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Mensch und Müll – das ist eine lange und innige Beziehung. Bereits die Neandertaler haben Dinge für nutzlos befunden, aussortiert und weggeworfen. Das alte Rom kämpfte ebenso mit Müllproblemen wie die Metropolen des 19. Jahrhunderts. Doch alles verblasst hinter den Abfallbergen der Gegenwart. Anhand der Produktion von und dem Umgang mit Müll schreibt Roman Köster eine erhellende Geschichte unserer Spezies. Sein Buch bietet die erste durchgehend schmutzige Geschichte der Menschheit. In der Vormoderne waren Abfälle vor allem ein praktisches Problem. Sie lagen herum, rochen schlecht und behinderten den Verkehr. Im Zuge des starken und weltweiten Städtewachstums seit dem späten 18. Jahrhundert stieg die Aufmerksamkeit für durch Abfälle erzeugte hygienische Probleme, die die Ausbreitung von Typhus oder Cholera begünstigten. Heute hingegen ist der Müll von einer Frage städtischer Sauberkeit zu einem globalen Umweltproblem geworden. In seiner Globalgeschichte des Mülls von der Frühgeschichte bis heute geht Roman Köster den Ursachen dieser Entwicklungen nach und zeigt, wie sich das Wegwerfen, Entsorgen und Wiederverwerten im Lauf der Geschichte verändert hat.
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Roman Köster
Müll
Eine schmutzige Geschichte der Menschheit
C.H.Beck
Mensch und Müll – das ist eine lange und innige Beziehung. Bereits die Neandertaler haben Dinge für nutzlos befunden, aussortiert und weggeworfen. Das alte Rom kämpfte ebenso mit Müllproblemen wie die Metropolen des 19. Jahrhunderts. Doch alles verblasst hinter den Abfallbergen der Gegenwart. Anhand der Produktion von und dem Umgang mit Müll schreibt Roman Köster eine erhellende Geschichte unserer Spezies und zeigt, wie sich das Leben mit dem Abfall von der Sesshaftwerdung bis heute veränderte. Sein Buch bietet die erste durchgehend schmutzige Geschichte der Menschheit, denn Weggeworfen wird immer.
In der Vormoderne waren Abfälle vor allem ein praktisches Problem. Sie lagen herum, rochen schlecht und behinderten den Verkehr. Im Zuge des starken und weltweiten Städtewachstums seit dem späten 18. Jahrhundert stieg die Aufmerksamkeit für durch Abfälle erzeugte hygienische Probleme, die die Ausbreitung von Typhus oder Cholera begünstigten. Heute hingegen ist der Müll von einer Frage städtischer Sauberkeit zu einem globalen Umweltproblem geworden. In seiner Globalgeschichte des Mülls von der Frühgeschichte bis heute geht Roman Köster den Ursachen dieser Entwicklungen nach und zeigt, wie sich das Wegwerfen, Entsorgen und Wiederverwerten im Lauf der Geschichte verändert hat. Denn der Müll und der Versuch, ihn zu beseitigen, prägten das Gesicht der Siedlungen und Städte sowie das Leben ihrer Bewohner – von der Steinzeit bis heute.
ROMAN KÖSTER ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und hat sich über die deutsche Abfallwirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg habilitiert. Bei C.H.Beck ist von ihm erschienen: «Hugo Boss, 1924–1945» (2011)
Einleitung
Eine Welt voller Müll
Verschwendung, Entwertung, Effizienz
Eine Globalgeschichte des Mülls
I. VORMODERNE
1. Frühgeschichte: Erste Erfahrungen mit dem Müll
Abfallhaufen
Die Domestizierung von Tieren
Siedlungen und Städte
2. Die Stadt: Ungesunder Ort und Evolutionsbeschleunigerin
Die Stadt als gebaute Umwelt
Topographie und Klima
Gräben und Mauern
Häuser, Straßen, Gärten
Abfall sammeln
3. Vom schwierigen und nützlichen Zusammenleben mit Tieren in der Stadt
Der Nutzen der Tiere
Abfall «fressen»
Tiere töten
Tiere oben, Tiere unten
4. Das Diktat der Knappheit: Recycling in der Vormoderne
Die Logik des Recyclings
Arm und Reich
Sammeln und verwerten
Mikrotoponymien
5. Exkurs: Hygiene – eine saubere Geschichte?
Hygiene als kultureller Code
Religion und Hygiene
Kommerzialisierung
Differenzierung
II. INDUSTRIEZEITALTER
6. Die zweite Revolution: Industrialisierung und ihre Folgen
Die Verwandlung der Welt
Urbanisierung
Reformaufgaben
Städtehygiene als Wissenschaft und Ideologie
7. Die Erfindung der Müllabfuhr
Kritische Infrastrukturen
Der lange Abschied von der Senkgrube
Die Mülltonne
Ablagern und verbrennen
8. Koloniale Städtehygiene: Macht und Modernisierung
Überlegenheitsdiskurse
Die Grenzen der alten Stadt
Städtehygiene als koloniales Projekt
Hygienische Moderne
9. Globale Kreisläufe: Recycling im Industriezeitalter
Industrielles Recycling
Braunes Gold
Der langsame Abschied von der Gebrauchtware
Verwerten
Mobilisierung der Heimat: Kriegsrecycling
III. MASSENKONSUM
10. Die Entstehung der Wegwerfgesellschaft
Mülllawinen
Skaleneffekte
Komplexität
Konsumlandschaften
11. Mülltonnen und «Männerstolz»: Die moderne Müllabfuhr
Wegwerfen
Abfall sammeln…
… und nicht sammeln
Müllarbeit
12. Beseitigen, entsorgen, behandeln, vergraben, verbrennen
Pfadabhängigkeiten
Deponieren
Verbrennung
Die Welt als «Last Sink»
13. Arm und reich: Recycling als Politik und Überlebensstrategie
Eine Kultur der Obsoleszenz
Recycling in der Massenkonsumgesellschaft
Armutsstrategien
Recycling im Sozialismus
Globaler Handel
Epilog: Ins Meer
Anmerkungen
Einleitung
1. Frühgeschichte: Erste Erfahrungen mit dem Müll
2. Die Stadt: Ungesunder Ort und Evolutionsbeschleunigerin
3. Vom schwierigen und nützlichen Zusammenleben mit Tieren in der Stadt
4. Das Diktat der Knappheit: Recycling in der Vormoderne
5. Exkurs: Hygiene – eine saubere Geschichte?
6. Die zweite Revolution: Industrialisierung und ihre Folgen
7. Die Erfindung der Müllabfuhr
8. Koloniale Städtehygiene: Macht und Modernisierung
9. Globale Kreisläufe: Recycling im Industriezeitalter
10. Die Entstehung der Wegwerfgesellschaft
11. Mülltonnen und «Männerstolz»: Die moderne Müllabfuhr
12. Beseitigen, entsorgen, behandeln, vergraben, verbrennen
13. Arm und reich: Recycling als Politik und Überlebensstrategie
Epilog: Ins Meer
Literaturverzeichnis
Abbildungsnachweis
Sachregister
Waste is a luxury […]
(John E. Young[1])
Mensch und Müll – sie führen eine lange und intime Beziehung. Wo Müll ist, da sind Menschen. Menschen produzieren immer Müll. Bereits die Neandertaler haben Dinge für nutzlos befunden, aussortiert und weggeworfen. Das alte Rom kämpfte mit seinen Müllproblemen, und der Dichter Juvenal beschrieb die Stadt als einen rechten Schweinestall. In Kairo wurde im 13. Jahrhundert in regelmäßigen Abständen ein Großreinemachen durchgeführt, um die engen Straßen der Stadt von den Abfällen zu befreien. Schnell wachsende Metropolen wie London und Paris hatten im 17. und 18. Jahrhundert große Schwierigkeiten, ihren Unrat aus der Stadt zu schaffen – ein Problem, das sich dann während des 19. Jahrhunderts noch dramatisch verschärfen sollte und sich bis heute angesichts weltweit steigender Abfallmengen nicht gemildert hat. Ganz im Gegenteil.
Müllprobleme sind insofern nicht neu, und doch haben sie sich durch die Geschichte hindurch grundlegend verändert. In der Vormoderne waren Abfälle vor allem ein praktisches Problem. Sie lagen herum, rochen schlecht und behinderten den Verkehr. Es ging darum, die Städte sauber zu halten und gut dazustehen, etwa wenn herrschaftlicher Besuch vorbeikam. Im Zuge des starken und weltweiten Städtewachstums seit dem späten 18. Jahrhundert stieg indes die Aufmerksamkeit für durch Abfälle erzeugte hygienische Probleme, die die Ausbreitung von Typhus oder Cholera begünstigten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hingegen musste man lernen, dass im Müll noch ganz andere Gefahren lauerten: Infektionskrankheiten bekam man zunehmend in den Griff, doch seine schiere Menge und die Belastungen der Umwelt durch giftige Substanzen eben nicht.
Das vorliegende Buch geht den Ursachen dieser Entwicklung nach. Es bietet eine Globalgeschichte des Mülls – von der menschlichen Frühgeschichte bis heute. Und damit erzählt es eine Geschichte, die davon handelt, was Menschen für schmutzig, gefährlich, störend oder funktionslos erklärt haben. Das Buch beschreibt, welches Problem Abfälle für die Menschen darstellten, wie sie damit umgingen und welche Lösungen sie über die Zeit entwickelten. Es wird gezeigt, wie sich das Wegwerfen, Entsorgen und Wiederverwerten im Lauf der Geschichte verändert haben – und wie der Müll von einer Frage städtischer Sauberkeit zu einem globalen Umweltproblem wurde.
Sich mit der Geschichte des Mülls zu beschäftigen, ist aus vielerlei Gründen interessant, nicht zuletzt, weil der Müll viel über die Menschen und ihre Geschichte erzählt: So wüssten wir heute viel weniger über Lebensweise, Ernährung und Sitten der Frühgeschichte, würde die Archäologie nicht deren Abfälle ausgraben. Das gilt genauso für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, deren Abfallgruben Aufschlüsse über den Alltag und die Wirtschaftsweise der damals lebenden Menschen zulassen. Und überraschenderweise gilt das auch noch heute: Mit der sog. Garbology hat sich mittlerweile ein ganzer Forschungszweig entwickelt, der in mitunter gar nicht so alten Deponien gräbt, um beispielsweise etwas über die Konsumgewohnheiten der Menschen während der 1970er Jahre zu erfahren.[2]
Genauso interessant ist allerdings das, was sich gerade nicht in den Müllgruben findet. Menschen haben über viele Jahrhunderte umfangreiche Praktiken des Wiederverwendens und -verwertens entwickelt. Steine, Schiffsplanken, Kochtöpfe oder Texte wurden wiedergenutzt und lassen beispielsweise Rückschlüsse über Netze der Kommunikation, Wertschöpfungsketten, maritime Verbindungen sowie Vorstellungen von Wert und Unwert zu, die Gesellschaften über die Zeit entwickelten. Die Rekonstruktion dieser Praktiken erlaubt mannigfaltige Erkenntnisse über die materiellen Grundlagen und die Wirtschaftsweise vergangener Zeiten – aber auch zu sich verändernden Wahrnehmungen von Schmutz und Sauberkeit, Ordnung und Gefahr, die sich mit der Existenz von Müll und im Umgang mit ihm manifestierten.
Nicht zuletzt liefert die Betrachtung des Mülls auch Ansatzpunkte für eine Konsumgeschichte von unten. Sie nimmt weniger den Konsum von Adel und Bürgertum in den Blick, als das, was von ihren Tischen herunterfiel. Die Sammlung und Verwertung von Abgelegtem, scheinbar Nutzlosem ermöglichte zahllosen armen Menschen, ein bescheidenes Auskommen zu finden und kreative Überlebensstrategien zu entwickeln. Bis zu einem gewissen Maße schuf das Wiedernutzen aber auch immer wieder die Möglichkeit, an der Konsumgesellschaft teilzunehmen und sich in der sozialen Welt nach eigenen Vorstellungen zu präsentieren: etwa durch gebrauchte Kleider, Möbel oder Accessoires. Hier bieten sich Einblicke in eine Welt, die von der Konsumgeschichte oft genug außen vor gelassen wird und deren Mechanismen vielleicht weniger in Westeuropa, aber an zahllosen Orten der Welt nach wie vor eine große Rolle spielen.
So viel Rückschlüsse das Thema in wirtschafts-, sozial-, umweltgeschichtlicher Hinsicht bietet: Im Hintergrund verfolgt das Buch – naheliegenderweise – noch eine andere Absicht: Es geht darum, die Wurzeln unserer gegenwärtigen Müllprobleme freizulegen, die dramatischer kaum sein könnten. Laut einer Studie der Weltbank fielen im Jahr 2016 geschätzte 2,01 Milliarden Tonnen Hausmüll an: eine tatsächlich kaum fassbare Menge. Allein an Plastikmüll produziert die Menschheit jeden Tag das Gewicht von etwa 100 Eiffeltürmen.[4] Die Müllmengen sind insbesondere seit dem Zweiten Weltkrieg exponentiell angestiegen.[5] Und die Prognosen stimmen wenig optimistisch. Werden keine drastischen Maßnahmen ergriffen, fallen weltweit im Jahr 2050 etwa 3,4 Mrd. Tonnen Hausmüll an, also noch einmal etwa 75 Prozent mehr als gegenwärtig.[6] Die Reduzierung des Mülls gehört seit den 1970er Jahren zu den großen Zielen der Umweltpolitik, und seit mindestens 15 Jahren ist Zero Waste ein vielgebrauchtes Schlagwort. Tatsächlich sind wir von diesem Ziel aber weiter entfernt als je zuvor.[7]
Müllberg in Bulawayo, Simbabwe[3]
Diesen Müll zu sammeln, zu entsorgen, zu recyceln, ohne dass er die Umwelt vergiftet oder im Meer landet, gehört gegenwärtig zu den großen Menschheitsaufgaben. Das Buch beschreibt jedoch nicht nur, wie es so weit kommen konnte. Es geht auch darum, zu zeigen, wie eng Müll mit der Art und Weise verbunden ist, wie wir unseren täglichen Lebensvollzug organisieren, Nahrung beschaffen, wohnen, uns kleiden, bewegen und unterhalten. Das galt für die Vormoderne genauso wie für die heutigen Zeiten des Massenkonsums – insofern ist der Müll auch ein Spiegel der jeweiligen historischen Zeiten. Gerade darum hat er aber mehr mit uns zu tun, als uns lieb ist.
Müll reiht sich ein in die bedrückende Phalanx von Umweltproblemen, die das Leben auf unserem Planeten bedrohen. Die Art und Weise jedoch, wie er in der gesellschaftlichen Debatte verhandelt wird, unterscheidet sich deutlich von anderen: Der Klimawandel bleibt häufig abstrakt, und im Grunde – wenn wir im Internet surfen oder ein Flugzeug besteigen – wissen wir nicht, wie hoch unser individueller Beitrag ist. Man liest viel über die Umweltbilanzen der Herstellung von Elektroautos, aber dem Fahrzeug selbst sieht man diese nicht an. Unseren Müll hingegen haben wir täglich vor Augen, und viele Menschen bekommen ein schlechtes Gewissen, wenn sie Lebensmittel wegwerfen oder große Mengen Plastikmüll zurücklassen. Abfälle konfrontieren uns auf eine sehr direkte Weise mit unserem persönlichen Beitrag zur Umweltverschmutzung.
Es kommt aber noch etwas anderes hinzu: Über Müll lässt sich offensichtlich nicht nur unsere individuelle Verantwortung für Umweltprobleme adressieren, sondern zugleich eine Zustandsbeschreibung der Gesellschaft leisten. Das große Thema der Ressourcenverschwendung betrifft uns direkt, steht aber zugleich sinnbildlich für die krankhaften Auswüchse eines Wirtschaftssystems, das nicht nur Luft und Wasser vergiftet, sondern riesige Überschüsse produziert, die anschließend weggeworfen werden. Gerade weil wir den Müll zwar selbst produzieren, aber nicht aus freien Stücken, legen Abfallströme offen, wie der Kapitalismus offensichtlich daran scheitert, die Produktion unseren Bedürfnissen anzupassen. Manche sprechen von einer Waste economy, und neuerdings ist das Schlagwort des Wasteocene (in Anlehnung an das bekannte Schlagwort Anthropocene, also einer durch den Menschen geprägten Epoche der Erdgeschichte) aufgekommen, um den vergeudenden und kontaminierenden Charakter des Kapitalismus zuzuspitzen.[8]
Es geht bei solchen Debatten aber nicht nur um Verschwendung, sondern auch um Entwertung: Bezeichnen wir eine Sache als Müll, stellen wir ihre Nutz- und Wertlosigkeit fest. Daraus folgt dann der starke soziale Druck, sie auch wegzuwerfen. Diese Entwertung betrifft aber nicht nur Sachen, sondern auch Menschen. Das provoziert das Interesse von Kunst und Literatur an dem Thema. In der bildenden Kunst ist Abfall als Gegenstand und Material allgegenwärtig: von Joseph Beuys’ Installationen bis hin zu den ehrfurchtgebietenden Recyclingskulpturen eines El Anatsui. Die Zahl der Abfall- und Müllkippen-Romane – von Charles Dickens «Our Mutual Friend» (1865) bis Hwang Sok-Yongs «Vertraute Welt» (2021) – ist kaum zu überblicken. Im Zustand der Entwertung lösen sich gesellschaftliche Hierarchien auf und neue Konstellationen werden möglich. Auf der Deponie treffen sich der bankrotte Banker und die alleinerziehende Mutter – Menschen, die in der Welt der Hochhäuser und lichtdurchfluteten Einkaufsstraßen nie in eine engere Beziehung zueinander treten würden.
Die Motive Verschwendung und Entwertung ziehen sich durch die reichhaltige Literatur zum Müll. Das ist manchmal brillant, manchmal erhellend, manchmal ziemlich banal. Gemeinsam ist dieser Literatur allerdings die Neigung, vom konkreten Müll – dem Müll, den wir sehen, wenn wir den Deckel unserer Tonne öffnen, der Haufen auf der Straße bildet oder auf Deponien vor sich hin rottet – tendenziell abzulenken. Allzu oft dient er vor allem als Metapher, als soziale Unterscheidungsoperation, Dingen und Menschen einen Wert zuzuweisen oder ihnen diesen Wert gerade abzusprechen.[9] Über Müll zu reden produziert einen ständigen Bedeutungsüberschuss, hinter dem seine konkrete Materialität zu einer bloßen Randnotiz wird: Alles kann Müll sein, alles kann zu Müll werden.[10] Letztlich ist es dann nur konsequent, wenn Richard Girling in seinem Buch «Rubbish!» unter der Kategorie Müll auch Stadtplanung und moderne Popmusik behandelt.[11] Dem mögen zwar viele insgeheim zustimmen, trotzdem ist das ein gutes Beispiel für das Gemeinte: Ein zu umfassender Abfallbegriff führt dazu, den eigentlichen Gegenstand aus den Augen zu verlieren.[12]
Das vorliegende Buch geht von einem engeren Verständnis von Abfall aus, das sich stark auf seine Materialität fokussiert: die Dinge, die Menschen als schmutzig, störend, gefährlich, nutzlos deklarieren und absondern, also vorrangig wegwerfen. Es zeigt sich wenig interessiert daran, eine Müllgeschichte «quasi psychanalytique» (Sabine Barles) zu schreiben.[13] Dass Müll im strengen Sinne etwas Subjektives ist, wie in der Literatur häufig betont wird, soll gar nicht bestritten werden. Selbstverständlich gibt es keine Eigenschaften, die etwas von vornherein dazu verurteilen, Müll zu sein. Doch dieser Subjektivismus hilft im Alltag nicht weiter, und es gibt Gründe, warum wir mit einer benutzten Käseverpackung wenig anfangen können oder warum wir Fleisch unverbraucht wegwerfen. Und das liegt nicht allein daran, dass Gesellschaften die Unterscheidung von schmutzig und sauber, von Wert und Unwert benötigen, um soziale Ordnung zu schaffen, wie Mary Douglas in ihrem Buch Purity and Danger von 1966 gemeint hat – der wohl am häufigsten zitierten Arbeit in der Müllforschung überhaupt.[14]
Diese Gründe haben vielmehr ganz wesentlich mit der Art und Weise zu tun, wie Gesellschaften ihre materielle Reproduktion und die Versorgung mit Konsumgütern organisieren. Eine Müllgeschichte, so wie sie hier vorgestellt wird, möchte im Blick behalten, unter welchen Bedingungen das Weggeworfene einmal hergestellt wurde. Der Hinweis auf die enge Verbindung zwischen der Art und Weise, wie Menschen historisch gewirtschaftet haben, welche Abfälle sie produzierten und wie sie mit ihnen umgingen, ist dann von grundlegender Bedeutung. Das bedeutet aber zugleich, einen Topos öffentlicher Mülldebatten zu hinterfragen. Denn wird der Abfall zum Thema, dauert es nicht lange, bis tatsächlich die Rede auf Verschwendung kommt. Und das liegt ja auch nahe: Wie sollte man zum Beispiel die Tatsache, dass in den reichen westlichen Ländern über die Hälfte der Lebensmittel unverbraucht weggeworfen wird, anders bezeichnen? Dass Tiere geboren, aufgezogen, geschlachtet werden, nur damit ihr Fleisch in der Mülltonne endet? Dass global gesehen riesige Mengen an Kleidung genäht werden, die kurze Zeit – wenn überhaupt – getragen werden, um dann in der Altkleidersammlung zu landen?
Bei genauerem Hinsehen sieht sich die Rede von der Verschwendung jedoch mit einem eigenartigen Paradox konfrontiert. Aus historischer Perspektive ist nämlich auffällig, dass Gesellschaften mit geringer Arbeitsproduktivität – also vor allem im vorindustriellen Zeitalter bis zum 18. Jahrhundert – sehr wenig Abfälle produzierten, während Gesellschaften mit hoher Arbeitsproduktivität – in denen wir heute leben – im Müll geradezu ersticken. Wie passt die Fähigkeit, Waren extrem effizient zu produzieren, mit der enormen Verschwendung von Ressourcen zusammen? Die Antwort, die ich darauf zu geben versuche, lautet: Müll ist nichts, was sich wohlhabende Gesellschaften leisten. Müll ist vielmehr eine Nebenfolge davon, warum Gesellschaften wohlhabend sind. Die entscheidende Frage ist nämlich, warum wir in der Lage sind, so viel wegzuwerfen und auf fundamentale Weise das zu vernachlässigen, was die amerikanische Kulturhistorikerin Susan Strasser mit einem schönen Ausdruck als «Stewardship of Objects» bezeichnet hat: die Fürsorge für Sachen, das Bewusstsein, sie wiedernutzen und reparieren zu können.[15] Die Antwort liegt in der Fähigkeit moderner Gesellschaften, Lebensmittel, Gebrauchsgüter, Elektrogeräte global, arbeitsteilig, in großen Mengen und mit einer wachsenden Arbeitsproduktivität herzustellen, zu transportieren und zu verteilen. Erst das Zusammenspiel von Massenproduktion und Logistik ermöglicht Verschwendung im großen Stil – und aus diesem Zusammenspiel entsteht am Ende der meiste Müll.
So gesehen ist Abfall aber vor allem anderen eine Sache der Effizienz – eine These, die sich noch schärfen lässt, wechselt man die Perspektive: So wurde über vormoderne Gesellschaften – von den alten Griechen bis zu den Azteken – oft gesagt, sie seien bereits (!) Recyclinggesellschaften gewesen. Tatsächlich wäre den Menschen im Mittelalter die Vorstellung, noch genießbares Fleisch wegzuwerfen, als geradezu frivol erschienen. Metalle wurden nahezu immer wiederverwertet. Lumpen dienten als Rohstoff der Papierherstellung. Fäkalien wurden in vielen Fällen als Dünger verwendet. Um diese vielfältigen Praktiken des Wiedernutzens zu erklären, wurde häufig darauf verwiesen, frühere Gesellschaften hätten ein anderes Verhältnis zur Natur gehabt und eine spezifische Nachhaltigkeitsethik ausgebildet.[16] Doch diese Gesellschaften mussten vor allem mit einer existentiellen Knappheit zurechtkommen, und der Alltag stellte für einen Großteil der Menschen einen Kampf ums Überleben dar. Die Nachhaltigkeitsethik vormoderner Gesellschaften war eine naheliegende Reaktion auf diese Knappheit und schulte sich an ihrer täglichen Erfahrung. Deswegen macht es wenig Sinn, auf die Verwertungspraxis der Azteken zu verweisen: Würden die Azteken heute leben, würden sie genauso viel wegwerfen wie wir.
Die Verbindung von Müll und Effizienz betrifft zugleich die Frage, warum wir mit einem Übermaß an Dingen konfrontiert sind, mit denen wir nichts anfangen können und die unser Nutzenkalkül tangieren, indem sie Platz wegnehmen und sich in unser Nahfeld drängen. Funktionslosigkeit ist, wie der französische Soziologe Georges Bataille gemeint hat, eine Störung unseres Alltags, der Schmutz erzeugt Schrecken.[17] Über längere Zeit ignorieren lassen sich Abfälle allein deshalb kaum, weil jeden Tag mehr hinzukommt. Jenseits von Schmutz und Gestank neigt der Müll zum Verstopfen.[18] Manche Beobachter verweisen darauf, Funktionslosigkeit sei nur das Resultat eines Mangels an Kreativität, und sicherlich lässt sich eine Plastikflasche auch als Blumenvase verwenden. Aber am nächsten Tag ist da bereits eine neue, am Tag darauf vielleicht sogar zwei – und das geht dann immer so weiter. An der Menge der herandrängenden Dinge muss auf kurz oder lang jede Anstrengung scheitern, die Existenz von Abfall durch unser Alltagshandeln zu kompensieren.[19] Darum reicht es auch nicht aus, sich auf ein Stück Müll zu konzentrieren. Vielmehr müssen Müllströme in den Blick genommen werden.
Hinzu kommt schließlich noch ein weiterer Aspekt: Die ökonomischen Mechanismen, die dazu führen, dass so große Mengen an Abfällen entstehen, erweisen sich als viel weniger wirksam, wenn es um seine Sammlung und Entsorgung geht. Wie es der Politikwissenschaftler Russell Hardin einmal auf den Punkt gebracht hat: Die Effizienz der Produktion und Verteilung von Müll ist viel größer als die seiner Sammlung und Entsorgung.[20] Kapitalistische Gesellschaften sind virtuos darin, immer mehr Güter zu immer geringeren Kosten zu produzieren. Aber dem gegenüber steht eine viel geringere Kompetenz, wenn es darum geht, die daraus resultierenden Überreste des Konsums zu sammeln, zu entsorgen, in den Produktionsprozess zurückzuführen. Daraus entstehen spezifische Probleme des Umgangs mit Abfall, die seine gesellschaftliche Problemwahrnehmung entscheidend geprägt haben.
Teilweise macht der Müll an sich diese Aufgabe aber auch besonders schwer: In der Vormoderne war der meiste Abfall organisch und wurde, von Gegenständen aus Metall oder Keramik abgesehen, auf kurz oder lang zu Kompost. In modernen Massenkonsumgesellschaften hingegen hat sich seine Materialität stark verändert. Er ist diverser und komplexer geworden. Immer öfter – gerade im Fall von Kunststoffen oder bestimmten Chemikalien – «vergeht» er nicht mehr, sondern behält seine Integrität über viele Jahrzehnte und noch deutlich länger. Diese neue Materialität des Mülls stellt jedoch nicht einfach eine kapitalistische Bösartigkeit dar, sondern ist eng verknüpft mit der Organisation der Massenproduktion. Das betrifft nicht nur die für die moderne Logistik unverzichtbaren Kunststoffe, sondern auch zahlreiche Verbundstoffe oder Chemikalien. Die materielle Komplexität unseres Lebens hat spätestens seit den 1950er Jahren stark zugenommen und das ist auch ein wichtiger Aspekt, wenn man erklären will, warum Müll entsteht und warum der Umgang mit ihm so schwierig ist.
Der Hinweis auf den Zusammenhang von Abfall und Wohlstand ist nicht als eine Apologie des Mülls gemeint. Es geht vielmehr darum, aufzuzeigen, wie eng verknüpft er mit der materiellen Organisation der Welt ist, in der wir leben. Gerade deshalb reicht es nicht aus, Abfall so zu diskutieren, als seien es allein unsere subjektiven Wertvorstellungen, die eine Sache zu Müll machen oder auch nicht. Mary Douglas hat dem Umweltdiskurs einen unschätzbaren Dienst erwiesen, indem sie auf die Wirkmächtigkeit und Komplexität solch normativer Vorstellungen hingewiesen hat. Zugleich gab sie aber auch den Anstoß zu einer Überpolitisierung dieser Debatten in dem Sinne, Vorstellungen von Wert und Unwert, Schmutz und Reinheit vorrangig als politische Ausgrenzungsstrategien zu behandeln. Verschwendung und Entwertung werden als Pathologien moderner Gesellschaften beklagt, aber die dahinter stehenden grundlegenden ökonomischen Beziehungen und Kausalitäten kaum noch beachtet. Will man aber Müll verstehen, ist es notwendig, die materielle Organisation unserer Welt mit der Frage, was wir unter welchen Umständen zu Müll erklären, in eine sinnvolle Beziehung zu setzen. Das historisch zu leisten, ist das Ziel des vorliegenden Buchs.
Es gehört zu den eher irritierenden Standardmotiven der Forschung, zu behaupten, beim Müll handele es sich um ein Problem, vor dem die Welt die Augen verschließen und das auch die Forschung nur mit spitzen Fingern anfassen würde. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall: Die Literatur zum Müll ist unübersehbar, und auch über seine Geschichte – von der Frühgeschichte bis in die Gegenwart – ist bereits viel Tinte vergossen worden.
Leider gilt das nicht für alle Themen gleichermaßen, die eine Globalgeschichte des Mülls behandeln möchte. Bei vielen Aspekten existiert bereits ein beachtlicher Forschungsstand, während bei anderen noch große Lücken vorhanden sind. Gleichwohl reicht es aus, um das umzusetzen, was die Darstellung beabsichtigt: die wirkenden Kräfte, die Konstellationen und Verbindungen herauszuarbeiten, welche Veränderungen der Entstehung und des Umgangs mit Abfällen erklären können. Nicht jede Müllkippe und jede Müllabfuhr sollen portraitiert, sondern die globalen Trends der Produktion und des Umgangs mit Müll im Sinne vergleichbarer Antworten auf vergleichbare Probleme herausgearbeitet werden. Kommunikation und Wissenstransfers spielten für die Ausbildung dieser Trends eine wichtige Rolle, vor allem aber auch Konstellationen, die sich nicht allein über Verbindungen und Vernetzungen erklären lassen. Vielmehr gab es vergleichbare soziale Entwicklungen, die immer wieder zu vergleichbaren Problemlagen führten. Das stimulierte den Wissenstransfer und gegenseitige Wahrnehmungen etwa bezüglich städtehygienischen Wissens.
Gegliedert ist die Darstellung in drei große Abschnitte, nämlich Vormoderne, Industriezeitalter und Massenkonsum. Diese lassen sich charakterisieren durch bestimmte Formen des Wirtschaftens und Handelns, bestimmte Formen des Zusammenlebens in Städten, spezifische Umgangsformen mit und Problemwahrnehmungen von Abfällen sowie politische Maßnahmen, Müllprobleme in den Griff zu bekommen. In ein Schaubild gefasst sieht das dann folgendermaßen aus:
Vormoderne
Industriezeitalter
Massenkonsum
Abfallproduktion
Städtische Verdichtungsräume
Wenig Abfall
Städtische Verdichtungsräume
Steigende Abfallmengen
Müll als ubiquitäres Problem
Stark steigende Abfallmengen
Wiedernutzung
Wiederverwendung + Wiederverwertung auf regionaler Basis (Austausch zwischen Stadt und Land)
Dominanz der Wiederverwertung
Ausweitung der räumlichen Beziehungen des Altstoffhandels
Globalisiertes Materialrecycling
Müll als globale Handelsware
Repräsentation
Störung, Ärgernis, Ressource
Hygienisches Problem, Ressource
Umweltproblem, Ressource
Politik
Vereinzelt institutionelle Regelungen der Abfallsammlung
Institutionelle Regelung der Abfallsammlung in den Städten
Steigende Hygieneanforderungen
Institutionelle Regelungen der Abfallsammlung
Unterschiedliche Standards der Müllentsorgung
Periodisierung
Westeuropa/USA ~ 1850
Westeuropa/USA: Ab ~ 1850
China: Ab ~ 1920
USA: Ab ~ 1920
Westeuropa: Ab ~ 1950
China: Ab ~ 1990
Was hier in schöner Ordnung erscheint, ist allerdings lediglich der analytische Rahmen für eine Darstellung, der es darum geht, einfache Erklärungen gerade zu vermeiden. Das gilt beispielsweise für Diagnosen, in der Vormoderne sei alles recycelt worden, während wir heute alles wegwerfen. Durch die Jahrhunderte ergaben sich immer wieder überraschende Konjunkturen von Wiederverwertung und Wegwerfen, von Frugalität und Verschwendung, die sich nicht in das Schema einer linearen Verfallsgeschichte – von einer zirkulären hin zu einer linearen Wirtschaftsweise – pressen lassen.[21] Die Welt ist in materieller und organisatorischer Hinsicht durch die letzten Jahrhunderte immer komplexer geworden – und gerade aus dieser steigenden Komplexität lässt sich erklären, warum Klischeebilder der Herausbildung der modernen Wegwerfgesellschaft uns oft genug in die Irre führen.
Given the choice, a human being’s first inclination is always to dump. From prehistory through the present day, dumping has been the means of disposal found everywhere.
(William L. Rathje[1])
Die frühgeschichtliche Archäologie betreibt ihre Forschung auf den Müllhalden der Menschheit. Das meiste, was Ausgrabungen heute zu Tage fördern, finden sie dort, weil es irgendwann nutzlos wurde. Es gibt wichtige Ausnahmen wie Gräber, wo gewissermaßen eine Selektion unter umgekehrten Vorzeichen stattfand: Beigegeben wurde, was den Toten im Jenseits gute Dienste leisten sollte. Solche Beigaben waren aber zumeist auch im Diesseits wertvoll, und Gräber wurden entsprechend häufig geplündert.[2] Vergrabene Schätze, so selten sie vorkommen, sollten zumeist nur versteckt werden. Schiffe wurden nicht absichtlich auf dem Grund des Meeres versenkt, und Varus’ römische Soldaten ließen ihre Schwerter nicht freiwillig im Teutoburger Wald liegen. Aber ansonsten gehorcht die Forschung einer einfachen Logik: Wenn etwas noch gebraucht worden wäre, wäre es nicht weggeworfen worden. Insofern sind die meisten archäologischen Funde tatsächlich «Müll».[3]
Der Archäologie ist natürlich bewusst, dass ihre Funde zumeist einen Ausschnitt unter Nützlichkeitskriterien darstellen, und es wurden intensive Debatten geführt, was dieser Umstand für die Rekonstruktion der Lebensumstände frühgeschichtlicher Menschen bedeutet. Nur selten stößt man auf Artefakte aus Metall oder Glas, denn diese waren knapp und konnten leicht eingeschmolzen werden. Noch bei Fundstellen aus dem 18. Jahrhundert finden sich kaum Metalle oder Textilien, und 1736 wurde die Pariser Polizei misstrauisch, als sie in einem Aschehaufen Metallstücke fand.[4] Äußerst wichtige Artefakte für die Archäologie sind darum Keramiken, denn sie waren praktisch nützlich, ihre Wiederverwertung aber kompliziert. Zwar gab es beispielsweise für Amphoren alle möglichen Formen der Zweitverwertung, vom Blumentopf bis zum Ausguss. Zerbrochene Keramik ließ sich aber häufig nur noch als Füllmaterial beim Hausbau verwenden.[5]
Zu den ersten Funden aus der Steinzeit gehören Knochen, die Rückschlüsse auf die Ernährungsgewohnheiten der damals lebenden Menschen zulassen. Auch lassen sich auf diese Weise die Wanderungsbewegung von Tieren nachvollziehen und ob sie menschliche Gruppen begleiteten. Pfeilspitzen gehören ebenfalls zu den frühesten gefundenen Artefakten sowie – vereinzelt – Keramiken. Vor ihrer Sesshaftwerdung handelte es sich aber in der Regel um Überreste, die die Menschen liegen ließen, wenn sie sich zu einem neuen Ort aufmachten. Nicht die Rückstände fester Siedlungen also, sondern von Gelegenheitslagern. Die Archäologie beschäftigt sich zwar mit diesem urgeschichtlichen Müll, die eigentliche Abfallgeschichte beginnt damit aber noch nicht. Das ist erst ab dem Zeitpunkt der Fall, an dem die Menschen anfingen, nicht einfach nur Dinge wegzuwerfen, sondern mit ihren Abfällen zu leben.
Der Anfang der so verstandenen Abfallgeschichte lag in der Sesshaftwerdung, die sich in einem graduellen Prozess in einem Zeitraum zwischen 10.000 und 6000 Jahren v. u. Z. durchsetzte. Wenn der Ort der eigenen Hinterlassenschaften nicht mehr verlassen wurde, war man mit Fäkalien und Essensresten, Asche oder zerbrochenem Werkzeug konfrontiert. All diese Sachen konnte man achtlos liegen lassen, aus der Behausung bringen oder sogar auf einen Haufen schichten. Mit den frühesten menschlichen Siedlungen konnte (und musste) der Müll irgendwann zu einem Problem werden.
Bei der Sesshaftwerdung handelte es sich um einen langfristigen Vorgang, der sich räumlich langsam vom Fruchtbaren Halbmond in Kleinasien zunächst nach Europa und in den westasiatischen Raum ausdehnte. Er durchlief mannigfache Übergangsformen – von Jäger- und Sammlergruppen mit einem oder mehreren «Basislagern» oder sesshaften Gruppen, die weiter vom Jagen und Sammeln lebten und sich erst nach und nach den Ackerbau aneigneten. In dem Moment jedoch, wo der Siedlungsplatz nicht mehr oder nur noch selten gewechselt wurde, sammelten sich Fäkalien, Essensreste, Knochen oder Asche rasch zu beträchtlichen Mengen an. Archäologische Untersuchungen verschiedener neolithischer Siedlungen haben gezeigt, wie voll mit Müll diese waren. Dementsprechend streng müssen sie gerochen haben. Ihre Bewohner hatten darüber hinaus mit allerlei Krankheiten und Parasiten zu kämpfen, die durch vom Müll angezogene Tiere wie z.B. Insekten übertragen wurden.[6]
Haben der Gestank und die Abfälle den Menschen damals etwas ausgemacht? Mit Sicherheit lässt sich das natürlich nicht sagen. Die Geschichtswissenschaft arbeitet häufig – implizit oder explizit – mit Differenzierungstheorien, die davon ausgehen, die Kontrolle von Gewaltimpulsen, sexuelle Disziplin oder auch so etwas wie Tischmanieren hätten sich erst im Laufe der Neuzeit entwickelt. Vormoderne Menschen wären in dieser Logik entsprechend unempfindlicher gegenüber dem Anblick und den Gerüchen von Abfällen und Fäkalien gewesen. Darüber ist lang und ausführlich diskutiert worden. Hier soll zunächst folgende Feststellung genügen: Die Menschen im Neolithikum waren sicher weniger sensibel gegenüber solchen Gerüchen, als wir das heute im Zeitalter der Volldeodorisierung sind. Anders wäre es auch gar nicht gegangen. Zugleich ist die Vorstellung, vormoderne Menschen hätten von Schmutz und Gestank überhaupt kein Konzept gehabt, wahrscheinlich wenig mehr als ein bloßes Klischee.
Darauf deuten jedenfalls bereits die frühen Versuche hin, mit Abfällen umzugehen. So lässt sich anhand von Ausgrabungen im Natufien – einer frühen Kultur in der Levante, die auf den Zeitraum zwischen 12.000 und 9500 v. u. Z. datiert wird – ein Übergang von achtlosem Wegwerfen, wo man sich gerade befand, zu einem Wegwerfen auf den Wegen zwischen den Behausungen nachvollziehen. Dafür kann es verschiedene Gründe gegeben haben: Vielleicht störte der Müll bei den alltäglichen Verrichtungen, vielleicht war er zu attraktiv für Tiere, vielleicht wurde er als stinkend und unangenehm empfunden. Trotzdem waren die Menschen offensichtlich in der Lage, die frühneolithische Müllkrise zu bewältigen, indem sie den Abfall vor ihre Tür «kehrten».[7] Möglicherweise geschah damit mehr, als bloß die Beseitigung eines Ärgernisses: Es wurde eine Grenze zwischen drinnen und draußen markiert, das Heim als separate Sphäre abgegrenzt und der Müll als etwas Störendes gekennzeichnet. War der Müll einmal draußen, lag es vielleicht auch nahe, ihn zu einem Haufen zusammenzubringen: gewissermaßen die frühesten geordneten Kleindeponien der Menschheitsgeschichte. Der Abfallhaufen stellte insofern eine beachtliche zivilisatorische Leistung der Menschheit dar, die langsam lernte, mit ihren Überresten umzugehen.
Frühgeschichtliche Ablagerungsstätten werden in der Archäologie üblicherweise als Middens bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein dänisches Wort für Küchenabfälle – ein Hinweis auf die vielen aus Skandinavien stammenden Pioniere der Erforschung der Ur- und Frühgeschichte im 19. Jahrhundert. In bronzezeitlichen Siedlungen lassen sich immer wieder Abfallgruben ausmachen,[8] ohne dass sich jedoch eine lineare Fortschrittsentwicklung zu stärker geordneten Entsorgungspraktiken feststellen ließe: Manchmal wurde der Müll in eine Grube geworfen, manchmal einfach um das Haus herum entsorgt. Teilweise lassen sich große Abfallgruben identifizieren, bei denen tatsächlich von frühgeschichtlichen Deponien gesprochen werden kann: Eine in Norwegen freigelegte steinzeitliche Midden erreichte beispielsweise eine Länge von mehr als 300 Metern und eine Schichthöhe von über acht. Brandspuren weisen auf Versuche hin, diese Abfälle anzuzünden, wahrscheinlich, um ihr Volumen zu reduzieren.[9]
Solche Abfallgruben sind für die Archäologie interessant, weil sie Rückschlüsse auf die Ernährung, Bekleidung, Tierhaltung frühgeschichtlicher Menschen zulassen – ein Ansatz, den die sog. Garbology im Übrigen auch bei modernen Deponien anwendet. Die Anordnung und der Vergleich der frühgeschichtlichen Abfälle lassen aber auch Rückschlüsse auf den Umgang mit ihnen zu. Ein wichtiger Aspekt ist dabei die räumliche Ordnung der Aktivitäten in einer Siedlung: So spielten an den Stellen, wo Tiere geschlachtet und verarbeitet wurden, Knochen in den Middens üblicherweise eine größere Rolle. Allerdings wurde eine geordnete Entsorgung häufig durch Hunde oder Schweine sabotiert, denen Knochen zugeworfen wurden oder die sie auflasen und herumtrugen.[10] Tiere brachten die geordnete Abfallwirtschaft einer Siedlung also häufig durcheinander.
Insofern war der frühgeschichtliche Umgang mit Abfällen im Grunde zwar höchst einfach, aber es wurde eben mit Abfällen umgegangen, und das ist hier das Entscheidende. Der Geograph William E. Doolittle hat darüber hinaus spekuliert, ob Abfallhaufen für die frühzeitlichen Menschen nicht eine wichtige Lektion bereithielten: An den Stellen, wo die häuslichen Überreste entsorgt wurden, bildete sich ein nährstoffhaltiger Kompost, zumal diese Haufen durch das Wegschütten von Küchenwasser stetig bewässert wurden. Wie ein mexikanisches Sprichwort besagt: In der Nähe des Hauses wächst der Weizen am besten. Tatsächlich müssen Abfallhaufen das Wachstum von Pflanzen stimuliert haben. Auf diese Weise konnten die Menschen etwas über die Wirkung von Fäkalien und Küchenabfällen als Dünger lernen, was über Jahrtausende den Umgang mit ihnen wesentlich bestimmen sollte.[11]
Das ist in der Tat eine faszinierende These: Vielleicht erklären die mit Abfallhaufen und Kompost gemachten Erfahrungen sogar, warum Menschen damit anfingen, hinter ihren Häusern Gärten zu kultivieren und dort Gemüse und andere Pflanzen anzubauen, denen die Nährstoffzufuhr in besonderem Maße guttat. Dann aber würden Fäkalien und Abfälle gewissermaßen am Beginn einer besonderen Weise stehen, die Natur zu manipulieren und einen der wichtigsten Bereiche menschlicher Kulturschöpfung zu begründen, nämlich den Garten. Gerade für einen Müllhistoriker ist es natürlich in hohem Maße attraktiv, sich Abfall am Beginn humaner Kulturentwicklung vorzustellen. Aber wie bereits gesagt: Belege gibt es dafür leider keine.
Die Sesshaftwerdung war ein komplexer Vorgang, der sich nicht auf den Übergang von einer nomadischen zu einer eher stationären Lebensweise reduzieren lässt. Die Menschen entwickelten über tausende von Jahren verschiedene zivilisatorische Praktiken: den Übergang vom Konsum von Wildpflanzen zum Ackerbau, den Bau fester Behausungen sowie die Entwicklung und Perfektionierung des Gebrauchs von Feuer und Werkzeugen.[12] Schließlich gingen sie von der Jagd und dem Fischfang «for one dinner only» zur Domestizierung von Tieren über.[13] Dieser Aspekt ist für die Müllgeschichte besonders wichtig: Tiere wurden durch Abfälle angezogen, sie verkonsumierten sie, produzierten sie aber auch. Die Beziehungsgeschichte des Menschen zu seinen Abfällen kommt nicht ohne einen weiteren Akteur aus, und das sind seine tierischen Begleiter.
Domestizierung bedeutet, Tiere von der Wildpopulation zu trennen und dabei neue Formen des Mensch-Tier-Verhältnisses zu entwickeln. Das war ein sowohl biologischer wie kultureller Vorgang: Die physische Gestalt der Tiere veränderte sich, zugleich wurden Tiere als Begleiter angenommen, woran diese wiederum ihr Verhalten orientierten. Das konnte sehr unterschiedliche Formen annehmen, aber eine intensive Domestizierung, in der die Menschen die Reproduktion und Aufzucht der Tiere eng kontrollierten, war in der Frühgeschichte selten. Auch waren die Grenzen zwischen der tatsächlichen Domestizierung und dem sog. «Kommensalismus», bei dem Mensch und Tier ohne Trennung von der Wildpopulation und ohne kontrollierte Aufzucht zum Vorteil wenigstens einer Seite koexistierten, häufig fließend – mit Ausschlägen in die eine oder andere Richtung. Aus diesem Grund fällt es der Zooarchäologie auch immer wieder schwer, Domestizierungserscheinungen wie Veränderungen des Körperbaus, des Gebisses oder des Fells eindeutig festzustellen.[14]
Die ersten durch den Menschen domestizierten Tiere waren Hunde, die eher selten gegessen wurden oder als Zugtiere dienten.[15] Vielmehr waren sie vor allem Begleiter und Helfer bei der Jagd. Die frühesten Hinweise auf die Domestizierung von Schweinen lassen sich ungefähr ab 8000 v. u. Z. in Ausgrabungsstätten im heutigen Anatolien finden. Für die im Fruchtbaren Halbmond gelegenen Siedlungen Çayönü Tepesi, Hallan Çemi oder Gürcütepe lässt sich Schweinehaltung belegen, was sich anhand von Domestizierungserscheinungen gegenüber den Wildschweinen festmachen lässt: Das Körpergewicht nahm ab, das Fell wurde dünner, die Zähne kürzer.[16] In China wurden Schweine im Yellow River Valley und einigen nördlichen Regionen um etwa 7000 v. u. Z. domestiziert. Ein Vorgang, der sich noch mehrfach wiederholen sollte.[17] Domestizierungen konnten nämlich auch reversibel sein, gerade wenn man es mit solchen Freigeistern wie Schweinen zu tun hatte.[18] Als weitere Domestizierungen kamen mit der Sesshaftwerdung Schafe, Hühner, Rinder, Ziegen und schließlich Pferde hinzu.[19]
Domestizierung erfolgte auf verschiedenen, einander keineswegs ausschließenden Wegen: Intensive Jagd brachte die Menschen dazu, den Tieren über lange Wegstrecken nachzuspüren, ihr Verhalten zu studieren und sich ihnen anzupassen. Daraus ergaben sich neue Wechselbeziehungen, die nach und nach in einer Domestizierung münden konnten. Umgekehrt wurden Tiere von menschlichen Gemeinschaften angezogen, weil dort Nahrung zu finden war. Attraktiv waren besonders Abfälle, die möglicherweise sogar – darauf wird gleich zurückgekommen – eine ganz entscheidende Rolle in der frühen Zivilisationsgeschichte spielten.
Tiere haben einen unterschiedlichen Nutzen für die Menschen. Rinder können als Zugtiere dienen, wofür aber verschiedene technische Innovationen vorhanden sein mussten, vor allem das Rad und der Pflug, aber auch geeignete Technologien der tierischen Anspannung, vor allem das Joch. Entsprechende Kombinationen lassen sich zwar bereits für das alte China und Mesopotamien nachweisen, jedoch waren sie keineswegs global verbreitet, und manche Gesellschaften wie die Azteken kannten sie gar nicht.[20] Die weiblichen Tiere gaben Milch, ihre Fäkalien waren ein guter Dünger und im Winter konnten sie Wärme liefern. Zudem dienten Rinder als Lieferant von Fleisch und Häuten. Ihre Reproduktionsfähigkeit war aber vergleichsweise gering, weshalb männliche Tiere bevorzugt aus der Herde aussortiert wurden. Anders als Schweine oder Ziegen bedurften sie zumeist der Aufsicht, was jedoch bei einem noch wenig intensiv betriebenen Ackerbau kein allzu großes Problem darstellte.
Schweine haben ein etwas anderes Profil: Zunächst ließen sie sich vergleichsweise einfach domestizieren. Bereits Wildschweine wurden von menschlichen Siedlungen als Nahrungsquelle angezogen, was bis heute eine alltägliche Erscheinung ist und in einer Metropole wie Rom sogar eine echte Landplage. Oftmals begleiteten sie menschliche Siedlungen in einem halbdomestizierten Status. Schweine taugten nicht als Zugtiere, dafür entwickelten sie sich schnell und konnten jung geschlachtet werden, ohne den Fortbestand der Population zu gefährden. Das wies ihnen potentiell eine wichtige Rolle im Risikomanagement früher Gemeinschaften zu, um sich gegen Missernten und andere Wechselfälle des Lebens abzusichern, zumal sie auch in mageren Jahren ihre Population zu halten vermochten.[21] Sie ermöglichten Siedlern dadurch ein hohes Maß an Autonomie, weswegen sie beispielsweise auch für die europäischen Einwanderer nach Nordamerika seit dem 16. Jahrhundert von großer Bedeutung waren.[22]
Schweine haben zudem einen großen Vorteil: Sie sind, anders als Rinder, keine Wiederkäuer, sondern Allesfresser. Sie können sich von menschlichen Abfällen ernähren und letztere auf diese Weise in tierische Proteine umwandeln. Zwar besitzen sie einen feinen Geruchssinn und sind durchaus wählerisch, wenn sie eine Wahl haben. Im Zweifelsfall essen sie jedoch beinahe alles, weshalb sie in frühen menschlichen Siedlungen gewissermaßen die Müllabfuhr darstellten. Ausgrabungen in Chabar Nazar im Norden Syriens ergaben Hinweise darauf, dass Schweine bereits vor dem zweiten Jahrtausend v. u. Z. innerhalb der Stadt gehalten wurden und sie Essensreste zu fressen bekamen.[23] Eine Funktion, die sie in veränderter Form in Kairo und anderen Orten bis heute erfüllen.
Es ist ein häufig geäußerter Verdacht, gerade das habe dazu geführt, insbesondere in Judentum und Islam die Haltung von Schweinen und vor allem den Verzehr von Schweinefleisch zu verbieten oder einzuschränken. Besonders streng waren diese Vorschriften im Judentum. Das alttestamentliche Buch Leviticus verbot den Verzehr und die Haltung von Schweinen, aber ebenso von vielen anderen Tieren. Konsequent umgesetzt wurde es jedoch beinahe nur bei ersteren, was oftmals damit erklärt wurde, Schweine hätten als unrein gegolten, weil sie sich von Abfällen ernährten.[24]
Das mag durchaus ein Grund gewesen sein, aber es spricht wenig dafür, dass dies allein ausschlaggebend gewesen ist. Schweine sind eigentlich nicht schmutziger als andere Tiere, und solche Reinheitsvorstellungen hätten beispielsweise auch das Verbot von Hunden begründen können: Diese wurden schon im Alten Testament als Aasfresser charakterisiert und ihr Fleisch galt als unrein.[25] Darum sind verschiedene andere Erklärungen dafür angeboten worden, etwa dass sich das Judentum gegenüber konkurrierenden religiösen Kulten und Ethnien – insbesondere den Philistern – in der Region abgrenzen wollte, oder dass Schweine den Menschen anatomisch besonders ähnlich sind und deswegen ihr Verzehr tabuisiert worden sei.[26] Eine sympathische Erklärung ist auch, die Haltung von Schweinen sei deshalb geächtet worden, weil sie menschlichen Gemeinschaften ein so hohes Maß an Autonomie ermöglichte, dass sie kaum effektiv beherrscht werden konnten.[27] Aber auch das bleibt letztlich spekulativ.
Jedenfalls führte besonders die Ausbreitung des Islams seit dem 7. Jahrhundert dazu, Schweine als Haustiere vielerorts zurückzudrängen.[28] Das geschah selbst an einem Ort wie Madagaskar, wo sich der Islam nach seiner Einführung im 10. Jahrhundert nicht dauerhaft etablieren konnte.[29] Eine den Schweinen vergleichbare Rolle spielten höchstens noch die Hunde, die bevorzugt Knochen und andere tierische Abfälle verspeisten, was sich an Bissspuren zeigen lässt. Hier zeigt sich aber auch, warum das Graben im Abfall für die Archäologie so große methodische Probleme aufwirft: Wo sich Hunde und Schweine an den Resten zu schaffen machten, blieb oftmals wenig übrig – und ganz sicher keine geordneten Ablagerungsstätten.[30]
Neben den Tieren, die der Mensch domestizieren konnte, gab es verschiedene tierische Begleiter, bei denen man eher von einem Kommensalismus sprechen sollte: Die Koexistenz (und Interaktion) zwischen Mensch und Tier spielte bereits für die Domestizierung eine wichtige Rolle, zog aber auch Tiere an, die zu dauerhaften Begleitern menschlicher Siedlungen wurden, ohne sich domestizieren zu lassen. Ratten stammten aus Kleinasien und sind, wie die Schweine, Allesfresser. Auch sie wurden von menschlichen Siedlungen und ihren Abfällen angezogen und zu ihren ständigen Begleitern.[31] Sie hatten, wie die Mäuse, den Vorteil, klein zu sein und sich so leichter unbemerkt an den Überresten der Menschen bedienen zu können. Sie revanchierten sich, indem sie ihre Eingeweide in die Nahrungsmittel- und Wasserspeicher der Menschen entleerten und so entscheidend zur Übertragung von Krankheiten beitrugen.[32]
Zu den Begleiterscheinungen der im Zuge der Sesshaftwerdung veränderten Mensch-Tier-Verhältnisse gehörten insofern nicht nur neue Lebensformen, sondern auch, wie bereits erwähnt, Krankheiten. Ian Morris hat argumentiert, die Bevölkerung sei nach der Sesshaftwerdung über viele tausende Jahre nur langsam gewachsen. Das ist deswegen erklärungsbedürftig, weil diese Lebensweise das Bevölkerungswachstum eigentlich fördert: Frauen wurden früher fruchtbar und konnten mehr Kinder bekommen, zumal Schwangerschaften die Mobilität der Gruppen nicht einschränkten. Tatsächlich wuchs die Zahl der Menschen aber lange Zeit nur langsam, weil Krankheiten und Epidemien die Population immer wieder dezimierten. Einen Grund dafür erblickt Morris in den Abfällen, die die sesshafte Lebensweise produzierte, die nicht nur domestizierte Nutztiere, sondern eben auch ungebetene Gäste wie Ratten oder Insekten anzogen. Erst als die Menschen zunehmend Resistenzen gegen häufig vorkommende Krankheiten ausbildeten, stieg die Bevölkerungszahl dauerhaft an.[33]
Damit stände der Müll gewissermaßen am Beginn einer menschlichen Zivilisationsgeschichte, die langfristig dramatische Folgen hatte. Die Resistenz gegen Krankheiten war eine der wichtigsten Folgen des langfristigen Zusammenlebens von Mensch und Tier. Diese gestaltete sich aber global sehr unterschiedlich, was später immer wieder als Argument in der Debatte darum verwendet wurde, warum es den Europäern seit dem späten 15. Jahrhundert gelang, große Teile der Welt zu unterwerfen. Tatsächlich gehört ihre fehlende Resistenz gegen die in Europa vorherrschenden Infektionskrankheiten zu den wichtigsten Gründen, warum die Völker der Amerikas den europäischen Kolonisten so wenig entgegensetzen konnten – und warum einige tausend spanische Soldaten (mit Verbündeten) ausreichten, um das mächtige Aztekenreich in die Knie zu zwingen.[34]
Die Müllprobleme der Frühgeschichte bekamen ab dem Zeitpunkt eine neue Dimension, als die Menschen damit begannen, in größeren Siedlungen oder in Städten zu leben. Das geschah in den Hochkulturen der Frühgeschichte, vor allem in Mesopotamien, Ägypten, Kreta und dem Indus-Delta. Das Zusammendrängen vieler Menschen auf engem Raum – häufig umschlossen von einer Mauer – provozierte neue Lösungen für den Umgang mit Fäkalien und Abfällen.
Zwangsläufig war das allerdings nicht unbedingt. Viele frühe Siedlungen, angefangen mit Çatalhöyük, begnügten sich damit, Fäkalien und Abfälle in den Häusern und um sie herum zu entsorgen. Auch die Toten wurden unter den Häusern bestattet. Viele der frühen Städte waren dabei tatsächlich bereits auf Müll gebaut und produzierten zugleich den Müll, auf dem sich ihre Nachkommen ansiedeln würden.[35] Das sollte noch lange Zeit so bleiben, und Grabungen nach mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Überresten ergaben immer wieder, dass Marktplätze und Straßen früher deutlich tiefer lagen.[36] Infolge der hinterlassenen menschlichen Überreste wurde das Bodenniveau angehoben, wobei im Römischen Reich häufig einfach Kiesschichten auf die mit Dreck übersäten Straßen gekippt wurden.[37] Die Anhebung des Bodenniveaus war in der Frühgeschichte aber auch der Verwendung ungebrannter Lehmziegel als Baumaterial geschuldet. Diese ließen sich kaum wiederverwenden, und im Niedergang befindliche Siedlungen konnten darum nur sehr begrenzt – wie das später der Fall war – als Materiallager dienen. Stattdessen sanken sie gewissermaßen in sich zusammen, wurden üblicherweise wenig instand gehalten, Abfälle kaum noch achtsam entsorgt.[38]
Trotzdem lassen sich für viele frühe Städte beachtliche zivilisatorische Techniken ausmachen, um mit ihren Überresten umzugehen. In Uruk, der größten Stadt Mesopotamiens, waren nicht nur Schrift und Geld in Gebrauch, sondern es existierte auch bereits ein Kanalsystem zur Abfuhr von Fäkalien und Abfällen.[39] Im altägyptischen Herakleopolis wurden zur Zeit der 9. und 10. Dynastie (ca. 2170 v. u. Z.) die Abfälle der Eliten gesammelt und im Nil entsorgt. Die Maya wiesen Plätze für die Entsorgung organischer Abfälle aus. In Troja scheint der Müll einfach vor die Tür gekehrt worden zu sein, aber in Athen lassen sich im 5. Jahrhundert v. u. Z. bereits eine Straßenreinigung (durch die sog. Koprologoi) und so etwas wie eine Mülldeponie nachweisen.[40]
Nur in wenigen frühen Siedlungen und Städten gelang es, Exkremente und Trinkwasser getrennt zu halten. Das schuf regelmäßig einen nahezu perfekten Nährboden für Parasiten und Infektionskrankheiten wie Cholera und Ruhr.[41] Ein besonders bemerkenswertes Beispiel für eine frühe Form einer avancierten Abfallentsorgung war allerdings Mohenjo-Daro im Indus-Delta, der wichtigsten Stadt der Harappa-Kultur. Archäologische Ausgrabungen identifizierten ein dichtes Netz von gemauerten Kanälen, die aus den Häusern zum Indus führten und die der Abfuhr von Fäkalien und häuslichen Abfällen dienten. Besonders waren dabei zum einen die Hinweise darauf, diese Kanäle seien mit Holzbrettern bedeckt gewesen, was auf ein frühes «geschlossenes» Kanalsystem hindeutet. Zum anderen wurden die Kanäle immer wieder von Sickergruben unterbrochen, in denen sich feste Abfälle ansammelten und die öfter geleert werden mussten.[42]
Weil dieses Kanalsystem folglich einen regelmäßigen Arbeitseinsatz erforderte, wurde gefolgert, Mohenjo-Daro hätte zu den ersten Städten der Menschheitsgeschichte mit einer Müllabfuhr gehört. Es ist allerdings keineswegs klar, ob es dafür wirklich spezialisierte Dienste gab, zumal die Schrift der Harappa-Kultur noch nicht entziffert ist. Das ist aber vielleicht auch gar nicht so entscheidend angesichts der Lösungen, die hier für Fäkalien und Abfälle gefunden wurden. Das Beispiel Mohenjo-Daro macht deutlich, wie das Zusammendrängen von Menschen in Städten regelmäßig zu einem Innovationsschub führte. Hier wurde – offensichtlich auch als Reaktion auf klimatische Veränderungen – ein System der Wasserversorgung, Fäkalienabfuhr und Abfallentsorgung entwickelt, dessen technisches Niveau erst tausende Jahre später in Rom wieder erreicht werden sollte.[43]
Wann immer man die humane Frühgeschichte enden lässt: Es waren die frühen städtischen Zivilisationen, die neue Wege entwickelten, mit Abfällen umzugehen, weil sich das Problem in Städten eben auch auf eine ganz andere Art und Weise stellte. Zugleich blieben diese Lösungen aber vereinzelt und reversibel. Ganz sicher lässt sich nicht von einem eisenzeitlichen Niveau der Städtehygiene sprechen. Dafür waren die Verbindungen noch zu dünn und das Moment gegenseitiger Beobachtung und des Wissenstransfers, das für die Städtehygiene später so wichtig werden sollte, kaum vorhanden. Es zeigt sich jedoch: In dem Moment, wo viele Menschen an einem Ort zusammenlebten, entstanden nicht nur neue Müllprobleme, sondern es wurden auch immer wieder kreative Lösungen dafür gefunden.
The art of living together without turning the city into a dunghill has [to be] repeatedly discovered.
(Aldous Huxley[1])
Das alte Rom wurde bekanntlich auf (tatsächlich mehr als) sieben Hügeln errichtet. Wer allerdings heute durch die Stadt läuft, kann leicht feststellen, dass nicht alle diese Hügel auf natürlichem Wege entstanden sind: Am Ostufer des Tibers, in der Nähe des früheren Hafens, befindet sich der Monte Testaccio. Dieser Berg, 50 Meter hoch und 1000 Meter im Umfang, ist tatsächlich eine ehemalige Großdeponie, auf die die Römer die zerbrochenen Amphoren vom Typ Dressel 20 entsorgten. Diese Behälter mit einem Fassungsvermögen von 70 Litern waren gewissermaßen die Transportfässer des Römischen Reiches. Darin wurden Weizen und anderes Getreide, vor allem aber Olivenöl transportiert. Erst der Bau der Aureleanischen Mauer im 3. Jahrhundert ließ die Deponie nach und nach außer Gebrauch geraten.[2] Rom gehörte zwar zur Zeit Kaiser Augustus’ mit etwa einer Million Einwohnern zu den größten Städten der Welt und war wegen seiner hohen Abhängigkeit vom Handel ein Sonderfall.[3] Trotzdem ist der Monte Testaccio ein Hinweis darauf, wie lange die Anstrengungen in den Städten zurückreichen, mit ihren Abfällen tatsächlich umzugehen.
Monte Testaccio 1940/45[4]
Das gilt es zunächst festzuhalten angesichts häufig zu lesender Beschreibungen, vormoderne Städte seien unsagbar schmutzig gewesen und die Menschen hätten Fäkalien und Müll einfach aus dem Fenster geworfen. Eine solche Sorglosigkeit findet sich praktisch nirgendwo. Abfälle stellten schließlich nicht nur ein hygienisches Problem dar, sondern auch ein praktisches: Sie nahmen Platz weg, wurden zu einem Verkehrshindernis und zogen Tiere an. Selbst dort also, wo sich die Menschen am Anblick von Abfallhaufen nicht störten und die Nasen unempfindlich waren, musste in irgendeiner Form für ihre Beseitigung gesorgt werden.
Die historische Forschung zum Müll kennt, abseits seiner Behandlung als archäologische Quelle, eigentlich nur einen Gegenstand, und das ist die Stadt. Der Umgang mit Abfällen in ländlichen Regionen wird höchstens am Rande behandelt, woraus sich aber auch eine gewisse Verlegenheit ergibt: Der Urbanisierungsgrad in der Vormoderne war niedrig, und noch um 1800 lebten nicht einmal zehn Prozent der Weltbevölkerung in urbanen Räumen.[5] Gewichtet man darum nicht falsch, wenn man sich zu stark auf die Städte konzentriert?
Urbanisierung 1500 bis 2016[7]
In Bezug auf den Müll ist dieser Urban Bias jedoch berechtigt. Es waren vor allem die Städte, wo der Abfall zum Problem wurde. Hier wurden die frühesten Vorschriften erlassen und Maßnahmen ergriffen, um der Müllprobleme Herr zu werden. In ländlichen Räumen war das nicht so: Dort fanden sich zumeist naheliegende und einfache Wege, mit Abfällen umzugehen. Ein gutes Beispiel dafür ist China: Städte waren dort über Jahrhunderte dafür bekannt, über Senkgruben und öffentliche Toiletten Fäkalien und Abfälle für die landwirtschaftliche Nutzung zu sammeln. Die Landbevölkerung hingegen musste während Maos großangelegter Gesundheitskampagnen in den 1950er und 60er Jahren von den staatlichen Medizinern erst über den Nutzen von Senkgruben aufgeklärt werden, die sie dann auch noch häufig «falsch» benutzte.[6] Zudem nahm während des 19. und 20. Jahrhunderts der Urbanisierungsgrad stark zu. Der Fokus auf die Stadt legt somit auch die Vorgeschichte der modernen Müllprobleme frei, die – bis heute – in urbanen Räumen am größten sind.
Die US-amerikanischen Umwelthistoriker Joel Tarr und Martin Melosi haben mit einem treffenden Ausdruck von der Stadt als der Gebauten Umwelt des Menschen gesprochen.[8] Mit diesem Ansatz eröffneten sie in den 1980er Jahren ein neues Feld für die Umweltgeschichte, die sich bis dahin fast ausschließlich auf die natürliche Umwelt des Menschen konzentriert hatte: also Meere, Berge, Wälder und ihre Gefährdung durch menschliche Eingriffe. Doch bei genauerem Hinsehen ist es bereits gar nicht so einfach, zu bestimmen, was diese «natürliche» Umwelt genau sein soll, denn Menschen haben seit langem und auf schwerwiegende Weise in die Natur eingegriffen.[9] Wenn sich aber die natürliche Umwelt als gestaltet erweist, wie lässt sie sich dann konsequent von der «gebauten» Umwelt unterscheiden? Tritt sie den Menschen nicht ganz ähnlich wie die «natürliche» gegenüber, und ließe sich das Wechselverhältnis zwischen ihnen nicht auf ähnliche Weise beschreiben? Die Konsequenz daraus wäre, Städte als menschliche Artefakte zu begreifen, die die Spielräume menschlichen Handelns und Wirtschaftens zugleich bestimmen und begrenzen.
Ein solches Verständnis urbaner Räume ist für eine Müllgeschichte sehr nützlich. Die Stadt selbst tritt aus dieser Perspektive in gewisser Weise als ein Naturprodukt hervor: Ihre bauliche Gestalt hing von topographischen und klimatischen Bedingungen ab. In wärmeren Regionen wurden die Häuser anders gebaut als in kälteren. Die Straßen unterschieden sich, je nachdem wie viel Regen fiel, ob die Städte auf Erhebungen gebaut waren oder auf einer flachen Ebene. Ob die Stadt an einem Gewässer lag, spielte ebenfalls eine große Rolle, und auch der Sicherheitsaspekt war wichtig, ob es eine Mauer und andere Verteidigungsanlagen brauchte oder ob darauf verzichtet werden konnte. Diese bauliche Gestalt entschied in der Vormoderne über den Stoffwechsel der Städte mit ihrem Umland und ihr Umweltmanagement.
Mit Stoffwechsel und Umweltmanagement ist gemeint: Menschen, Güter, Wasser kamen in die Stadt, aber auch wieder aus ihr heraus. Städte konnten höchstens bei Belagerungen über kurze Zeit und unter Austestung der absoluten Belastungsgrenzen autark bleiben. Vielmehr definierten sie sich geradezu über Austauschbeziehungen mit ihrem näheren und weiteren Umland, das sie auf diese Weise gewissermaßen in Beschlag nahmen. Das galt für Waren, Menschen und Ressourcen. Zugleich erzeugten Städte Belastungen, mit denen sie in irgendeiner Weise umzugehen hatten: Sie mussten Abfälle und Tierkadaver beseitigen, Leichen beerdigen, dafür sorgen, dass die verschiedenen schmutzigen Gewerbe – besonders Färber, Gerber und Metzger – sich möglichst wenig in die Quere kamen und die urbane Umwelt nicht zu stark verschmutzten. Auch dieses Umweltmanagement stellte also letztlich eine Form des Stoffwechsels dar.
Ein solches Umweltmanagement war auch deshalb geboten, weil bei allen Unterschieden die Städte in der Vormoderne eine große Gemeinsamkeit hatten: Sie waren ungesunde Orte. Der Ausdruck Urban Graveyard Effect (oder auch Urban Penalty) bezeichnet anschaulich den Tatbestand, dass in einer Stadt üblicherweise mehr Menschen starben als geboren wurden, was nicht zuletzt mit der hohen Kindersterblichkeit zu tun hatte.[10] Städte konnten ihre Bevölkerung nur durch Zuwanderung halten oder vergrößern – womit aber zugleich fortgesetzt Menschen in urbane Räume kamen, die an deren spezifisches epidemiologisches Umfeld nicht gewöhnt waren. Städte waren am stärksten von Epidemien wie der Pest betroffen, die seit dem 14. Jahrhundert global verstärkt auftraten und einen späten Höhepunkt in den Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts erlebten.
In welchem Maße der Müll dabei zum Problem wurde, hing von mehreren Faktoren ab. Die Zahl der Bewohner und wie eng sie zusammenlebten, waren wichtig, und bis heute haben größere Städte tendenziell größere Müllprobleme als kleinere. Es war aber insgesamt das Zusammenspiel von Klima, Topographie, Bevölkerungsdichte, baulicher Gestaltung, Wirtschaftsstruktur und Außenbeziehungen, die bestimmten, wie dringend Lösungsstrategien für urbane Abfälle gefunden werden mussten. Im Folgenden soll anhand verschiedener Aspekte, die von der Stadtmauer bis zur Straßenpflasterung reichen, gezeigt werden, wie die gebaute Umwelt von Städten und der Umgang mit Abfällen miteinander zusammenhingen. Dabei gilt es aber stets zu bedenken: Städte bestehen nicht nur aus Steinen, Holz und Mörtel, sondern auch aus sozialen Strukturen und Gegebenheiten. Sie sind nicht einfach eine Zusammendrängung von Menschen in einen Rahmen aus Holz, Lehm und Stein, sondern Evolutionsbeschleuniger, die eine differenzierte Sozial- und Gewerbestruktur hervorbrachten, neue Formen sozialer Repräsentation und Selbstdarstellung begünstigten. Lewis Mumford hat es klassisch zugespitzt:
Die grundlegenden physischen Mittel der Stadt sind der dauerhafte Schutz, die ständigen Einrichtungen zur Versammlung, Austausch und Lagerung; das soziale Mittel ist die Arbeitsteilung, die nicht nur dem wirtschaftlichen Leben dient, sondern auch der kulturellen Entwicklung. Die Stadt ist zusammengefasst ein geographischer Plexus, eine wirtschaftliche Organisation, ein institutioneller Prozess, ein Theater sozialer Handlungen und ein ästhetisches Symbol kollektiver Einheit. Die Stadt beschirmt die Kunst und ist die Kunst; die Stadt schafft das Theater und ist das Theater.[11]
Dieses Theater fand seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Austragung und Moderation von Konflikten zwischen verschiedenen Parteien und Interessengruppen. Praktische Maßnahmen zum Umgang mit Abfällen und Fäkalien mussten im Rahmen einer komplizierten Sozialstruktur und gravierender Interessenkonflikte verhandelt werden. Es galt einen Ausgleich zu finden, der zugleich die Ordnung der alten Stadt bestätigte.[12] Hierarchien und die konkreten Praktiken der Konfliktaustragung konnten ein effektives Umweltmanagement dabei auch immer wieder behindern. Es gab insofern keinen Lösungsautomatismus für die sanitären Probleme einer Stadt. Keineswegs diente das Umweltmanagement unbesehen dem Gemeinwohl und war darum im Interesse aller. Vielmehr schränkte es immer wieder die Handlungen von Personen oder Handwerkern ein, die sich das regelmäßig nicht gefallen ließen. Nicht zuletzt erforderte es Aufwand und Arbeit – und war auch darum immer wieder kompliziert durchzusetzen.
Ein wesentlicher Aspekt dieser gebauten Umwelt und für die vormoderne Abfallgeschichte von kaum zu überschätzender Bedeutung waren Topographie und Klima. Das wird leicht übersehen, denn neue Bautechniken und die technischen Infrastrukturen der Abfallsammlung ermöglichten es seit dem 19. Jahrhundert, sich von diesen natürlichen Voraussetzungen nach und nach zu emanzipieren. Tatsächlich könnte die Abfallsammlung heute in Nairobi prinzipiell mit denselben technischen Mitteln durchgeführt werden wie in Tromsǿ. In der Vormoderne sah das aber noch völlig anders aus, weil technische Infrastrukturen der Abfallsammlung höchstens rudimentär vorhanden waren und die Entsorgung zumeist auf Selbstorganisation beruhte.
Topographie und Klima beeinflussten aber auch die Art von Überresten, die in vormodernen Städten anfielen. Gelegentlich finden sich in der Literatur Schätzungen zu den Mengen von Abfällen und Fäkalien. So spricht J. Theodore Peña beispielsweise von etwa 190 Kilogramm, die ein römischer Bürger pro Jahr an Abfällen (ohne Fäkalien) produzierte – eine Menge im Übrigen, die ein Italiener heute in einem Monat wegwirft.[13] Krakóws 20.000 Einwohner sollen im 15. Jahrhundert im Jahr um die 110.000 m3 Reststoffe hinterlassen haben, wovon etwa neun Zehntel Fäkalien und ein Zehntel eigentlicher Abfall waren. Eine Familie von fünf Personen benötigte zur Füllung einer Senkgrube mit einem Kubikmeter Inhalt etwa sieben Jahre.[14] Tiere waren in diese Rechnungen aber offensichtlich nicht einbezogen: Gerade in europäischen Städten wurden in Mittelalter und Früher Neuzeit viele Tiere gehalten, und eine ausgewachsene Kuh konnte am Tag 27–35 kg, ein Pferd 20–40 kg Dung absondern.[15] Sicher sind solche Schätzungen – wie die Abfallstatistik bis heute – mit äußerster Vorsicht zu behandeln. Sie verdeutlichen dennoch, dass die Entsorgungsprobleme vormoderner Städte zu einem guten Teil in menschlichen und tierischen Fäkalien bestanden, weniger in dem, was wir heute landläufig in einer Mülltonne vermuten würden.
Die konsequente Trennung zwischen Abwässern, Fäkalien und festen Abfällen sollte sich erst seit dem 19. Jahrhundert im Rahmen der Installierung technischer Infrastrukturen – vor allem von Kanalisationssystemen – durchsetzen. Allerdings gab es etwa in Bologna oder Florenz in der Frühen Neuzeit schon die Trennung zwischen nassen und trockenen Senkgruben.[16] Gerade wenn etwas wiedergenutzt werden sollte, war es sinnvoll, Fäkalien getrennt zu halten. Aber trotzdem vermischten sich Küchenabfälle, Knochen, zerbrochene Gegenstände oder Fäkalien immer wieder, und in den Verordnungen zur Sauberhaltung einer Stadt gingen die Begriffe aus heutiger Sicht zumeist munter durcheinander.[17] Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lässt sich eine schärfere begriffliche Abgrenzung beobachten.[18] Abfälle waren insofern in der Regel schlammiger und feuchter als heutzutage, zumal häufig noch Küchenwasser hinzukam.
In der Vormoderne gab es hauptsächlich zwei Wege, Abfälle aus der Stadt zu schaffen: Sie wurden abgeschwemmt oder sie sammelten sich in Senkgruben oder Latrinen an und wurden dann nach kürzerer oder längerer Zeit abtransportiert.[19] Sie zu verbrennen, war aufgrund der Zusammensetzung schwierig. Dafür konnten Abfälle jedoch umso leichter ins Fließen gebracht werden. Inwiefern das wiederum gelang, hing nicht zuletzt mit der Topographie einer Stadt zusammen. Es ging vor allem darum, ob sie Gefälle nutzen konnte oder nicht, ob sie auf einem Hügel lag oder sich über eine flache Ebene erstreckte.[20] Rom profitierte von seiner hügeligen Topographie und konnte über die Cloaca Maxima, deren Bau sich bis auf das 6. Jahrhundert v. u. Z. zurückführen lässt, die aber lange Zeit lediglich aus offenen Kanälen bestand, große Mengen Abwässer und Abfälle in den Tiber abschwemmen.[21] Konstantinopel hatte die längste Zeit seiner Geschichte wenige Probleme mit der Entsorgung, weil die Stadt sowohl ausgeprägte Gefälle nutzen konnte, als auch mit dem Bosporus und dem Marmarameer Gewässer mit starker Strömung vorhanden waren.[22] Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sollte die hügelige Topographie der Stadt die Etablierung einer regulären Abfallsammlung behindern, weil sie den Einsatz von Fuhrwagen erschwerte.[23]
Andere Städte hingegen, etwa die jungen Städte an der amerikanischen Ostküste oder das indische Madras, konnten praktisch kein natürliches Gefälle zur Abfuhr ausnutzen.[24] Wenn die Abfälle nicht innerhalb der Stadt landwirtschaftlich genutzt wurden, dann blieb nur die Lösung, sie mit Karren oder anderen Hilfsmitteln aus der Stadt zu transportieren. Dabei stellte sich aber immer die Frage des Aufwands: Je größer die Stadt, umso komplizierter wurde es, den Müll herauszuschaffen. Zu den Gründen, warum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die bis dahin oftmals übliche Nutzung städtischer Abfälle für die Landwirtschaft in der Umgebung nicht mehr gut funktionierte, gehörte auch, dass viele Städte zu groß und zu bevölkerungsreich geworden waren, um bis dahin praktizierte Austauschverhältnisse fortzusetzen.[25]
In engem Zusammenhang mit der Topographie stand die Frage, ob die Stadt an einem Fluss, einem See oder am Meer lag. In der Regel waren Flüsse für die Entsorgung hilfreich, denn ihre Strömung ließ sie nicht so leicht verlanden. Sedimente setzten sich vor allem im Bereich der Mündungen ab, die darum später ebenfalls zu einem Ziel archäologischer Untersuchungen wurden. Sofern es eine Wahl gab – etwa in Städten mit mehreren Flussarmen –, bevorzugte man Gewässer mit starker Strömung. Die Entsorgung von Abfällen in Kanälen – wie das beispielsweise aus China überliefert ist – war hingegen zumeist verboten, weil diese später freigeräumt werden mussten.[26] Das Meer mit seinen Gezeiten war für die Entsorgung wiederum besonders kompliziert, denn mit der Ebbe abgeschwemmter Müll kam bei Flut oft zurück. Damit machten beispielsweise Amsterdam, Nizza, London oder Liverpool im 19. Jahrhundert schlechte Erfahrungen, als sie ihre Müllprobleme durch das Abkippen im Meer zu lösen versuchten: Die Abfälle wurden regelmäßig wieder angeschwemmt oder landeten in den Netzen der Fischer.[27] Schwimmer vor der Küste New Jerseys fanden sich im späten 19. Jahrhundert sprichwörtlich in einem Teppich aus schwimmendem Unrat der benachbarten Metropole New York wieder, den letztere 20 Meilen vor der Küste in Sandy Hook entsorgte.[28]