10,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 10,99 €
Auf der idyllischen Nordseeinsel Sylt spielen sich plötzlich schreckliche Dinge ab. Gerade als der Flensburger Hauptkommissar John Benthien den Urlaub in seinem verwitterten Kapitänshaus auf der Insel verbringt, verunglücken ganz in dessen Nähe zwei Jungen tödlich. An einem düsteren Oktobermorgen stürzen sie bei einem Ausflug mit dem Bollerwagen einen Hang hinunter und werden aus dem Wagen geschleudert. War es ein Unfall, oder war es Mord? Eine Augenzeugin glaubt, etwas gesehen zu haben, das nicht auf einen Unfall hindeutet-
Benthien beginnt zu ermitteln. Wie sich herausstellt, waren die Zwillinge Feriengäste in der Pension Astarte. Dort, in dem uralten Friesenhaus, erwartet den Kommissar Schreckliches: Eine Frau wurde brutal erstickt. Noch hat Benthien keine Ahnung, dass dies nicht der letzte Todesfall bleiben wird, der die kleine Pension heimsucht. Ein neuer, spannender Fall für Kommissar John Benthien, der den Inselmorden auf den Grund geht.
Weitere Nordsee-Krimis von Nina Ohlandt: "Küstenmorde", "Ist so kalt der Winter" und "Nebeltod".
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 667
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
I.
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
II.
Kapitel 12
Teil 2
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
III.
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Teil 3
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
IV.
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
V.
Kapitel 30
Teil 4
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Epilog
Anmerkung der Autorin
Nina Ohlandt wurde in Wuppertal geboren, wuchs in Karlsruhe auf und machte in Paris eine Ausbildung zur Sprachlehrerin, daneben schrieb sie ihr erstes Kinderbuch. Später arbeitete sie als Übersetzerin, Sprachlehrerin und Marktforscherin, bis sie zu ihrer wahren Berufung zurückfand: dem Krimischreiben im Land zwischen den Meeren, dem Land ihrer Vorfahren. Derzeit arbeitet sie an ihrem dritten Krimi um den Flensburger Hauptkommissar John Benthien.
Nina Ohlandt
Möwenschrei
Nordsee-Krimi
John Benthiens zweiter Fall
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Originalausgabe
Copyright © 2014 by Bastei Lübbe AG, Köln
Lektorat: Judith Mandt
Textredaktion: Kai Lückemeier
Titelillustration: © shutterstock/Ralf Gosch;
© shutterstock/ Eric Isselee; © shutterstock/xpixel
Umschlaggestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de
E-Book-Produktion: le-tex publishing services GmbH, Leipzig
ISBN 978-3-8387-5934-0
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Trotz aller Vorsicht quietschte das Friedhofstor. Nervös sah sie sich um. Niemand schien in der Nähe zu sein. Auch vorhin, als sie durch die stillen Straßen gelaufen war, hatte sie zum Glück keine Menschenseele gesehen. In den kleinen, ländlichen Orten hier in der Gegend schlief man um diese Zeit. Die roten Backsteinhäuser standen dunkel und schweigend am Weg, schwarze Wolken jagten über die Heide.
Sie betrat mit ihrer Last den Friedhof. An den alten Gräbern ging sie vorbei, in deren sandigem Boden seit Jahrhunderten die Toten ruhten, bewacht von Findlingen und hohen Wacholderbüschen, die im nächtlichen Zwielicht finsteren alten Männern glichen. Schnell lief sie weiter.
Ganz hinten an der Außenmauer, die an die Felder grenzte, dort, wo zwei Hortensienbüsche in voller Blüte standen, dort lag der Platz, den sie sich erwählt hatte. In diesen friedlichen Boden, nicht weit von einer Trauerbirke, in deren Zweigen am Tage wieder Rotkehlchen singen und Eichhörnchen spielen würden, wollte sie zur Ruhe betten, was ihr das Liebste gewesen war.
Als sie vor einigen Wochen erfahren hatte, dass sie umziehen mussten, war sie in Panik geraten. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, Martin alles zu erzählen … hatte es dann aber gelassen, da sie ihn nicht unnötig quälen wollte. Und natürlich, weil sie furchtbare Angst hatte. Was würde passieren, wenn er es wüsste?
In einer Tischlerei weit weg von ihrem Wohnsitz hatte sie sich eine Kiste zimmern lassen, aus schönem, solidem Holz, etwas größer als die alte. Das Problem war lediglich gewesen, die Kiste mitsamt ihrer Last unauffällig unter das Umzugsgut zu schmuggeln. Irgendwie war es ihr gelungen.
Und nun war sie hier, mitten in der Nacht, um ein Unrecht wiedergutzumachen. Zum Glück war die Erde zwischen den beiden Hortensienbüschen leicht und ließ sich gut ausheben. Als das Loch groß genug war, setzte sie feierlich den kleinen Sarg hinein und legte den kleinen Rosenstock, den sie mitgebracht hatte, obenauf.
Lange saß sie neben dem offenen Grab, ließ den Wind ihr Haar zausen, atmete den schweren Duft der Blüten ein, betrachtete die Wolkenberge am hellen Nachthimmel, die Regen bringen würden. Und sie ließ ihre Gedanken wandern. Warum war alles so gekommen? Wie schwer wog die Schuld, die sie auf sich geladen hatte? Wie sollte sie damit weiterleben? Wann würde ihre Trauer ein Ende haben? Fragen, auf die ihr niemand eine Antwort geben konnte. Die Last wurde mit der Zeit immer bedrückender.
Sie schüttete das Grab zu und pflanzte den kleinen Rosenstock, der hinter den Hortensien kaum zu sehen war, in die Erde. Sie streute Laub und Grünzeug wie zufällig auf den Boden, um die Spuren zu verwischen. Und sie weinte bitterlich.
Das Meer ist keine Landschaft,
es ist das Erlebnis der Ewigkeit,
des Nichts und des Todes.
Thomas Mann
Es war unwirklich, mystisch, geheimnisvoll, das Bild, das vor Wiebkes Augen stand. Wie ein bösartiger Scherenschnitt aus dem Biedermeier, der plötzlich in Bewegung geraten war: eine Düne, ein Haus, ein Vorplatz, ein Bollerwagen. Ein Stillleben im Nebel, friedlich und anheimelnd, bis plötzlich der Bollerwagen kopfüber den steilen Hang hinunterstürzte und zwei kleine Körper herauskatapultiert wurden. Für Sekunden sah Wiebke sie durch die Luft wirbeln, als ginge es darum, eine besonders kunstvolle Figur zu üben, vielleicht für einen Wettbewerb. Dann waren die kleinen Körper in Dunst und Heidekraut verschwunden, es herrschte Stille, und alles sah aus wie zuvor. Nur der Bollerwagen mit den Kindern fehlte.
Oben verschwand ein Schatten um die Hausecke.
Wiebke merkte erst jetzt, dass ihr Wagen plötzlich mitten auf der Straße stand und sie den Motor abgewürgt hatte. Ihre Hände zitterten so, dass sie das Lenkrad fest umklammern musste, Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie öffnete das Fenster, um mehr Luft zu bekommen, saubere Nordseeluft, die der beständige Oktoberwind aus Westen heranschaufelte. Es war noch früh am Tag an diesem herbstlichen Sonntagmorgen. Nach einer langen Nacht auf der Intensivstation der Nordseeklinik hatte sie nur noch nach Hause und ins Bett gewollt. Und dann das!
Auf der Straße nach List war kaum Verkehr. Der Tag hatte neblig begonnen; die Dünen auf der Ostseite, gekrönt von Ferienhäusern mit Reetdächern, wirkten fantastisch und unwirklich gegen den düsteren Himmel. Soweit sie wusste, war das Haus, vor dem der Bollerwagen gestanden hatte, eine kleine Familienpension, benannt nach einer altorientalischen Göttin, doch der Name fiel ihr jetzt nicht ein. Nach der überstürzten Talfahrt des Bollerwagens herrschten wieder Stille und Bewegungslosigkeit ringsumher; kein Vogel sang, keine Möwe schrie, kein Mensch ließ sich zu dieser frühen Morgenstunde blicken. Wiebke fragte sich kurz, ob sie das alles eben geträumt hatte. Ihr rasender Herzschlag sprach dagegen.
Was sollte sie tun? Sie tastete nach dem Handy in ihrer Tasche, zog aber die Hand zurück. Sollte sie nicht besser erst einmal nachsehen? Ihr Herz tat einen Satz, als unvermittelt der Linienbus Westerland-List empört hupend an ihr vorbeidonnerte. Sie konnte von Glück sagen, dass er sie nicht über den Haufen gefahren hatte.
Mit bebenden Händen startete Wiebke den Motor, der stotternd ansprang. Langsam rollte sie bis vor die Düne, dicht am Straßenrand. Sie stieg aus, merkte, dass ihre Knie zitterten, und suchte Halt am Wagendach. Nichts rührte sich. Das lang gestreckte Haus oben auf der Düne mit dem tiefgezogenen Reetdach ruhte unbeleuchtet auf dem Dünenrücken wie ein solides, aber verlassenes Kreuzfahrtschiff.
Unsicher blickte Wiebke um sich. Vor ihr lag der steile Hang, bedeckt mit Buschwerk und struppigem braunem Heidekraut. Zwei Trampelpfade führten wie eine Kerbe mitten in die Dünen. Die Nachbarhäuser, bis auf eines, waren ein Stück entfernt; im Osten lag das Wattenmeer, im Westen die Landstraße, und nördlich der Pension, die »Astarte« hieß – inzwischen konnte Wiebke das Namensschild erkennen –, wurde das Land etwas flacher, der Abstand zum nächsten bewohnten Haus war groß. Auf dem Dachfirst saß eine Möwe und beobachtete sie mit wissenden Augen. Was sollte sie tun? Die Düne hinaufklettern und die Bewohner oben fragen, ob ihnen gerade zwei kleine Kinder abhandengekommen waren?
Wiebke entschied sich dafür, die Stelle aufzusuchen, wo der Bollerwagen liegen musste. Sie hastete durch das Heidekraut, das sich anfühlte wie ein alter Reisigbesen. Der Tau durchnässte ihre Schuhe und den Saum der Jeans. Ihr Ziel war ein ausgedehntes Gehölz aus Wacholderbüschen, Stechginster, Schlehen, Gräsern und niedrigen Krüppelkiefern. Als sie sich bis zum ersten zarten Bäumchen vorgearbeitet hatte, einem Windflüchter, bemerkte sie, dass das Gestrüpp weitläufiger war, als sie gedacht hatte. Es bildete eine Art Wäldchen, ein Wäldchen für Zwerge. Wiebke zögerte. Mit einem unguten Gefühl wagte sie sich vorsichtig in das Dickicht und betrachtete die dunklen Pfade, die kreuz und quer durch die kleine Wildnis führten. Sie horchte angestrengt. Kein Ruf war zu hören, kein Wimmern oder Weinen. Sie betrat einen Pfad und versank fast bis zum Knöchel in dem weichen Grund aus Sand, Gras und vermoderten Kiefernnadeln. Vorsichtig arbeitete sie sich durch den Dschungel von Büschen, Gräsern und Unterholz; immer wieder griffen die Dornen der Schlehenbüsche nach ihr und hielten sie fest. Alles wirkte unberührt, keine Spur von Kindern oder einem Bollerwagen. Doch als sie einen mannshohen Brombeerstrauch umrundet hatte, blieb sie wie erstarrt stehen. Vor ihr lag eine kleine Lichtung, auf der sich vor langer Zeit ein Brunnen befunden haben musste; die Speiersäule war umgefallen und halb in der Erde versunken, doch die gemauerte Wandung war noch vorhanden, zum Teil gebröckelt. Die Öffnung hatte man mit einem gusseisernen Deckel abgesichert. Eines der Kinder, ein Junge, war gegen die Wandung geschleudert worden; er lag in einem Bett aus Laub und Sand, den Kopf so verdreht auf den vermoosten Brunnenrand gebettet, dass kein Leben mehr in dem kleinen Körper sein konnte. Den anderen Jungen fand sie nicht weit hinter dem Brunnen im Gras, weiß wie der Dünensand und seltsam verrenkt.
Der Bollerwagen war nicht zu sehen, aber ihn zu suchen wäre Zeitverschwendung. Wiebke musste zwei Anläufe nehmen, ehe ihre bebenden Finger es fertig brachten, den Notruf zu wählen. Dann wandte sie sich den Kindern zu.
Die Möwe auf dem Dach stieg auf und flog schreiend davon.
»Es ist ein sehr gutes Angebot«, betonte Karin, während sie einen alten Kupferkessel nach Kräften wienerte, »und ich dachte, wir sollten es in Erwägung ziehen.«
John Benthien, Erster Hauptkommissar bei der Flensburger Kripo, derzeit bei seiner »Ex« in Jardelund, stand in der Küche auf der Leiter und bohrte Löcher in die Wand. Er bemerkte ein leichtes Warnsignal im Hinterkopf, ähnlich einem Kopfschmerz, der latent schon länger vorhanden war und sich jetzt schüchtern ins Bewusstsein bohrte. Was ihn störte, war das Wörtchen »wir« in Karins Satz. Seit sie sich im Frühjahr nach sechs Jahren Beziehung getrennt hatten, gab es für ihn kein »wir« mehr. Definitiv nicht. Für Karin offenbar schon.
»Sie zahlen sehr gut, und die Umgebung in einem Fünf-Sterne-Hotel auf Sylt ist natürlich was anderes als eine kleine Privatpraxis in Niebüll. Vielleicht«, sie drückte erneut Scheuercreme aus der Tube auf ein weiches Tuch, »könnte ich ja bei dir als Untermieterin einziehen … nur so lange, bis ich was anderes gefunden habe. Dein Haus steht ja doch die meiste Zeit leer, wenn du in Flensburg bist!«
Benthien ließ die Bohrmaschine sinken und stieg von der Leiter. Sein Kopfschmerz hatte jäh zugenommen und tobte jetzt hinter der Stirn und in den Schläfen. Perfektes Alarmsystem, nur hätte es verdammt noch mal schon vor vierundzwanzig Stunden anschlagen sollen, bevor er sich auf den Weg zu Karin gemacht hatte. Wie hatte er nur auf die blöde Idee kommen können, dass sie aufgeben würde! Das Problem mit Karin war, und darum hatte er sich letztendlich von ihr getrennt, dass sie die Welt einzig und allein aus ihrer Perspektive wahrnahm und schlechterdings ignorierte, dass es auch andere Sichtweisen gab. Argumente zählten für sie nicht. Wer es wagte, ihr zu widersprechen, war ein Feind und musste bekehrt werden, wenn nötig unter Einsatz maximaler Druckmittel. Benthien konnte sich noch gut an den Tag erinnern, als sie sich wegen des Sommerurlaubs gestritten hatten. Karin war begeistert mit Prospekten von einem Vier-Sterne-Hotel in Tunesien angekommen und hatte erwartet, ihn genauso begeistert zu sehen. Dabei wusste sie genau, dass Benthien eine Tour mit dem Wohnmobil durch Skandinavien, Kanada oder Nordamerika geplant hatte.
»Kultur!«, hatte Karin argumentiert. »Denk doch mal an die Sehenswürdigkeiten: Moscheen, Märkte, Museen, Zitadellen, römische Ruinen, Theater, byzantinische Kunst …«
»Du glaubst, das werden wir alles zu sehen bekommen? Das ist doch ein Witz! In Wirklichkeit wird es so aussehen, dass wir am Pool liegen, Small Talk mit den Nachbarn halten und versuchen, uns vor den Animateuren zu verstecken. Und wenn wir tatsächlich per Bus in eine Medina gekarrt werden, dann nur, um die örtliche Wirtschaft anzukurbeln. Es wird zumindest erwartet, dass wir einen Teppich kaufen. Wo ist da der Unterschied zu einer Kaffeefahrt?«
»Herr im Himmel, du willst mich einfach nicht verstehen!«
Benthien seufzte. »Ich bin durchaus bereit, nach Tunesien zu fahren, aber nicht als Pauschalreise. Und nicht jetzt. Vielleicht im Frühjahr. Wir könnten ein Auto mieten und zwei Wochen lang durch die Gegend strolchen. Aber im Sommer, zur Hauptreisezeit, will ich da noch nicht mal tot überm Zaun hängen. Ich meine: Kanada, Nordamerika, Schweden, Finnland, Norwegen, meinetwegen auch England oder Irland, ist das nicht genug Auswahl für dich?«
Natürlich waren sie nach Tunesien gefahren. So war Karin eben: egomanisch, narzisstisch, besitzergreifend, die Welt gehörte ihr, und wer nicht ihr Lakai war, der war ihr Widersacher. Im besten Fall, wie bei Benthien, ein verirrter Widersacher, den es zu bekehren galt: jeden Tag, jede Stunde, mit aller Kraft und Überzeugung.
Nach sechs Jahren hatte Benthien es nicht mehr ausgehalten und sich von ihr getrennt.
Und jetzt sah es so aus, als wollte sich Karin klammheimlich wieder in sein Leben schleichen, über einen neuen Arbeitsplatz, der praktisch vor seiner Haustür lag. Er fing an zu schwitzen.
Karin stellte den Topf ab und drehte sich zu ihm um. »Warum hast du aufgehört zu bohren? Wäre schön, wenn wir die Schränke heute Vormittag noch aufhängen könnten!«
Sie kommandiert schon wieder, dachte Benthien missmutig. Durch das Fenster beobachtete er, wie Tommy Fitzen im Garten hingebungsvoll einen Regenbogen über das Einflugloch des Vogelhäuschens malte. Vor einigen Wochen hatte sich Karin dieses kleine, idyllische Häuschen in Jardelund gekauft. Von hier aus hatte sie es nicht weit bis zu ihrer Praxis in Niebüll, die sie seit einigen Jahren zusammen mit einer Geschäftspartnerin erfolgreich betrieb. Physiotherapeuten wurden offenbar immer gebraucht. Bei dem Gedanken daran, dass sie, nur um in seiner Nähe zu sein, das alles aufgeben und wieder als Angestellte arbeiten wollte, überkam Benthien ein ungutes Gefühl. Warum konnte Karin nicht begreifen, dass es aus war zwischen ihnen? Sie schätzte seine Hilfsbereitschaft völlig falsch ein. Er konnte ihr schlecht sagen, dass sie ihm leidtat und dass er immer noch so etwas wie Verantwortungsgefühl für sie empfand, ungefähr wie Eltern für ein Kind, das ein Außenseiter war und immer bleiben würde.
Er stieg wieder auf die Leiter, die Wasserwaage in der Hand. Nur schnell fertig werden hier, schnell weg, ehe es wieder zu Auseinandersetzungen kommen würde, in denen es nur Verlierer gab. »Weißt du denn schon, ob sie dich nehmen?« Er bemühte sich, die Frage ganz beiläufig klingen zu lassen.
Karin, die eben den zweiten Topf in Angriff genommen hatte, lächelte. »Ich habe ein gutes Gefühl. Sie haben mich herumgeführt, mir den gesamten Wellnessbereich gezeigt. Da wird Thalasso-Therapie angeboten, Yoga, Ayurveda, eben mal was anderes als das, was ich täglich mache. Aber«, fuhr sie fort und hielt den Topf unter den Wasserhahn, »mir geht es ja vor allem darum, mehr in deiner Nähe zu sein, ohne dass wir uns jeden Tag sehen müssen. Vielleicht läuft’s dann auch wieder besser mit uns.«
Benthiens Kopfschmerzen verstärkten sich, aber er hielt den Mund. Verbissen bohrte er zwei weitere Löcher an den markierten Stellen. Doch dann besann er sich. Wenn er erst reagierte, wenn sie den Job schon fest in der Tasche hatte, würde es zu spät sein. Außerdem wäre es unfair, Karin in dem Glauben zu lassen, sie hätte noch eine Chance. Soweit es Benthien betraf, hatte sie die nicht und würde sie auch niemals mehr haben. Nur um Karins Tochter Celina tat es ihm leid. Sie war fünfzehn, ein zerbrechliches Kind in einem Internat in Husum. Er wusste, dass sie sehr darauf hoffte, er würde wieder zu ihnen zurückkehren.
Benthien versuchte, Karin so zartfühlend wie möglich zu erklären, dass es keine Chance mehr für sie beide gab. Doch wie so oft, hörte sie nur das heraus, was zu ihrer rosaroten Sicht der Dinge passte.
»Mach dir keine Gedanken«, hörte er sie tröstend sagen, »wir werden uns schon wieder aneinander gewöhnen, wir müssen ja nichts überstürzen. Ich muss auch nicht bei dir wohnen, wenn dir das zu viel wird. Ab und zu essen gehen, Strandwanderungen, Segeln, Kino; wir sind doch Freunde, John, oder nicht? Wir haben so viele Gemeinsamkeiten. Ich bin sicher, wir werden uns früher oder später wieder zusammenraufen, und mit ein bisschen Geduld …«
»Du verstehst gar nichts«, platzte Benthien heraus und spürte, wie das Adrenalin sein Blut in Wallung brachte. »Du und ich … Himmel noch mal, wir … wir sind keine Freunde, jedenfalls nicht so …« Er spürte gleich, er hatte die falschen Worte gewählt. Er, der doch sonst immer so eloquent war, oder, wie sein Vater es ausdrückte, eine große Klappe hatte! Aber es schien unmöglich, Karin die Situation zu erklären. Sie hätte Einsichten haben müssen, zu denen sie nicht fähig war … Und sie konnte noch nicht einmal etwas dafür.
Benthien fand sich immer noch sprachlos, nach Worten ringend, als Karin hervorstieß: »Ich verstehe! Du hast eine neue Beziehung. Das war ja zu erwarten bei dir! Ist es diese Lilly?« Ihre braunen Augen schleuderten Blitze, ihre Sommersprossen auf der Nase – vor uralten Zeiten hatte er sie einmal liebevoll gezählt – hatten sich verdunkelt, das bronzefarbene Haar stand nach allen Seiten und schien Funken zu versprühen.
Benthien wurde ungehalten. »Du verstehst absolut gar nichts! Ich muss mich zuerst von dir erholen, ehe ich eine neue Beziehung eingehen kann! Ich will meine Ruhe, begreifst du das nicht? Ich habe …«
»Ich, ich, ich«, sagte Karin eisig. »Kapierst du eigentlich, dass du immer nur von dir sprichst? Zählen andere Menschen eigentlich für dich? Du hast doch nur …«
Sie brach ab, weil Benthien in höhnisches Lachen ausbrach, während Fitzen gleichzeitig den Kopf zur Tür reinstreckte.
»Ich unterbreche euch ja nur ungern, ihr Turteltäubchen«, begann er und ließ seinen Blick von einem zum anderen schweifen, »aber unser Typ wird verlangt, Sonnyboy. Auf Sylt. Soweit ich weiß, sind da zwei kleine Kids verunglückt, unter ungeklärten Umständen. Wir müssen los.«
»Dann nichts wie hin«, sagte Benthien, und die Erleichterung überkam ihn wie ein warmer, sommerlicher Regenschauer. Er legte die Bohrmaschine rasch zur Seite und ging ins Wohnzimmer, in dem er mit Fitzen übernachtet hatte, um die Schlafsäcke einzusammeln.
In der Tür stand Karin. Eigentlich nicht unattraktiv, mit den wilden Locken und dem roten Farbfleck auf der Nase. Aber Benthien war inzwischen vollständig immun gegen ihre Reize und beachtete sie nicht weiter, als sie hinter ihm herlief und leise jammernd rief: »Kannst du nicht eben noch die Hängeschränke fertigmachen? Das geht doch ganz schnell, bitte, John!«
»Du hast es gehört, zwei Kinder sind verunglückt«, sagte Benthien frostig, ohne sie anzusehen, und stieg zu Fitzen in den Wagen.
»Und wann kann ich wieder mit dir rechnen?«
»Gib Gas!«, sagte Benthien zu Fitzen, schloss die Augen und ließ sich im Sitz zurückfallen. Langsam fiel die Anspannung von ihm ab.
»Junge, Junge, Junge«, brummte Oberkommissar Tommy Fitzen.
Sie waren auf dem Weg nach Niebüll, in der Hoffnung, dort noch den nächsten Zug nach Westerland zu erreichen. An diesem kühlen Oktobertag hingen die Wolken tief über dem Marschland, aber noch regnete es nicht. Die zahlreichen Schafe auf den Wiesen und Deichen ruhten im nassen Gras oder glotzten Fitzens Jeep hinterher. Andere Autos waren nicht unterwegs. Ab und zu erschien am Horizont ein Hof, eingekuschelt in ein Nest von hohen, windschiefen Bäumen. Sie schienen in der Luft zu schweben wie Trugbilder, verwurzelt in geheimnisvoll waberndem Bodennebel. Eine graue Katze lief eilig über die Straße. Fitzen bremste und fluchte.
»Worum geht es eigentlich bei unserem Einsatz?«, erkundigte sich Benthien und kratzte sich am Kopf, so dass seine Haare hochstanden wie das glänzende Fell eines Irish Setters, den man gegen den Strich gekämmt hatte. »Was ist mit den Kindern passiert?«
»Gödecke war’s«, knurrte Fitzen. »Er hat mich angerufen und sich darüber beklagt, dass dein Handy ausgeschaltet war.«
»Ich habe keine Bereitschaft«, murrte Benthien. »Und du auch nicht!«
»Du kennst doch Kriminalrat Gödecke. Er spielt sich gern auf. Und wahrscheinlich hat er gedacht, weil es auf Sylt passiert ist …«
»Und was ist nun eigentlich passiert?«, unterbrach ihn Benthien.
»Ein Bollerwagen, in dem zwei kleine Jungen saßen, beide fünf Jahre alt, ist eine steile Düne hinuntergerast. Die Zwillinge wurden rausgeschleudert. Irgendjemand hat die Polizei benachrichtigt. Aber beobachtet hat es wohl keiner.«
»Was ist mit den beiden Jungs?«, fragte Benthien angespannt.
»Der eine hat sich das Genick gebrochen, tot. Der andere kam mit dem Rettungshubschrauber in die Kieler Uniklinik.«
Sie schwiegen. Benthien beobachtete einen Hasen, der im wilden Galopp über die Wiesen lief und alle Gräben geschickt übersprang.
»›Pension Astarte‹«, nahm Fitzen den Gesprächsfaden wieder auf. »Sagt dir das was? Müsste doch ganz in deiner Nähe sein?«
»Frauke und Gret Brodersen«, sagte Benthien. »Nichte und Tante, sie führen die Pension seit Jahren. Vorher waren es Fraukes Eltern, aber die leben jetzt irgendwo im Süden, sind im Ruhestand. Habe gehört, dass sie sich finanziell übernommen haben; nicht die alten Herrschaften, sondern Nichte und Tante.«
»Kennst du sie?«
»Klar, vom Sehen kennt man sich, aber ich weiß nicht viel über sie. Frauke Brodersen hat vor ein paar Jahren geheiratet, einen Musiker. Den sieht man allerdings selten. Und von der ›stillen Gret‹ weiß ich nur, was man sich eben so erzählt.«
»Der ›stillen Gret‹?«, wunderte sich Fitzen und steckte sich mit der rechten Hand eine Zigarette an. Benthien riss sie ihm aus dem Mund. Eigentlich hatte Fitzen längst aufgehört mit dem Rauchen.
»Pass gefälligst auf die Straße auf! Außerdem wird im Auto nicht geraucht.«
Fitzen warf seinem alten Schulfreund einen Blick zu. »He, schon vergessen? Das ist mein Auto!«
»Aber ich sitze drin!«
»Ich weiß gar nicht, warum Karin dich wiederhaben will«, murrte Fitzen. »Ich an ihrer Stelle wäre froh, dich los zu sein.«
»Dann verklickere ihr das mal! Meine ewige Dankbarkeit wäre dir sicher.«
Fitzen grinste. »Das ist ein Wort. Ich werde ihr erzählen, was für einen miesen Charakter du hast – als wenn sie das nicht schon wüsste! –, und du bist auf ewig mein Sklave.«
»Abgemacht!«
Fitzen schielte zu Benthien hinüber. »Das glaube ich erst, wenn’s von unten nach oben regnet! Aber sag mal, warum nennst du sie die ›stille Gret‹?«
Benthien erzählte, dass Gret Brodersen, als sie ungefähr acht Jahre alt war, von ihrem Großvater zum Krabbenfang mitgenommen wurde und bei kabbeliger See über Bord ging. Sie wurde gerettet, doch der Großvater, der hinterhergesprungen war, konnte nur noch tot geborgen werden. »Das war natürlich Inselgespräch, denn Brodersen war ein Original gewesen, überall auf der Insel bekannt.«
»Ich glaube, ich erinnere mich schwach«, sagte Fitzen, der wie Benthien auf Sylt aufgewachsen und dort mit dem Freund zur Schule gegangen war; anfangs zwei Klassen unter ihm. Doch nachdem Benthien zweimal sitzengeblieben war, hatten sie das Abi schließlich gemeinsam gemacht.
»Gret war so traumatisiert, dass sie auf Jahre verstummte. Mein Vater hat erzählt, dass sie während ihrer gesamten Schulzeit kein einziges Wort gesprochen hat. Trotzdem war sie eine gute Schülerin und hat den Abschluss spielend geschafft.«
»Spricht sie immer noch nicht?«
»Ich glaube, das hat sich mit der Zeit gegeben. Ist ja auch schon vierzig oder fünfzig Jahre her. Sie müsste jetzt so Mitte, Ende fünfzig sein. Mein Vater war damals Referendar an der Schule. Aber ich kenne sie nicht wirklich, nur vom Sehen. Ich bin ja meist nur am Wochenende auf Sylt.«
Benthien lebte unter der Woche hauptsächlich in Flensburg, in einer großen Wohnung in einem alten Jugendstilhaus in Jürgensby. Im Grunde war es die Wohnung seines Vaters, aber aus praktischen Gründen benutzte Benthien sie mit. Am Wochenende, manchmal auch unter der Woche, wenn es wenig zu tun gab, fuhr er abends zurück in das alte Familienhaus nach List, das einsam auf einer Düne thronte. Sein Urgroßvater, Kapitän zur See, hatte es einst erbaut. Er segelte, liebte lange Strandspaziergänge, las eins seiner 3299 Bücher – sein Vater hatte sich einmal den Spaß gemacht, sie zu zählen, aber inzwischen waren wieder etliche hinzugekommen – oder träumte von der Herstellung von Steinskulpturen, seinem neuesten Hobby. Er brauchte die weite Landschaft, den Wind in den Haaren und den Geruch der See, um sich zu regenerieren. Doch jetzt bestand die deprimierende Aussicht, dass Karin in Kürze mächtige Störfeuer in seinem Paradies entzünden würde …
Benthien schüttelte den Gedanken ab. Vorerst hatte er keine Zeit, sich mit diesem neuen Problem in seinem Leben zu befassen. »Ist der Erkennungsdienst schon da?«, fragte er Fitzen, der mit quietschenden Reifen in die Deezbüller Landstraße einbog, wobei er zwei von rechts kommenden Fahrzeugen die Vorfahrt nahm. Benthien klammerte sich am Dachgriff fest und versuchte, das wütende Hupkonzert hinter ihnen zu ignorieren.
»Wurden mit dem Heli eingeflogen«, sagte Fitzen, »und Lilly auch.« Er hielt Benthien eine Tüte hin. »Bisschen Polarbröd Rågkaka gefällig?«
Benthien und Fitzen hatten die Nord-Ostsee-Bahn nach Sylt gerade noch im Sprint erreicht und waren gegen Mittag in Westerland von Hinnerk Petering, einem der ortsansässigen Polizisten, den Benthien kannte, abgeholt worden. Gemeinsam waren sie anschließend zum Schauplatz des Unfalls – oder des Verbrechens? – nach Mellhörn gefahren, einem Ortsteil von List ganz im Norden von Sylt.
»Wir haben alles abgesperrt und die Leute wieder in ihre Häuser gescheucht«, erklärte Hinnerk, nachdem sie vor der Pension »Astarte« ausgestiegen waren. »Die beiden kleinen Jungen sind mit dem Hubschrauber aufs Festland gebracht worden. Nur einer hat den Sturz überlebt, aber es sieht nicht gut aus. Die Eltern sind inzwischen in der Uniklinik in Kiel. Sie heißen Sarfeld, kommen aus Freiburg. Sie wollten mit den Großeltern hier ein paar Tage Ferien machen. Und dann passiert so was!«
Benthien nickte stumm. Er betrachtete die Landschaft um sich herum, über der ein schwerer Oktoberhimmel hing. Durch graue Dünen führte eine graue Straße bis an den grauen Horizont und weiter. Vom Meer war von hier aus nichts zu sehen, nur im Osten hing ein leises Rauschen in der Luft. Der Weststrand lag weiter entfernt hinter Ansammlungen von Sand, Strandhafer und struppigen braunen Heideflächen. Auf und zwischen den Dünen hockten Reetdachhäuser wie Karnickel, oftmals halb verborgen zwischen Krüppelkiefern, kleinen Birken und den dicken Hecken der Syltrose, die schon lange nicht mehr blühte. Alles wirkte wie ausgestorben, als hätten sich die Bewohner dieser Häuser, solidarisch mit den verunglückten Kindern, schlafen gelegt und die Vorhänge zugezogen. Nur hier und dort zuckte ein Vorhang, wurde ein bleiches Gesicht für Sekunden sichtbar.
Das Haus, von dessen Vorplatz der Bollerwagen abgestürzt war, stand auf einer besonders hohen Düne. Steil war sie eigentlich nur an der Stelle, die den Kindern zum Verhängnis geworden war, an den anderen Seiten bildete sie einen sanft auslaufenden Hang. Auf dem Dachfirst saßen zwei Möwen beieinander und beäugten ihn neugierig. Doch als er sie näher in Augenschein nehmen wollte, flog eine der beiden kreischend davon.
Fitzen, die Hände in den Taschen seiner uralten, speckigen Lederjacke vergraben, um deren Patina ihn Benthien beneidete, murmelte: »Ich glaube, hier bin ich früher mal gerodelt. Als Kind.«
Vielleicht ausgelöst durch Fitzens Worte, erinnerte sich Benthien an einen Winterabend: Es war an Weihnachten gewesen, vor zwei, drei Jahren, in einem besonders kalten, schneereichen Winter. Sie hatten eine Party gefeiert mit den Resten des Weihnachtsessens und reichlich Alkohol, er, Karin und einige Freunde, darunter Fitzen. Gegen zwei Uhr nachts war ihr kleines Trüppchen alkoholselig und albern kichernd im Gänsemarsch über die Straße gezogen, Schlitten hinter sich herziehend und Flachmänner mit Wein und Wodka in den Taschen. In der Luft, unter einem kalten Vollmond, hatten kleine weiche Schneeflocken getanzt. Benthien erinnerte sich, dass er ausgerutscht und giggelnd auf der Straße gelandet war, mit den Armen und Beinen im Schnee wedelnd wie eine Marionette. Schließlich hatte man ihn auf Fitzens Schlitten gepackt, weil er sich vor Lachen kaum noch auf den Füßen halten konnte. Fitzen hatte für noch mehr Ausgelassenheit gesorgt, indem er tat, als zöge er eine renitente Spielzeugente hinter sich her. Schließlich waren sie den Abhang zu einem Haus hinaufgeklettert, von dem Benthien jetzt annahm, dass es dieser gewesen war. Der Hang, den sie mit ihren Schlitten hinunterrodeln wollten, war steil. Im Haus war alles still gewesen, doch das hatte sich schnell geändert, als Fitzen ausgerutscht und mit großem Gekreisch den Abhang hinuntergeschlittert war. Die Lichter im Haus waren angegangen, und eine körperlose Stimme hatte ihnen mit der Polizei gedroht, wenn sie nicht sofort abhauen sollten.
Benthien hatte der Versuchung widerstanden, feixend zurückzurufen, die wäre schon da – wenigstens hoffte er, dass er es getan hatte –, und die kleine Truppe war abgezogen, immer noch kichernd und weinselig. In seinem Haus hatten dann alle übernachtet, auf Teppichen, Sofas und Sesseln und mit einem ausgewachsenen Kater im Kopf.
Plötzlich schämte er sich. Er riskierte einen Blick auf Fitzen. Erinnerte er sich auch? Doch Fitzen war schon in das Gehölz eingedrungen, in dem die weißgekleideten Kriminaltechniker am Werke waren. Und hinter einem Schlehenbusch tauchte Kollegin Lilly Velasco auf.
Wiebke Martens konnte nicht aufhören zu frieren. Sie hatte die Heizung hochgestellt in ihrer winzigen Wohnung gegenüber dem Lister Hafen, hatte stundenlang heiß geduscht, dann einen Hausanzug angezogen und einen dicken Bademantel. Doch auch zwei Paar weiche Bettsocken und Wollpantoffeln konnten ihre Füße nicht wärmen. Sie kuschelte sich in ihren Kaschmirschal und schlurfte langsam und total erschöpft in die gemütliche kleine Küche, in der der Wasserkessel sang.
Zwei kleine Körper, die sich schwarz und dünn gegen den düsteren Himmel abhoben, wie von einem Trampolin in die Luft katapultiert, kunstvoll tanzend, Purzelbäume und Pirouetten schlagend wie die fröhlichen Figuren auf einem Bilderbogen der Biedermeierzeit – dieses Bild wurde sie nicht los, egal wohin sie ging, egal was sie tat.
Sie hätte gern ein paar Schlaftabletten genommen und sich ins Bett gelegt, doch sie musste auf den Kripobeamten warten, der sie befragen wollte. Die Westerländer Polizei hatte sie bereits vernommen. Sie nahm den pfeifenden Wasserkessel und goss ihren Früchtetee auf. Der Krümelkandis klickerte in der Glaskanne, als das heiße Wasser ihn traf. Wiebke setzte sich an den halbrunden Wandtisch in der Küche und legte die kalten Hände um den Becher. Dann fiel ihr der Ingwergrog ein. Sie kippte eine ordentliche Portion in den dampfenden Tee, schloss die Augen und lehnte sich gegen die Wand, an der die fröhlichen, bunten Urlaubskarten ihrer Kollegen klebten, die sie ihr aus Korsika geschickt hatten, aus Irland, Chile, Ungarn, Kaprun und von den Kapverdischen Inseln.
Wieder raste der Bollerwagen den Pfad hinunter, bis er gegen irgendeine Unebenheit des Bodens stieß. Wie von Geisterhand angehalten, verharrte er am Hang; alles verlangsamte sich, geschah in Zeitlupe, als wenn jede Bewegung eingefroren wäre. Der vordere Teil des Wagens stockte, gleichzeitig hob sich der hintere Teil in die Luft, der Junge, der hinten saß, schoss über seinen Bruder hinweg, der daraufhin selbst in die Luft stieg, als habe ihn eine kleine Rakete abgeschossen. Danach kam nichts mehr, so sehr sich Wiebke auch anstrengte. Das Bild der kleinen, zarten, filigranen Figuren am dunklen Oktoberhimmel blieb stehen, wie ein Film, den man angehalten hatte und der nie wieder laufen würde.
Wie, fragte sie sich, konnte der Bollerwagen nur in Bewegung geraten sein? Hatten die Kinder daran geruckelt, vielleicht mit den Füßen nachgeholfen, hatten sie die Gefahr nicht erkannt? Oder war da eine Hand gewesen, ein heimlicher Schubs? Oder gar eine freundliche Stimme, die den beiden Kleinen eine wunderbare Fahrt in den Abgrund versprochen hatte? Ein wirklich cooles Vergnügen, so schön wie Achterbahn fahren?
Wiebke drückte die Augen fest zu, um die Szene wieder und wieder zu betrachten. Die Szene vor der verhängnisvollen Abfahrt. Hatte sie jemanden oben am Bollerwagen gesehen? War da tatsächlich ein Schatten um die Hausecke verschwunden, nachdem der Wagen abgestürzt war? Oder bildete sie sich das nur ein? War es ein Mensch gewesen, ein Mensch in einem langen, wehenden Mantel? Oder doch nur ein Bettbezug auf der Leine, vom Herbstwind hin und her gezerrt? Sollte sie ihre Aussage jetzt gleich bestätigen oder zurückziehen? Je länger sie dieses Bild heraufzubeschwören suchte, desto mehr entzog es sich ihr, bis nur noch bunte Kreise vor ihren Augen tanzten. Enttäuscht trank sie einen Schluck Tee. Bald würde der Kripobeamte kommen. Was sollte sie ihm nur sagen?
Benthien, der gewusst hatte, dass Lilly hier sein würde, aber im Augenblick nicht darauf gefasst war, sie zu sehen, bemerkte verwundert, wie ihn ein kleiner, freudiger Blitz durchfuhr, als hätte er einen unter Strom stehenden Weidezaun berührt. Lilly Velasco war die Kollegin, mit der er am liebsten arbeitete. Sie war souverän, war imstande, selbstständig und scharfsinnig zu denken und zu handeln, hatte Humor und vor allem eine Eigenschaft, die er bei Frauen bisher nur selten angetroffen hatte: Sinn für Ironie und eine gewisse Distanz zu sich selbst, ohne dabei kaltschnäuzig oder flapsig zu sein.
»Hi«, sagte er und fühlte, wie sich auf seinem Gesicht ein Lächeln breitmachte. Er hatte sogar den unangenehmen Eindruck, dass er grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Wie war’s im Urlaub?«
»Entspannend«, sagte Lilly zufrieden. »Kein Handy, kein Fernseher, keine Zeitungen, keine Menschen, nur ich und der Strand und dahinter die Wildnis von Sardinien. Das tut gut, glaub mir. Solltest du auch mal probieren!«
Benthien seufzte. Wollte er ja gerne, aber bis zu seinem Jahresurlaub dauerte es noch ein bisschen. In Wahrheit fühlte er sich ausgelaugt, müde von dem ganzen Papierkram, der angefallen war, als er vor einigen Wochen die Aufsehen erregenden Morde an einem alten Ehepaar auf Amrum hatte untersuchen müssen.
Sicher, er hatte den Klabunde-Fall gelöst, aber um welchen Preis! Lilly hatte genau das Richtige getan: Sie hatte Raum und Zeit zwischen sich und die doch sehr an die Nieren gehende Nachbereitung der Geschehnisse gelegt, hatte einen Puffer geschaffen, sich erholt und neue Kraft getankt. Überhaupt fuhr im Moment alle Welt in Urlaub, nur er nicht. Benthien seufzte. Nächsten Monat würde Tommy Fitzen zum Tauchen auf die Seychellen fahren, und Benthiens Vater wanderte zurzeit mit einem Freund zwischen Schenna und Meran die Waalwege entlang. Für Lilly, dachte er, würde es auch nicht leicht werden, sofort wieder in die grausame Realität einzutauchen, vom sonnigen Sardinien ins oktobergraue Sylt, zu zwei kleinen Kindern, die möglicherweise einem Anschlag zum Opfer gefallen waren.
»Wer ist sonst noch hier?«
»Annika Gerisch, Mikke Jessen, Leon Kessler«, zählte Lilly auf. »Sie befragen die Nachbarschaft. Claudia Matthis und ihre Kollegen vom Erkennungsdienst sind auch bereits da. Wir haben alle einen Freiflug spendiert bekommen.«
»Und das bei einem simplen Unfall, so schrecklich er auch ist?«, wunderte sich Benthien.
»Einerseits liegt es wohl daran, dass Sarfeld Politiker ist. Er kandidiert offenbar für ein Amt, hat Beziehungen.« Lilly strich sich die messingfarbenen, halblangen Haare zurück, die ihr der Wind immer wieder in die Augen wehte. »Ist das nicht furchtbar? Da wollen die Eltern ein paar schöne Herbsttage an der See verbringen, und dann passiert so was.« Ihre braunen Augen, die Benthien an schimmernden Bernstein erinnerten, verdunkelten sich für einen Moment. Dann fuhr sie fort: »Andererseits vernimmt Mikke gerade eine Zeugin, die den Absturz des Bollerwagens gesehen und die Polizei gerufen hat. Sie sagte den Kollegen aus Westerland, dass möglicherweise ein Mann dabei gewesen war … allerdings ist sie sich nicht sicher. Gemeldet hat sich niemand.«
Benthien bemühte sich, seine Gedanken wieder auf den Fall zu konzentrieren. »Es gibt eine Zeugin?«, fragte er aufgeregt.
»Sie ist Nachtschwester in der Nordseeklinik, kam gerade von der Arbeit zurück«, erklärte Lilly und schlang ihren grünen Fairtrade-Seidenschal fester um den Hals. »Weil sie völlig k.o. war, hat Hinnerk Petering sie nach Hause geschickt. Sie ist … Sag mal, was ist los mit dir?«
»Mikke befragt sie?«, brummte Benthien unzufrieden.
»Traust du es ihm nicht zu? Er ist zwar noch relativ neu bei der Kripo, aber ich finde, er hat letzten Monat bei den Amrum-Morden gute Arbeit geleistet.«
»Er ist manchmal zu eifrig«, sagte Benthien. »Es fehlt ihm an Intuition und vielleicht auch ein bisschen an Einfühlungsvermögen. Analytisch denken kann er, ohne Frage, aber …«
»Warte mal ab«, sagte Lilly beschwichtigend. »Wenn es sein muss, kann ich die Zeugin ja noch einmal befragen. Aber ich glaube, das wird nicht nötig sein.«
»Habt ihr schon die Bewohner der ›Astarte‹ vernommen?«
»Nein, das wollte ich dir überlassen. Ich habe sie nur kurz informiert und gesagt, dass sie sich bereithalten sollen.«
Benthien blickte zu Fitzen hinüber, der mit der ansonsten etwas spröden Claudia Matthis schäkerte und sie sogar zum Lachen brachte. »Er lässt mal wieder seinen Charme spielen«, sagte Benthien. »Ich schlage vor, du hörst und siehst dich im Haus um, und Fitzen und ich befragen als Erstes die Urgroßeltern der Kinder. Oder«, fügte er hoffnungsvoll hinzu, »hat das schon jemand getan?«
Schon wieder bot man ihm etwas zu essen an, hier, in diesem Zimmer, das geschmackvoll im maritimen Landhausstil eingerichtet war. »Darf ich Ihnen ein Stück Käsekuchen bringen? Oder Buchteln mit Pflaumenmus? Ich hätte auch Vanillekipferl da, frisch aus dem Ofen. Oh, davon abgesehen, alles ist natürlich ganz frisch, von heute Morgen, ich war den ganzen Vormittag am Herd.«
Benthien musste sich zusammenreißen, um die Frau mit dem Tablett nicht offenen Mundes anzustarren. Immerhin war sie die Urgroßmutter der Kinder, von denen eines tot war, während das andere mit schwersten Kopfverletzungen auf der Intensivstation lag. Und sie hatte nichts anderes als Kuchenbacken im Kopf?
»Hören Sie nicht auf meine Frau«, sagte der alte Mann mit dem Stoppelbart, der offensichtlich an diesem Tag um Jahre gealtert war. Sein rundes, noch immer faltenloses Gesicht mit den länglichen Grübchen mochte in besseren Zeiten warmherzig und freundlich wirken, jetzt war es grau und niedergeschlagen. Seine Frau, Ursi genannt, wirkte wesentlich älter als er, obwohl Benthien beide auf ungefähr Mitte siebzig schätzte. Ihre kurzen weißen Haare standen fedrig nach allen Seiten ab, die Mundwinkel waren heruntergezogen, die Augen von Fettwülsten umgeben. Sie war in einen Sessel gesunken, kraftlos, als hätte jemand die Luft aus ihr herausgelassen. Die Platte mit den Kuchenstücken lag schief auf ihrem Schoß.
»Wir haben nichts gehört«, fuhr der Mann, der Richard Mommsen hieß, in Beantwortung einer Frage fort, die John schon vor längerem gestellt hatte. »Nichts gesehen, nichts gehört. Wir haben fest geschlafen, als unsere beiden Kleinen in Gefahr waren.« Er lächelte geisterhaft. »Wissen Sie, Rasmus und Till sind geübt darin, leise zu sein. Meine Enkelin und ihr Mann sind Langschläfer. Die Kleinen haben schon früh gelernt, ihre eigenen Wege zu gehen. Wir haben geglaubt, dass ihnen hier auf dieser Insel nichts passieren kann …«
Der Mann wurde womöglich noch blasser. Unentwegt zupften seine Hände an den Fransen der Wolldecke, die auf seinen Knien lag. Seine Frau hatte auf dem Tisch eine knittrige Serviette entdeckt und drückte sie gegen die Augen, aus denen lautlos die Tränen liefen. Ein Stück Käsekuchen war auf den Teppich gerollt. Benthien beobachtete, wie Fitzen aufstand, den Kuchen aufhob und der Frau behutsam das Tablett aus den erschlafften Händen nahm.
Benthien sah sich um. Das alte, geräumige Friesenhaus, dessen Gründungsjahr er in den 1920er-Jahren vermutete, hatte später einen Anbau erhalten, in dem sich zwei weitere Ferienwohnungen befanden. Mommsens wohnten oben, die Familie mit den Kindern unten. Benthien wusste inzwischen, dass das Ehepaar Mommsen aus Dänemark kam, während die Sarfelds in Freiburg lebten. Er hatte sie bisher noch nicht gesehen, denn Rieke Sarfeld und ihr Mann waren bei ihrem Sohn Rasmus in der Klinik. Sein Zustand war immer noch lebensbedrohlich. In diesem Augenblick, so informierte ihn Mommsen, wurde er gerade notoperiert.
»Wir treffen uns ein- oder zweimal im Jahr«, fuhr Mommsen tonlos fort, »um unsere Urenkel zu sehen. Manchmal kommen sie zu uns nach Odense, manchmal machen wir gemeinsam Ferien an der See. Diesmal war es nun Sylt …« Er zog ein großes, kariertes Taschentuch hervor und schnäuzte sich die Nase.
»Sie haben heute Morgen also nichts gehört und gesehen«, wiederholte Fitzen etwas ratlos die Worte des alten Mannes. »Ihnen ist nichts aufgefallen?«
»Ich habe Schlafprobleme, schon mein Leben lang. Deshalb schlucke ich jeden Abend ein bis zwei Valium-Tabletten«, erklärte Mommsen mit brüchiger Stimme. »Und meiner Frau geht es auch nicht so gut. Sie nimmt Beruhigungsmittel und Schmerztabletten gegen ihr Rheuma.«
»Sag es doch!«, schluchzte die alte Frau. »Los, sag es ruhig, dass ich zu nichts nutze bin, eine Belastung für alle, dass ich noch nicht mal auf meine Urenkel aufpassen kann.«
»Ursi, bitte! Kein Mensch sagt das.« Er legte den Kopf in seine Hände, starrte zwischen den Fingern zu Boden. »Die Jungs haben ihr Zimmer nach vorn heraus, wir schlafen zur See hin. Nein, wir haben nichts gehört, außer den Seevögeln natürlich.«
Ein Klopfen an der Tür unterbrach Benthien, der gerade seine nächste Frage formulieren wollte. Fitzen ging durch den kleinen Flur und öffnete. Ein Mann wurde sichtbar, schlank, sehr groß, etwa im selben Alter wie Mommsen. Er wirkte verstört, seine Augen irrten an Fitzen vorbei und blieben an Richard Mommsen hängen. Der war aufgesprungen, starrte den Mann an und schien etwas sagen zu wollen, doch kein Laut kam aus seinem Mund. Im selben Augenblick wurde der Fremde von der Tür weggezogen. »Das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt«, hörte Benthien eine Frau flüstern, dann ging die Tür wieder zu.
»Wer war das?«, fragte er, als sich Mommsen langsam wieder mit gerunzelter Stirn auf seinen Stuhl sinken ließ. Das Schluchzen von Ursi Mommsen wurde lauter.
»Ach, niemand«, sagte der alte Mann und fuhr sich über die Stirn. »Ein anderer Gast. Ein Freund. Früher mal.« Eine weitere Erklärung gab er nicht ab. Aber er wischte sich den Schweiß vom Gesicht und sah völlig erschlagen aus.
Benthien warf Fitzen einen Blick zu, nickte leicht in Richtung Tür. Er hatte nicht den Eindruck, dass er die beiden alten, verstörten Menschen noch länger mit Fragen bedrängen sollte, jedenfalls nicht, bevor es weitere Erkenntnisse gab. Frau Mommsen weinte inzwischen hemmungslos und gab kleine, erstickte Klagelaute von sich. Benthien verabschiedete sich schlechten Gewissens von Mommsen, weil er diesen Ausbruch ausgelöst hatte, doch der alte Mann nickte ihm zu.
»Gehen Sie nur«, sagte er, »wir kommen schon klar. Vielleicht ist es besser, Sie sprechen das nächste Mal mit mir allein!«
Draußen vor dem Haus trafen sie Lilly, die gerade ihr Handy wegsteckte. Fitzen begrüßte sie mit der Bemerkung, dass sie so erholt aussähe wie ein japanischer Schneeaffe nach dem Bade und so schön wie eine Margerite auf der Frühlingswiese, nur ein bisschen brauner. Benthien ärgerte sich, dass er nicht selbst darauf gekommen war, Lilly Komplimente zu machen – und seine wären bestimmt charmanter gewesen –, doch Lilly bezeichnete Fitzen lediglich lachend als notorischen Schwätzer, was der allerdings nicht weiter krummnahm.
»Gibt’s was Neues?«, fragte Benthien kurz angebunden.
»Der Bus Westerland-List«, sagte Lilly. »Die Zeugin, Wiebke Martens, ist von diesem Bus überholt worden, gerade als der Bollerwagen abgestürzt ist – oder jedenfalls unmittelbar danach. Mikke hat gerade angerufen und es mir gesagt. Wir sollten ausfindig machen, wer alles im Bus saß. Vielleicht hat jemand etwas beobachtet.«
»Das kannst du machen, Tommy«, ordnete Benthien an. »Frag in Westerland in der Zentrale nach, wer heute Morgen Dienst hatte. Lilly und ich werden inzwischen die Hausbewohner und die Feriengäste befragen.«
»Da war ein Schatten«, sagte Wiebke und schloss die Augen. »Aber ich kann ihn nicht festnageln. Ich denke, es könnte ein Mensch gewesen sein, oben am Haus. Aber sicher bin ich mir nicht.«
Sie beobachtete den jungen Polizeibeamten, der eifrig mitschrieb, was sie ihm erzählte. Mikke konnte seine nordfriesische Herkunft kaum verleugnen. Seine offene, ehrliche Erscheinung war von Alter und Erfahrung noch wenig geprägt; sein rotbrauner, dichter Haarschopf legte sich in zahlreiche Wirbel, sein sommersprossiges, gut geschnittenes Gesicht war noch gebräunt vom Sommer. Er schien enttäuscht, weil sie sich nicht sicher war; zu gern hätte er seinen Kollegen doch eine kleine Sensation mitgebracht, das konnte sie gut verstehen. Wäre dort oben wirklich jemand gewesen, der sich jetzt nicht meldete, müsste man wohl annehmen, dass die Kinder keinem Unfall, sondern einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen waren. Sie begriff, wie wichtig ihre Aussage war, gerade deshalb versuchte Wiebke so genau wie möglich zu analysieren, was sie gesehen hatte. Doch je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr entzog sich ihr das Bild, da konnte sie machen, was sie wollte.
»Versuchen Sie bitte, sich zu erinnern«, sagte der junge Polizeibeamte beinahe beschwörend. »Was haben Sie gesehen, bevor Sie den Bollerwagen bemerkten?«
Wiebke schloss erneut die Augen, um die Erinnerung herbeizuzwingen. Sie war die leere Straße entlanggefahren. Nach einer langen, durchwachten Nacht war sie müde und unkonzentriert gewesen und die ihr wohlbekannte Strecke wie im Schlaf gefahren. Vor ihr hätte ein Tross Elefanten die Straße entlanglaufen können, sie hätte ihn kaum bemerkt. Warum war ihr dann der Bollerwagen oben auf der Düne aufgefallen? Sie grübelte vor sich hin, während der junge Polizeibeamte sie anstarrte.
»Menschen?«, fragte er hoffnungsvoll. »Oder eine einzelne Person? Vielleicht jemand, der die Straße entlanglief? Radfahrer? Andere Autos?«
»Den Bus habe ich gesehen, er wäre beinahe in mich reingefahren«, sagte Wiebke verzagt, »aber das habe ich Ihnen ja schon erzählt.« Auf einmal wurde sie lebhafter. »Im Bus müssen außer dem Fahrer doch noch Leute gewesen sein. Die haben vielleicht mehr beobachtet als ich.«
Der junge Mann klappte leise seufzend sein Notizbuch zu und steckte es in eine der Taschen seiner Anglerweste. »Wir sind schon dabei, den Busfahrer ausfindig zu machen«, sagte er. »Ja, dann gehe ich mal. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, Frau Martens …«
»Warten Sie!« Wiebke war ebenfalls aufgestanden. »Der Bollerwagen ist mir aufgefallen, weil es so eine heftige Bewegung an diesem Dünenhang war, so völlig unerwartet. Aber da war noch etwas.« Sie fühlte sich nicht glücklich, weil sie das, was sie bemerkt zu haben glaubte, nicht wirklich greifen, nicht fassen konnte. Aber sie wollte es auch nicht länger verschweigen. »Oben an der Hausecke, da habe ich vielleicht noch was gesehen. Eine Bewegung. Ein Schatten. Vielleicht ein Mensch in einem Cape, oder mit einem langen Mantel.« Sie sah ihn verzagt an. »Es ist nur so ein Eindruck, verstehen Sie? Wie wenn man etwas aus dem Augenwinkel sieht. Vielleicht war es auch nur ein Wäschestück. Aber ich wollte es wenigstens erwähnt haben.«
Sie sah, wie das Gesicht des jungen Beamten aufleuchtete. Ein kleines Stück Fleisch von dem mageren Knochen hatte er nun doch noch erhalten. Doch Wiebke fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut.
Benthien stand unten an der Düne und betrachtete das lang gestreckte, alte Friesenhaus. Es war zweistöckig, das tief heruntergezogene Dach reetgedeckt. Die Fenster- und Türrahmen in den Backsteinmauern waren blau gestrichen. Die Längsseiten zeigten zur Straße und zum Wattenmeer, die Schmalseite lag an der kleinen Stichstraße, die in die Dünen führte und in einem sandigen Wendeplatz endete.
Ungewöhnlich war, dass sich der Haupteingang, untypisch für ein Friesenhaus, an der Schmalseite befand. Von der Stichstraße aus führte eine Holztreppe nach oben. Benthien stieg mit Lilly die Stufen hinauf und betrat das Haus. Die Tür war, wie bei den Sylter Pensionen üblich, nicht verschlossen. Innen erstreckte sich ein langer Flur, zur Hälfte mit weißem Plankenholz verkleidet, von dem rechts und links einige Türen zu den Gästezimmern abgingen. Ein kurzer Flur führte nach rechts an der Küche vorbei ins Frühstückszimmer, ein Raum direkt unter dem Friesengiebel. Von hier aus hatte man einen wunderbaren Panoramablick übers Meer und einen Zugang zur Terrasse.
Genau hier fand Benthien auch die beiden Frauen, die er gesucht hatte, Gret und Frauke Brodersen, Tante und Nichte. Sie waren dabei, das Brunch-Büffet abzuräumen und das Geschirr in die Küche zu bringen.
Benthien stellte fest, dass das Angebot reichlich und hochwertig gewesen sein musste: selbst gebackene Brötchen, Croissants, Käse, Lachs, Trüffelpastete, Roastbeef, ein exotischer Fruchtsalat, verschiedene Säfte und Müslis. Fast alles war verzehrt worden, nur noch ein paar traurige Überbleibsel fanden sich auf den Platten und Tellern. Er entdeckte einen letzten Rest Serrano-Schinken, so fein und zart, dass er wie Butter auf der Zunge zergehen musste. Benthien hatte Mühe, den Impuls zu unterdrücken, einfach zuzulangen und sich das Stück in den Mund zu schieben. Er hörte seinen Magen laut knurren. Seit Fitzens kargem Polarbröd Rågkaka war doch schon eine ganze Weile vergangen. Als er Lillys Blick auffing, sah er sie lächeln. Vermutlich ahnte sie, was in ihm vorging.
Draußen versuchte eine schüchterne Oktobersonne, sich durch den Dunst zu kämpfen; drinnen in dem hellen, freundlichen Raum, dessen Wände farbenfrohe Bilder der Region schmückten, fegte Frauke Brodersen gerade die Krümel von den Tischen auf ein antikes Tischkehrblech aus Messing.
»Wird der Kleine durchkommen?«, fragte sie in den Raum hinein, und das Grauen der letzten Stunden, das so plötzlich über den beschaulichen Alltag in dieser kleinen Sylter Pension hereingebrochen war, lag als ein blasser Widerschein auf ihrem Gesicht.
Gret Brodersen, die »stille Gret«, wie sie einst genannt worden war, ging mit einem Armvoll weißer, beschmutzter Damasttücher, die sie gerade eingesammelt hatte, so lautlos aus dem Raum, als wäre sie eine Gestalt aus einem Stummfilm.
»Wir wissen es noch nicht«, antwortete Benthien auf Fraukes Frage. »Er liegt auf der Intensivstation. Haben Sie heute Morgen etwas gehört oder gesehen, was uns weiterbringen könnte? Zwischen sieben und halb acht?«
Frauke richtete sich auf, ihr Blick ging in Richtung Fenster, als könne ihr das Meer dort draußen, das ruhig und in gleichmäßigem Wellengang zwischen dieser Insel und der dänischen Küste wogte, in seinem Rauschen die richtige Antwort soufflieren. »Sieben Uhr ist unsere geschäftigste Zeit«, sagte sie mit brüchiger Stimme, als wollte sie um Entschuldigung bitten dafür, dass diese Katastrophe ihrer Aufmerksamkeit entgangen war. »Da bereiten wir das Frühstücksbüffet vor, kochen Kaffee, Eier, braten Würstchen und Fleischbällchen, denn um halb acht muss alles fertig sein.«
Benthien fragte sich, ob er morgens um diese Zeit schon Fleischbällchen essen wollte. Oder ein Bauernfrühstück mit Bratkartoffeln, Rotwurst und Rührei. Aber auf Sylt war alles möglich. Vor allem, das verstand er gut, musste sich eine kleine Familienpension irgendwie abheben gegen die allmächtige Konkurrenz. Offenbar hatte man hier beschlossen, die Gäste ganz individuell zu verwöhnen und keine Wünsche offen zu lassen.
»Und da die Küche zum Meer hin liegt, bekommen Sie nicht mit, was vorne passiert«, stellte Lilly fest.
»Wir waren die Einzigen im Haus, die auf den Beinen waren«, sagte eine leise, melodische Stimme hinter Benthiens Rücken. Er zuckte zusammen. Er hatte Gret nicht kommen hören. Sie hielt ein paar Kerzen in der Hand, mit ausgefallenen Formen und bunten, abstrakten Motiven, die ihn an die fröhlichen Bilder des spanischen Malers Joan Miró erinnerten. Dunkel fiel ihm ein, dass er vor Jahren auf einem Basar in Kampen einen Stand der »Astarte« gesehen hatte, wo diese Art Kerzen verkauft worden waren. Offenbar stellten Gret oder Frauke sie selbst her. In den modernen Messinghaltern verliehen sie dem heiteren Raum eine Spur von Gold. Sie veredelten das makellose Weiß der Tischwäsche und korrespondierten bestens mit dem honigfarbenen Boden aus Holzdielen im Fischgrätenmuster.
»Ich bin kurz rausgegangen, um frische Luft zu schnappen; kein Mensch war zu sehen, auch die beiden Kleinen nicht«, fuhr Gret fort und stellte sich neben Frauke. »Danach war ich in der Küche, um Brötchen zu backen, da ist man weit ab vom Schuss.«
Benthien blickte aus dem Fenster. Zur Wattseite hin, war, so gut es auf dem sandigen Grund eben ging, Rasen angelegt worden, der bis zur Dünenkante reichte. Auch von hier führte ein Trampelpfad hinunter zu der kleinen Stichstraße. Strandkörbe und Gartenstühle waren locker auf dem Grün verteilt, doch niemand saß darin. Frauke und Gret, die einträchtig nebeneinander hinter einem Tisch standen, der ihnen als Bollwerk gegen eine feindliche, unbegreifliche Welt zu dienen schien, wirkten fassungslos, aufgelöst und verstört. Benthien dachte, von weitem könnte man Tante und Nichte fast für Schwestern halten, auch wenn knapp zwanzig Jahre zwischen ihnen lagen. Beide waren gleich groß, hatten die gleiche schlanke, biegsame Figur mit nur spärlichen Rundungen, was ihrer zarten, femininen Erscheinung jedoch keinen Abbruch tat. Sie waren, kam ihm plötzlich in den Sinn, wie Schneeweißchen und Rosenrot: die eine strahlend, mit glänzendem, goldfarbenem Haar, lässig hochgesteckt, großen, blaugrauen Augen, einem langen Hals und klarer, gut durchbluteter Haut. Die andere heller, blasser, müder: die Haut wie aus Elfenbein, die Schlagader an dem zarten Hals pochte bläulich, die Augen unter den schweren Lidern hatten die Farbe von patiniertem Zinn. Das Blond ihrer Haare war in vielen Sommern verblasst, mit Grau durchsetzt, es hatte offenbar die Neigung, sich aus der Haarklammer zu lösen und ihr gemeißeltes Gesicht zu umschmeicheln wie Weidenzweige das Wasser eines dunklen Weihers.
Benthien erwachte aus seinen Träumereien, weil er Stimmen hörte; das Gespräch war schon eine Weile an ihm vorbeigelaufen, doch jetzt hatte ihm jemand eine Frage gestellt, offenbar zum wiederholten Mal.
»Glauben Sie denn, dass es kein Unfall war?«
Die Frage stand im Raum wie etwas gänzlich Unerhörtes. Frauke, der diese Äußerung wie unter Zwang über die Lippen gekommen war, hatte rote Flecken im Gesicht und hielt sich die Hand vor den Mund, als könnte sie so das Gesagte rückgängig machen.
»Wir können im Moment die Lage noch nicht abschließend beurteilen«, sagte Benthien, »geben Sie uns ein bisschen Zeit.«
Für eine Weile sprach niemand. Dann räusperte sich Lilly. »Wir müssen später noch einmal mit den Urgroßeltern reden. Und mit den Eltern. Können Sie uns etwas über die Familie erzählen?«
»Wir kennen sie kaum«, sagte Frauke. »Die junge Familie, meine ich. Die sind zum ersten Mal hier. Die Mommsens waren schon einmal bei uns.« Sie blickte hinaus aus dem Fenster auf den Anbau, der dem in traditioneller Bauweise errichteten Friesenhaus zu einem L-förmigen Grundriss verholfen hatte. »Wir vermieten sowohl Zimmer wie Ferienwohnungen. Zwei hat Herr Mommsen hier im Anbau gemietet. In der dritten Wohnung, die sich in der ehemaligen Remise befindet, wohnt ein alleinstehender Herr.«
»Was können Sie uns über die Leute sagen?«, beharrte Benthien.
»Die Mommsens, also Richard Mommsen und seine Frau, leben in Dänemark, auf der Insel Fünen. Wo genau dort, weiß ich nicht. Er ist, glaube ich, Apotheker.«
»Er ist als Kind auf Eiderstedt groß geworden«, warf Gret ein. »Das hat er mir mal erzählt.«
»Seine Enkeltochter Ulrike und ihr Mann sind aus Freiburg«, fuhr Frauke fort. »Sarfeld heißen sie. Er muss was mit Politik zu tun haben. Soviel ich mitbekommen habe, ist er Umweltpolitiker und will sich für die Bundestagswahl aufstellen lassen. Herr Mommsen und seine Frau waren im Frühjahr schon einmal hier. Allein. Diesmal sollte eine Art Familientreffen stattfinden. Sie sehen sich anscheinend nicht sehr oft.«
»Wann sind sie angekommen?«
»Gestern vor einer Woche«, sagte Frauke. »Beide Familien kamen am selben Tag.« Sie wischte immer noch über das blütenweiße Tischtuch, obwohl längst keine Krümel mehr da waren.
»Womit haben sie sich tagsüber beschäftigt?«
Frauke zögerte. »Sie meinen, die Kinder? Sie waren oft bei den Urgroßeltern. Herr Mommsen ist häufig mit den Kleinen losgezogen, besonders wenn Ebbe war. Dann sind sie runter ins Watt und haben Muscheln und Austernschalen gesucht und Würmer ausgegraben.« Frauke wischte sich mit der Hand über die Augen. »Oder sie haben im Sand gespielt, Burgen gebaut, was man eben so macht an der See. Ich habe sie oft von hier oben beobachtet.«
»Und die Eltern? Wo waren die?« Lilly blickte aufs Meer, wo langsam ein Segelboot mit rotbraunen Segeln in ihr Sichtfeld geriet.
»Sie sind viel spazieren gegangen, wollten eben auch mal allein sein. Hin und wieder haben sie Ausflüge mit den Kleinen und dem Uropa gemacht. Allerdings ohne Frau Mommsen. Die alte Dame sitzt meistens im Strandkorb und starrt vor sich hin.«
»Schwermütig«, sagte Gret, schritt lautlos um Benthien herum und verschwand in der Küche.
»Wer wohnt sonst noch im Haus?«, wollte Lilly wissen.
»Die Wohnung in der Remise hat ein Dr. Lasiether gemietet. Oh, da kommt er gerade.« Frauke nickte in Richtung Terrasse.
Offenbar hatte der Mann eben seine Ferienwohnung verlassen. Er war klein, ein korpulenter Oberkörper saß auf dünnen Beinen, so dass Benthien beinahe erwartete, er würde nach vorne kippen wie jene mittelalterlichen Giebelhäuser, deren oberen Geschosse jeweils ein Stück über das untere Geschoss hinausragten.
Benthien schätzte ihn auf Ende vierzig, doch möglicherweise ließ ihn sein kahler, eiförmiger Schädel älter erscheinen, als er war. Trotz des kräftigen Oberkörpers bewegte er sich geschmeidig. Er war fast schon an den Fenstern des Frühstückszimmers vorbei, als es Benthien gelang, ihn auf sich aufmerksam zu machen.
»Dr. Lasiether?«
Überrascht blieb der Mann, dessen Hängebacken ihm einen mürrischen Ausdruck verliehen, stehen und starrte Benthien aus seinen kleinen grauen Augen an. Benthien zeigte ihm durch die Scheibe des gekippten Fensters seinen Ausweis.
»Habe ich was verbrochen?«, fragte Lasiether mit überraschend sanfter, hoher Stimme.
»Sie haben sicher mitbekommen, dass es hier einen Unfall gegeben hat, Herr Dr. Lasiether. Wir wollen Sie nachher befragen und möchten Sie daher bitten, im Haus zu bleiben.«
Lasiether sah auf die Uhr. »Ich wollte eigentlich gerade einen Happen essen. Reicht es nicht, wenn ich Ihnen in einer Stunde zur Verfügung stehe? Abgesehen davon, dass ich rein gar nichts gesehen habe und gar nicht weiß, was ich aussagen könnte.«
Benthien und Lilly wechselten einen Blick. »Gut, dann erwarten wir Sie in einer Stunde zurück!«
Der Mann nickte und ging davon.
»Ist Dr. Lasiether ein Stammgast von Ihnen?«, fragte Lilly.
»Er wohnt zum ersten Mal bei uns«, sagte Gret, die mit einem Stapel sorgfältig gebügelter und zusammengelegter weißer Tischwäsche wieder ins Zimmer gekommen war.
»Wir kennen ihn nicht«, bestätigte Frauke Brodersen. »Wir sehen ihn nur zum Frühstück – auch die Gäste der Ferienwohnungen können bei uns ein Frühstück bekommen, wenn sie wollen –, ansonsten ist er gänzlich unauffällig.«
»Wer wohnt sonst noch im Haus?«, wiederholte Lilly ihre Frage von vorhin.
Benthien beobachtete, wie Gret Brodersen mit geschickten Händen die kleinen Tischtücher entfaltete und über Eck in die Tischmitte über die große Unterdecke legte. Er sah mit Staunen, dass es kostbares altes Leinen-Damasttuch im Jugendstil-Muster war. Jede Decke unterschied sich von der anderen – einige zeigten ein Mäandermuster, andere waren mit Monogrammen bestickt, hatten einen Hohlsaum oder einen Rand aus Spitze. Der Effekt war der einer liebevoll gedeckten, familiären Tafel, für die man auch noch das letzte kostbare, handgearbeitete Tuch aus dem Schrank geholt hatte. Kein schlechtes Konzept! Irgendein kreativer Kopf musste sich viele Gedanken um die Gestaltung eines besonderen Ambientes gemacht haben. Benthien fragte sich, ob die Pension gut lief.
»Mein Schwiegervater, Jonathan Behrendt, und seine Frau Lea«, drang Fraukes Stimme an sein Ohr.
Benthien zuckte zusammen, als neben ihm eine kleine Vase auf den Boden schepperte und zerbrach. Wasser tränkte das eben erst aufgelegte Leinentuch auf dem Tisch darüber. Gret Brodersen fasste mit einem einzigen Griff die beiden nassen Tischdecken und lief hinaus.
»Wer noch?«
»Das Ehepaar Glaubitza aus Leipzig wohnt im oberen Stock. Es sind Stammgäste, ein älteres Ehepaar, das jedes Jahr kommt.«
»Wie viele Zimmer vermieten Sie insgesamt?«, unterbrach sie Lilly.
»Wir haben elf Einheiten, dazu gehören die zwei in sich abgeschlossenen Wohnungen im Anbau, eine Maisonettewohnung in der ehemaligen Remise, vier einzelne Zimmer und vier Appartements.« Frauke strich sich das Haar aus der Stirn. »Gegenüber den Glaubitzas, zur Straßenseite hin, wohnen Ute und Karla Aiching, zwei Schwestern …«
»Ja?«, fragte Lilly, als Frauke zögerte weiterzusprechen.
Gret kam mit neuer Tischwäsche und einem Frotteetuch wieder herein und begann, den alten Holztisch und den Fußboden abzutrocknen. Ein paar weitere Haarsträhnen waren aus ihrem lose hochgesteckten Haar gerutscht und umtanzten ihr blasses Gesicht.
»Nun ja, sie … sie streiten sich öfters«, sagte Frauke, »das ist leider etwas unangenehm. Dann wohnt oben noch eine Monika Linden, die ich nicht näher kenne, und ein junger Mann, Arvid Mahlow, der ebenfalls zum ersten Mal bei uns ist. Er ist gestern angekommen. Die unteren Zimmer sind leer bis auf eine kleine Wohnung, die ein älteres Ehepaar bewohnt, die Van Herks. Sie kommen aus Holland, sind seit Jahren Stammgäste bei uns.«
»Sie machen einen Busausflug nach Dänemark«, ergänzte Gret. Benthien bemerkte erstaunt, dass sie sehr blass geworden war und ihre Hände zitterten. »Sie sind schon gegen halb sechs heute Morgen aus dem Haus.«
»Und wo wohnen Sie selbst?«, fragte Benthien neugierig.
Frauke lächelte. »Wir haben zwei Wohnungen im Souterrain. In einer davon wohnen mein Mann und ich, in der anderen meine Schwiegereltern. Gret hat oben zwei Zimmer. In der alten Garage am Fuß der Düne steht das Klavier meines Mannes. Es ist eine Art Arbeitszimmer. Schalldicht. So hört man kaum, wenn er übt.«
»Ihr Mann ist Musiker?«, fragte Lilly, und Benthien erinnerte sich im gleichen Augenblick daran, dass Fraukes Mann – der offenbar ihren Namen angenommen hatte und somit auch Brodersen hieß – Pianist war und auch auf Sylt schon einige Auftritte gehabt hatte.
»Arnold spielt Klavier«, antwortete Frauke beiläufig, aber mit unterdrücktem Stolz in der Stimme. »Außerdem komponiert er und macht Musik zu Fernsehserien. Er hat noch ein kleines Studio in Westerland.«
»War ihr Mann heute Morgen im Haus?«