Muzungu - Christoph Nix - E-Book

Muzungu E-Book

Christoph Nix

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Beschreibung

Liv Utstedt, die sich in Uganda bei "Ärzte ohne Grenzen" engagiert, wird tot im Haus des schwedischen Kulturattachés in Kibuli aufgefunden. Sie wollte die Welt aufrütteln. Unerträglich war ihr das Versagen der ugandischen Regierung gegenüber der Lords Resistance Army, die Korruption und der Machtmissbrauch. Die Spur ihrer Mörder führt zurück in die 1980er Jahre, als sie eine Affäre mit dem damals im schwedischen Asyl lebenden jetzigen Präsidenten hatte – in dem Jahr, als Olaf Palme, ihr Vorbild im Kampf gegen die Apartheid, erschossen wurde…

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Seitenzahl: 251

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Für Ti

©2018 by : TRANSIT Buchverlag

Postfach 121111 | 10605 Berlin

www.transit-verlag.de

Umschlaggestaltung, unter Verwendungeines Fotos von Johannes Nix, und Layout:

Gudrun Fröba

ISBN 978-3-88747-362-4

eISBN 978-3-88747-353-2

Christoph Nix

MUZUNGU

Inhalt

Vorbemerkung

ERSTES BUCH

Oanda Malungo öffnete seine Augen

Im Palast brannte noch Licht

Die Straße führt steil bergauf

Oanda blieb im Zimmer stehen

Liv war aufgewacht

Aseveni hatte den Tag begonnen

Joseph Baptist Olama

Heute ist unser Hochzeitstag

Er ist ein alter Mann

Oanda läuft über die Felder

Jessen, was willst du hier

Uvivu – Langeweile

Ein Verhör

Kommen Sie herein

Oanda lief unruhig auf und ab

Jessen war Rennfahrer

Ein Lied in der Nacht

Hast du es nicht gehört?

Die Hand aufhalten

Swarsson schwule Sau

Nach Kenia

ZWEITES BUCH

Liv liebte das Meer

Es ist ein Mädchen

Was war mit Maputo geschehen?

Du kommst ohne College durch die Welt

Sie fuhren zu schnell

Jana war in Karamoja

Erika Lausing

Oanda und Anoa

Es fiel Schnee

Erika hatte mit Liv telefoniert

Die Ermittlungen

Was war in dieser Nacht

Auf dem Weg nach Karamoja

Zurück nach Kampala

DRITTES BUCH

Dem Kind ein Gesicht geben

Ihr habt euch verändert

Der erste Schnitt

Glossar

Dank

Vorbemerkung

Ich habe Liv Utstedt im Mai 1998 kennengelernt. Sie arbeitete als Assistenzärztin am Tropeninstitut der Stockholms universitet. Wir trafen uns auf einem Kongress der Vereinigung Ärzte ohne Grenzen. Sie war blond, schlank, hatte schmale rote Lippen, und man hatte den Eindruck, ihre Schönheit sei ihr lästig. Sie war eine Rebellin. Die Eroberungszüge der Großmächte sollten aufhören, die Armen sollten ein menschenwürdiges Leben führen. Das war, kurz und knapp, ihr Programm. Manchmal bekam man den Eindruck, die junge Frau sei aus einem schwedischen Bilderbuch gefallen. Sie erzählte mir von ihrem Vater. Gelegentlich hatte sie ihn in Lappland auf die Jagd begleitet. Ich sah in meinen Gedanken, wie Vater und Tochter durch den Schnee pirschten und auf Spurensuche gingen: Rentiere und Füchse, Hasen und Enten. Ich hörte die Schüsse, ich sah, wie das Kind sich die Ohren zuhalten musste. Diese Bilder haben mich nie verlassen, sie sind immer da, wenn ich an Liv denke.

Damals in Stockholm entschied ich mich für meinen Einsatz in Afrika. Wir sprachen über Tropenkrankheiten und über unsere eigenen Ängste vor Malaria oder vor Spinnen, Schlangen und Reptilien. Wir hatten immer merkwürdige Gespräche. Wissen Sie etwas über die Beschaffenheit des Schnees am 70. Breitengrad? Hat Sie das nie interessiert? Je mehr wir über Afrika sprachen, desto näher rückte für uns auch der Reiz, irgendwann einmal zum Nordpol zu laufen.

Viele Jahre später erzählte mir ein Beduine, das sei völlig normal, denn die Beschaffenheit der Muster von Schnee und Sand sei sehr ähnlich. Er zum Beispiel könne in den unterschiedlichen Sandformationen der Wüste genau erkennen, wo er sich geographisch gerade befinde, und er habe gehört, dass es den alten Inuit sehr ähnlich geht. Wenn man die Zeichen zu lesen wisse, so könne man sich in der Wüste und im Schnee nie mehr verlieren. Wie aber liest man im Schnee und wie versteht man die Spuren im Sand? Welche Lesarten beherrschen wir noch, wenn wir auf Spurensuche gehen?

Für einen plastischen Chirurgen gibt es in den Dörfern des afrikanischen Kontinents viel zu tun. Ich schaue in entstellte Gesichter und versuche, verletzte Körperteile zu reparieren. Verbrennungen, Bisse von wilden Tieren, Narben nach Schlangenbissen oder Nabelbrüche sind an der Tagesordnung. Manchmal braucht es gar kein großes chirurgisches Geschick und man kann einen Menschen wieder beruhigt anschauen. Es ist keine Zauberei. Es ist schlichtes Handwerk. Aber es geht immer um den ersten Schnitt. Das Skalpell dringt ein, die Hautschicht wird aufgerissen und später mehr.

Der erste Schnitt ist es, der einem weh tut. Auch ein Detektiv ist ein Handwerker, er liest in den Gesichtern, er deutet anderer Menschen Verhalten, er sucht nach Spuren und nach einer Lesart. Er rekonstruiert den letzten Schnitt.

Liv wünschte mir viel Glück bei meiner Arbeit, und ich wünschte sie irgendwann einmal wiederzusehen, vielleicht auf auf einem Marktplatz in Bujumbura oder an der Mündung des Nils. Die Geschichte, die ich zu erzählen habe, beginnt im Jahre 2012. Der ugandische Präsident Yakob Aseveni hatte 2011 zum dritten Male als Präsident kandidiert, er war gewählt worden und er würde im Jahre 2016 wohl erneut Präsident werden. Diese Praxis entspricht mittlerweile allen Diktatoren in Afrika, sie lassen sich wählen, und es fließt jedes Mal Blut. Im Kongo, in Burundi, in Ruanda oder in Zimbabwe. Die Tragödien Afrikas bestehen in der Fortsetzung der kolonialen Politik. Die schwarzen Herrscher haben die Unterdrückungsformen der Weißen übernommen. Opfer sind zu Tätern geworden. Sie bestimmen über Massaker, Vernichtungszüge und Folter – und über die Verteilung der Reichtümer.

Liv war auf Spurensuche. Sie kam über den Flughafen von Entebbe, auf der Spur einer afrikanischen Familie, die dreißig Jahre vorher nach Göteborg gekommen war und um Asyl ersucht hatte. Sie war damals auf der Flucht und bekam Hilfe. Später ist die Familie Aseveni zurückgekehrt nach Uganda und heute so mächtig wie kaum ein anderer Clan auf dem afrikanischen Kontinent.

Philipp Lang

ERSTES BUCH

Oanda Malungo öffnete seine AugenHerbst 2012

Oanda Malungo öffnete seine Augen. Er hörte, wie jemand mit der Faust gegen die Wand seiner Hütte schlug. Seine Frau war bereits aufgestanden, aber die Kinder schliefen noch. Anoa berührte ihn an der Schulter und er hörte, wie sie mit ihrer Atemluft das Feuer anblies. Er sah in ihr Gesicht, sprang auf und schlug das wollene Tuch zur Seite. Er blickte in das Scheinwerferlicht eines grünen Geländewagens, aber kein Mensch war zu sehen. Wollte man ihn holen? Hatte er Gründe dafür geliefert? Gab es einen Befehl? Gar einen Putschversuch eines ihrer Generäle?

»Wer ist da?«, rief er in die Nacht hinein. Stille.

Jetzt erst die Stimme seines Freundes: »Komm endlich, wir müssen los!«, rief er aus dem Dunkel.

Oanda hatte Glück, nichts war passiert. Aber er stand da und konnte sich nicht bewegen.

»In Kibuli ist ein Muzungu erschlagen worden, wir sollen hin, wir sind die Einzigen, die sie erreicht haben, wir sollen das Gelände sichern.« Momba stand vor ihm. Ein dünner, schlaksiger Kerl mit abstehenden Ohren und einer großen Nase. Oanda freute sich. Er umarmte ihn, danach ein Lächeln für seine Frau, eine Berührung für seine beiden Kinder. Er setzte sich auf den Beifahrersitz. Anoa wusste, ihr Mann war in guten Händen und ging zurück in das Innere ihrer kleinen blechernen Hütte.

Die beiden Männer fuhren eilig davon. Momba rauchte. Oanda hustete.

»Mein Kleiner ist sehr sensibel«, spöttelte Momba.

»Und du bist ein lasterhafter Bursche!« Oanda schlug dem Freund auf den Rücken. Momba trug seine Sonnenbrille, die ihm gerade von der Stirn auf die Nase gerutscht war. Sie sollte ihn gefährlich aussehen lassen.

»Kannst du überhaupt irgendetwas sehen?«

»Alles, vor allem zwei schwarze Bauarbeiter beim Kohle tragen.«

»Du Rassist. Fühlst du dich wie ein Weißer?«

»Du bist dafür ein Luftikus.«

»Ja, so bin ich, wie sonst?«

Der Militärjeep stank nach Diesel wie eine marode Raffinerie. Aber der Motor surrte gleichmäßig, und es schien ihnen, als würden sie fliegen – über die lehmgestampften Straßen, den stinkenden Müll, die toten Hunde, den zähen Schlamm und den nächtlichen Urin. Menschen liefen wie Geister durch die Nacht, lagen an Straßenrändern oder dösten an Bäume gelehnt vor sich hin. Es roch auch nach Holzkohlenfeuer, gebratenen Hühnern und nach der roten Erde. Es hatte etwas von Geborgenheit, es gab keine Gefahr, bald würde die Sonne aufgehen und der Geräuschpegel über Kampala lauter werden. Jetzt kam das einzige Geräusch von ihrem Auto, nichts anderes war zu hören. Es gab keine Straßenlampen wie in Europa, nur Holzfeuer und Petroleumlampen wie in Kigali, Bujumbura oder Lilongwe. Friedliche Bilder einer afrikanischen Nacht. Frauen, die auf ihren Köpfen schwere Lasten trugen, Bettler, die auf dem Boden lagen, Händler mit Töpfen und Taschen, das nächtliche Kasozi ka Impala, die Hauptstadt Ugandas kurz vor Sonnenaufgang. Kampala inmitten grüner Berge.

»Alle wichtigen Städte der Erde haben sieben Hügel wie das legendäre Rom, das alte Aleppo und Kampala-City. Wusstest du das?«, fragte Momba.

»Klar, sieben ist eine heilige Zahl.«

»Und Kampala ist älter als Rom, viel älter als das alte Europa«, ergänzte Momba und äffte Oanda nach.

»Woher kamen die Menschen? Von überall?«, rief Oanda lauthals. »Die ersten Menschen, Momba, kommen doch aus Afrika, oder?«

»Malawi«, lachte Momba, »das weiß doch heute jeder. Aus mit dem Geschichtsunterricht für Anfänger.« Zwei fröhliche junge Burschen fuhren zu einem Toten und waren froh, keinen Grund für schlechte Morgenlaune zu haben.

Wenn man auf dem Weg zu den Toten ist, muss man ihnen mutig begegnen. Sie hatten den verdammten Hunger schon vergessen, aber jetzt kam dieses blöde Gefühl wieder hoch. Keiner der beiden hatte seit gestern Mittag etwas gegessen. Oanda liebte Kampala und er liebte die Menschen in dieser Stadt. Trotz des Drecks, den sie machten, ihres ständigen Lärms, ihrer Krüppel und Bettler, die versuchten, ihr Leben zu bewältigen, sich schinden ließen und von den alten und den neuen Herren wie Arbeitstiere benutzt wurden. Wo findet man einen Platz, seine Kinder zu ernähren, sein Leben zu meistern? Besser die Blechhütten am heißen Oalihang als auf der Straße, besser einfacher Soldat sein als ein Henker.

»Grübelst du?«, fragte der Freund. Eilig liefen die Menschen auseinander, misstrauisch schauten sie aus der Dunkelheit in das Innere des Wagens, senkten ihren Blick, wenn sie erkannten, dass es Soldaten waren. Was führten die wieder im Schilde?

»Wo hast du eigentlich die Zigarette her?«, fragte Oanda. »Ich habe sie dem Weißen im Ministerium vom Schreibtisch genommen«, antwortete Momba.

»Das ist Diebstahl«, sagte Oanda.

»Nein, ein Freundschaftsdienst. Ich rauche sie für ihn, damit er nicht krank wird und noch lange gesund bleibt.« Der Motor stotterte.

»Reicht unser Benzin?«

»Ich weiß nicht, die Tankanzeige ist immer noch defekt und die Tankanlage in der Kaserne war leer.«

»Wenn es zu Ende geht, müssen wir eben laufen.«

»Hat Maputo dir kein Geld gegeben zum Tanken?« Da musste Momba aber grinsen, über beide Ohren, so dass Oanda seine weißen Zähne sehen konnte.

»Momba, hast du schon einmal Schokolade gegessen?«

»Igitt, dieses schmierige, schwarze Zeug? Never. Und es kostet auch noch Geld. Viel Geld.« Geld hatten sie schon lange keines mehr gesehen.

»Geld regiert die Welt«, sang Momba vor sich hin. Warten auf Geld. Warten auf Essen. Warten, bis der Vater wieder nach Hause kommt. Warten, dass der Diktator stirbt. Warten, dass die Engländer gehen. Warten, dass ein König kommt. Warten, dass alles anders wird, warten, ob die nächste Malaria kommt. Warten auf…

»Erinnerst du dich noch an den 5000-Schilling-Schein, den wir einmal in Händen hielten und zurückgaben?«

»Ja, er war grün, auf der einen Seite war ein Schiff, die Kawaa Ferry…«,

»… und auf der anderen Seite war der Lake Bunyonyi, und ein Kranich flog durch die Luft, der Kranich der alten Könige.«

»Wir waren dumm, wir hätten das Geld einfach behalten sollen.«

Momba summte eines der alten Lieder vor sich hin. Oanda drückte sich in seinen Sitz und versuchte zu schlafen. Der Queens Clock Tower kam immer näher. Die Engländer hatten ihn erbaut, zum Gedenken an die Krönung von Queen Elizabeth. Ein kleiner Big Ben, der kleine afrikanische Bruder des Big Ben. Das war lange her. Ein Wahrzeichen der alten kolonialen Zeit. Wie immer, wenn er hier vorbeikam, ergriff die Vergangenheit wieder Besitz von ihm und die Bilder von früher erschienen vor seinem inneren Auge.

Acht Jahre war er alt und trug seine Schuluniform. Mama hatte ihn auf die Wange geküsst. Aber warum weinte sie? Er winkte und sprang in den Schulbus. Er drückte sich an der Fensterscheibe die Nase platt und winkte. Da sah er auch die anderen Kinder, die zur Dorfschule gehen mussten.

Oanda hatte Glück. Er war etwas Besseres. Seine Eltern gehörten zur schwarzen Oberschicht. Sein Vater hatte einige Monate in Europa gelebt.

»Mach es gut, mein Junge!«, hatte seine Mama ihm zugerufen. Oanda spürte, dass etwas nicht stimmte. Es war Samstag und er würde schon am frühen Mittag die Schule hinter sich haben. Es gab keinen Grund zur Sorge. In der Schule gab es nur indische Lehrer und eine weiße Frau. Die Klassenräume wurden jeden Morgen gefegt, alle Kinder hatten eigene Bücher und Schreibhefte. Es roch gut in dem Gebäude am Rande der Stadt. Es gab sogar ein Schwimmbecken, viel Wasser und einen blau gestrichenen Grund. Soviel Wasser mitten in einer staubigen Landschaft. Wasser, das nicht zum Trinken bestimmt war, in das man hineinspringen konnte, einfach nur zum Spaß, sich abkühlen, untertauchen.

Einmal hatten sie ihre Lehrerin beobachtet. Sie hatten sich in der Hecke versteckt und versucht, still zu sein. Sie waren zu dritt. Drei kleine Schlingel und eine weiße, nackte Frau. Sie trug ein schwarzes Badekleid, ihre Beine konnte man sehen, die waren weiß wie der Schnee, von dem sie ihnen immer erzählte, oben schaute ihr Busen heraus, dickes weißes Fleisch, und unter den Armen waren Haare.

»Die hat ja eine Muschi unter den Armen«, tuschelte Charles. Da mussten sie lachen und die Lehrerin lachte mit. Oanda war froh, dass die Frau sie bei der Schulleitung nicht verpfiffen hatte.

Sie waren auf dem Nachhauseweg, ein Tag wie jeder andere. Alte Leute tippelten auf der Straße, Kinder spielten mit dem, was sie auf dem Boden fanden, alte Säcke, Palmblätter und Holzstöcke. Einige schrien übermütig, andere lachten, weil endlich die Schule aus war. Oanda und seine Mitschüler standen im fahrenden Bus und schauten aus dem Fenster. Dann fielen Schüsse. Entsetzt flüchteten sie sich unter die Sitzbänke, lagen übereinander, balgten sich um einen sicheren Platz. Der Bus hielt vor dem Queens Tower, und der Busfahrer saß wie angewurzelt auf seinem Sitz.

»Versteckt euch«, rief er den Kindern zu, »bitte bleibt unten!« Aber Oanda hörte nicht auf den Mann, er kletterte unter einem der Sitze hervor, schlich sich ans Fenster nach oben und lugte vorsichtig über den unteren Rand der Glasscheibe. Da war sein Vater, oder war es nur eine Einbildung? Sah der Mann dort auf der Straße nur seinem verschwundenen Vater ähnlich? Hatte Oanda nur einen bösen Traum? Der Fahrer sprang aus dem Bus und schrie. Aber Oanda verstand ihn nicht. Dann schossen sie dem Vater mitten in den Kopf.

»Es ist immer hier«, sagte Oanda und schnippte die Zigarette aus dem Fenster, »es geht auch nicht fort. Wie könnte ich diesen Ort jemals vergessen?«

»Vielleicht musst du doch zu einem Witch-Doktor gehen.«

Oanda schüttelte den Kopf. Sie fuhren durch das Holzviertel, die Straße der Schreiner und der Sargbauer, der Zimmerleute und der Tischler. Die Sonne war aufgegangen, es war hell, es blendete. Nach der langen Nacht kam der Tag immer so plötzlich. Die Männer draußen hatten schon begonnen, aus den Baumstämmen schmale Bretter zu sägen. Es war Hochkonjunktur, die Regenzeit ging zu Ende und die Menschen starben wie die Fliegen.

»Ein Muzungu?«, fragte Oanda. Erst jetzt begann er sich damit zu beschäftigen, was auf sie zukommen könnte.

»Ja, einer mit weißer Haut. Ein Deutscher oder auch ein Engländer, ein Holländer oder vielleicht auch ein Belgier.« Er zuckte mit den Achseln und begann zu singen: »Wir fahren ins Muzungu-Land…«

Links vor ihnen lag der alte Bahnhof. Oben im Turm befand sich die Bahnhofsuhr. Oanda konnte sich nicht daran erinnern, ob sie jemals die Zeit angezeigt hatte. Es fiel schon keinem mehr auf, dass diese Uhr auf dem Zifferblatt keine Zeiger hatte, es war völlig normal. Es gab nur einen Kreis mit Zahlen, aber weder Zeiger noch Uhrwerk. Es musste in den sechziger Jahren gewesen sein, da hatte ein Offizier das Uhrwerk entfernen lassen, um daraus eine Wunderwaffe zu bauen.

Sie waren an den alten Lagerhallen vorbeigefahren, die Alison Road hoch. Dahinter begannen die Villen der Europäer. Hier lebten die Entwicklungshelfer und Diplomaten, die Pfarrer aus Deutschland und die Ingenieure, die Geschäftsleute und Ärzte, Sozialarbeiter und Krankenschwestern aus Norwegen und Schweden.

»So viele gute Menschen, die sich auf den Weg nach Afrika gemacht haben, um uns zu helfen, die leben hier, hinter hohen Zäunen und Draht, hinter Hecken und Büschen, in großen weißen Häusern, in Häusern, wie man sie in den amerikanischen Filmen sieht. Mit Terrassen davor und Türen aus Holz und Glas, weißen Tüchern an den Fenstern, Böden aus Holz und aus Stein und festen Tüchern auf dem Boden. Mit einem Betonsockel, so dass sie niemals Angst haben müssen, dass Schlangen hineinkriechen.« Oanda spottete. Und dann geschah, was sie die ganze Zeit befürchtet hatten, ihr Jeep grummelte noch einmal und dann blieb er stehen, der Tank war leer.

Einige Arbeiter liefen vorbei, mit Säcken auf ihrem Rücken.

»Kein Sprit, aber Uniform«, spottete einer.

»Das ist doch geklaut!«, rief Oanda.

»Lass sie«, sagte Momba, »… ist wahrscheinlich vom Roten Kreuz.«

»Komm, wir müssen den Toten besuchen.«

Sie gingen noch fast eine Stunde. Es wurde heiß, Hunde bellten hinter den Zäunen, Wachmänner grüßten sie freundlich. Dann standen sie vor der Villa Gotland.

»Das klingt aber nicht deutsch«, sagte Oanda.

»Dann irgendwo in Europa. Kann auch Dänemark sein.«

»Armer Junge«, sagte Oanda zu dem Soldaten, der in Schweiß gebadet vor dem Haus stand. Er klopfte ihm auf die Schulter.

Weder Oanda noch Momba hatten einen Ausweis. Ihr grünes Hemd und die Gewehre in den Händen mussten ausreichen, um sie als Spezialpolizisten mit besonderem Auftrag zu identifizieren. Sie gingen durch das Tor, nein, sie schwebten über den Kies auf das große Haus mit den weißen Fensterläden zu. Zum ersten Mal betraten sie Muzungu-Land, betrachteten die Fensterscheiben und die weißen Tücher hinter diesen Fenstern, registrierten eine Holzveranda mit einer Sitzgruppe aus weichem Leder. Nichts entging ihrem Blick, weil ihnen alles fremd war und mit nichts zu vergleichen. Hier gab es zwei Türen mit Hebeln, die nach oben und unten zu bewegen waren. Durch welche Tür durfte er gehen und wie konnte man sich diese Griffe zu Nutze machen? Obwohl er doch täglich die Bürogebäude der Kommandantur betrat und das alles kannte, diese Stühle aus Metall und die Tische aus Blech, war hier alles anders, war hier das Leben eines Menschen, vieler Menschen, dieser Muzungu-Menschen, gehütet und behütet, genau durchdacht und scheinbar leicht geworden. Aber wie viele Dinge sie brauchten, um zufrieden zu sein. Sie hatten nicht nur die Möbel, sie hatten ihr Europa mitgebracht nach Afrika. Afrika war ihnen nicht genug.

Junge Soldaten patrouillierten, schrien unverständliche Worte über die Straße.

»Sprechen sie Luganda?«, fragte Oanda.

»Hörst du nicht, dass sie Kisuaheli sprechen?«, sagte Momba.

»Nein, ich will diese Sprache nicht mehr hören.« Oanda hielt sich die Ohren zu. Dann sahen sie den steinernen Löwen und gleich dahinter saß der Jäger. Er hielt den Bogen in der Hand, am Rücken einen Köcher mit Pfeilen, die in Bambusblätter eingewickelt waren.

»Fass die bloß nicht an«, zischte Momba seinen Freund an.

Der alte Mann kauerte am Boden. Schluchzte er? Sie kamen näher und sahen Tränen in seinen Augen. Oanda hatte noch nie einen Karamojong gesehen, er hatte von ihnen gehört, von den Wilden des Nordens, aber er war einem Menschen dieses Stammes noch nie so nahe gekommen.

»Was machst du hier?«, fragte ihn Oanda, und der Alte blickte ihm ins Gesicht.

»Ich habe sie bewacht.« Dann begann er wieder zu schluchzen. Hatte er ihn richtig verstanden? Wer war hier für was zuständig? Hatten die Weißen keine eigenen Sicherheitsdienste? Durfte er denn überhaupt in dieses Haus gehen?

Der alte Jäger zog ihn an seiner Hose, er solle mitkommen, dann zerriss er fast sein T-Shirt. Oanda verstand ihn nicht, seine Laute klangen wie ein uralter Schmerzensgesang.

»Später«, sagte Oanda, »später, alter Mann, habe ich Zeit für dich.«

Die beiden jungen Männer liefen über die Steintreppe ins Haus. Es lagen wunderschöne Teppiche auf dem Boden, an den Wänden hingen Leuchter und bunte Bilder, ein unglaublicher Reichtum. Oanda war überwältigt. Er musste sich anstrengen, dass er sich in diesem Anblick nicht verlor. Er sah Töpfe und Pfannen, die auf den Tischen lagen, Krüge und Vasen und Bücher, überall Bücher. Der Boden war aus teurem Palisanderholz und dann sah er ein Bett, blendend weiß das Laken, und auf dem Laken eine Frau.

»Aber es ist eine Frau, Momba!« Momba schwieg. Er musste sich die Augen zuhalten. Er ertrug diesen Anblick nicht. So standen sie da, beide, und wussten nicht, was sie tun sollten. Zuerst einmal die Hände von den Augen nehmen, weiter atmen, sich selbst die Erlaubnis geben zu sehen, was nicht gesehen werden durfte. Die Frau war weiß und nackt, offen das Haar, hell und blond. Wie ein geschlachtetes Tier, dachte er, als er das Blut roch. Ein kleines Rinnsal kam aus ihrem Mund. Wie zwei Idioten kamen sie sich vor. Wie zwei Kinder, die voller Scham reglos am Bett ihrer Mutter stehen.

Aber dann hörten sie das Motorengeräusch, den Schrei eines Hausmädchens, das sie noch gar nicht wahrgenommen hatten. Kurz darauf stand ein Mann im Zimmer.

»Ich bin Doktor Lenz, Goethe-Institut Kampala«, stellte er sich vor. Der Mann nahm seinen Hut vom Kopf. ‚Eine absurde Szene’, dachte Oanda.

»Sind Sie Priester?«

»Nein«, stammelte der Mann, »ein Freund.« ‚Er verhält sich wie ein Weib, wie ein großes Kind’, dachte Oanda. »Fassen Sie bitte nichts an.«

Lenz zündete sich eine Zigarette an. »Frau Utstedt…«, begann er, Momba unterbrach ihn.

»Ist das der Name der Frau?«

»Ja …« Das Hausmädchen habe ihn angerufen, da der Eigentümer des Hauses in Schweden sei. Die beiden Soldaten waren ratlos. Wie sollten sie anfangen, wie konnte man den Tatort sichern, wie die Beweise? Der alte Jäger rannte aus dem Haus. Lenz lief durch den Hausflur.

»Bitte, fassen Sie nichts an«, wiederholte Oanda, aber Lenz war wie von Sinnen, warf mehrere Blumenvasen um. Oanda wurde misstrauisch, alles schien wie ein Ablenkungsmanöver.

»Er benimmt sich wie ein Weib«, flüsterte er Momba zu.

»Hey, Muzungu, hören Sie auf, sonst fliegen Sie raus!«

Oanda hatte Angst, ihm könnte alles aus den Händen gleiten. Jemand musste Verantwortung übernehmen für die Situation, für diese Minute, für den Tod dieser Frau. Wenn nicht er, wer sonst? Er dankte ihr, er dankte der Toten, dass sie ihn gerufen hatte, so, wie es dem Brauch entsprach.

»Oanda, träumst du?«

»Nein«, sagte Oanda, »aber die Götter rufen nach Rache.«Momba hatte für Oandas Phantasien nicht immer etwas übrig. Wenn jetzt keiner von der Botschaft kam, würden sie nach Spuren suchen müssen. Momba hatte Gummihandschuhe übergezogen. Oanda fand das albern. Er suchte noch nach einer Lesart, die Spuren zu entziffern. Es ist wie im Regenwald, dachte er, es gibt immer Spuren.

In einem reichen Haus lag eine tote Frau, und ein heulender Mann kauerte in der Ecke, sonst war nichts. Noch nichts. Wie konnte einer in dieses Haus gelangt sein, ohne dass der Jäger ihn gesehen hatte? Was wollte er hier? Die Frau töten? Gut, das war das Ergebnis, aber war es auch seine Absicht gewesen? Oder gab es noch einen anderen Grund? Wenn Oanda wusste, wie der Täter ins Haus gekommen war, wusste er dann auch, ob er den Mord geplant hatte?

Oanda versuchte sich vorzustellen, was die Frau wohl gedacht hatte, als sie ihn sah. War sie überrascht? Hatte sie mit ihm gerechnet? War er ein Fremder? War es überhaupt ein Mann? Wenn es einer war, handelte er aus Wut oder Verzweiflung? War sein Motiv sexuelle Lust? Wie kam Oanda überhaupt darauf?

»Nur, weil sie so daliegt und nackt ist?«, fragte Momba. Weil sie schön war? Ja, sie war schön. Eine Frau, Ende vierzig, schätzte Momba, eine, die viel erlebt haben musste, denn sie hatte die Hände einer Frau, die zupacken konnte. Und im Gesicht? Angst? Erlösung? Er beugte sich zur Toten hinunter. Er wusste nicht genau, wie er vermeiden konnte, durch eigene Unachtsamkeit Spuren zu vernichten. Er brauchte Zeit. Hatte er Zeit?

Jetzt erst entdeckte er die Drahtschlinge um ihren Hals. »Sprich mit mir«, sagte er. Dann sah er unter der Drahtschlinge eine Halskette, eine Kette mit einem Ring. Er wollte die Hand ausstrecken, da hörte er Sirenengeheul. Autos fuhren vor, Männer sprangen heraus, man hörte fremde Stimmen. ‚Die Schweden kommen’, dachte er. Die Tür wurde aufgerissen. Soldaten stürmten das Zimmer.

Ein Herr in silberglänzendem Anzug stellte sich vor: »Palmström. Schwedische Regierung. Wir übernehmen das hier. Danke, dass sie den Tatort gesichert haben.«

»Mein Name ist Oanda Malungo. Ich bin Offizier der Sondereinheit für Kapitalverbrechen.«

»Danke, Sie können jetzt gehen«, sagte der freundliche Herr und ließ im Vorgarten Dr. Lenz Handschellen anlegen.

»Wir bleiben«, sagte Oanda, »das Verbrechen geschah auf unserem Staatsgebiet.« Momba blieb die Spucke weg. Oanda hatte einen Auftritt wie in einem Film. Das würde Ärger geben.

Im Palast brannte noch LichtFrühjahr 2012

Im Palast brannte noch Licht. Aseveni stand von seinem Schreibtisch auf und ging ans Fenster. Die Stadt lag im Dunkeln. Die Sonne war untergegangen. Er ging ins Bad und zog sich seinen Trainingsanzug an. Schon vor langer Zeit hatte er sich neben dem Büro einen Fitnessraum einrichten lassen. Er stieg auf das Laufband und trabte los, langsam, er wollte mit seinen Kräften haushalten. Aseveni hatte Angst vor dem Altwerden.

»Ich bleibe an der Macht«, sagte er vor sich hin, »das Volk liebt mich. Die Kinder sind erwachsen, Jane glaubt an Gott, und selbst die Israelis wollen mit mir Geschäfte machen.«

Es war ihm gelungen, Uganda aus den Negativschlagzeilen der Weltpresse herauszuhalten. Idi Amin war endlich vergessen, der Anschein von Demokratie glaubhaft in der Welt verbreitet. Uganda, die Perle Ostafrikas, war auf dem Weg, in ganz Afrika zur Ordnungsmacht zu werden. Anders als Mugabe hatte er nicht das Image des Weißenhassers. Er hatte die Inder wieder ins Land geholt, und die Europäer zahlten Unsummen für Öl und Diamanten.

Herr Präsident, verehrter Herr Kollege, es ist Ihnen gelungen, Uganda zu befrieden und das Land in zivile Verhältnisse zu überführen.

So stand es in dem Schreiben des neuen amerikanischen Präsidenten von Amerika. Aseveni musste lächeln, denn er hatte in den langen Jahren seiner Macht die Verhältnisse in Uganda vom Kopf auf die Füße gestellt. Die alten Machthaber im Osten und im Norden des Landes mochten sich mit den Kindersoldaten herumschlagen, das ging an ihm vorbei, das war nicht seine Welt. Er war ein Hoima, und dass die Iru jemals so etwas anrichten würden wie in Ruanda, das würde er zu verhindern wissen.

»Bei Gott – das werde ich zu verhindern wissen.« Fünfundvierzig Minuten gelaufen, das war genug. Er duschte und zog sich einen frisch gebügelten Anzug an. Dann ging er noch einmal in sein Arbeitszimmer, ordnete die Papiere auf dem Schreibtisch und löschte das Licht.

Der Dienstwagen fuhr vor, sein Fahrer öffnete den Fond des Wagens. Da raste ein Jeep an den Posten vorbei den langen Weg zum Regierungspalast hinauf. Ein Offizier sprang heraus, salutierte, zog eine Pistole und schoss, drei Mal. Der Präsident sackte zusammen. Der Teufel lachte laut und die Savanne brannte lichterloh. Die Antilopen liefen um ihr Leben, alles war vergebens.

Jane Aseveni schrie laut auf. Aber es war nichts passiert, sie hatte wieder einmal geträumt. Sie stand auf, um nachzusehen, ob ihr Mann schon da war.

»Wo steckt er?«, schrie sie. Die Hunde bellten. Sie war eifersüchtig wie am ersten Tag, aber Beatrice Wabudega, seine persönliche Referentin, hatte ihr versichert, dass es nur Staats-, keine Bettgeheimnisse gebe. Jane glaubte ihr nicht. Es war still im Land. Sicher, es gab die LRA, die Lord Resistance Army, aber die war weit weg im Norden.

Jane sprach mit dem Herrn, aber der Herr schwieg. Jane betete, warf sich auf die Knie, erst da fühlte sie sich wohler. Der Herr würde sie erhören.

»Normaler Wahnsinn«, sagte Aseveni zu Beatrice, wenn er von den Anfällen seiner Frau erfuhr. Natürlich war er gottesfürchtig, ein Pragmatiker, der sehr genau beobachtete, wie der Einfluss der Evangelical Church auf seine Frau und seine Regierung zugenommen hatte. Er hatte diese Kirche unterschätzt. Er war sich sicher, dass man die ethnischen Verschiedenheiten nicht unterschätzen durfte, aber die Religion?

Die Soldaten sicherten ihn gegen Heckenschützen ab. Der Wagen fuhr los. Jane saß neben ihm, die beiden schwiegen. Er nickte ein. Es war heiß, aber es wehte ein zarter Wind. Aseveni war ein Sieger. Er war der anerkannte Kopf einer stabilen Regierung. Es herrschte Ruhe und Ordnung im Land. Zugleich hatte er den Reichtum seiner Familie ins Unermessliche gesteigert. Für die Elementarschule hatte er das Schulgeld abgeschafft, fast siebzig Prozent der Ugander konnten lesen. Er lehnte sich zurück, aus den Augenwinkeln heraus betrachtete er Jane. Sie wurde alt und dick. Sie fuhren am Golfplatz entlang, den Kololo Hügel hinauf und parkten direkt vor der Deutschen Botschaft in der Philipp Road. Das Eisentor öffnete sich automatisch, man sah im Park die Lichter. Aber Aseveni wies den Fahrer an, außerhalb zu parken. Sie gingen zu Fuß den Weg hinauf. Am Portal stand der Botschafter.

›Ein höflicher Mann‹, dachte der Deutsche bei sich. Dann begrüßte er den Präsidenten herzlich, die Präsidentengattin mit einem Handkuss.

»Ich freue mich, Sie in meiner Residenz begrüßen zu dürfen.« Aseveni verbeugte sich vor dem schmächtigen Mann. Im Innenhof standen die Gäste auf und erhoben ihr Glas.

Der Botschafter und seine Gattin führten die Gäste hinaus in den Garten der Deutschen Vertretung, wo die schwedische Delegation von Unicef wartete.

»Ericsson«, stellte sich der Schwede vor, »ich hoffe, wir können das Präventionsprojekt nachhaltig unterstützen.« Der Präsident nickte nur und gab das Wort an seine ebenfalls wartende Ministerin für Kinder, Jugend und soziale Wohlfahrt weiter. Die große, schlanke Frau wirkte nervös, schaute von rechts nach links, warf dem Präsidenten nur einen kurzen Blick zu und rief mit lauter Stimme: »Der Kampf gegen AIDS ist der Kampf gegen unsere eigenen Vorurteile, die Mythen der Männer und das große Elend der Frauen.«

»Das geht zu weit«, zischte Jane ihrem Mann ins Ohr, »du hast ihr eben immer zu viel Freiheit gelassen.«

Das weiße Publikum war begeistert und ahnte nicht, was diese Worte auf der ugandischen Seite ausgelöst hatten. Die Diplomaten und ihre Frauen, die Vertreter der deutschen Stiftungen, sie alle fühlten sich bestätigt. Viele lächelten Aseveni zu, und sahen die Äußerung der Ministerin als einen Beweis dafür, dass Aseveni in seiner dritten Amtszeit mehr Meinungsfreiheit zulassen würde. Die Schweden prosteten ihm zu und die Ministerin bekam minutenlangen Applaus.

»Du musst etwas sagen«, drängte Jane.

Der Präsident tippte gegen sein Sektglas. Es wurde still. Väterlich blickte er in die Runde: »Justine übertreibt mal wieder. Übertreibung ist eine Krankheit, keine Tugend. Kein anderes Land in Afrika hat sich so stark gegen diese Seuche eingesetzt wie Uganda, und wir werden auch in Zukunft den schwulen Mob bekämpfen.« Mit diesem Satz machte er alle Träume zunichte. Er setzte auf Stärke, eine liberale Öffentlichkeit gehörte in seinen Augen nicht dazu.