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Auf der Jugendreise nach Holland wird der 16-jährige Christian von einem Gefühlschaos ins nächste gestürzt. Seine Liebe scheint unerreichbar zu sein. Doch das Leben geht seinen eigenen Weg und Christian lernt, dass das andere Geschlecht nicht mit logischen Gedanken zu begreifen ist. Seine Gefühle entführen ihn in eine andere Welt und die innere Einsamkeit löst sich mehr und mehr auf. Es war wieder Sommer und Christian ist mit seinem besten Freund auf dem Weg nach Südfrankreich. Kelvin ist ein schüchterner, junger Mann. Er ist noch Single und das hängt hauptsächlich an seinem Handicap. Immer wieder treibt es ihn zu seinem besten Freund und gemeinsam versuchen Sie ihre Sehnsüchte und Verlangen nach dem anderen Geschlecht in Alkohol zu ersäufen. Sein neunzehnter Geburtstag wird zu einem Fiasko.
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Seitenzahl: 185
Veröffentlichungsjahr: 2025
Tatort:
Liebe
Kelvin Waiden
© 2025 Kelvin Waiden
Illustration: S. Verlag JG
Verlag: S. Verlag JG, 35767 Breitscheid,
Alle Rechte vorbehalten
1.Auflage
ISBN: 978-3-96674-780-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Es ist traurig, eine Ausnahme zu sein. Aber noch trauriger ist es, keine zu sein.
(Peter Altenberg)
Vielen Dank dem IVTS e. V. für seine großartige Arbeit.
Gerade für Jugendliche in der Pubertät ist das Tourette-Syndrom mehr als nur eine Herausforderung, es ist eine Kampfansage an alles Menschliche.
InteressenVerband Tic & Tourette Syndrom – IVTS e. V.
Im Ijsselmeer
Terschelling
Amsterdam
Maskenball
Das Handicap
Disco Night
Mein Verlangen nach Dir
Epilog
Das Kreisjugendamt veranstaltet jedes Jahr eine Ferienfahrt. Mein Freund Michael und ich hatten uns überlegt, dieses Jahr daran teilzunehmen. Wir hatten auch bereits aus dem Angebot ausgewählt. 14 Tage Niederlande. Mit dem Schiff durch das Ijsselmeer. Die Ferienfahrt war auf 32 Teilnehmer zwischen 15 – 16 Jahren beschränkt. Die Sommerferien begannen am 15. Juli und wir hatten gestern die Bestätigung der Teilnahme zugeschickt bekommen. Ein Bus würde uns an der Bushaltestelle am Bahnhof abholen.
Die Fahrt ging bis Amersfoort. Dann Umsteigen auf das Schiff. Ich war doch schon etwas aufgeregt. Mein Tourette machte mir Sorgen. Ich hatte den Befund jetzt endlich. Nach 8 Wochen hin und her. Hoffentlich geht alles Gut. Meine Eltern brachten mich zur Bushaltestelle. Auch Michael kam nicht alleine. Wir warteten etwa 20 Minuten, als der Bus eintraf. Ich zuckte etwas hektisch mit dem Kopf, als ich mich von meinen Eltern verabschiedete. Als der Koffer verstaut war, stieg ich ein. Unser Dorf war die letzte Anfahrtsstelle des Busses. Alle Mitreisenden waren bereits anwesend und es war eine lockere Atmosphäre. Einer der Betreuer begrüßte uns. Dann suchten wir einen freien Platz.
Der Bus hatte über 60 Sitzplätze und wir waren ja nur 32 Jugendliche, und wie ich jetzt bemerkte, drei Betreuer. Eine junge Frau etwa 20 Jahre alt und zwei männliche Betreuer, um die 19-20 Jahre. Nachdem wir saßen, der Bus losfuhr, sah ich mich um. Keine bekannten Gesichter. Doch, da, ganz hinten auf dem letzten Sitz, neben einem anderen Mädchen, sah ich Christiane. Sie ging auf das gleiche Gymnasium wie ich. Aber in einen anderen Kurs. Sie wohnte in der Nachbargemeinde. Ich sah sie manchmal auf dem Weg zur Schule. Mittellange, blonde Haare. Sie müsste so alt sein, wie ich, also 16. Jetzt schaut sie in meine Richtung. Sollte ich winken? Lieber nicht. Sie erkennt mich ja doch nicht.
„Hast du jemand Bekanntes gesehen?“ Michael sieht mich an.
„Nein“, sage ich. Die Fahrt hatte begonnen.
Wir waren etwa um 07.00 Uhr morgens abgefahren, als wir um kurz für 12.00 Uhr ankamen. Der Bus fuhr direkt an den Kai und hielt keine drei Meter neben dem Schiff. Wie uns ein Betreuer im Bus erklärte, war das Schiff ein umgebauter Kohlefrachter. Hätte ich das vorher gewusst. Auch Michael war nicht mehr so begeistert.
Der Busfahrer holte die Koffer aus dem Stauraum des Busses. Dann ging es über einen Holzsteg direkt auf das Schiff. Die Betreuer gingen vorweg. Das Oberdeck war auf der einen Seite, zum Heck hin, mit einem Aufbau versehen.
Hier war der große Aufenthaltsraum und gleichzeitig Speiseraum mit Küche. Im Bugbereich war das Oberdeck mit Holz beplankt. Eine Reling sicherte die Seiten und es wurde als Sonnendeck genutzt.
Wir gingen in Richtung Aufbau oder Kajüte, wie der Kapitän, der eben aufgetaucht war, es nannte. Als wir durch den Eingang kamen, eine alte schwingende Holztür, ging es direkt dahinter links eine steile Treppe nach unten. Hier waren die Unterkünfte. Jeweils Kabinen aus Holz für vier Personen. Die Räume waren nicht größer als 3 x 3,5 m. In jedem Raum links und rechts stand ein Etagenbett.
Es gab fünf solcher Räume. Davor und dahinter war jeweils ein noch kleinerer Raum zur Toilette umgebaut.
Es gab also nur vier Toilettenräume für insgesamt 35 Personen. Eine Waschgelegenheit gab es nicht; lediglich in jeder Kabine war in der Mitte des Raums ein kleines Waschbecken mit nur einem kalten Wasseranschluss montiert. Wo sollten wir eigentlich unsere Koffer verstauen? Nun, wir packten das Notwendige, wie Schlafanzug, Handtücher, Zahnputzbecher etc. aus den Koffern und verstauten diese dann unter das untere Bett. Michael und ich teilten ein Etagenbett. Er lag unten. Ich sprang hoch und legte mich probeweise auf die Matratze. Da stellte ich fest, dass die Seitenwand, an der das Bett stand, nach oben nicht geschlossen war.
Es gab auf der gesamten Länge einen Spalt von mindestens 30 Zentimetern zum Nachbarzimmer. Man hörte von dort auch schon laute Geräusche.
Ich kniete mich auf und versuchte durch den Spalt hinüberzublicken.
Die Trennwand war anscheinend nur wenige Zentimeter stark. Und ich erkannte Christiane, die versuchte, sich ebenfalls häuslich einzurichten. Sie lag direkt neben meinem Bett und auch auf der zweiten Ebene. Ich zuckte schnell zurück, damit sie mich nicht bemerkte.
Mittlerweile waren auch unsere beiden anderen Zimmergenossen aufgetaucht und es wurde ziemlich eng im Raum. Es konnten immer nur höchstens zwei im Zimmer stehen. Für mehr war kein Platz. Oberhalb des kleinen Waschbeckens an der Schiffsaußenwand war ein kleines Bullauge. Von meinem Schlafplatz bis zur Decke waren es auch gerade mal eineinhalb Meter. Na, das konnte ja noch heiter werden.
Nach der Einquartierung sollten wir uns im Gemeinschaftsraum einfinden. Es dauerte über eine Stunde, bis alle anwesend waren. Die Betreuer stellten sich nun offiziell vor und erklärten uns, was so alles vor uns lag. Über das Ijsselmeer zur Insel Terschelling. Dann wieder zurück und ein längerer Aufenthalt in Amsterdam.
Es wurden die Tischdienste auf Gruppen aufgeteilt. Und so weiter und so weiter.
Ich dachte, das war ein Ferienausflug und keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Ja, gut, es kostete uns nichts. Lediglich Taschengeld.
Wir teilten uns auf in 20 Jungs und 12 Mädchen. Das Schiff hatte mittlerweile abgelegt und Fahrt aufgenommen. Es ging durch die Kanäle in Richtung Eemmer. Einige von uns standen oder saßen am Bug und erlebten so den Tagesabschluss.
In Eembrugge wurde das Schiff zur Übernachtung festgetaut. Wir saßen beim Abendbrot im Aufenthaltsraum. Michael, Kai, Kevin und ich, die wir uns eine Kabine teilten, saßen an einem Tisch zusammen. Der Raum war etwa 10 Meter mal 6 Meter groß. Es gab 10 Tische. An den Längswänden waren Bänke montiert und zum Raum hin standen Stühle. Unser Tisch stand nahe am Durchgang zur Küche.
Uns gegenüber saßen die Betreuer und der Eigner des Schiffes. Die Mädchen hatten sich zu Gruppen am Eingangsbereich zusammengefunden. Wasser plätscherte leise gegen die Außenblanken. Und das Schiff bewegte sich etwas. Ich zählte die Anwesenden und stellte fest, dass 4 Personen fehlten.
„Was für ein Schrottkahn“, Kevin sah uns der Reihe nach an. „Wie soll man in den engen Kabinen überhaupt schlafen können.“
„Hauptsache es gibt etwas Anständiges zu essen“, meinte Michael.
Kai hörte gar nicht zu. Er schaute andauernd in Richtung Mädchentisch.
„Das ist doch die reinste Quälerei“, Kevin redete sich langsam in Rage. „Das ist doch eine Zumutung. Ein ehemaliger Kohletransporter. Und jetzt werden wir hier durch die Gegend geschippert.“
„Och, ist doch ganz gemütlich hier“, Kai kaute an einem Stück Brot und blickte jetzt in die Runde. Sind auch einige hübsche Mädchen dabei.“
„Da hab ich auch was von.“ Kevin sah Kai böse an. „Mal sehen, wie du heute Nacht schlafen kannst. Bei der Wärme und in der engen Kabine.“
Ich hörte den anderen nur zu. Natürlich war mir die Situation auch etwas unangenehm. Aber ich hatte auch noch ein ganz anderes Problem.
Ich hörte noch leises Reden in der Nachbarkabine, als ich im Schlafanzug auf meinem Bett lag und versuchte einzuschlafen. Das Bullauge an der Außenwandung über dem Fußende meines Bettes stand offen. Trotzdem war es noch sehr warm. Man hörte leises Plätschern von Wasser gegen die Schiffswand. Es roch auch etwas salzig. „Fuuuummmfhmmuhg“, kam es aus meinem Mund. Ich konnte gerade noch die Lautstärke dämpfen. Und mein Bein wollte wieder auf die Matratze schlagen. Das musste ich unbedingt unterbinden.
Michael, der unter mir lag, würde die Schläge wohl überhaupt nicht verstehen. Ich konzentrierte mich auf morgen.
Morgen würden wir durchs Ijsselmeer fahren. Unser Ziel war zunächst die Insel Terschelling.
Da knirschte es direkt neben mir, aber in der Nachbarkabine. Ich erschrak. Und mein Kopf fing an zu zucken. Wie soll das bloß weitergehen. Ich war innerlich total verkrampft. Der Zwang in meinem Kopf strömte gleichmäßig auf alle Regionen meines Körpers. Sobald ich mehr als nur kurz irgendwelche Körperteile bewusst wahrnahm, musste ich diese auch schon krampfhaft bewegen. Ob Am, Bein, Fuß, Hand oder Finger. Dazu der Zwang Laute von mir zu geben. Hätte ich doch diese Reise nie angetreten.
Ich wusste doch, dass mein Tourette in allen neuen und ungewohnten Situationen verrücktspielte. Ich versuchte, langsam ein und auszuatmen. Es war nicht ganz dunkel in der Kabine. Durch das Bullauge kam die Spiegelung der Lichter auf dem Wasser in den Raum. Normalerweise konnte ich im Dunkeln gut entspannen. Jetzt jedoch, bei den sich ändernden Silhouetten, wurde ich nur noch nervöser. Und ich konnte die Augen nicht geschlossen halten. Von den anderen im Raum hörte man nichts mehr. Wahrscheinlich schliefen sie schon. Ohne weiter nachzudenken, stieg ich vom Bett. Ich versuchte so leise wie möglich zu sein. Öffnete langsam die Kabinentür und schlich weiter zur Toilette. Als ich die Tür von innen schloss, kam erst einmal ein: „Fuuuuguhr“, über meine Lippen. Dann musste ich stoßweise dumpfe Töne von mir geben. Hoffentlich hört mich jetzt nur keiner. Die Wände sind ja alle nur aus dünnem Holz. Ich wartete noch etwa 10 Minuten, dann öffnete ich die Tür und schaute vorsichtig nach draußen. Niemand zu sehen.
Gerade als ich an der Treppe vorbeiging, hörte ich von oben leises Geflüster. Konnte aber niemand erkennen. Ich zog mich zurück in mein Bett. Da wurde es in der Nachbarkabine etwas laut. Als ich durch den Spalt schaute, sah ich Christiane, die gerade ihre Kabinentür schloss und sich in Richtung Bett hochzog. Ich schreckte zurück. Hoffentlich hatte sie mich nicht gesehen. Es raschelte und knackte neben mir noch eine Zeit. Dann war Ruhe.
Mir kamen wieder Zweifel. Wieso hatte ich diese Fahrt mitgemacht. Michael hatte mich überredet. Gut, er wusste auch nichts von meinem Tourette. Denke ich jedenfalls. Er hatte mich niemals darauf angesprochen. Und ich versuchte auch, so gut es ging, die Zwänge zu unterdrücken. Ich legte mich auf die Seite, der Zwischenwand zugedreht.
Ich wusste ja, dass sie nur aus dünnem Holz bestand. Und genau gegenüber lag jetzt auch Christiane. Ein komisches Gefühl. Ich horchte, ob ich etwas von ihr hören konnte. Aber nein, überhaupt kein Laut. Ich ließ die Augen jetzt geschlossen. Die Dunkelheit tat mir gut. Als ich wach wurde, hatten wir bereits abgelegt. Letzte Anlegestelle vor dem Ijsselmeer sollte Hoorn sein. Soviel ich mich jedenfalls noch an die kurz gehaltenen Informationen der Betreuer erinnern konnte. Auf der Toilette konnte ich erst einmal meine verbalen Zwänge wieder freien Lauf lassen. Man, wenn das so weiter ging, hab ich bald keine Kraft mehr für das normale Leben.
Die Landmassen am Horizont verschwanden. Nur noch Wasser. Bis zum Horizont konnte man nur Wasser und Wellen sehen. Wir waren auf dem Ijsselmeer angekommen. Ich war gerade am Zähneputzen, als ich hinter mir Michaels Stimme hörte: „Jetzt mach mal schneller, ich muss auch mal an das Waschbecken.“
„Was war denn mit dem los?“, dachte ich. „Kein Problem, ich bin schon fertig.“ Ich putzte mir den Mund an meinem Handtuch ab und stieg wieder hoch in mein Bett.
Hier versuchte ich mich im Liegen anzuziehen. Da der Raum mit vier Betten gerade mal 3 mal 3,5 Meter maß, konnten sich nicht alle Personen gleichzeitig am Boden aufhalten. Und am Waschbecken konnte jeweils immer nur einer stehen.
Jetzt merkte ich auch eine leichte Schaukelbewegung. Wir waren unterwegs zu der Insel Terschelling. Ich versuchte meine Hose hochzuziehen. Nicht einfach, wenn dazu die Decke keine 40 Zentimeter über dir ist. Unten waren die beiden anderen Kabinenmitbewohner aufgewacht. Jetzt wurde es wirklich eng. „Muuuuggbuuut“, ich wurde nervös. Meine Tics begannen den Tag auf ihre Weise. Ich schwitzte auch schon wieder.
„Lasst mich mal durch“, sagte ich und schwang mich vom Bett. Es gab ein kurzes Gerangel, bis ich die Tür erreichte.
Endlich draußen, ging ich zur Toilette. Verschlossen. Oh, Mann. Und ich musste dringend. Ich stand im Flur, gegenüber der Treppe zum Deck und wartete.
Vom Ende des Flurs, links und rechts waren die Schlafkabinen angeordnet, kam gerade Christiane in meine Richtung. Sie ging direkt an mir vorbei, ohne mich anzusehen. Ich fragte mich, was sie wohl am Ende des Schiffes gemacht hatte. Dort waren nur noch die Kabinen der Betreuer.
„Guten Morgen“, hörte ich jetzt eine Stimme links von mir. Die Toilette war wieder frei. Ich sah das rothaarige Mädchen gerade noch in meiner Nachbarkabine verschwinden.
Tür zu und mein Kopf ruckte stark nach oben und unten. Und ich krampfte am Hals. „Ffffuugbbooottt“, ich musste erst einmal allen Zwängen nachgeben. Dann war ich ruhig und horchte.
Hatte mich jemand gehört? Hoffentlich nicht. Ich ging nicht mehr zurück zur Kabine, sondern die Treppe hoch in den Aufenthaltsraum.
Da hörte ich hinter mir: „Auch schon wach?“ Als ich mich umdrehte, erkannte ich das Mädchen, das sich mit Christiane eine Kabine teilte.
„Ja“, erwiderte ich nur kurz.
„Ich bin die Roswitha. Mann, hast du auch so einen Hunger?“
„Christian“, sagte ich wieder nur kurz. Sie sah eigentlich gar nicht so aus, als müsste sie Hunger leiden.
„Der heutige Tischdienst ist ja gerade dabei einzudecken. Es wird wohl gleich was geben!“
Wir standen noch an der Treppe, als Michael und unser dritter Mitbewohner, Kai, hochgerannt kamen. Sie liefen direkt in uns hinein. „Kommen wir zu spät?“ Michael war ganz hektisch.
„Nein, ganz ruhig.“ Ich ging einen Schritt zurück. „Ist ja fast noch niemand da. Du bekommst schon deinen Teil.“
Ich ging jetzt langsam in den Raum, gefolgt von Michael, Kai und zum Schluss Roswitha. Michael überholte mich und lief zu einem der ersten Tische, die direkt vor der Küchentür standen.
„Das ist mein Platz.“ Und schon saß er.
Kai setzte sich dazu. Ich blickte mich zu Roswitha um, doch sie hatte bereits an einen anderen Tisch Platz genommen. Ich erkannte neben ihr Christiane und einen unserer Betreuer.
Als wir mit dem Frühstück anfangen wollten, kam noch unser vierter Kabinenmitbewohner Kevin.
Das Besteck und die Teller lagen auf den Tischen schon bereit. Kaffee, Tee, Brot, Wurst und Marmelade sollten noch aus der Küche gebracht werden. Erwartungsvoll saßen wir nun alle vier am Tisch. Und der eingeteilte Tischdienst hatte bereits die ersten Kannen Kaffee in der Hand und war auf dem Weg aus der Küche zu den Tischen.
Da geschah es. Ich blickte gerade aus der Fensterfront gegenüber, als die See aus meinem Blick verschwand und nur noch Himmel zu sehe war. Dann ein dumpfer Schlag, als das Schiff wieder auf das Wasser zurück viel. Große Wellen schlugen gegen die Bordwand und gegen die Fenster.
Teller flogen von den Tischen. Jeder, der noch stand, musste sich festhalten oder wurde gegen Tische und Stühle geworfen.
Mit Frühstücken war nichts mehr. Die gedeckten Tische wurden schnell wieder abgeräumt. Jedermann half, um die Teller und Tassen noch zu retten und wieder in die Küche zu bringen. Hier wurden sie in spezielle Holzkisten erschütterungsfrei eingepackt.
Was nun? Unsere Betreuer informierten uns, nach Rücksprache mit dem Schiffseigner, dass man belegte Brote schmieren wollte. Jeder konnte sich dann in der Küche bedienen.
Der Seegang war zu stark, um normal zu frühstücken. Die Wellen waren bis zu drei Meter hoch. Das war schon etwas viel für den kleinen, ehemaligen Kohlefrachter.
Einigen Leuten wurde schlecht und die Toiletten waren überfüllt. Mir ging es noch relativ gut. Andere wiederum hatten sich Regenjacken besorgt und waren auf dem Weg nach draußen auf das Vorderdeck.
Meine Kabinenkollegen waren auf einmal verschwunden. Ich hatte noch geholfen, die Tische abzudecken. Der Aufenthaltsraum hatte sich fast völlig geleert.
Auf dem Weg nach unten konnte ich sehen, dass zwei, drei Verrückte wirklich auf dem Vorschiff standen, mitten in den peitschenden Wellen, die über die Reling schossen. Ihnen machte das offensichtlich Spaß. Mir machte es Angst.
Die Toilette war wieder einmal besetzt. Und es standen noch zwei Wartende davor. Na dann. Sollte ich wieder zurück in den Aufenthaltsraum gehen und es in zehn Minuten nochmals versuchen? Warten, auf jeden Fall, war nicht mein Ding. Aber die Wahrscheinlichkeit war ziemlich groß, dass sich dann auch wieder eine Warteschlange gebildet bilden würde.
Ich erinnerte mich, dass am Heck des Schiffes, dort wo sich auch die Kabinen der Betreuer befanden, noch eine Toilette befand. Also machte ich mich auf den Weg nach hinten.
Als ist fast am Ende des Ganges angekommen war, öffnete sich einige Meter vor mir die rechte Kabinentür und ich sah Christiane herauskommen und an mir vorbeistürmen. Sie beachtete mich wieder nicht.
„Was soll das überhaupt. Bist du dir im Klaren, dass das unter Umständen großen Ärger verursachen kann“, hörte ich die Stimme von Brigitte.
Da stand sie auch schon an der Tür und mit dem Rücken zu mir. „Ich kann dir nur raten, lass die Finger von ihr.“
Da war ich bereits vorbei gegangen. Wenn mich nicht alles täuschte, konnte ich Jörg im Hintergrund der Kabine gerade so erkennen. Ich hörte noch, wie die Tür zugeschlagen wurde. Als ich mich umdrehte, sah ich Brigitte bereits zur Treppe gehen.
Was hatte das schon wieder zu bedeuten? Dann erreichte ich die Toilette, und zwar etwas schneller als der Kollege neben mir. Ich hatte zuerst den Türgriff in der Hand.
Es war gar nicht so einfach, sich bei diesem Wellengang innerhalb des Schiffs zu bewegen. Wir torkelten alle nur so durch die Gänge. Ich zog mich gerade an dem Treppengeländer hoch, als von oben jemand mit einem hellen Schrei auf mich zukam, beziehungsweise zufiel.
Mit der einen Hand am Geländer, versuchte ich mit der anderen, freien Hand, Hilfestellung zu geben.
Da erkannte ich Roswitha. Sie rutschte bereits auf ihrem Hinterteil die Stufen herunter, an meinem ausgestreckten Arm vorbei. Und ich zog mich weiter nach oben.
Als ich dann von oben kurz nach unten blickte, war sie schon vom Boden aufgestanden und auf dem Weg zu den Kabinen.
Außen, auf dem Vorderschiff, tummelten sich jetzt mehr Personen als vorhin. Die Wellenbewegungen waren gleichmäßiger geworden. Der Boden war aber nass und rutschig. Gerade als ich mich von der verglasten Außentür abdrehen wollte, erkannte ich doch Michael an der Reling. Er hatte sich mit beiden Händen festgeklammert.
Die nächste Welle erwischte ihn voll und er rutschte aus. Dabei ließ er die Reling los und lag mit der linken Körperseite auf den Blanken. Ich blickte zu den anderen. Niemand schaute in seine Richtung.
Er versuchte sich aufzurichten, aber das Schiff kam gerade wieder aus einem Wellental hoch und er kippte nach links weg. Er befand sich keine zwei Meter neben der Tür.
Bevor die nächste Welle heran war, öffnete ich die Tür, schlich mich an der Kajüten Wand entlang zu ihm hin.
„Greif meine Hand, ich zieh dich zur Tür. Aber bleib liegen“, sagte ich noch, als er versuchte aufzustehen.
Gerade als ich seine Hand erfasste, kam die nächste Welle und das Schiff kippte nach vorne ab. Ich warf mich mit einem Ruck nach hinten und klammerte mich mit der rechten Hand an die offen stehende Kajüten Tür.
Ich bekam sie gerade noch zu fassen, bevor sie zugeflogen wäre. Da war aber bereits die Welle über uns. Wir schmeckten Salzwasser. Michael rutschte, durch den von mir verursachten Ruck, über den Boden zu mir hin. Er klammerte sich dann ebenfalls an die Tür und zog sich an ihr hoch.
Als wir in den Raum zurück stolperten, war ich durchnässter, als er. Er hatte nämlich eine Regenjacke an. Ich war im Hemd gewesen. Trotzdem sahen wir beide wie begossene Pudel aus.
„Was machst du bei dem Seegang da draußen überhaupt?“
Als wir uns auf einen Stuhl im Aufenthaltsraum setzten, kam es kleinlaut aus ihm heraus: „Die andern sind doch auch draußen. Und so schlimm hat es nicht ausgesehen.“
„Ja, nur hättest du fast ganz schlecht ausgesehen“, sagte ich, stand auf und ging zur Treppe nach unten, um mich umzuziehen.
„Danke“, hörte ich da hinter mir eine leise Stimme sagen.
Ich war alleine in der Kabine, hatte die nassen Sachen ausgezogen und war gerade dabei, trockene Wäsche anzuziehen. Dabei hörte ich aus der Nachbarkabine ebenfalls Geräusche. Als ich meine Haare mit einem Handtuch trocken gerieben hatte, hörte ich das Geräusch eines Föhns von nebenan. Ohne nachzudenken, kletterte ich auf mein Bett und schaute vorsichtig, dass mich ja niemand sieht, durch den Deckenspalt nach drüben.
Christiane stand, nur mit einem BH begleitet, vor dem Spiegel über das Waschbecken gebeugt und föhnte ihr Haar trocken. Sie musste ebenfalls an Deck gewesen sein. Ich hatte sie zwar nicht gesehen, aber ich war auch anderweitig beschäftigt gewesen.
Verträumt schaute ich ihr zu. Mein Kopf zuckte leicht. Das Schiff schaukelte noch, aber nicht mehr so stark wie zuvor. Man hörte auch an den lauten Geräuschen aus den anderen Kabinen, dass sie belegt waren. Das dunkelblonde Haar mit den hellen Strähnen kam erst durch die Nässe richtig zur Geltung, fand ich. Aber leider war es bald wieder trockengeföhnt.
Ich glaube, ich versuche ganz unauffällig von ihr ein Foto zu schießen.
Natürlich ohne Blitz. Aufgeregt suchte ich die Kamera. Gerade in dem Moment, als sie sich leicht zur Seite drehte, um die Haare von der anderen Seite zu föhnen, drückte ich auf den Auslöser. Es klickte kurz und leise und dann noch einmal. Ich hatte sie genau im richtigen Moment im Bild eingefangen.
Die Haare waren bei der Drehung leicht ins Gesicht gefallen und ihr Oberkörper mit dem BH hatte fast den gleichen Farbton wie ihre Strähnen. Nur die Augen waren nicht richtig zu erkennen.
Als ich so vor mich hinträumte, ging die Tür zu Ihrer Kabine mit einem lauten Schlag auf, und bevor ich noch zurückschrecken konnte, erkannte ich Roswitha. Sie blickte geradewegs in meine Richtung. Hoffentlich hatte sie mich nicht gesehen oder erkannt.
Ich packte die Kamera weg und beeilte mich beim Anziehen.
Ich öffnete erst zaghaft die Kabinentür, schaute nach links und rechts und ging dann zügig zur Treppe.
Ich musste die ganze Zeit an Christiane im BH denken. Warum konnte ich ein Mädchen, das mir gefiel, nicht einfach ansprechen. War ich zu schüchtern oder war es wegen dem Tourette? Oder wegen beidem. Und warum interessierten sich die Mädchen einfach immer für andere Jungs und niemals für mich.
Als ich Michael im Aufenthaltsraum sah, wie er seine Brote genussvoll aß, wusste ich, dass es auch noch andere Jungs gab, die auch Probleme hatten, nur etwas andere als ich.
Die See hatte sich wieder beruhigt. Auf einmal kamen von draußen laute Rufe und lautes Geschrei. Ich sah vom Aufenthaltsraum aus, dass sich alle auf der rechten Seite des Schiffs gegen die Reling pressten und wild gestikulierend nach vorne zeigten. Was konnte es da wohl zu sehen geben?
Ich zog vorsichtshalber eine Regenjacke über, bevor ich mich auf den Weg zu den anderen machte. Bevor ich nun ebenfalls direkt an der Reling stand, konnte ich schon erkennen, dass das Schiff Nahe an einer Sandbank vorbei fuhr. Und von dort kamen jetzt die lauten Geräusche.
Mehrere duzend Seelöwen balgten sich teils im Wasser und teils auf der Sandbank. Das Schiff hatte Fahrt zurückgenommen. So bewegten wir uns langsam an der kleinen Insel vorbei.
„Schau mal, wie drollig, das Kleine da“, hörte ich neben mir eine Mädchenstimme. Als ich mich zur Seite wandte, erkannte ich Roswitha und neben ihr Christiane.
Ich hatte meine Kamera nicht dabei. Sollte ich noch schnell nach unten gehen und sie holen. Ich entschied mich dafür. Mit großen Schritten rannte ich zur Treppe nach unten. „Fuuug-hhmmuuuut“, kam es über mich.
Ich musste kurz mit dem Kopf zucken und Grunzlaute ausstoßen. Dann war ich in meiner Kabine. Wieder zurück auf dem Oberdeck war das Schiff leider schon wieder schneller geworden und hatte die Sandbank hinter sich gelassen. Roswitha und Christiane standen jedoch noch an derselben Stelle an der Schiffs Reling. Ich machte heimlich mit dem Zoom einige Bilder von Christiane. Ihr volles Haar flog so schön im Wind. Als sie sich in meine Richtung umdrehte, war ich bereits im Aufenthaltsraum verschwunden. „Na, hast du auch Bilder von den Viechern gemacht?“, Michael sah mir entgegen. Ich nickte nur zustimmend und war dann wieder in Richtung Kabine verschwunden.