Mount Maroon - Ethan Bayce - E-Book

Mount Maroon E-Book

Ethan Bayce

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Beschreibung

Alles, was Sie wissen, ist falsch. Was, wenn all das, was wir als gesichert und selbstverständlich annehmen, nicht stimmt? Was, wenn Ihr Haus nie gebaut wurde, Ihr Job nicht existiert, Ihre Frau Sie nie zuvor gesehen hat? Würden Sie sich dann auf die Suche nach Ihrem Leben machen? Peter Saunders erwacht in einem Krankenhaus in Cincinnati. Er hat wirre Vorstellungen von einem Autounfall und einer Wanderung mit seinem Freund Luther, die in einem heftigen Gewittersturm endete. Darüber hinaus hat er Erinnerungen an ein Leben, das er offenbar nie geführt hat. Was Saunders nicht weiß, ist, dass er während eines unglaublichen Experiments in einem Forschungstunnel des Mount Maroon Laboratory entdeckt wurde. War er für die gewaltige Explosion verantwortlich, bei der zwei Techniker getötet wurden? Ist er ein Umweltschützer oder gar ein Terrorist? Dann tauchen mysteriöse Fakten auf. Als Peter Saunders eine schreckliche Entdeckung macht, beginnt eine wilde Jagd auf der Suche nach Identität und Wahrheit. Ethan Bayce legt mit Mount Maroon den möglicherweise spannendsten und anspruchsvollsten Wissenschaftsthriller seit Frank Schätzings Der Schwarm vor. An vorderster Front des bekannten Wissens - wie einst H.G. Wells - wirft Bayce wissenschaftliche und philosophische Fragen auf, die auch nach dem Zuklappen des Buches weiterwirken. Anders als in manchen ähnlich gelagerten Büchern kennt der Autor seine Materie sehr genau. Spannend, tiefsinnig und beklemmend wartet Bayce mit einer überraschenden und wissenschaftlich schlüssigen Auflösung auf. Ein Thriller der Spitzenklasse.

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Seitenzahl: 493

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Ethan Bayce

Mount Maroon

Ethan Bayce

Mount Maroon

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in derDeutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

2. Auflage 2012© 2012 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wienhttp://www.braumueller.at

Coverfoto: Andreas Vitting / istockphotoISBN der Printausgabe: 978-3-99200-057-9

E-Book-Ausgabe © 2012ISBN 978-3-99200-059-3

Die Figuren dieses Romans sind frei erfunden.Alle darüber hinaus genannten Personen gibt oder gab es wirklich, ebenso sämtliche der beschriebenen wissenschaftlichen Theorien.

Ethan Bayce

PROLOG

Endlich war der Wagen gegen einen Baum geprallt und auf dem Dach liegen geblieben. Der Junge konnte nicht sagen, wie oft er sich zuvor überschlagen hatte. Das Letzte, was er bewusst erlebt hatte, war der Aufprall des anderen Autos gegen die linke Frontpartie des Pontiacs seiner Eltern. Diese lagen jetzt leblos und in unnatürlich verrenkter Haltung vor ihm. Er weinte, schrie nach seinem Vater und rüttelte am Arm seiner Mutter, bis ihm der Atem stockte. Irgendetwas strömte ins Innere, heiß und stickig. Er stemmte sich gegen die Scheibe, auf der dem Baum abgewandten Seite. Hier erkannte er seine einzige Fluchtmöglichkeit. Er versuchte das Fenster mit der Handkurbel zu öffnen. Es ruckte kurz, ließ sich aber nicht aufdrehen. Offenbar hatte sich das Zugseil verhakt. Die kleinen, heißen Hände griffen immer wieder zu dem Hebel, der jedoch keinen Millimeter nachgab. Die Glasscheibe war fest wie ein Fallgitter. Dann durchzuckte den Wagen ein heller Blitz, eine Explosion. Flammen loderten auf. Eine unerträgliche Hitze erfasste den Körper des Jungen. Panik kam in ihm hoch. Mit bloßen Fäusten schlug er gegen das Glas, nahm schließlich die Ellenbogen, ohne dabei Schmerzen zu spüren. Qualm drang aus den kleinen Ritzen neben dem Rücksitz in den Innenraum. Mit letzter Kraft wandte er sich um, legte sich auf den Rücken und versuchte das Fenster durch verzweifelte Tritte zu zerschmettern. Aber auch diese Bemühungen blieben erfolglos. Wieder drehte er sich herum, wand sich wie ein in die Falle geratenes Tier, stieß verzweifelte Schreie aus. Hoffnungslosigkeit, Todesangst. Nach Leibeskräften trommelte der Junge gegen die Scheibe. Auf dem Bauch liegend, sah er ins Freie. Hinter einem Busch erspähte er eine Bewegung. War da ein Mann oder hatte er es sich nur eingebildet? Er klopfte gegen das Glas, doch niemand schien ihn zu hören, niemand kam, um ihn zu retten. Dunkler, bläulicher Rauch erfüllte das Innere des Wagens. Er war verloren, würde sterben, zusammen mit seinen Eltern; heute, an seinem sechsten Geburtstag.

1. GEWITTERSTURM

Peter bemerkte die leichte Vibration an der Oberfläche seines Kaffees. Sie zeigte sich im orangeroten Widerschein des Lagerfeuers durch eng aufeinanderfolgende konzentrische Kreise, die langsam vom Mittelpunkt der Blechtasse nach außen drangen. Seine Hand hingegen war vollkommen ruhig, ebenso der Unterarm, der auf seinem rechten Oberschenkel auflag. Er selbst saß mit lang ausgestreckten Beinen auf dem weichen bemoosten Waldboden, den Rücken an einen dicken Baum gelehnt. Weder in seinen Armen noch in den Beinen war ein Pulsieren zu spüren. Das Zittern schien ganz und gar die Sache der Flüssigkeit zu sein. Heißer Kaffee, der in seiner Tasse fröstelte? Peter sah zu seinem Freund hinüber. Luther hockte auf dem geraden Stamm einer gefällten Kastanie. Der neben seinen groben Wanderstiefeln stehende Becher war bereits zur Hälfte geleert, sodass die Oberfläche seines Getränks im Schatten lag.

Sie hatten sich diese Stelle für ihr Nachtquartier ausgesucht, weil der Platz nach ihren Berechnungen morgens in der Sonne liegen musste. Das ist nach einer Nacht, die man in den Bergen unter freiem Himmel verbringt, nicht unwesentlich, da es auch im Sommer morgens noch empfindlich kalt sein kann und man vor dem Aufbruch die vom Tau der Nacht klammen Sachen trocknen möchte. Peter und Luther waren passionierte Wanderer, die es sich seit ihrer Studienzeit herausnahmen, mindestens zweimal pro Jahr mehrtägige Touren zu unternehmen. Sie hatten es sich zum Ziel gesetzt, in allen amerikanischen Nationalparks zu wandern, sofern diese nicht hauptsächlich aus Wüsten oder Sümpfen bestanden. Diesmal führte sie ihre Abenteuerlust in die Great Smoky Mountains, einem etwa 210.000 Hektar großen Naturschutzgebiet in den Appalachen, das zu den Blue Ridge Mountains gehört und abseits des Blue Ridge Parkway von der Zivilisation noch weitgehend unberührt war.

Luther van Eyck, der Arzt aus Atlanta, und Peter Saunders, der Verlagsredakteur aus Annapolis, verwandelten sich für einige Tage in jene wagemutigen Männer, die einstmals mit glühendem Herzen in einen noch unentdeckten Kontinent vorstießen. Freilich war die Situation heutzutage eine andere. Es gab Karten, Wege, Handys und die ständige Möglichkeit, das Abenteuer abzubrechen, aber mit etwas Fantasie und dem richtigen Blick für die Urwüchsigkeit einer immer noch vorhandenen Wildnis konnte man zumindest den Geist eines Meriwether Lewis, eines William Clark, aber auch eines George Catlin oder Henry David Thoreau spüren. Die beiden waren am frühen Morgen des 11. Juli, ihres dritten Wandertages, in der Nähe der Palmer Chapel im Cataloochee Valley aufgebrochen und über den Heintooga Loop sowie einen alten Indianerpfad zum Raven Fork River gelangt, von wo aus sie sich nach Westen zum Mount Maroon wandten, ihrem heutigen Etappenziel.

Der Mount Maroon ist eigentlich gar kein richtiger Berg, vielmehr handelt es sich um ein lang gezogenes, zerklüftetes Hochplateau. Die Freunde hatten sich gewundert, ihn auf der Karte als Berg bezeichnet zu finden, und waren daher eher zufällig auf diese Laune der Natur gestoßen, die sich jetzt als höchst imposante Formation entpuppte. Gewohnheitsmäßig hatten sie nach einem Wandergebiet Ausschau gehalten, das möglichst weit abseits von Ortschaften und größeren Straßen lag. Es war nicht ihre Art, sich auf die in der einschlägigen Literatur ausgewiesenen touristischen Highlights zu stürzen. Sie suchten die intensive Verbundenheit mit der Landschaft, was ihrer Meinung nach auch eine gewisse Abgeschiedenheit beinhaltete. So mieden sie Gasthöfe und Restaurants ebenso wie Hotels und Campingplätze. Was sie für die Zeit ihrer Wanderung benötigten, hatten sie dabei und biwakierten in aller Bescheidenheit an den exklusivsten Logenplätzen der Natur. Der Mount Maroon war so ein Logenplatz; neben Tausenden der namensgebenden Kastanien befanden sich hier viele weit über mannshohe Felsen, die vor Urzeiten, als die Erde noch unruhig war, vermutlich Hunderte Meter hoch in die Luft geschleudert worden waren, um bei ihrem Aufprall tief in den Boden einzuschlagen. Eine andere Erklärung für die eigentümliche Form der Steinkolosse war, dass das sie umgebende Erdreich mit der Zeit ausgespült worden war und sie den Beweis für eine ursprünglich viel größere Höhe des Geländes gewissermaßen aufrechterhielten. Jedenfalls steckten sie in derart bizarren Ausrichtungen in der Erde, dass man ständig das Gefühl hatte, sie müssten zur Seite kippen. Hier und da war die Szenerie in der Weise auf die Spitze getrieben, dass ein riesiger Steinbrocken auf einem anderen wesentlich kleineren auflag. Es sah so aus, als wäre ein gigantischer steinerner Pilz aus dem Boden geschossen. An einer anderen Stelle entdeckten die Freunde gar eine Steinplatte, die, um einem müden Riesen eine Sitzgelegenheit zu verschaffen, auf zwei länglichen Felsen ruhte. Vom Rande des Plateaus hatte man eine hervorragende Aussicht auf das umliegende Gelände, welches zum größten Teil aus bewaldeten Hügeln bestand, ein unruhiges, wild aufgepeitschtes, dunkelgrünes Meer, das in seiner Bewegung innehielt, als wolle es ein Zeichen setzen gegen die permanente Rastlosigkeit des Zeitstroms. Andere Fantasten sahen von diesem Punkt aus vielleicht eine flauschige Decke, die eine quirlig nervöse Welt wohlig und warm einhüllte und die alltägliche Hektik erstickte. Einzig eine kleine Rangerstation mit einem gedrungenen hölzernen Dach und einem Feuerturm wagte sich, im rechtschaffenen Bewusstsein, das sie Umgebende zu bewahren statt zu stören, an die ansonsten makellose Oberfläche. Vögel waren zu hören, die Geräusche des Waldes, die die Stille eher betonten, als deren völlige Entfaltung zu hemmen. Peter und Luther mussten sich erst darauf einlassen, denn weder in der Hauptstadt Marylands noch in der Südstaaten-Metropole gab es echte Stille.

Das Wetter war so prächtig, wie es der Bericht vorhergesagt hatte, und auch der Abend war wie gemalt für große Jungs mit einem Sinn für Lagerfeuerromantik. Wie immer blieben die Alltagssorgen und aktuellen Probleme auf dem Weg der ersten beiden Wandertage zurück, und wie immer schwelgten sie danach in Jugenderinnerungen. Peter und Luther kannten sich nicht erst seit dem Studium, als sie regelmäßig zu wandern begannen. Sie waren zusammen aufgewachsen. Sie wohnten in derselben Straße, gingen auf dieselbe Schule und eine Zeit lang schliefen sie sogar, ohne es zu wissen, mit demselben Mädchen. Eine Geschichte, die auch an diesem Abend wieder erzählt wurde. Bei allen galt das Gespann als Tom Sawyer und Huckleberry Finn, spätestens, nachdem Peters Eltern tödlich verunglückt waren und er bei seiner Tante Mary aufwuchs, die von den Jungen fortan Polly genannt wurde. Sie bauten Hütten, angelten und trieben sich nächtelang herum. Einmal waren sie sogar für mehrere Tage verschwunden, wollten per Anhalter nach Nevada fahren, um auf der Ponderosa Ranch reiten zu lernen. Aber schon kurz hinter Kansas City wurde das Abenteuer abgebrochen, weil Luthers Katze Junge erwartete und sich die Sache mit dem Reiten vermutlich doch länger hingezogen hätte. Da waren sie dreizehn. Nun waren sie Anfang 40 und beruflich und familiär dort, wo sie hinwollten. Peter war Leiter des Fachbereichs Geschichte bei einem kleinen Verlag an der Ostküste, glücklich verheiratet und Vater einer Tochter. Luther war Oberarzt am Atlanta Medical Center, geschieden und hatte gleichzeitig jeweils ein halbes Dutzend loser, zumeist kurzlebiger, Affären.

- „Sag mal, sprudelt dein Kaffee auch so?“

Luther starrte in die Flammen des knisternden Feuers.

- „Vielleicht ist die Milch sauer.“

- „Wir haben keine Milch dabei, falls du dich erinnerst.“

- „Ah, stimmt ja, dann eben der Zucker …“

Er war ganz offensichtlich gar nicht bei der Sache.

- „Der Zucker? Sauer?“, Peter zog die Brauen hoch. „Da hätte ich auch den Hirsch fragen können, den wir heute Morgen gesehen haben.“

Luther van Eyck und Peter Saunders waren sportlich und intelligent. Clevere Jungs, die das Leben lässig in ihre Bahn zu lenken wussten. Peter war der Coolere von beiden; wenngleich er mit seinen fast schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen eher an einen Südländer erinnerte, wirkte er immer ruhig und besonnen. Obwohl sich um die Augen einige Lachfältchen gebildet hatten, war sein Gesicht noch ebenmäßig und glatt. Er genehmigte sich trotz des unablässigen Spottes seines Freundes auch auf ihren Wanderungen den Luxus einer täglichen Nassrasur. Sein Haar trug er in mittlerer Länge mit einem linksseitig angedeuteten Scheitel. Der Pony war strähnig aus der Stirn zur Seite gekämmt. Auch Luther war gut aussehend, was er vor allem seinen kobaltblauen Augen und den blonden Locken verdankte, die, seiner ursprünglich irischen Abstammung Tribut zollend, einen Stich ins Rötliche aufwiesen. Sein Gesicht war kraftvoll mit ausgeprägten Wangenknochen und einer markanten Nase ausgestattet. Dennoch war es ein entspanntes Gesicht, auf dem der Betrachter ständig den Anflug eines Lächelns zu erkennen glaubte. Luther war extrovertiert, er war es gewohnt, den Laden zu schmeißen. Wenn Luther da war, redete Luther oder er sang, spielte Gitarre oder lachte einfach nur. Und alle schlossen sich ihm an. Aber auf den Wanderungen war es anders. Hier musste niemand für Stimmung sorgen. Hier waren die Freunde unter sich und jeder wusste, was er vom anderen erwarten konnte. Vieles hatte sich seit ihrer Kindheit in Raleigh, im ländlich beschaulichen Illinois, und ihrer Studienzeit im urban lebhaften Madison geändert, vieles war aber auch gleich geblieben. Sie hatten ihre gemeinsame Geschichte, waren wie Brüder, und Blutsbrüder waren sie seit ihrem achten Lebensjahr ohnehin. Es wäre ihnen gar nicht in den Sinn gekommen, über ihre Freundschaft zu sprechen, sie zu analysieren oder als etwas Besonderes hervorzuheben, sie war einfach da, unendlich, wie die Luft, die sie atmeten, oder das Wasser, das sie tranken. Keiner von ihnen glaubte daran, dass diese Freundschaft jemals enden könnte, denn es gab nichts, was an Bedeutung größer hätte sein können. Sicher hatte Peters Familie in seinem Leben einen ähnlichen Rang eingenommen, aber er wusste, dass das eine das andere niemals gefährden würde. Beide Bereiche existierten völlig unabhängig voneinander, auch wenn sie sich zuweilen überlagern konnten. Und auch wenn man sich seit einigen Jahren viel seltener sah als früher, so haftete doch die alte Vertrautheit an ihnen wie eine zweite Haut. Es gab einfach zu vieles, das sie verband. Peter war beispielsweise daran beteiligt gewesen, als Luther seinen Adelstitel erworben hatte. Nicht, dass der gute Luther etwas besonders Adelungswürdiges getan hätte, denn er hatte einfach nur die einzige Frau geheiratet, die er in seinem Leben wirklich mit dem Herzen liebte. Er war nie der Mann für die eheliche oder auch außereheliche Treue, vielmehr war er mit einem natürlichen Interesse an nahezu allen weiblichen Personen ausgestattet, die sich in seiner Umgebung zeigten. Bei vielen Frauen fiel diese offensive Einstellung auf fruchtbaren Boden, zumal der Mann ungemein charmant sein konnte. So kam es eher selten vor, dass Luther Partys, auf denen er allein auftauchte, auch allein verließ. Sprach man ihn später auf seine neue Eroberung an, zwinkerte er nur und gab vor, dass es nichts Ernstes sei. Gerade so, als habe man sich, nachdem man ein leichtes Hüsteln vernommen hatte, nach seinem Gesundheitszustand erkundigt. Als Peter ihm jedoch Melanie van Eyck vorstellte, war es um ihn geschehen. Peter hatte die junge Historikerin während einer Konferenz in New York kennengelernt und wenn er damals nicht schon mit Ellen zusammen gewesen wäre, hätte auch er sich zweifellos mehr erhofft. Melanies Familie war vor mehreren Generationen aus den Niederlanden in die USA eingewandert. Als Luther die attraktive Blondine auf einer Party bei Peter in Augenschein nahm, wandte er sich von allem ab, was seine Aufmerksamkeit zuvor so oft an sich gezogen hatte. Es war nicht nur Liebe auf den ersten Blick, ein Gefühl, das Luther durchaus kannte, sondern auch auf den zweiten und dritten und so weiter. Melanie und er erlebten über fast zwei Jahre eine Zeit permanenter Hochgefühle. Und schließlich heirateten sie, wodurch aus Luther Bannister Luther van Eyck und aus einem Bürgerlichen ein Adliger wurde. Drei Jahre später wurde die Ehe geschieden. Sie lebten da schon längst nicht mehr zusammen. Melanie hatte eine Stelle an der Universität von Leiden in Europa angenommen, und Luther ging in Atlanta seiner Tätigkeit als Arzt nach und in Bezug auf Frauen jeder sich bietenden Gelegenheit.

Peter führte ein anderes Leben. Er genoss es, ein richtiges Zuhause zu haben, eine Atmosphäre von Geborgenheit und Vertrauen, von Harmonie und Gemeinsamkeit, die in seinen Augen nur eine Familie bieten konnte. Ellen war genau die richtige Partnerin für ihn. Sie hatten sich während des Studiums an der University of Wisconsin in Madison kennengelernt, wo Peter amerikanische und europäische Geschichte studierte und Ellen Pädagogik. Nach zwei Monaten zogen sie zusammen und fanden heraus, dass sie wie für einander geschaffen waren. In Madison wurde ihnen auch klar, dass sie immer am Wasser leben wollten. Immer wieder zog es sie an den Lake Mendota, wo sie endlose Spaziergänge unternahmen, Sonnenunter- und -aufgänge beobachteten, gemeinsam ruderten und in den Sommermonaten regelmäßig schwammen. Als Ellen schließlich die Zusage für eine Stelle als Lehrerin in Annapolis bekam, zogen sie an die Ostküste. Auch Peter hatte dort zunächst als Lehrer gearbeitet, heuerte dann aber bei einem neu gegründeten Verlag für Geschichte und Soziologie an. Hier konnte er all seine Fähigkeiten gezielt einsetzen. Die Suche nach geeigneten Manuskripten, die Arbeit am Verlagsprogramm, die redaktionelle Aufbereitung einzelner Werke und die Layoutgestaltung lagen ihm. Zudem hatte diese Tätigkeit eine wissenschaftliche Komponente und bot die Gelegenheit, interessante Autoren persönlich kennenzulernen. Ellens und Peters privates Glück wurde vollkommen, als vor neun Jahren Irene das Licht der Welt erblickte.

Mit einem gewaltigen Krachen schwappte der Kaffee aus der Tasse über Peters Beine. Auch Luther war hochgeschreckt. Es gab keinerlei Anzeichen für ein Gewitter, aber was hätte es sonst sein sollen? Wieder erschütterte eine Detonation die Lichtung. Die Erde unter ihren Füssen bebte. Danach war ein heller Lichtblitz zu sehen, jedoch war nicht auszumachen, aus welcher Richtung er kam. Die Freunde schauten sich an. Keiner traute sich zu sprechen, aber beiden war klar, dass die umgekehrte Reihenfolge von Blitz und Donner zu tiefster Besorgnis Anlass gab. Indes blieb ihnen keine Zeit, länger darüber nachzudenken, denn wieder grollte es ohrenbetäubend über ihren Köpfen. Spürbar wurde Adrenalin freigesetzt, Muskeln spannten sich, der Körper bereitete sich auf die notwendige Flucht vor. Dann brach das Unwetter mit seiner ganzen Kraft über sie herein. Wind peitschte durch die Klüfte zwischen den Felsen, überall zuckten Blitze, Donnerschläge knallten und gewaltige Entladungen erstarben in ächzenden Geräuschen berstenden Holzes. Die Flammen ihres Lagerfeuers flackerten wild, schlugen meterhoch in die Luft. Doch es war nicht nur ihr Feuer, das die Szenerie erhellte, hinter ihnen hatte eine riesige Kastanie zu brennen begonnen. Die beiden Männer wussten, dass der Gipfel eines Berges, auch wenn er sich eher flach als spitz darbot, kein besonders günstiger Aufenthaltsort bei einem Gewitter war. Auch Bäume waren alles andere als ideale Zeitgenossen, sie boten keinen Schutz, sondern erhöhten durch ihre exponierte Stellung die Gefahr eines Blitzeinschlags. Sie mussten möglichst schnell zu einem Geländeeinschnitt gelangen oder die Nähe einer überhängenden Felsformation suchen. Aber in welche Richtung sollten sie fliehen? Peter griff zu seinem Rucksack, wuchtete ihn hektisch auf seine Schultern. Blitze und Donnerschläge kamen jetzt gleichzeitig, Hagel setzte ein. Angespannt standen sie da, als ihre Lagerstätte schlagartig in ein gleißend helles Licht getaucht wurde. Es wirkte, als sei ein Blitz für einige Sekunden im Erdreich stecken geblieben. Die Freunde kniffen die Augen zusammen, doch auch durch die winzigen, noch geöffneten Schlitze sahen sie nichts als diesen unnatürlich grellen Schein. Dann folgte ein harter Schlag, ein überdimensionaler Peitschenhieb. Luther schrie auf, Peter wurde zu Boden geschleudert. Der Vorhang war gefallen.

2. EIN MANN ZU VIEL

Die Welt schien aus den Fugen geraten. Furchtsam blickten Menschen, Tiere und Engel zum Firmament, wohl wissend, dass eine gewaltige Kraft sich gegen sie gestellt hatte. Der Zorn der Götter entlud sich schlagartig wie ein Blitz und schleuderte den Helden, der noch eben so stolz den sechsspännigen Streitwagen fuhr, in die Tiefe. Eine Szene voller Entsetzen und gleichsam barocker Üppigkeit, ein Spiel von Licht und Farbe, von Kühnheit und Übermut. Eine dramatische Komposition des Untergangs, eine Dynamik der Apokalypse, in der Anmut und Grazie sowie heiter-festliche Leichtigkeit noch zu erahnen sind, aber bereits von Schwere und Pathos überstrahlt werden. „Der Sturz des Phaeton“, eine Momentaufnahme des Verfalles menschlicher Eitelkeiten, gemalt zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Peter Paul Rubens.

Robert Shane bedeutete dieses Bild sehr viel und er musste es in seiner Nähe haben, auch wenn es lediglich eine Kopie war und sich nicht so recht in die aristokratische Unterkühltheit des übrigen Raumes einfügen mochte. Shane hatte sich längere Zeit um das Original bemüht, aber die National Gallery of Art in Washington DC blieb hart.

Wenn man Robert Shane in seinem Arbeitszimmer besuchte, hätte man meinen können, auf einem englischen Adelssitz zu sein. Doch war dieses Vergnügen nur wenigen vorbehalten, und für diese wenigen wiederum war es dann selten ein Vergnügen. Wer hierher Zugang bekam, der kam entweder mit einem Problem oder er nahm bei seinem Abschied eines mit. Durch die großen Scheiben hinter Mr. Shanes massivem Mahagonischreibtisch sah man auf eine weitläufige Parklandschaft mit altem Baumbestand. Die großen Flügeltüren führten auf eine breite Terrasse hinaus, die stufenlos in einen englischen Rasen überging. Nach exakt 50 Metern wurde dieser durch Büsche und einzelne Baumgruppen aufgelockert, wobei nach Shanes Vorgaben in der Mitte ein 30 Meter breiter Streifen unbewachsen blieb. Er ermöglichte einen weiten Blick über die angrenzenden, bewaldeten Hügel. Robert Shane war ein Mann, der es bevorzugte, den direkten Weg zu nehmen, und sei es, wie in diesem Fall, auch nur mit den Augen.

Von diesem Blickwinkel aus deutete rein gar nichts darauf hin, dass man sich am Rand eines nicht weniger als sechs Quadratkilometer umfassenden Gebiets befand, das höchsten Sicherheitsansprüchen genügte und von einer breiten Sperrzone umgeben war. In diesem Sicherheitsgürtel, den ein fünf Meter hoher, doppelter Elektrozaun umfasste, patrouillierten paramilitärische Spezialeinheiten in Kompaniestärke. Sie schützten eine der modernsten Forschungseinrichtungen weltweit. Das Areal vor Robert Shanes Arbeitszimmer durften sie allerdings nicht betreten, um den Eindruck der vollkommenen Idylle nicht zu stören, die Mr. Shane für seine innere Ausgeglichenheit so sehr benötigte wie ein Polarbär die Weiten der Arktis. Der schlossartige Anbau mit seinem vorgelagerten Park war der einzige Ort, der Robert Shane nicht das Gefühl gab, eingesperrt zu sein. Während der Gärtner für diesen Bereich über eine eingeschränkte Zugangsberechtigung verfügte, genoss Bruce als Einziger eine uneingeschränkte. Der zweieinhalbjährige Schäferhundmischling war von ängstlicher Natur und verließ die sichere Umgebung, die aus Mr. Shanes Arbeitszimmer und dem Garten bestand, nur äußerst ungern. Shane erfüllte sich einen Jugendtraum, als er das Tier zu sich nahm, das eigentlich zu einem Wachhund für das Sicherheitspersonal ausgebildet werden sollte. Bruce erwies sich jedoch für diese Aufgabe in jeder Hinsicht als untauglich. Neben seiner Furchtsamkeit wurde ihm dabei seine uneingeschränkte Menschenfreundlichkeit zum Verhängnis. Egal wer sich ihm näherte, immer schaute er denjenigen mit treuen braunen Augen an und wedelte. Die etwas zu weich geratenen Ohren taten ihr Übriges.

Mr. Shanes Ohren waren unbeugsam, sie standen im krassen Gegensatz zu seinen wirren, flusigen, weißen Haaren. Er war schon mit Mitte 30 vollständig ergraut. Nun war er 73 und seit fast 24 Jahren an den Rollstuhl gefesselt. Er hasste es daher, auch nur kurze Strecken außerhalb des Laboratory zurückzulegen. Das war der eigentliche Grund für seine Entscheidung, sich an seinem Arbeitsort häuslich einzurichten, wenn man es bescheiden ausdrücken wollte. Immerhin hatte der Anbau des Herrenhauses, der die Errichtung einer Kläranlage und der Generatorenhalle erforderlich machte, insgesamt über zehn Millionen US-Dollar gekostet.

Als Raymond Myers eintrat, saß Robert Shane hinter seinem mächtigen Schreibtisch. Obwohl Shane, wenn er noch aufrecht hätte stehen können, die Marke von 1,63 Meter nicht übertroffen hätte, wirkte es, als säße ein viel größerer Mann im Gegenlicht der Fensterfront. Myers wusste, dass das an dem Rollstuhl lag. Shane hat sich extragroße Räder montieren lassen, weil er es nicht verkraftete, für den jeweils kleinsten Teilnehmer einer Gesprächsrunde gehalten zu werden, egal ob sitzend oder stehend und egal ob zu Recht oder zu Unrecht.

Dr. Raymond Myers war in vielerlei Hinsicht das absolute Gegenteil von Robert Shane. Während Shane alt, steif und unnahbar wirkte, bestach Myers durch jugendliche Frische, Dynamik und Offenheit. Er war fast 1,90 Meter groß und mit seinen 48 Jahren überaus sportlich. Dass Shane offiziell Myers Vorgesetzter war, störte ihn nicht. Niemals hätte er mit dem Alten tauschen wollen. Er hätte es keine zwei Tage in der Einsamkeit des Refugiums ausgehalten. Myers stand mitten im Leben, brauchte Menschen um sich herum, seine Mitarbeiter, die Ministerien, die Presse und seine Familie. Er lebte auf einer kleinen Farm, die circa 20 Kilometer vom Laboratory entfernt lag. Für die Distanz nahm er den Hubschrauber, den er selbst flog. Shane, der selbst nie einen akademischen Abschluss erlangt hatte, hatte ihn vor acht Jahren mit einem hoch dotierten Angebot aus Harvard loseisen können, wo Myers als Professor für Physik arbeitete. Er erhoffte sich davon die entscheidenden Impulse für seine Forschung und lag damit richtig. Das Projekt hatte große Fortschritte erzielt und man wähnte sich dicht vor dem folgenschweren Durchbruch. In ihrer Arbeit ergänzten sich Shane und Myers optimal, während Shane den administrativen Teil der Institutsleitung übernahm, sorgte Myers für den operativen Ablauf. Die beiden Männer waren darüber hinaus die Hauptverantwortlichen für die Versuchsreihe C26.

Diese Testreihe lief nun seit fast 30 Jahren, auch wenn sich Programm und Name mit der Zeit mehrfach änderten. Sie war topsecret, und es war den Leitern tatsächlich gelungen, sie über einen so langen Zeitraum vor der Öffentlichkeit geheim zu halten. Robert Shane war von Anfang an mit von der Partie, zunächst als Projektassistent, dann als Techniker und schließlich als Chefingenieur, bevor er Ende der 1980er-Jahre die Institutsleitung übernahm. Auf dem zeitweiligen Höhepunkt geschah schließlich der Unfall, von dem er sich nur langsam erholte und dessen Folgen ihn zeitlebens in den Rollstuhl verbannten. An jenem Abend glaubten sie am Ziel zu sein, und Shane bestieg zusammen mit seinem Freund und Kollegen Forma Townsend die Kapsel. Doch statt des erwarteten Ablaufs kam es zu dieser Explosion. Während Shane schwere Verbrennungen an den Beinen erlitt, blieb von Townsend nur ein Häufchen Asche übrig. Und gestern Abend kam es zu einem ähnlichen Ereignis, bei dem zwei Männer ihr Leben verloren.

- „Robert, ich komme gerade aus dem Labor. Der eigentliche Brand war lokal begrenzt, im Bereich des Zentrifugalfilters. Was mich überrascht, ist aber die Hitzeentwicklung im gesamten Zylinder.“

Robert Shane blickte auf, seine Gedanken wurden schlagartig um ein Vierteljahrhundert in die Gegenwart katapultiert. Sah er eben noch sich selbst auf dieser harten Pritsche im längst nicht mehr existierenden alten Sanitätsraum liegen, war es jetzt Alan Mason, der sein inneres Bild beherrschte, Mason und die beiden Toten Perkins und Tomczak, die, von Tüchern verhüllt, neben den großen Schaltpulten aufgebahrt waren. Shane wirkte angegriffen, doch sein Verstand war klar und wach.

- „Wie geht es Alan?“

- „Immer noch im Koma. Er wird aber durchkommen“, beruhigte Myers.

- „Ich verstehe das nicht, wir hatten doch alles durchgerechnet. Auch die Vortests verliefen absolut störungsfrei. Und jetzt so eine Katastrophe. Glaubst du, es lag an einer Überspannung?“

Robert Shane sah an Myers Mimik, dass seine Gedanken sich in einer ganz anderen Richtung bewegten.

- „Es gibt noch eine andere Möglichkeit. Im hinteren Bereich des Tunnels wurde ein Mann gefunden. Wir wissen nicht, wer er ist, und vor allem nicht, wie er da hingekommen ist. Er ist wie Alan ins Koma gefallen. Seine feste Kleidung hat ihm vermutlich das Leben gerettet, sie ist völlig verkohlt, aber er selbst hat nur leichte Verbrennungen. Sieht eher nach einem starken Sonnenbrand aus. Na ja, und er hatte einen Rucksack dabei. Seine Ausrüstung deutet auf …“

- „Ein Umweltschützer?“, Shane war ungehalten.

- „Oder ein Terrorist.“

- „Du meinst, es war ein Anschlag?“

- „Ich weiß es nicht. Ein Umweltaktivist ist noch nie bis in den inneren Kreis vorgedrungen. Aber seit sie sich Green Force nennen, wer weiß?“

Beide brachten ein gequältes Lachen hervor, das schnell verebbte.

- „Wo ist er jetzt?“, fragte Shane ernst.

- „Jenkins kümmert sich um ihn. Ich bin gespannt, was er uns zu sagen hat.“

Dass die Fakten intern zu behandeln waren, musste nicht explizit betont werden. Man würde die Sache in der Kategorie eines technischen Zwischenfalls abhandeln. Unfälle in Forschungsanlagen gab es allerorten, und allerorten bekamen die Witwen Blumen und eine entsprechende Abfindung. Myers und Shane würden sich an die Analyse der Ursache machen und zusammen mit der Securityabteilung nach dem Sicherheitsleck suchen, durch das der Fremde in die Anlage gelangt war.

3. PETER ERWACHT

Als Erstes sah er ihre Beine. Sie waren schön, gebräunt und schlank. An den Waden konnte man geschmeidige Muskeln erkennen, die im entspannten Zustand sanfte Wogen formten. Sie saß aufreizend lässig auf einem schlichten Stuhl aus poliertem Buchenholz. Das linke Bein wippte, durch das rechte Knie gestützt, sachte in der Luft, wodurch sich die Sandale von der Fußsohle gelockert hatte und nur von den schmalen Riemchen über Zehen und Spann gehalten wurde. Ihr weißes, offenbar leicht geschlitztes Kleid hatte sich durch diese Sitzhaltung geteilt, wodurch auch Teile ihres Oberschenkels sichtbar wurden. Der Oberkörper war durch eine Zeitschrift verdeckt, aber wenn Peter seine Augen drehte, konnte er, ohne sich sonst zu bewegen, ihren Kopf sehen. Sie hatte schulterlanges braunes Haar, große, blassblaue Augen und eine entzückende Stupsnase. Ein hübsches Gesicht, wenngleich ihr Kinn für seinen Geschmack eine Nuance zu spitz war.

Peter versuchte sich an sie zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. In seinem Kopf war ein Blitz. Die Situation war pikant. Er war verheiratet und er liebte seine Frau und nun lag er auf dem Bett dieser schönen Fremden, die offenbar darauf wartete, dass er erwachte. Peter Saunders bewegte sich nicht, wollte Zeit gewinnen und ließ seinen Blick langsam durch den Abschnitt des Raumes wandern, der ihm in dieser Lage visuell zugänglich war. Das Zimmer war spärlich möbliert, ein schmaler Wandschrank, eine Kommode, ein Waschbecken, darüber eine Ablage und ein Spiegel. Durch das Fenster an der gegenüberliegenden Seite fiel helles Licht ein. Er sah einzelne Strahlen, woraus er schloss, dass der Tag noch nicht weit fortgeschritten war. Wo war er bloß und wer war diese Frau? Sie blätterte in der Zeitschrift ohne zu ihm herüberzusehen. Wie lang mochte sie da schon sitzen? Der Gedanke, Ellen betrogen zu haben, war ihm unerträglich. Seitdem sie zusammen waren, war Peter ihr treu, er war glücklich mit ihr, er liebte sie. Auf der anderen Seite wäre es ihm aber auch gegenüber dieser Frau unangenehm, sich nicht an ihr Liebessabenteuer zu erinnern. Er versuchte, sich den gestrigen Tag ins Gedächtnis zu rufen, aber es war als stünde er auf einem Schnee bedeckten, nebligen Feld. Keinerlei Konturen waren auszumachen, nichts als eine grenzenlose Leere umgab ihn auf der Reise in diese doch so nahe Vergangenheit. Alles, an das er sich erinnern konnte, waren die gewohnten Lebensumstände, seine Frau, seine Tochter Irene, die Wohnung in Annapolis, das Büro. Aber irgendetwas stimmte nicht. Diesem Rahmen fehlte jeglicher Bezug, konkrete Erlebnisse, die der Vorstellung eine individuelle Note verliehen, sie abhoben von den spärlichen biographischen Daten flüchtiger Bekannter. Seinen Erinnerungen fehlte das Persönliche, vor allem deshalb, weil er selbst darin fehlte.

Von irgendwoher klopfte es. Die junge Frau sah auf, über ihn hinweg zu der Wand in seinem Rücken. Ein Klacken war zu hören, dann eine Stimme.

- „Ann, könnten sie mir kurz helfen.“

Die Frau erhob sich und ging um das Bett herum. Eine Tür wurde geschlossen. Er war allein. Ein schwaches Signal durchquerte seinen Kopf, mehr ein Anflug. Es war das unbestimmte Gefühl, von der Welt vernachlässigt zu werden. Die Schöne hatte ihn keines Blickes gewürdigt, als sie das Zimmer verließ, und wo immer er auch war, mit ihr allein war er jedenfalls nicht. Sie beide, sie und er, waren Bestandteile eines größeren Systems, das offenbar weitere Personen umfasste, eine reglementierte Ordnung hatte und funktionale Abläufe aufwies. Sicher bildeten auch kurze und längere Liebesbeziehungen gewisse Regeln aus, aber das hier war etwas anderes.

Es war nicht leicht sich aufzurichten. Er fühlte sich steif. Außerdem bemerkte er jetzt, dass er an einige Schläuche angeschlossen war. Er war zweifellos in einem Krankenhaus. Aber warum? Die flüchtige Inspektion seines Körpers ergab keine unangenehmen Überraschungen: Arme, Beine, Finger und Zehen waren vollständig und schmerzten nicht, Narben waren – zumindest an der Vorderseite – nicht auszumachen. Rechts neben dem Bett stand ein fahrbarer Nachttisch, auf dem hinter einem Fläschchen mit einer undefinierbaren Flüssigkeit und einer Puderdose ein Handspiegel lag. Peter griff danach. Als Erstes sieht man sich immer in die Augen, dachte er. Sie waren groß und dunkel, melancholisch, umrandet von dichten schwarzen Wimpern. Das Gesicht hob sich vom Weiß des Kopfkissens ab, war sonnengebräunt, vielleicht ein bisschen gerötet. Hatte er einen Sonnenbrand? Dann sah er etwas Seltenes. Er trug einen Dreitagebart. Dennoch, der erste Eindruck war zufriedenstellend, er sah besser aus als befürchtet, jedenfalls nicht ernsthaft krank. Dann folgte ein anderer Gedanke, eine Ebene darunter angesiedelt, tiefgründiger, besorgniserregend. Hoffentlich hatte er keine schlimme Krankheit, die den Körper von innen heraus aufzehrte. Wieso konnte er sich an rein gar nichts erinnern?

Die Tür öffnete sich. Über Anns Gesicht fuhr ein kurzer Schreck, dann ein Lächeln. Es war ein mütterliches Lächeln, was Peter enttäuschte. Diese Frau war einfach zu schön, um in einem Mann nicht den Wunsch aufsteigen zu lassen, auch nur einen Moment lang von ihr so angesehen zu werden, wie eine Geliebte einen ansah. Zumindest gab die erotisch-emotionale Distanz zwischen ihnen Peter die Gewissheit, Ellen nicht betrogen zu haben.

Nur wenig später standen schätzungsweise ein Dutzend Ärzte an seinem Bett, wovon nur zwei Frauen waren. Es fiel Peter in diesem Moment nicht weiter auf, aber wenn in so kurzer Zeit das komplette Ärzteteam zusammengetrommelt wird, kann es sich kaum um einen harmlosen Routinefall handeln. Ein grau melierter, groß gewachsener, schätzungsweise 55-jähriger Mann mit gepflegtem Gesicht und stark ausgeprägten schwarzen Brauen stand genau in der Mitte. Er stellte sich als Dr. Jenkins vor, während die anderen namenlos blieben. Deren Blicke wechselten in schnellem Rhythmus zwischen ihm und dem im Bett liegenden Patienten. Die Rollen waren verteilt.

- „Wie geht es Ihnen?“

Der Chefarzt lächelte eine Spur zu sanftmütig.

- „Sagen Sie es mir“, forderte ihn Peter auf.

Das Alphatier zögerte kurz, nachdem sein Gegenüber den Ball ansatzlos zurückgespielt hatte.

- „Nun, Sie haben drei Tage im Koma verbracht. Dafür geht es Ihnen erstaunlich gut. Ihre Werte sind stabil und Ihre Wunden sind gut verheilt.“

- „Meine Wunden?“

- „Ja, Ihre Brandwunden, leichte Verbrennungen …“

Peters Unverständnis spiegelte sich in seiner Mimik.

- „… nach dem Unfall. Sie hatten einen Autounfall. Erinnern Sie sich nicht?“

Jenkins wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte. Er zeigte die Zähne, strahlend weiß, makellos, als habe er niemals harte, scharfkantige oder zuckerhaltige Nahrung zu sich genommen.

- „Nein, Sie haben recht. Ich erinnere mich in der Tat nicht daran. Haben Sie meine Frau informiert? Ist sie hier?“

- „Wir wissen bisher nicht einmal, wie Sie heißen. Ihre Sachen sind verbrannt. Sie hatten einen Wanderrucksack bei sich, erzählte der Mann, der Sie in seinem Auto mitgenommen hat. Sie sind getrampt.“

Der Arzt fragte nicht nach seinem Namen. Offenbar interessierte er sich nicht dafür, sondern reduzierte Peter einzig und allein auf das Krankheitsbild.

- „Und dann hatten wir einen Unfall?“

- „Ja, aber machen Sie sich jetzt keine Sorgen, Sie sind soweit wiederhergestellt.“

- „Könnte ich telefonieren? Ich muss meine Frau anrufen.“

Dr. Jenkins zögerte einen Augenblick.

- „Ich kann Ihnen das auf dieser Station nicht erlauben. Aber Schwester Ann wird gleich ihre Daten aufnehmen und Ihre Frau verständigen. Sie kann dann auch herkommen und in ein paar Tagen können Sie wieder nach Hause.“

Es entstand ein dezentes Gemurmel. Zwischen den Weißkitteln wurden medizinische Details verhandelt. Peter verstand nur, dass die Magensonde entfernt werden sollte.

- „Wo bin ich hier überhaupt?“

Eine einfache Frage, auf die es eine eindeutige Antwort gab. Das Lächeln des Graumelierten kehrte zurück und blieb standhaft.

- „St. George Hospital, Cincinnati, eine der besten Privatkliniken des Landes“, sagte einer der Ärzte, die das Bett auf der rechten Seite flankierten, nicht ohne Stolz. Während Peter noch verwundert darüber nachdachte, wie eine Privatklinik einen Tramper aufzunehmen bereit war, von dem man nicht einmal wissen konnte, ob er überhaupt krankenversichert war, wandte sich die Gruppe ballettartig zum Gehen. Sollte das wirklich schon alles gewesen sein? Peter hatte noch jede Menge Fragen.

- „Ach Doc, wie geht es dem Mann?“

- „Welchem Mann?“

Wieder so ein Fauxpas. Wurde er alt? Noch konnte er derartige Fehlleistungen durch Amt, Würden und eine gehörige Portion Jovialität überspielen, aber irgendwann würde es sich rächen. Noch bevor er die Sache gerade rücken konnte, formulierte Peter die Nachfrage.

- „Dem, der mich mitgenommen hat.“

- „Ja, schon klar. Dem geht es gut“, antwortete Jenkins knapp, zögerte kurz und ergänzte: „Er hat Ihnen übrigens das Leben gerettet, Sie aus dem brennenden Wagen gezogen.“ Dann machte er auf dem Absatz kehrt. Offenbar hatte er es eilig.

Nachdem das Ensemble abgezogen war, kam die schöne Ann herein. Sie hatte ihre Zeitschrift gegen eine Kladde eingetauscht und war auf eine fast theatralische Art um Förmlichkeit bemüht, wie eine Schauspielerin, die eine Krankenschwester spielt. Das Ausfüllen des Formulars dauerte kaum zehn Minuten und abschließend unterschrieb Peter den Bogen, auf dem neben der Krankenversicherung und seiner Telefonnummer folgende Ergänzungen eingetragen waren:

Peter Oswald Saunders, geboren am 18. Juni 1969 in Harrisburg, Illinois, wohnhaft: 14 B Mayfield, Annapolis, Maryland, verheirat mit: Ellen Saunders (geb. Hudson), eine Tochter namens Irene, neun Jahre. Arbeitgeber: Manson & Company Verlagsgesellschaft, 39 H Mayfield, Annapolis, Maryland

4. DER VIERTE MANN

Der kleine Konferenzraum, wie man ihn hier nannte, bot Platz für sechs Personen. Er wurde für alle vertraulichen Unterredungen genutzt, an denen neben Robert Shane zwischen zwei und fünf weiteren Personen beteiligt waren. In seinem Arbeitszimmer empfing Mr. Shane jeweils nur eine Person, da dort kein Gespräch abgehalten werden sollte, an dem er nicht direkt als Sprecher oder Angesprochener beteiligt war. Der Raum, in dem sie sich jetzt befanden, lag im oberen Stockwerk von Shanes extravagantem Anbau und war eine originäre Nachbildung einer im Stile der französischen Adelshöfe zu Zeiten Ludwigs XV. Shane war als junger Mann für einige Monate in Frankreich gewesen und als glühender Bewunderer der höfischen Lebensart des Ancien Régime nach Amerika zurückgekehrt. Er hatte sich nie sonderlich kritisch mit den gesellschaftspolitischen Hintergründen dieser Epoche der europäischen Geschichte auseinandergesetzt und so war es ihm leicht gefallen, sich in dieser Hinsicht auf das schmucke Beiwerk zu konzentrieren. Die weiße Stuckdecke, welche über eine große Rosette und reichhaltig dekorierte Zierleisten mit hängendem Kugelfries verfügte, bildete einen abgestimmten Gegenpol zu den lindgrünen Seidentapeten. Das Mobiliar war sorgsam ausgewählt. Es bestand im Wesentlichen aus einem Sekretär mit schräger Schreibklappe, deren Seiten Ornamente aus Obsthölzern schmückten, einem Wandschrank mit bewegter Holzmaserung und grün lackierten Sockeln und einem Konsoltisch mit geschmückter Palmette, über dem ein Wandspiegel mit durchbrochener geschnitzter Bekrönung angebracht war. Bis auf Robert Shane, der an seinen Rollstuhl gebunden war, saßen die drei anderen auf den von Rocaillen und Mäanderbändern verzierten Medaillonstühlen mit Gros-Point-Bezug und kannelierten Rundbeinen. Die Intarsienarbeit in der Mitte des runden Tisches aus Nussbaumholz, um den sie gruppiert waren, zeigte eine Jagdszene mit Hirschen. Hätte Shane sie genötigt, in der passenden Kostümierung zu erscheinen, wäre der Eindruck perfekt gewesen. Doch hätten sie sich damit für einen Außenstehenden ohne Zweifel als heiße Kandidaten für eine längerfristige Sicherheitsverwahrung profiliert. Der Anlass ihrer Zusammenkunft war jedoch ohnehin zu ernst, um sich an der stilsicheren Dekoration zu entzücken.

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