Motte und Co Band 3: Blutspur - Ulrich Renz - E-Book

Motte und Co Band 3: Blutspur E-Book

Ulrich Renz

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Beschreibung

"Motte & Co" – Band 3 Die Klassenfahrt der 7 c droht ein schlimmes Ende zu nehmen. Bei einem Orientierungslauf im Wald ist einer der Mitschüler spurlos verschwunden! Die Polizei macht sich mit Hundestaffel und Hubschraubern auf die Suche - vergeblich. Ein Reifenabdruck im Wald bringt Motte und seine Freunde JoJo, Simon und MM auf die richtige Spur. Das Abenteuer, das nun beginnt, verwandelt sich aber schon bald in einen Albtraum. Denn der verschwundene Mitschüler ist nicht das einzige Opfer, auf das es die skrupellose Verbrecherbande abgesehen hat … Website zur Serie: motte-und-co.de

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Seitenzahl: 237

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Ähnliche


Ulrich Renz

Blutspur

 

Sefa Verlag Lübeck

„Blutspur“ ist der dritte Band der Kinderkrimi-Serie „Motte & Co“.

www.motte-und-co.de

 

Weitere Bände der Reihe:

Band 1: „Auf der Spur der Erpresser“Band 2: „Auf der Jagd nach Giant Blue“Band 4: „Die Insel der Drogenbande“

 

Copyright © 2014 by Sefa Verlag, Lübeck

www.sefa-verlag.de

 

Umschlaggestaltung: Ponke Grabo, Berlin,www.ponkegrabo.de.Font Coverlogo „Motte & Co“: „Refurbished“, © Billy Argel, verwendet mit freundlicher Genehmigung des Künstlers.

 

JoJos Zitat im ersten Kapitel „Es kommt Wind auf. Wir müssen versuchen zu leben“ stammt aus dem Gedicht Der Friedhof am Meer (Le Cimetière marin) von Paul Valéry.Sein Zitat im zweiten Kapitel “Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah.” stammt aus dem Gedicht Erinnerung von Johann Wolfgang von Goethe.

 

ISBN 978-3-945090-15-2

Inhalt

1 Spurlos verschwunden2 „Hiermit erkläre ich ...“3 Das Logbuch4 Nächtliche Vorkommnisse5 Spuren im Schlamm6 Der Steinbruch7 Das Donnerwetter8 Das Liebesbriefchen9 Aktion Bruchbude10 Alles heiße Luft?11 Die Blutspur12 Die Spritze13 Ein Verräter14 Abgehört15 Der Köder ist ausgelegt16 Die Gestalt mit dem roten Umhang17 Die Liste18 Keine Chance19 Der gelbe Flitzer20 Der Maskenmann21 Bad Boys22 Die Jagd durch den Wald23 Gefangen24 FunkenregenMehr Motte ...

 

Steckbriefe Motte & Co

 

Name: Moritz Blohm, genanntMotte

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: eigentlich keine (wie er selber meint)

 

Name:SimonBöttcher

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: verträumter Naturfreak, Schwarm aller Mädchen, kleines Sprachproblem

 

Name: Mariekje Marienhoff, genanntMM

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: meerblaue Augen, Mathegenie und Computerfreak

 

Name: Jochen Keßeböhmer, genanntJoJo

Alter: 13

Besondere Kennzeichen: Großmaul mit Übergewicht. Was Kleidung und Frisuren angeht „dem Trend immer einen Schritt voraus“

 

Name:UteBlohm

Alter: gerade 12 geworden

Besondere Kennzeichen: Schwester von Motte. Ziemlich frühreif, steht gerne vor dem Spiegel, quasselt alle an die Wand.

 

Steckbrief Autor

 

Name: Ulrich Renz, genannt U

Alter: mittelalt

Besondere Kennzeichen: liebt schwäbische Spätzle, hat einen Zwillingsbruder, macht gerne Musik, war einmal Arzt, schreibt jetzt Bücher für Kinder und Erwachsene.

 

 

Mehr unter www.ulrichrenz.de

1. KAPITEL

 

Spurlos verschwunden

 

„Wenn er bis acht Uhr nicht da ist, rufen wir die Polizei.“ – Frau Morahwe-Kriegers Stimme war fast nur ein Flüstern. Ihr sonst so lebhaftes Gesicht war ausdruckslos, die schwarze Brille saß schief auf ihrer Nase und die blonden Strähnchen in ihrem Haar waren völlig durcheinandergeraten. Ihr Blick schweifte unruhig von einem Tisch zum anderen, wo die Kinder stumm vor ihren leer gegessenen Tellern saßen. Wahrscheinlich war es in einem Speisesaal einer Jugendherberge noch nie so still gewesen wie in diesem Moment im Schloss Wulfshausen. Selbst von den Drittklässlern im Nebenraum hinter der halb geöffneten Schiebetür war kein Ton zu hören. Sonst konnte man ihr Gequiecke kaum aushalten. Jetzt war das einzige Geräusch das Ticken der Uhr über dem Tresen vor der Küche.

Zehn Minuten vor acht.

Die Geschichtslehrerin ging langsam zum Lehrertisch zurück. Das Klacken ihrer Stiefel hallte wie Hammerschläge durch den hohen Saal. Sie setzte sich auf ihren Platz neben Zilinski, der zusammengesunken auf seinem Stuhl saß und Löcher in die Luft starrte. Er hatte immer noch den Trainingsanzug und die Turnschuhe vom Nachmittag an. Die charakteristische Falte in seiner Wange war jetzt eine tiefe Furche. Die Referendarin aus der 7 c drehte mit ihren Fingern gedankenverloren in ihrer roten Wuschelmähne, die ihr den Spitznamen „rote Zora“ eingebracht hatte. Delius hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und ließ den Kopf hängen, so dass nur seine Spiegelglatze mit dem Haarkranz drum rum zu sehen war. Auch er war mit seinen Gedanken ganz weit weg.

Vor den Fenstern hatte es angefangen zu dämmern. Motte stellte sich vor, dass Tobi jetzt irgendwo da draußen durch den Wald irrte. Was würde er wohl an seiner Stelle tun, wenn er den Weg verloren hätte? Immer geradeaus laufen, irgendwann musste ja eine Straße kommen, wo er vielleicht ein Auto anhalten konnte. Aber wo war die nächste Straße? Gab es in diesem Wald überhaupt eine Straße außer der, auf der sie mit dem Bus gekommen waren? Oder hatte Tobi vielleicht einen Unterschlupf für die Nacht gefunden? Irgendeine Hütte oder einen von den alten Bergwerksstollen in dieser Gegend? Motte schüttelte unwillkürlich den Kopf. Eine Nacht allein im Wald ...

Vom Lehrertisch kam ein unterdrücktes Räuspern. Zilinski rappelte sich auf, um einen Blick auf die Uhr hinter sich zu erhaschen. Acht Minuten vor acht.

Der Orientierungslauf war seine Idee gewesen. „Kinderchen, der olle Zilinski hat sich was ganz Feines für euch überlegt“, hatte er nach dem Frühstück mit seiner Donnerstimme verkündet. „Ihr dürft euch heute mal so richtig austoben und mal richtig schön durch den Wald rennen, immer der Schnauze nach ...“ Dabei grinste er wie immer so breit, dass das ganze Gesicht nur noch aus Zähnen zu bestehen schien. Er war früher einmal irgend so ein Meister im Crosslauf gewesen, und rannte jetzt mit Fünfzig noch jeden Tag vor Schulbeginn seine zehn Kilometer mit seinem Pudelmischling Chico durch den Stadtpark.

„Wer läuft, kann besser denken. Wer viel läuft, wird früher oder später zum Genie. Also Kinderchen, auf der Wiese vor dem Schlossgarten geht es los und dann ab durch den Wald den Berg hoch bis zum Aussichtspunkt oben, zwanzig Minuten hin, zehn zurück – wenn ihr es locker laufen lasst. Oben steht eine Tüte Bonbons, da nimmt sich jeder eins raus, aber bloß nicht gleich in den Mund damit! Das Bonbon ist nämlich der Beweis, dass ihr auch wirklich da oben wart. Die ersten fünf, die mit ihren Bonbons wieder unten sind, kriegen Küchendienst-frei.“ Er rieb sich die Hände und schaute mit seinem Zilinski-Grinsen erwartungsvoll in die Runde. Richtiger Jubel wollte nicht aufkommen, aber natürlich widersprach keiner, es war ja eh klar, dass Zilinski nicht locker lassen würde. So einen Querfeldein-Lauf machte er auf jeder Klassenfahrt. Nur Blondi musste die Botschaft loswerden, dass sie mit ihren neuen Subishi-Turnschuhen unmöglich durch den Schmodder rennen könne. Zilinski hatte mal wieder Gelegenheit, seinen Lieblingsspruch anzubringen: „Das Leben ist kein Ponyhof“. Und dabei zu strahlen wie ein Honigkuchenpferd.

Auf der Straße draußen war ein Auto zu hören. Einen Augenblick war es Motte, als ob es an der Abzweigung zum Schloss abbremsen würde. Brachte es vielleicht Tobi zurück? Aber schon bald hatte sich das Motorengeräusch in der Ferne verloren.

Ausgerechnet der kleine Tobi. Wenn es wenigstens Dimitri erwischt hätte, der würde sich schon irgendwie durchschlagen, mit seinen Eins achtzig und der Bodybuilder-Figur. Oder Lasse, dem hätte er eine Nacht im Freien gegönnt, und seiner großen Klappe hätte es auch ganz gut getan. Aber Tobi, der als einziger von den Jungs noch durch das Fenster zum Heizungskeller in der Schule passte, wenn in der Pause wieder einmal der Tischtennisball verschwunden war. Alles an ihm war zart, und wenn er seine blonden Locken noch etwas länger hätte wachsen lassen, hätte man ihn gut und gern für ein Mädchen halten können. Alle in der Klasse mochten ihn, wenn er manchmal auch ein bisschen in seiner eigenen Welt lebte und man nie sicher sein konnte, ob er etwas wirklich ernst meinte oder ob er nur den Kasper machte.

Vor allem mit seiner stürmischen Leidenschaft für Renate sorgte er für viel Heiterkeit und Sticheleien, die er mit einem vielsagenden Lächeln ertrug. Motte war sich jedoch sicher, dass mehr dahinter steckte als Theater. Er saß in der Klasse direkt hinter Tobi, und wie oft hatte er schon mitbekommen, dass Tobi seinen Blick gar nicht mehr von Renate lassen konnte! Ausgerechnet Renate, die zwei Köpfe größer war als er, wie die leibhaftige Sexbombe rumlief (was ihr in der Klasse den Spitznamen „Granate“ eingebracht hatte) und auf die coolen Skatertypen aus der Neunten abfuhr. Das einzige, was einigermaßen passte, war die Haarfarbe. Vor ein paar Wochen war Tobi mit einem T-Shirt aufgetaucht, auf dem ein kleines Herzchen mit Renate in der Mitte aufgedruckt war. Renate hatte ihm aber offenbar schnell klar gemacht, dass sie seine Liebe nicht erwiderte, denn am nächsten Tag stand auf Tobis T-Shirt Renate, ich kann warten.

 

Motte schaute auf die Uhr an der Wand: fünf vor acht. Immer noch war es mucksmäuschenstill im Saal. Nur hinten am Tisch des Russenzimmers wurde getuschelt.

Mottes Blick wanderte zu seinen Freunden neben ihm: MM hatte ihren Kopf in die Hände gestützt, ihr Gesicht war ganz hinter ihrem glänzenden schwarzen Haar verschwunden. Simon starrte irgendwo auf den Boden, als ob sich da irgendetwas unschlagbar Wichtiges abspielen würde. Von Zeit zu Zeit schüttelte er sich mit einer kleinen Kopfbewegung die blonde Mähne aus dem Gesicht. JoJo hatte ein Bein über das andere geschlagen und sich zurückgelehnt, er wollte wahrscheinlich betont locker erscheinen, aber Motte sah an seinen Augen, dass ihm Tobis Verschwinden genau so nahe ging wie allen anderen. Motte hatte sich immer noch nicht an JoJos Krawatte gewöhnt, von dem strammen Seitenscheitel ganz zu schweigen. Das erste Mal war er so nach den Osterferien aufgetaucht: weißes Hemd, feine Stoffhose, schwarze Krawatte. Und dazu ein dunkelblaues Jackett mit Goldwappen drauf. Zusammen mit seiner Schlaumeier-Brille sah er aus wie ein Musterknabe auf einem englischen Internat. Nur sein Übergewicht passte nicht so recht ins Bild.

Die anderen in der Klasse hielten seinen Stil für die neueste Variante der Mod-Bewegung, aber wer JoJo kannte, wusste, dass er nie irgendeinen Stil kopieren würde, den es schon gab. „Dem Trend immer einen Schritt voraus“, dieses Motto nahm er ziemlich ernst.

Auch diesmal machte JoJo wieder ein Staatsgeheimnis daraus, wie er auf seinen neuen Stil gekommen war. Motte gegenüber hatte er immerhin ein paar Andeutungen gemacht, demnach hatte es auch diesmal mit einem Film zu tun. JoJo hatte in den Osterferien seinen Vater in Hamburg besucht, zum allerersten Mal, seit der vor vielen Jahren zuhause ausgezogen war. Und mit ihm hatte er einen Film gesehen, Motte konnte sich an den Namen nicht mehr genau erinnern, aber die Geschichte spielte wohl in einem feinen englischen Jungs-Internat, in dem ein paar Schüler einen geheimen Bund gründeten, sich nachts in einer verbotenen Höhle trafen und sich gegenseitig selbst geschriebene Gedichte vortrugen. Am Ende flog der Dichterclub auf und alles nahm ein schlimmes Ende – viel mehr war Motte nicht mehr im Gedächtnis.

So viel war jedenfalls klar: Der Film hatte gewirkt. Und wie.

JoJo war fest entschlossen, selber einmal einen solchen Club zu gründen, „wo man sich nachts irgendwo trifft und selbst gemachte Poesie vorträgt“ – „Poesie“ war jetzt sein Lieblingswort. Als Motte ihn gefragt hatte, ob er schon ein Gedicht selber geschrieben hätte, schüttelte JoJo den Kopf. Er fühle sich „innerlich noch nicht bereit“, erst einmal müsse er „den Dichter in sich entdecken“. Für die Klassenfahrt hatte er sich mit einem ganzen Koffer voller Gedichtbände eingedeckt, die er wer weiß woher aufgetrieben hatte. Und selbstverständlich hatte er auch sein Lieblingsbuch dabei, das er schon halb auswendig kannte. „Hymnen an die Nacht“ von einem Dichter namens Novalis. JoJo hatte Motte mal ganz geheimnisvoll reinschauen lassen, aber er war nicht über die ersten fünf Zeilen hinausgekommen, er hatte das Gefühl, der Text sei in irgendeiner ihm unbekannten Fremdsprache verfasst. „Bei Poesie geht es nicht ums Verstehen“, belehrte ihn JoJo, „sondern ums Gefühl. Und das muss man auf sich wirken lassen. Man muss nur offen dafür sein.“

Er hatte offenbar schon eine ganze Menge an poetischem Gefühl auf sich wirken lassen. Er verfügte inzwischen über einen reichhaltigen Schatz an Versen, die er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit anbrachte. („Es kommt Wind auf. Wir müssen versuchen zu leben“, hatte er heute beim Start zum Orientierungslauf gesagt, als Zilinski ihnen noch die letzten Anweisungen gegeben hatte. Wie wichtig es sei, ein gleichmäßiges Tempo zu laufen und nie – „verstanden, Kinderchen, NIE!“ – stehenzubleiben. Er hatte dabei JoJo fest ins Auge genommen, der noch nie einen Lauf ohne längere Pause durchgehalten hatte).

 

An den Tischen hatte jetzt ein Flüstern und Tuscheln begonnen. Alle blickten zur Uhr. Eine Minute vor acht. Frau Morahwe-Krieger erhob sich wie in Zeitlupe. Ganz langsam, als ob sie noch ein bisschen Zeit schinden wollte, ging sie Richtung Tür. Dort blieb sie stehen und drehte sich noch einmal zur Uhr um. Ganz leise machte der Zeiger Klick.

„Ich ruf jetzt die Polizei.“

 

2. KAPITEL

 

„Hiermit erkläre ich ...“

 

Ein Kind kann doch nicht einfach so verschwinden, ging es MM immer wieder durch den Kopf.

Motte, der neben ihr auf dem Bett in der unteren Stockbett-Etage saß, war offenbar mit denselben Gedanken beschäftigt. „Er kann doch nicht einfach weg sein ...“, murmelte er leise vor sich hin. Er hatte die Beine fest mit den Armen umschlungen und seinen zerzausten Strubbelkopf auf die Knie gelegt.

Von den anderen war kein Ton zu hören. Simon in der Etage über ihnen ließ sein Bein am Bettrand hin und her schlenkern. JoJo lag lang ausgestreckt in der unteren Etage des gegenüberliegenden Stockbetts – die eigentlich Abel gehörte. Aber der war noch auf seinem Verdauungsspaziergang, wie immer nach dem Essen.

MM bemerkte den Soßenfleck auf JoJos weißem Hemd, direkt neben der Krawatte. Sie überlegte kurz, ob sie ihn darauf aufmerksam machen sollte, aber es gab jetzt wirklich Wichtigeres als einen Fleck auf einem Hemd.

„Der Fall ist sonnenklar“, fing JoJo an und legte sich Abels Froschkissen unter den Nacken. Er hatte dieses JoJo-Superstar-Gesicht auf, wie immer, wenn er dem Publikum seine Genialität zeigen wollte.

„Aha, sonnenklar“, kam es gleich von Motte, der sich in letzter Zeit gerne von JoJos Großspurigkeit provozieren ließ, „Tobi ist plötzlich wie vom Erdboden verschwunden, keiner hat irgendwas gehört oder gesehen ... Ich wüsste nicht, was daran sonnenklar sein sollte.“

„Tobis Vater hat doch diese Rasenmäher-Firma im Rosenbaum-Viertel“, fuhr JoJo ungerührt fort. „Und klar sind die steinreich, ihr kennt ja die Villa, wo die wohnen.“ Er nahm seine Brille ab, wie immer, wenn etwas besonders Wichtiges kam. „Tobi ist entführt worden. Spätestens morgen früh ist die Lösegeldforderung da, ihr werdet sehen.“ Er schob sich Abels Frosch im Nacken zurecht und war zufrieden mit sich.

„Am wahrscheinlichsten ist immer noch, dass er sich verlaufen hat“, sagte MM. „Mehmet hat doch gesagt, dass er einen total schlechten Orientierungssinn hat.“

„Ja, glaub ich auch“, kam es von Simon oben. „Tobi ist bestimmt nur verloren gegangen ...“

„... hat sich verirrt, meinst du“, sagten MM und Motte fast gleichzeitig. Simon war jetzt schon viele Monate aus Amerika zurück, aber hin und wieder rutschten ihm doch noch seine berühmten Ami-Fehler raus.

„Na ja“, grummelte JoJo, „einmal den Berg hoch und wieder runter, wie soll man sich da verirren?“

„Silly und Betti haben sich ja schließlich auch verirrt“, gab Motte zurück.

„Ja, das haben sie hinterher behauptet“, sagte JoJo. „In Wirklichkeit haben sie wahrscheinlich irgendwo in den Büschen geraucht.“

„Oder darauf gehofft, dass Zilinski Simon losschickt, um sie zu suchen ... Betti zumindest.“ Motte konnte es mal wieder nicht lassen.

Zur Strafe landete Simons Kissen in seinem Gesicht.

Der arme Simon. Seit diesem dämlichen „Ohne-Rauch-geht’s-auch“-Workshop, zu dem Mo-Kri die ganze Klasse ins Gesundheitsamt geschleppt hatte, hörten sie nicht auf, ihn mit Betti aufzuziehen. Sie hatten damals einen Stuhlkreis gemacht und jeder sollte Betti einen Grund sagen, weshalb sie das Rauchen endlich bleiben lassen sollte. Simon saß direkt neben Betti und war als Letzter an der Reihe, und offenbar wollte ihm partout nichts einfallen, schließlich war ja auch schon alles gesagt. Er schüttelte sich immer wieder die blonde Mähne aus dem Gesicht und würgte endlich heraus: „Ich wäre ganz traurig, wenn du sterben solltest.“ Worauf Betti ihn anschaute wie den Erlöser und in heiße Tränen ausbrach. „Das hat mir noch kein Mensch gesagt“, schluchzte sie, „noch kein Mensch in meinem ganzen Leben!“ Und schon hatte Simon die heulende Betti im Arm, die gar nicht mehr von ihm lassen wollte. – Seither wurde Simon mit Betti aufgezogen. Obwohl natürlich jeder wusste, dass Simon nichts von Betti wollte und Betti sowieso nur mit Silly und ihren Gothic-Typen rumhing.

MM konnte sich gerade noch aus der Schusslinie bringen, bevor ein Turnschuh von oben angeflogen kam. Und gleich darauf Simons Fäuste, die Motte mit den Füßen abzuwehren versuchte. Wer die beiden nicht kannte, hätte es für Ernst halten können. „O.K., ich ergebe mich“, prustete Motte, „ich widerrufe offiziell und amtlich!“

JoJo hatte in der Zwischenzeit sein Lieblingsgedichtbuch aufgeschlagen. Als sich Simon und Motte wieder beruhigt hatten, sagte er verträumt: „Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“

Dann schob er noch ein ehrfurchtsvoll gebrummtes „Goethe“ nach. Keiner wusste natürlich, was er mit Goethes Worten sagen wollte, aber nach einer Schweigeminute ließ er sich doch zu einer Erklärung herab: „Ich meine damit nur: Natürlich kann er sich verirrt haben – man darf als Profi keine Möglichkeit ausschließen. Aber ich würde es als ziemlich unwahrscheinlich einstufen.“

„Vielleicht hat er ja einen Unfall gehabt? Und liegt jetzt irgendwo mit zerbrochenem Bein?“, kam es von Simon.

„... gebrochenem Bein“, murmelte MM automatisch. „Aber dann hätten wir ihn doch wohl schreien gehört, oder?“

„Vielleicht war er ja bewusstlos?“, sagte Motte.

„Wir haben doch jeden Quadratzentimeter abgesucht ... nicht nur einmal“, sagte MM. Die Suchaktion war ihr in lebhafter Erinnerung. Zilinski hatte sämtliche Schüler nebeneinander auf der Wiese vor dem Waldparkplatz Aufstellung nehmen lassen, mit zehn Metern Abstand voneinander. Und so hatten sie dann den Wald durchkämmt, Schritt für Schritt – wie im Film, wenn Polizisten eine Leiche suchen. Bis zum Abendessen waren sie so durch den Wald gestapft, bis weit hinter den Schafsberg und wieder zurück. Frau Billerbeck war mit ihren quieckenden Minis auch mit von der Partie, sie sollten die Westflanke abdecken, wie Zilinski sich ausdrückte, aber die Kleinen wollten um keinen Preis in diesen Wald gehen, in dem jemand einfach verschwinden konnte und drängten sich wie Küken um ihre dicke Entenmama, die dann wieder mit ihnen nach Hause watschelte.

„Hat es vielleicht irgendeinen Zoff gegeben in Tobis Zimmer?“, fragte Motte.

„Mo-Kri hat dasselbe vorhin auch schon Mehmet und Julian gefragt – die wissen von nichts“, sagte JoJo.

„Und Renate?“, fragte Motte, „ist der vielleicht irgendwas aufgefallen?“

„Sie war jedenfalls vorhin beim Abendessen vollkommen abgenervt, weil erst Mo-Kri und dann auch noch die rote Zora zu ihr ins Zimmer kamen und sie genau das gefragt haben – ‚Was soll ich denn damit zu tun haben? Kann ich was dafür, dass der Kleine in mich verknallt ist? Ich bin doch keine Kindergärtnerin!‘“

„Und Heimweh?“ Der Gedanke war MM gerade gekommen.

„Aber wohin soll er sich denn abgesetzt haben? Außerdem hat Tobi noch nie Heimweh gehabt.“

Es war lange still, jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

„Und die Typen aus dem Steinbruch, diese Sinti oder Roma oder wie sie heißen?“, fragte Simon.

„Wie kommst du denn da drauf?“, war MMs erste Reaktion. „Meinst du etwa, dass die Tobi entführt haben? Die sind doch froh, wenn man sie in Ruhe lässt.“

Sie dachte an die denkwürdige „Waldführung“ mit dem alten Herrn vom Heimatverein zurück, der ihnen die verlassenen Bergbauminen im Wald gezeigt hatte. Die meisten waren zugeschüttet oder eingefallen, aber in manche von den Stollen konnte man noch ein Stück weit hineingehen. Hier und da standen verrostete Karren herum, die früher von Eseln gezogen wurden und auf denen das Erz nach Marienburg abtransportiert wurde. Der Heimatvereinsopa war zwar ganz süß, aber ein bisschen übereifrig. „Das Marienburger Erz war seinerzeit in ganz Europa berühmt, und sein Abbau ist eine glorreiche Geschichte voller Heldenmut ...“, so geschwollen drückte er sich aus. „Heute ist das leider in Vergessenheit geraten, und damit auch das Schicksal der ruhmreichen Männer und Frauen, die sich mit ihrer harten Arbeit unsterblich gemacht haben.“

Der Weg führte sie an einem alten Steinbruch vorbei, in dem früher Schotter für die Marienburger Eisenbahn abgebaut wurde – wie ihnen ihr Führer erzählte. Auch das war für ihn eine „glorreiche Geschichte voller Heldenmut“. In einer Ecke des Steinbruchs stand ein großer Wohnwagen herum, irgendwo auch ein alter Traktor mit einem verrosteten Anhänger, und überall lag ziemlich viel Müll auf dem Boden.

„Ein echtes Problem“, seufzte der Opa. „Die Familie hat sich hier vor ein paar Jahren niedergelassen. Sie kommen irgendwo vom Balkan und sprechen kaum Deutsch. Sie tingeln mit ihrem kleinen Zirkus hier in der Gegend herum und zeigen Kunststückchen. Der Vater macht den großen Zampano, der mit seiner Muskelkraft Ketten sprengt ... Inzwischen sind fünf Kinder da, der älteste ist längst schulpflichtig und müsste eigentlich in Marienburg auf die Grundschule gehen – eigentlich – aber die Familie lebt ja von ihrem Zirkus, und da müssen auch die Kinder mithelfen. Der Junge macht irgendwelche Dressurnummern mit seinem Pony.“ Er seufzte wieder. „Ein echtes Problem ... Der Vater war selber nie in der Schule und sieht nicht ein, dass sein Sohn das jetzt tun soll. Ab und zu taucht der Junge dann für ein paar Tage in der Schule auf, dann ist er wieder auf Tour. Die Klassenlehrerin, Frau Brüser, sagt, er wäre ganz aufgeweckt und unheimlich wissbegierig. Aber die meiste Zeit ist er eben auf Achse. Ein paarmal war schon die Polizei da und hat den Jungen zur Schule gebracht, aber auf Dauer ist das ja auch keine Lösung.“ Gerade in dem Moment kam ein braungebrannter Junge mit schwarzen Haaren und ebenso schwarzen Augen aus dem Wohnwagen gestürmt. Er war vielleicht acht Jahre alt. Als er die Kinder sah, blieb er stehen und schaute sie mit großen Augen an. Auf seiner Schulter hatte er irgendein Tier sitzen.

„Eine Ratte“, sagte der Opa, „er hat sie mit in die Schule genommen, einmal ist sie ihm entwischt und aufs Lehrerpult gehüpft. Frau Brüser ist eine ältere und sehr empfindsame Dame und schnurstracks in Ohnmacht gefallen ... Ein echtes Problem ...“ Er hörte gar nicht mehr auf mit dem Seufzen.

Als sie weitergezogen waren, schaute ihnen der Junge lange nach. Irgendwie tat er MM leid. So ganz allein ohne Freunde mitten im Wald aufzuwachsen ...

„Dieser verrostete Anhänger“, sagte Simon und schlenkerte mit seinem Bein, „der sah aus wie ein großes Käfig ...“

„Und da sollen sie Tobi eingesperrt haben?“, sagte MM. „Hast du sie noch alle?“

„Vielleicht wollen die ja Geld lösen?“

„Lösegeld“, verbesserte sie ihn. „Und woher sollen die wissen, dass Tobis Vater reich ist, meinst du, die haben ne Klassenliste mit Vermögensaufstellung der Eltern?“

„Grundsatz Nummer eins bei Profis: Man muss alle Spuren ernst nehmen“, machte JoJo der Diskussion ein Ende. „Wir schauen uns den Steinbruch morgen mal genauer an.“

Vielleicht ist Tobi bis dahin ja längst wieder da, ging es MM durch den Kopf. Sie schaute unwillkürlich zum Fenster, als ob er dort auf dem Hof gleich auftauchen müsste. Aber draußen war nichts als die pechschwarze Nacht. Sie fröstelte plötzlich.

Der arme Tobi! Was, wenn JoJo recht hatte und er wirklich in die Hand von Verbrechern gefallen war? Ein anderer Gedanke schlich sich in ihren Kopf. Eigentlich hatten sie ja Ermittlungsverbot – „striktes Ermittlungsverbot“, so hatte sich ihre Mutter ausgedrückt. „Die Jagd nach Verbrechern ist Aufgabe der Polizei! Ich hoffe, wir haben uns da verstanden!“ So ganz unrecht hatte sie ja nicht. Die Sache mit Giant Blue hätte um ein Haar ein schlimmes Ende genommen. Dass Mottes kleine Schwester Ute die Nacht in diesem Bunker unter der Erde überlebt hatte, war nur einem klitzekleinen Zufall zu verdanken ... Motte hatte MM einmal erzählt, dass auch seine Eltern ihn und seine Schwester schwer ins Gebet genommen hatten. Mottes Vater hatte ihn einen „Rückfalltäter“ genannt – die Sache mit Giant Blue war ja schon ihr zweiter Fall gewesen. Er hatte es wahrscheinlich mehr im Scherz gemeint, aber seiner Mutter hatte Motte hoch und heilig versprechen müssen, dass er in Zukunft die Finger von irgendwelchen Ermittlungen lassen würde.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte Motte: „Meine Eltern bringen mich um, wenn sie davon Wind bekommen.“

„Meine auch ... zumindest meine Mutter“, murmelte MM.

„Meine auch ... alle beide“, kam es leise von oben.

JoJo setzte sich ruckartig auf und schüttelte unwirsch den Kopf. „Wie sollen eure Eltern denn mitkriegen, was hier läuft?“ Er verschränkte seine Arme vor dem Bauch. „Dann ermittle ich eben allein ... wenn ihr mich hängen lassen wollt ... und Tobi ... bitte!“ Er legte sich wieder hin und hielt sich demonstrativ sein Buch vor die Nase.

MM und Motte schauten sich ratlos an.

„Außerdem ermitteln wir gar nicht, wir sammeln bloß Informationen ... Was soll daran verboten sein?“, kam es hinter JoJos Buch hervor.

MM schaute wieder nach draußen in die Dunkelheit. Eigentlich hatte JoJo recht. Sie saßen hier im Warmen, während Tobi irgendwo da draußen ...

„Natürlich lassen wir Tobi nicht hängen“, hörte sie Motte neben sich flüstern.

„Auf keinen Fall“, kam es leise von Simon.

„Wenn es gefährlich wird, können wir immer noch aufhören“, sagte MM.

JoJos Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Wusste ich‘s doch!“ Er schaute mit einem Augenzwinkern zu seinen Freunden hinüber „Ohne euch hätte ich aber auch nicht ermittelt.“

Mit einem eleganten Hüpfer war er aus dem Bett und ging aufgeregt hin und her. Am Tisch vor dem Fenster kam er zur Ruhe, die eine Hand auf die Stuhllehne gestützt. Er nahm die Brille ab und putzte sie ausgiebig mit einem Hemdzipfel. Er hatte diesen feierlichen Gesichtsausdruck, den er immer vor seinen An-sprachen hatte. Nach einem ausgiebigen Räuspern blickte er seine Freunde der Reihe nach an und sagte: „Hiermit erkläre ich unseren dritten Fall für eröffnet.“

 

3. KAPITEL

 

Das Logbuch

 

JoJo reichte gerade jedem Mitglied seiner „Ermittlungsgruppe“ (wie er seine Freunde jetzt titulierte) die Hand, als es an der Tür klopfte. Dreimal hintereinander – Pause – zweimal hintereinander – Pause – dann einmal laut und einmal leise. Dann wieder dreimal hintereinander. Abel war offenbar mit dem Verdauen fertig.

Jedes Jungs-Zimmer hatte inzwischen seinen Klopf-Code. Ungebetene Gäste hatten zwar sowieso keine Chance – es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass die Lehne der Jugendherbergsstühle perfekt unter den Türgriff passte. Aber nachdem Max und seine Chaoten aus der 7 d damit angefangen hatten, wollte ihnen kein Zimmer nachstehen, zumindest keines der Jungs-Zimmer. Ohne Codewort oder Parole kam man nirgends mehr rein. Und natürlich war kein Code so kompliziert wie der, den JoJo für das Poetenzimmer (wie es bei den anderen inzwischen hieß) entwickelt hatte.

Das „Geniale“ (Zitat JoJo) daran war, dass der Code sich ständig änderte. Mit jeder geraden Stunde kam ein lautes Klopfen dazu, mit jeder ungeraden ein leises. Das geniale Ergebnis war natürlich, dass die Jungs selber den Code ständig durcheinanderbrachten, allen voran JoJo, der mit dem Rechnen ohnehin auf Kriegsfuß stand. MM wusste, dass er immer ein kleines Zettelchen in der Tasche hatte, auf dem der Code notiert war. Sie war die einzige, die sich das System problemlos merken konnte. Und Abel.

Obwohl sein Klopfen klar und deutlich zu hören war, schienen die Jungs nichts gehört zu haben und machten es sich wieder auf ihren Betten bequem. MM warf Motte einen auffordernden Blick zu, ohne Wirkung. Die Jungs taten immer so, als ob es die größte Strafe wäre, dass sie das Zimmer mit Abel teilen mussten. Er war bei der Zimmerverteilung am ersten Abend übrig geblieben und Zilinski hatte ihn kurzerhand dem Poetenzimmer aufgedrückt. (Seinen ewigen Spruch – „Tja, Kinderchen, das Leben ist kein Ponyhof“ – hätte er sich nach MMs Meinung allerdings sparen können.)

Klar war Abel ein bisschen merkwürdig, vor allem sein Dauerlächeln nervte einfach. Aber sie hatte auch Mitleid mit ihm, sie wusste, wie es sich anfühlte, Außenseiter zu sein. Sie hatte die Zeit noch in lebhafter Erinnerung, als sie neu in die Klasse gekommen war und keiner etwas mit ihr zu tun haben wollte, weil alle sie für eine Streberin hielten. Nur weil sie eine Klasse übersprungen hatte. Gut, letztlich hatte sie Glück gehabt, mehr Glück als Abel. Er war einfach der geborene Außenseiter – merkwürdigerweise schien er darunter allerdings nicht im Geringsten zu leiden.

Mit einem genervten Grollen startete MM zur Tür und ließ Abel herein.

Er hatte seinen ewigen Froschschal um den Hals, dessen Hellgrün ihn noch blasser aussehen ließ als er ohnehin schon war. Abel gehörte wirklich in die Kuriositätensammlung. Schon mit seiner Bohnenstangenfigur und den viel zu langen Armen und Beinen. Vor allem aber mit seinem Froschtick – überall auf seinen Sachen waren Frösche drauf, auf seinem Schulranzen, seiner Waschtasche, seinem Pulli, überall.

Und gemeinerweise sah er auch fast ein bisschen aus wie ein Frosch, mit seinem breiten, geschwungenen Mund und den weit auseinanderliegenden Augen, die wegen der dicken Brille etwas hervorstanden.