen kleinen Nebenraum.

„Willst du auch was zu trinken“, kam es von dort zurück.

Christian hatte Durst. Er merkte erst jetzt, dass auch Hunger dazu kam „Ja“, rief er zurück.

Marco kam mit einer kalten Flasche l’eau minérale aus der Küche. „Hier“, er warf sie Christian entgegen.

Das Zimmer bestand hauptsächlich aus einem großen Raum. Drei Türen grenzten die Nebenzimmer ab. Im Mittelpunkt des Raumes standen verschiedenartige Sitzelemente. Und zwei Tische. Auf einem dieser Tische lag nun die Diebesbeute verteilt.

Christian ging langsam, mit geöffneter Flasche am Mund, an den Tisch. Olivier und Bianca schauten auf.

„Was macht ihr damit?“

„Das sichert unser Überleben für die nächsten zwei Wochen.“ Olivier legte die Geldscheine zusammen auf einen Haufen.

„Ist zwar wenig Bares dabei, aber die anderen Wertsachen lassen sich bestimmt gut verkaufen.“

Mittlerweile war es bereits dunkel geworden und Petroleumlampen wurden angezündet.

„Elektrizität haben wir hier nicht“, sagte Bianca erklärend.

Christian schaut auf seine Uhr. „Ich glaube, ich muss euch jetzt verlassen. Man wird mich sowieso schon vermissen." Er schaut etwas ratlos. „Hoffentlich finde ich im Dunkeln wieder zurück!“

Marco entgegnet: „He, kein Problem. Ich schulde dir was. Ich bring dich zurück. Wo musst du denn hin?“

„Die Anlage heißt, glaube ich, ‚Nouveau Pays’.“

„Kenn ich, kenne ich. Da ist nichts zu holen. Alles arme Schlucker, die da Ferien machen.“ Marco lächelt Christian an. „Nichts für ungut.“

Beide verlassen das Haus. Es ist Vollmond. Irgendwie kommt es Christian vor, als wäre der Mond hier größer als zu Hause.

„Das Gebäude sieht aber nicht sehr vertrauenserweckend aus.“ Christian sieht sich noch mal kurz um. Einige Dachziegel fehlten. Die Fensterläden hingen schief im Rahmen. An einer Ecke des Hauses fehlten Mauersteine. Das ganze Gebäude ähnelte eher einer alten Scheune als einem Wohnhaus.

„Ist doch genau so, wie wir es benötigen.

Da kommt doch keiner auf die Idee, dass hier jemand wohnen könnte.“ Marco sagte es mit etwas Stolz in der Stimme.

Nebeneinander gingen sie jetzt schweigsam hinunter in Richtung Strandanlage.

„Sag mal, ich habe zwar einige französische Sätze aufschnappen können, aber es wurde hauptsächlich deutsch gesprochen. Woher kommt ihr eigentlich?“ Christian schaut kurz zu Marco.

„Ja, stimmt. Die meisten sind aus Deutschland. Irgendwie hier hängen geblieben. Bianca zum Beispiel ist seit etwa einem halben Jahr bei uns. Ist ihren Eltern beim letzten Urlaub einfach abgehauen. Vor Kurzem ist sie 18 geworden. Sie hatte keinen Bock mehr auf zu Hause. So geht es eigentlich fast jedem von uns.“

Marcos Wortschwall war nicht mehr aufzuhalten. Es schien, dass er sich einiges von der Seele reden wollte.

„Das ‚part de la vie’, entschuldige, wir nennen unsere erbeuteten Dinge ‚Teil des Lebens’, das heißt, was wir zum Leben und Überleben so alles benötigen. Natürlich stehlen wir das. Aber im Gegensatz zu den ‚Frères Fiers’ stehlen wir es nur aus den Feriensitzen der Reichen. Die haben doch sowieso zu viel davon.“

Christian sieht hin und wieder kurz zu Marco. „Na, so ganz selbstlos werden sie auch nicht sein. Und gestohlen ist gestohlen.“ Aber er sagte nichts.

Sie erreichten nach etwa einer Stunde den Bezirk der Wohnanlage von Christians  Gruppe.

„Das sieht aber nicht gerade wohnlich aus“, bemerkte Marco noch bevor er mit „Ciao“ schon wieder verschwunden war. Kein weiteres Wort. Kein weiterer persönlicher Kontakt.

Christian sah noch mal kurz in die Dunkelheit, in der Marco verschwunden war. Dann machte er sich auf, zu seinem Appartement.

Als er eintrat brannte noch Licht. Georg kam gerade aus dem Bad.

„Mann, wo hast du den gesteckt. Gab schon Ärger deinetwegen. Jens, einer der Betreuer, wird mit dir bestimmt morgen sprechen wollen.“

Christian setzt sich aufs Bett.

„Ist mir egal.“

Georg steht vor ihm. „Nun sag schon, was hast du gemacht, wo warst du?“

„Wollte nur mal alleine sein. Ist das etwa verboten?“

„Hättest ja wenigstens einmal Bescheid sagen können. Zumindest mir.“

Christian schweigt. Dann geht er in das frei gewordene Bad.

Am nächsten Morgen wachte Christian schon früh auf. Die Uhr zeigte gerade mal 6.00 Uhr. Die ersten Sonnenstrahlen beleuchten schon die halb zugezogenen Übergardinen am Fenster. Georg schlief noch.

Christian kramte in seiner Reisetasche. Ganz unten, in der hintersten Ecke, war ein kleines Bündel. Er holte es heraus und faltete es auf.

Sein Tai Chi Anzug kam zum Vorschein. Christian hatte sich entschlossen, heute Morgen, vor dem Frühstück, einige Übungen zu machen. Insbesondere die Chin Atemübungen halfen ihm immer wieder, gegen die Zwänge des Tourette anzugehen.

Auf nackten Sohlen verließ er das Appartement. Etwa 500 Meter von der Wohnanlage entfernt, lag in Richtung Meer eine kleine Felsengruppe. Das war sein Ziel.

Es war zwar noch früh, aber schon relativ warm.

Christian hatte schon mit zehn Jahren in einem Judo Club angefangen zu trainieren.

Vor fünf Jahren kam Karate und vor zwei Jahren Kung-Fu dazu. Seit mehr als einem Jahr hatte er sich zusätzlich für Taijiquan entschieden. Insbesondere auch wegen seinen Tics und Zwängen. Taijiquan mit seinen Einzelbewegungen, Stand- und Atemübungen passte auch sehr gut zu seinem Kung-Fu Kampftraining.

Hier erhielt er die Möglichkeit der Lockerung und Sensibilisierung der Sinne und die Gelassenheit, die für ihn so wichtig war.

Mit dem Rücken zu dem Fels und dem Blick aufs Meer gerichtet, beginnt er mit der Grundhaltung und Lockerung von Körper und Gelenken. Brust und Rücken sind gerade.

„Kreuz und Taille locker. Das Gewicht richtig verteilen. In den Bewegungen wird Oben und Unten neu koordiniert. Innen und außen finden eine neue Harmonie.“

Die Atemfrequenz sinkt. Christian tauchte in eine andere Dimension. Nach dem Taijiquan schloss er noch zwei Atmungs- Chin seiner Kung-Fu Lehre an.

Der Sonnenstand hatte sich leicht verändert, als Christian Wortfetzen auffing.

Er hatte seine Übungen beendet und fühlte sich frisch und unternehmungslustig. Da tauchte eine Gruppe von Jugendlichen hinter dem Fels auf.

Als sie ihn gewahrten, lachten einige.

„Was machst du denn mit deinem Schlafanzug hier draußen?“, rief Vanessa lachend herüber.

Und Richie ergänzte: „Bist wohl schlafgewandelt.“

„Fuuuu, muuuh“, hörte er mehrmals.

Die anderen lachten wieder.

„Blödmänner“, Christian schaute erst jetzt auf die Uhr.

Es waren mittlerweile schon zweieinhalb Stunden vergangen. Er hatte es überhaupt nicht mitbekommen. Außer, dass jetzt sein Magen sich meldete.

Auf dem Rückweg begegnete er noch anderen Spaziergängern. Sie kümmerten sich jedoch nicht  weiter um ihn.

Als Christian gerade die Tür des Appartements öffnen wollte, wurde diese von innen aufgezogen. Jens stand vor ihm.

„Ach, da ist ja der Herr.“

Christian schaut irritiert.

„Mit dir muss ich gleich mal sprechen.“

Beide gingen hinein. Georg saß auf seinem Bett.

„Setzt dich“, Jens zeigt auf Christians Bett.

„So geht das nicht. Du kannst nicht einfach den halben Tag verschwinden und deine Tour durchziehen.“

„Was soll das denn heißen. Bin ich hier eingesperrt?“

Beide saßen sich jetzt gegenüber.

„Nun mal langsam. Wir haben klare Regeln. Wenn du dich vom Gelände entfernst, musst du dich abmelden. Und spätestens um 22.00 Uhr hast du dich zurückzumelden. Ist das klar!“ Jens war etwas lauter geworden.

„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“ Christian steht auf. „Ich bin kein kleines Kind mehr.“

Jens steht ebenfalls auf: „Genau deshalb solltest du dich auch entsprechend verhalten.“

Ohne ein weiteres Wort verlässt er den Raum. Georg hatte die ganze Zeit schweigsam zugehört. Als Christian aus dem Bad zurückkommt, hält er ihm ein in Papier eingewickeltes Päckchen hin.

„Hier, habe dir ein paar belegte Brote mitgebracht. Frühstück wirst du jetzt nicht mehr bekommen.“

Christian hatte endlich einen freien Platz auf einem der Liegestühle nahe dem einzigen Pool ergattert. Die Sonne brande vom wolkenlosen Himmel.

„Na du Faulpelz. Was liegst du so dumm in der Sonne. Mit dir ist wirklich nichts los.“

Svenja steht wie aus dem Boden gestampft neben ihm. Sie trägt eine weite Jeans und ein T-Shirt Top.

Christian blinzelte. Sie schaute ihn direkt aus der Sonne heraus an. „Willst du mich anmachen?“

Sie grinst. „Nein, bestimmt nicht. Hast du keine Lust mit Volleyball zu spielen?“

„Warum sollte ich? Damit ihr wieder euren Spaß habt.“

„Dann eben nicht.“ Sie geht in Richtung Strand. Ein paar von den Jungs und Mädchen hatten sich einiger Meter vor dem Wasser eingefunden und bauten ein Volleyballnetz im Sand auf.

Christian hatte seine Augen wieder geschlossen und genoss die Sonnenwärme auf seinem Körper.

„Bst, bst“, hörte er Laute es aus den Büschen links von ihm kommen. Und schon steckte Marco seinen Kopf heraus. „Bist du allein?“

Christian sieht in seine Richtung: „Jetzt nicht mehr.“

Marco kam heraus und setzte sich neben die Liege auf den Boden. Sein Kopf ruckte kurz hin und her.

„Du hast Nerven, hier einfach so offen in der Sonne zu liegen.“

Christian schaut ihn verdutzt an. „Was?“

„Na, die halbe ‚Frères Fiers’ sucht nach dir.“

Christian setzte sich auf. „Wieso? Ich habe doch mit denen überhaupt nichts am Hut.“

„Von wegen. Du hast Ihnen gestern einen guten Fang versaut. Du erinnerst dich?“

„Aber ich gehöre doch überhaupt nicht zu euch.“

Marco wackelt mit dem Kopf. „Das wissen die doch nicht. Solltest dich in acht nehmen.“

Leise Rufe waren aus der Ferne zu hören. Das Volleyballspiel war im vollen Gange.

Aber deswegen bin ich nicht hier. Bianca ist seit gestern Abend verschwunden. Sie ist noch nie über Nacht einfach weggeblieben.“

Christian spürte, wie seine Tics versuchten, wieder stärker zu werden. Er konnte gerade noch verhindern, dass er bestimmte Wörter ausstieß.

„Hast du nach ihr gesucht?“

„Ja und nein. Wir haben überall nach ihr Ausschau gehalten.“ Aber nichts.“ Marco schaute Christian Hilfe suchend an. Christian überlegte.

„Wo haben die ‚Frères Fiers’ ihr Quartier. Konntet ihr das schon herausfinden?“

„Nein, nicht genau. Die halten es genauso versteckt, wie wir unseres.“

„Aber eine Vermutung habt ihr doch?“

„Ja, natürlich.“

Christian war aufgestanden. „Warte hier.“

Mit schnellen Schritten lief er zurück zu seinem Appartement. Christian griff sich die nächstbeste Hose und Hemd, das er finden konnte. Dass sie weiß war, und das Hemd grün mit Blümchenmuster, störte ihn nicht.

Es waren keine drei Minuten vergangen, als er bereits wieder zu Marco stieß. Der machte große Augen, als er ihn so daher kommen sah.

„Hast du was vor?“ Seine Augen blitzten.

„Rede nicht. Wir werden jetzt das vermutete Versteck der ‚Stolzen Brüder’ aufsuchen.“

Marco verstand erst nicht. „Was werden wir?“ Dann hatte er verstanden: „Ach so, die ‚Frères Fiers’! Bist du dir sicher?“

„Ja absolut.“

Marco wollte gerade wieder hinter dem nächsten Busch verschwinden, als Christian ihn am Arm festhielt.

„Dafür haben wir jetzt keine Zeit, denke ich.“ Er zog Marco mit über den Strand und an dem Volleyballspiel vorbei.

„Zeig mir den direkten Weg.“ Christians Worte waren diesmal klar und hart ausgesprochen.

Marco meinte eine gewisse Autorität und ebenfalls Besorgnis aus seinen Worten heraus zu hören. Jedenfalls gab er keine Widerworte und übernahm die Führung. Sie liefen ein Stück am Strand entlang weiter.

Dann bog Marco landeinwärts ein. Von Weitem konnte man eine kleine Erhöhung am Horizont erkennen.

Umgeben von Steinbauten wurde eine Art Kastell dort erkennbar. Der Sand reichte bis hin zum Fuß der Ringmauer. Sie war mehr angedeutet, als wirklich vorhanden. Mehrere einfache Häuser bildeten die Grundstruktur.

Je näher sie jedoch kamen, umso weiter wurde das Terrain. Und die Strukturen lockerten sich auf. Aus der Mauer wurden locker nebeneinander gebaute Grenzmauern und Einfriedungen. Jedoch eines blieb bestehen. Innerhalb dieser Ansiedlung stieg das Bodenniveau kontinuierlich zur Mitte hin an. Und es gab weder Bäume noch Sträucher in unmittelbarer Nähe.

Bevor Christian diesbezüglich Marco ansprechen konnte, bog dieser nochmals im rechten Winkel ab und bewegte sich auf einen kleinen Baumbestand zu. Dieser lag als Vorhut einer großen, parkähnlichen Anlagen, in genau einem Kilometer Entfernung vor dem Kastell, landeinwärts gesehen.

Als sie dort ankamen, ließ sich Marco auf einem kleinen, umgefallenen Baumstamm nieder.

„So, das war’s fürs Erste.“ Christian stand vor ihm und blickte ihn ernst an.

„Was heißt das jetzt?“

„Ganz einfach, es geht keinen Meter weiter. Jedenfalls solange die Sonne scheint.“

Er rutschte vom Stamm und legte sich direkt davor. Den Kopf angelehnt.

„Schau dir doch die Gegend an. Du kommst jetzt im Hellen keinen Fuß mehr weit, ohne das dich jemand von dort drüben sieht.“

„Wir müssen also zu diesen Gebäuden?“ Christian setzte sich jetzt ebenfalls zu Marco.

„Ja, genau. Nicht direkt zum Mittelpunkt. Das wäre zu einfach. Zuerst dachten wir das. Aber wir hatten eine andere Informationsquelle, die uns den Standort der ‚Frères Fiers’ am hinteren Ende der Anlage bestätigte.“  Marco gähnte.

„Lass uns bis zur Dunkelheit hier bleiben. Ich hab letzte Nacht wenig geschlafen.“ Er schloss bereits die Augen.

Christian war unentschlossen. Er sah kurz Biancas Augen vor sich und ihren Ausschnitt. Durch den er bis zum Nabel schauen konnte

„Fuuunmufh“, leise ticten seine Zwänge. Er versuchte sie zu ignorieren. Konzentrierte sich auf die Atemübungen und Taijiquan.

Er setzte sich vor den Stamm in den Schneidersitz und entspannte seine Sehnen, Muskeln und als Letztes seinen Geist.

„He, wach auf es ist schon dunkel.“ Marco rüttelte an Christians Schulter.

Ein Schmerzensschrei später lag er auf seinem Rücken und hatte ein Knie am Kehlkopf. Christian schaute verlegen und nahm noch rechtzeitig den Druckpunkt seines Unterschenkels zurück. Marco war etwas kurzatmig geworden.

„Was war das jetzt?“ Eingeschüchtert blickte er Christian an. Noch wagte er sich nicht zu bewegen.

„Marco, ein Tipp von mir für die Zukunft. Wenn ich mich im Taijiquan flow befinde, bitte niemals stören. Ist das klar!“

Marco nickte mehrmals mit dem Kopf. „Kann, darf ich mich aufsetzen?“

Christian entspannte sich und lachte. Er gab ihm seine Hand und zog ihn auf. „So ein Kehlkopf hat keine Knautschzone, weißt du.“ Er lächelte.

Marco schaute ihn jetzt mehr denn je fasziniert und irgendwie ehrfürchtig an.

„Jetzt bist du wieder an der Reihe.“ Christian schaute erwartungsvoll zurück.

Sie erreichen das Kastell in der Dunkelheit in nicht mal mehr als fünf Minuten. Marco führte Christian weiter im Laufschritt durch enge Gassen und Häuserwinkeln. Nach weiteren zehn Minuten wurde er langsamer. Sein Atem fliegt. Er schaute Christian an. Dieser lächelte nur kurz. Sein Puls hatte sich um keinen Schlag erhöht.

„Sind wir am Ziel?“

„Nicht ganz. Ich muss nur eine kurze Pause machen. Noch sind wir keiner Menschenseele begegnet. Das wird sich jetzt wohl bald ändern, schätz ich.“

Marco holte tief Luft. „Wir müssen dort hinüber.“ Er zeigt auf einen rechtwinkligen Steinbau mit Flachdach. Der Platz ist umringt mit kleinen Holzpalisaden.

„So sagte es jedenfalls unser Informant.“ Marco ging geduckt weiter.

An einer Hausecke zog ihn Christian mit einem Ruck zurück. „Was...!“ Er hielt ihm den Mund zu.

  Drei Personen kamen keine fünf Meter vor ihnen entfernt aus dem Dunkeln und gingen auf das hellgrüne Tor des vor ihnen liegenden Gebäudes zu.

„Ihr bleibt draußen, damit das klar ist!“

Der Mittlere von ihnen gibt die Anweisung an seine Kumpane. Marco zuckt leicht zusammen.

„Das ist Jacques, der Anführer der ‚Frères Fiers’.“ Marcos Gesicht zeigt sein Erschrecken.

Christian sieht ihn erstaunt an. „Warum erschreckst du dich so. Sie haben uns doch gar nicht bemerkt.“

„Jacques ist bekannt für seine Brutalität. Auch gegenüber den eigenen Leuten.“

Christian schaut ihn lächelnd an. „Gerade solche Typen haben viele Schwächen, die sie nur zudecken wollen.“

Er schaut um die Hausecke zur gegenüberliegenden Tür. Zwei Jungs, um die zwanzig, stehen rechts und links der Eingangstür. Jacques war verschwunden.

„Ich muss wissen, was hinter dieser Tür ist.“ Christian dreht sich zu Marco um. „Kannst du dir vorstellen, die beiden von der Tür wegzulocken?“

Marcos Augen werden groß. „Ich, alleine?“

„Siehst du noch jemand hier?“

Marcos Blicke wirken verzweifelt.

„Du kannst doch sehr schnell rennen?“ Christian versuchte, ihn anzustacheln. „Glaubst du nicht, wenn du kurz hinter dieser Ecke vortrittst und dann wegrennst, dass du sie für ein paar Minuten von der Tür wegbekommst?“

„Wäre wohl zu machen.“

Bevor er sich das Ganze noch anders überlegen konnte, gab Christian ihm einen Schubs und er stand genau im Sichtfeld der beiden Wachen. Ein kurzer Schrei von Marco. Dann drehte er sich um und rannte auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen waren.

Hinter ihm her leider nur einer der beiden Wachen. Der andere stand nach wie vor an der gleichen Stelle vor dem hellgrünen Tor.

Christian überlegte nur kurz und ging dann einfach gerade auf ihn zu. Er war ganz die Ruhe selbst.

„Wer bist du? Bleib stehen“, hörte er den anderen sagen.