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Wollte man ein Drehbuch für einen Film schreiben, würde die eigene Phantasie nicht ausreichen, vorliegende Geschichte erfunden zu haben. Was war eigentlich genau los in meiner Kindheit. Warum bekomme ich immer ein ganz beklemmendes Gefühl, wenn ich hieran zurück denke. Warum musste ich für bestimmte Macken meiner Eltern herhalten. Macken, unter denen ich manchmal heute noch zu leiden habe. Und wovon wurden wiederum meine Eltern getrieben, sich so zu verhalten. Dies alles und noch weitere Ungereimtheiten, wollte ich jetzt doch endlich einmal genau wissen und habe deshalb tief in der Vergangenheit herumgegraben. Mithilfe von Entspannungstechniken konnte ich mich auf Spurensuche begeben. Dabei bin ich auf bisher viel verschüttet Geglaubtes gestoßen. Nicht zuletzt danke ich dem Leben für die scheinbar unerschöpfliche Quelle, die mir all diese reichhaltigen Erfahrungen und Erinnerungen bereitgestellt hat. Gleichermaßen danke ich dafür, dass es mir gestattet wurde, aus dem tiefen Fundus dieser Quelle, bisher Verborgenes wieder freizulegen.
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Seitenzahl: 199
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Das Leben gleicht öfter einem Roman als die Romane dem Leben
George Sand
Prolog
Meine Geburt
Frühe Kindheit
Sonntagnachmittags
Meine Horrorzeit im Kindergarten
Im Krankenhaus
Mit dem Dreirad nach Amerika
Die Zeit um die Einschulung
Im Rheinland
Das Wirtschaftswunder kam auch zu uns
In der Pfalz
Hamburg
Ein neuer Versuch, doch noch nach Amerika zu gelangen
Die Befreiung! Scheidung meiner Eltern
Wilhelmshaven
Auf eigenen Beinen
Weiterhin …
Epilog
Bereits während des Krieges haben sich meine Eltern kennengelernt. Mein Vater war zu der Zeit Fanfarenzugführer, obwohl er schon damals so was von unmusikalisch war. Aber wahrscheinlich braucht man für diese Art Musik, nach der hauptsächlich im Gleichschritt bzw. Stechschritt marschiert werden soll, auch keine besondere Musikalität. Es geht dabei wohl eher um etwas anderes, nämlich einen Kampfgeist zu entfachen und schließlich so etwas wie Ekstase dabei zu entwickeln.
In unserer kleinen Stadt Wilhelmshaven gab es gleich zwei von diesen Fanfarenzugführern. Vergleichbar mit heute, hätten sie in etwa den Status eines Popstars! Natürlich wurden sie auch schon damals von den Mädels heiß begehrt. Und der nur schwer zu glaubende „Zufall“ wollte es, dass die Zwei komischerweise auch noch „Otto Lange“ hießen!
Ja, Sie haben richtig gelesen. Alle beide hießen Otto Lange.
Der eine Otto Lange war blond und der andere war schwarzhaarig. Mein Vater war der Schwarzhaarige.
Natürlich bildeten sich, wie es sich gehört, auch sofort zwei Fanlager von Mädchen, die jeweils für den einen oder den anderen Otto Lange schwärmten.
Meine Mutter gehörte der zweiten Gruppe an, die den schwarzhaarigen Otto Lange begehrte.
Mein Vater Otto Lange (1926 – 2016)
So war damals bei meiner Mutter, sie hieß Gertrud, man nannte sie Trudi, scheinbar das einzige Kriterium an einen Mann, dessen Haarfarbe. Er war schwarzhaarig, meine Mutter blond und da Gegensätze sich bekanntlich anziehen, gab es zunächst auch keine weiteren Details, die außerdem noch zur Debatte standen.
Doch, wie gesagt, das war „zunächst“, denn bald sollte sich das ändern. Sogar sehr ändern!
Meine Mutter Gertrud Lange geb. Eisensee, genannt Trudi (1927 – 2012)
Die brennenden Themen, die einen HJ-Fanfarenzugführer (Hitler Jugend) und ein BdM-Mädel (Bund Deutscher Mädchen) beschäftigt haben, waren keine, die auch nur annähernd mit denen der heutigen Jugend vergleichbar gewesen wären.
Man war gezwungen, sich auf aktuelle Bereiche wie Krieg oder auch Schule zu beschränken. Ganz hoch im Kurs der favorisierten Themen stand außerdem die Kameradschaft.
Kameradschaft bedeutete ja, für den anderen da zu sein und für ihn einzustehen, ja, für ihn gegebenenfalls auch durch’s Feuer zu gehen und für ihn zu sterben.
So wie es schon in dem kriegsverherrlichenden Lied, „Ich hatt’ einen Kameraden“, glorreich besungen wurde.
Ich hatt’ einen Kameraden,
einen besseren findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
er ging an meiner Seite,
in gleichem Schritt und Tritt.
Eine Kugel kam geflogen,
gilt's mir oder gilt es dir?
ihn hat es weggerissen,
er liegt mir vor den Füßen,
als wär's ein Stück von mir.
Will mir die Hand noch reichen,
derweil ich eben lad.
Kann dir die Hand nicht geben,
bleib du im ew'gen Leben mein guter Kamerad!
Wenn obiges Lied bei ernsten Anlässen, wie beispielsweise Beerdigungen, gespielt wurde, flossen bei Mann und Frau gleichermaßen Bäche von Tränen. Das war sogar noch viele Jahre später der Fall! Man ergötzte sich einfach an diesem Seelenschmerz, ohne jemals hinterfragt zu haben, welchem Irrsinn solch’ ein Krieg innewohnt. Immer noch verwechselt man den Wahnsinn der Schuldigen mit zufälligen und Natur gegebenen Katastrophen.
Enorm wichtige Stützpfeiler für das Leben bedeuteten in der damaligen Zeit außerdem Tugenden wie Tapferkeit und Mut!
Hatte man diese vorzuweisen, trug gar noch eine „schneidige“ Uniform und redete laut und im kurzen, abgehackten Befehlston, so wie es beim Militär eben bis heute noch üblich ist, ja, dann passte man ganz hervorragend in diese Zeit.
Natürlich waren dies alles, den Kindern immer wieder eingetrichterte Floskeln, die benutzt wurden, um eine Gehirnwäsche durchführen zu können. Über die Jahre gelang dies auch er-folgreich, denn die Früchte der Indoktrinierungsmaßnahmen sollten sich schon bald zeigen, und leider auch ziemlich nachhaltig wirken.
Noch viele Jahrzehnte später befanden sich die Menschen auf diesem Pfad, und erst die 70-er Jahre brachte in den Köpfen ganz langsam wieder eine Veränderung.
Sollte bis dahin jemand einmal das System hinterfragen oder, was einer Todsünde gleichkam, gar versuchen auszusteigen, galt er sofort als Feigling und Verräter!!
Für derartige Abtrünnigkeiten, nein, es waren damals sogar Verbrechen und Abartigkeiten, hatte man absolut kein Verständnis und mit Abscheu begegnete man solchen Entgleisungen.
Das Volk war ja voller Begeisterung und Überzeugung bereit, Hitlers Weg um jeden Preis mitzugehen und fast ungeduldig wartete es auf weitere Anweisungen, die dem Deutschen Volk endlich den Sieg einen Schritt näher bringen sollten.
Genau genommen war es eine perfekte Symbiose von Volk und Führer. Ohne das deutsche Volk wäre dies alles niemals möglich gewesen!
Hitler, der sich als Protagonist einer Wagner-Oper wähnte und das Volk für seine Inszenierung brauchte. Dieses Volk suchte verzweifelt einen Führer, der sie stolz zum Sieg führen sollte.
Ja, man muss resümieren, dass der eigentliche Hitler doch das deutsche Volk war!
Und was dann geschah, stand alles im vollkommenen Einklang mit der Stimmung, die in der Bevölkerung vorherrschte.
„Pass auf, das ist ein Jude“,
wurde mir später, sogar bis in die Siebzigerjahre, noch oft warnend mitgegeben, wenn ich etwas kaufen wollte und mich nicht über den Tisch ziehen lassen sollte.
Auch mein Vater, der Fanfarenzugführer, schwärmte von der Kameradschaft und Zielstrebigkeit in der HJ. Bereits als Jugendlicher half er freiwillig und vollkommen überzeugt mit, das Volk von diesen zersetzenden Elementen, die die Dreistigkeit besaßen, nicht mitkämpfen zu wollen und ihr Lebensglück nicht von einem Endsieg abhängig machten, zu säubern.
Zu diesem Zweck meldete er sich, wie gesagt, freiwillig, um sonntags an den Nachmittagen das Vaterland von diesen „feigen Verrätern“ zu befreien.
Also legte man den „Dreckskerlen“, wie die Deserteure genannt wurden, einen roten Ring in Herzhöhe an, und im nächsten
Mein Vater mit seiner Mutter, Oma Emma
Augenblick wurden „diese elenden Feiglinge“ liquidiert - erschossen.
„Hinterher gab es immer Kaffee und Kuchen …“, so sprach er noch Jahre später und ohne jegliche Reue über diese Zeit.
Wenig anders habe ich meine Mutter erlebt. Eigentlich kannte ich sie als eine ziemlich sanfte und zarte Frau. Wenn sie in den 50-iger Jahren, mit mir an der Hand, einkaufen ging, sah man damals noch viele Kriegsopfer im Straßenbild. Ein Großteil von ihnen humpelte mit einem Bein, oder andere kamen uns mit nur einem Arm entgegen.
Doch immer wandte sich meine Mutter dann voller Abscheu an mich und kommentierte verächtlich:
„Sieh mal, diese Flasche … “
Ich werde dies nie vergessen! Eigentlich passte es gar nicht zu ihr, dennoch muss die Schwingung jener Zeit die Menschen so sehr geprägt haben, dass sie derartige Dinge von sich gegeben haben.
Diese „Flasche“ wäre im Ansehen meiner Mutter ungleich gestiegen, hätte er sein Leben an der Front gelassen! Das Ehrenhafteste war es ja, den Heldentod fürs „Vaterland“ zu sterben.
Ja, in der damaligen Zeit, waren die Menschen empfänglich für solcherlei Töne. Eine Zeit, in der sich alles um Kampf und Besiegen drehte, in der es Mode war, dass schon kleine Kinder voller Stolz Matrosenuniformen trugen und Heranwachsende mit Vorliebe Zinnsoldaten sammelten, mit denen sie begeistert Schlachten schlugen und den Gegner zu besiegen versuchten.
Dies waren also hauptsächlich die Inhalte der Jugend dieser Zeit. Kulturelle oder musische Dinge hatten für das gemeine Volk gar keinen Platz.
Unter diesen Vorzeichen also kamen meine Eltern zusammen. Eine Wahl des anderen Geschlechts wurde, wie gesagt, von der Haarfarbe bestimmt, und ansonsten gab es nur wenig Raum, um einen eventuellen Gleichklang auszuloten.
Nachdem sie standesamtlich getraut wurden, haben sie einige Zeit bei meiner Oma, der Mutter meines Vaters gewohnt. Wir nannten sie Oma Emma!
Oma Emma war die uneheliche Tochter eines Italieners, der um 1902 in Deutschland gewesen ist. Er muss recht wohlhabend gewesen sein, denn dies passierte im Rahmen eines Urlaubs. Solche Reisen zu machen, war damals ja noch alles andere als üblich.
Die Mutter meiner Oma Emma war noch sehr jung – etwa um die sechzehn, so dass sie aufgrund der ungewollten Schwangerschaft in ein Erziehungsheim gekommen ist und das Kind bei Pflegeeltern, einer Familie Ossendorf, aufwuchs.
Aber die genauen Umstände hierzu kann ich heute leider nicht mehr in Erfahrung bringen.
Doch deshalb auch die schwarzen Haare bei meinem Vater! Er hatte demnach zu einem Viertel italienisches Blut.
Emma Lange (1903 – 1975). Links die spätere Emma und rechts, die junge Emma mit ihrer Pflegemutter
Jedenfalls bei Emma war genügend Platz, denn mein Opa, Opa Hans, also der Vater meines Vaters, war Landtagsabgeordneter der SPD und musste einen Großteil seiner Zeit in Hannover im Landtag zubringen.
Und dann kam ich!
Eigentlich hätte es ein ganz schöner Tag werden können, als ich im Sommer, d.h. im Juli 1949 das Licht der Welt erblickte.
Und zwar ereignete sich die Geburt im Hause meiner Oma Kathi, der Mutter meiner Mutter.
Genau genommen handelte es sich ja natürlich um das Haus meiner Großeltern, doch meine Oma war eindeutig und mit großem Abstand diejenige, die in jeder Hinsicht den Ton angab. Sie führte das Regiment in der großen Familie mit fünf Kindern. Wegen der vielen Kinder bekamen sie auch eine Doppelhauhälfte in der sogenannten „Adolf-Hitler-Siedlung“.
Oma Kathi bzw. Katherina Eisensee (1901 – 1974) Opa Karl bzw. Karl Eisensee (1899 – 1967)
Solche Immobilien standen zu der Zeit kinderreichen Familien zur Verfügung.
Also, wie man sieht, war Adolf offenbar doch ein ganz netter Kerl, denn außerdem hatte er ja auch noch „die Autobahnen gebaut“!
Diese Argumente werden heute oft von Leuten angeführt, die das Ausmaß der gesamten Tragödie verharmlosen wollen!
Ihr Haus befand sich in der Wilhelm-Krüger-Strasse Nummer 15, wo ich am 15.(!) Juli geboren wurde.
Mein Geburtshaus mit meiner Cousine Gabi und Hündin Anja
Zum Dank an den Führer haben damals sehr viele Eltern ihren neugeborenen Kindern den Namen „Adolf“ gegeben. Die Standesämter liefen förmlich über mit dem Namen „Adolf“. Oft traten aber gerade diese Eltern „hinterher“ besonders lauthals als diejenigen in der Öffentlichkeit auf, die ja „schon gleich gesagt“ haben.
Viele Adolfs beantragten später eine Namensänderung oder nannten sich einfach anders. Selbst ein ehemaliger Schwager von mir hieß Adolf, nannte sich jedoch Peter. Auch wurde gern die Verniedlichung „Addi“ gewählt. In der Strasse der Adolf-Hitler-Siedlung, in der meine Oma wohnte, gab es allein sechs, mir bekannte, Addis.
Prominentestes Beispiel hierfür ist ein gewisser „Adolf Dassler“, der für die Firma „Adidas“ steht. Das alles ist zwar lange her, doch dem „Unsozialen“ sind sie auch bis heute treu geblieben, denn Adidas verschleiert sein Geld, wie viele andere Dax-Konzerne ebenfalls, in Steueroasen, beansprucht aber gleichzeitig Staatshilfen und verweigerte auch zeitweise Mietzahlungen!
Umso unverständlicher ist es heute für mich, dass Menschen zuhauf freiwillig und unentgeltlich für solche Firmen, in Form von T-Shirts, Reklame laufen können.
Sollten sich denn wirklich die Werte dermaßen ins Gegenteil verdreht haben?
Oma Kathi hatte immer die Zügel in der Hand und sorgte, gerade in den schlechten Zeiten dafür, dass die Familie durch Hamstern und „Chinchen“ mit den Bauern auf dem Land, über Wasser gehalten werden konnte.
Sie besaß auch das Händler-Gen, das an zwei ihrer Töchter, sowie an mich und meine Cousine weitergegeben wurde.
Meine Mutter war nicht darunter, sie war eher das Gegenteil, denn alles, was mit Handeln zusammenhing, war ihr zuwider.
Meine Oma hingegen konnte keine Gelegenheit auslassen, diesem Verlangen nachzugehen. Ob es an der Kasse eines Lebensmittelgeschäftes war, oder auch bei Karstadt, ständig versuchte sie, den Preis zu drücken. Und dies meist auch mit Erfolg!
Um wieder den Bogen zu mir zu spannen, es geschah um Punkt 22 Uhr, dass ich die Bühne des Lebens betrat. Das Ganze trug sich auf der Couch im Wohnzimmer meiner Oma Kathi zu!
Der Juli war ja auch ein herrlicher Monat und mein Leben hätte ebenfalls so schön – fast wie aus dem Bilderbuch - ablaufen können, wenn es nicht irgendwie hätte alles ganz anders kommen sollen.
„Der kleine Rainer“ – auf dem Arm meiner Mutter
Opa Hans hatte damals das edle Ansinnen, die berufliche Existenz seiner Kinder zu sichern. Zum Einen war da sein Sohn, also mein Vater, und dessen Schwester, Ilse.
Ilse war ebenfalls frisch verheiratet mit Helmut. (Helmut Gerdes 1924 – 1982)
Ihr Ehemann, Helmut Gerdes, war Schlosser und so hatte sich mein Opa ausgemalt, in der Zeit des Aufbauens wäre eine Fabrikation von Kartons, also eine Kartonagenfabrik, eine ganz und gar sichere Grundlage.
Durch seine Stellung im Landtag, kam er an äußerst günstige Gründerkredite, die seinen mittellosen Kindern das nötige Geld bereitstellten, um mit nichts etwas Großes aus dem Boden zu stampfen. Dieser Gründerkredit, für den mein Opa bürgte, belief sich auf 20.000 Mark. Damals eine gigantische Summe!
Sie kauften ein geeignetes Grundstück und bauten sich aus Metallteilen Maschinen, mit denen sie Kartons in verschiedenen Größen herstellen konnten. Da Helmut Gerdes Schlosser war, verfügte er über ausreichend Kenntnisse, um in diesem Metier erfolgreich zu sein. Ergänzend dazu, akquirierte mein Vater erste Kunden, die für die nötigen Aufträge sorgten.
Es lief also alles ziemlich erfolgversprechend an!
Theoretisch ist solch’ ein enger Zusammenhalt, verbunden mit dem nötigen eisernen Willen, auch die beste Voraussetzung, die steinigen Anfangsklippen heil zu überstehen.
Praktisch jedoch ist es leider meist so, dass persönliche Unzulänglichkeiten und Egoismen wiederum einen Zerfall idealistischer Träume herbeiführen.
Uns so war es auch hier:
Die recht erfolgreiche Anfangszeit bedingte, dass Helmut seinen Bruder, der ebenfalls den schönen Namen Adolf trug, in die Firma holte. Adolf war Schlosser wie auch sein Bruder.
Die nicht erwartete Auftragsflut machte es erforderlich, für Verstärkung zu sorgen. Und so waren jetzt drei Leute bereit, die Last der schweren anfänglichen Entbehrungen zu schultern.
Mein Vater sorgte für einen soliden Kundenstamm, der ein Überleben von Tag zu Tag wahrscheinlicher machte.
Als sie tatsächlich die ersten vielen Tiefen erfolgreich überwunden hatten, begingen sie die üblichen Fehler, die in fast allen ähnlichen Fällen immer wieder auftreten: Die beiden Brüder übten sich in Intrigen gegen meinen Vater und ekelten ihn ins Abseits. Um die Sache abzukürzen: Das Vertrauen und die Stimmung wurde derart vergiftet, dass mein Vater seine Sachen packte und das Weite suchte.
Von nun an hieß die Firma „Gebrüder Gerdes“, und damit hatten sich die Brüder einen billigen Staatskredit, der eigentlich in erster Linie meinem Vater zugute kommen sollte, mit samt der Bürgschaft meines Opas, eingestrichen.
Noch ein paar Jahre danach, hatte mein Vater Schwierigkeiten, wieder mit Helmut zu sprechen, aber sein eigenes berufliches Fortkommen zeigte ihm, dass er nun, den für ihn, richtigen Weg, beschritten hatte. Außerdem war er eigentlich auch gar nicht der Typ, um selbständig zu sein.
Nun bekamen wir unsere erste eigene Wohnung. Es war 1951. Sie lag ganz oben im sechsten Stock eines rechteckigen, hohen und dunklen Backsteingebäudes, ähnlich einem Bunker. Natürlich gab es dort keinen Fahrstuhl und das Treppenhaus, versehen mit einem fast schwarzen, immer blanken Linoleumbelag, war kalt und alles andere als einladend. Ich war jedes Mal heilfroh, wenn ich oben angekommen war und endlich unsere Wohnung erreicht und dieses unheimliche Treppenhaus hinter mir hatte.
Meine Oma, damals etwa fünfzig, hatte uns einmal dort besucht. Es war die Oma Kathi. Sie hatte noch eine ganze Menge weiterer Vornamen, die ich nie vergessen werde. Ich war davon unsagbar beeindruckt, denn ihr voller Name lautete: Katherina, Frederika, Eugina, Gesina Eisensee, geborene Janssen!
Nachdem sie endlich ganz oben unsere Wohnung erreicht hatte, war sie so sehr aus der Puste, dass sie eine zeitlang kaum noch sprechen konnte. Keuchend wiederholte sie immer wieder: „Oma ist so schachmatt, Oma ist sooo schachmatt!“
Daraufhin musste sie erstmal drei Zigaretten hintereinander rauchen, um sich wieder einzukriegen. Da sie recht hartgesotten war, rauchte sie natürlich ohne Filter von der Marke „Virginia“, wovon ihre tägliche Ration etwa bei hundert Stück lag. Später stieg sie um auf „Senoussi“. Dazu trank sie mit Vorliebe immer einen Weinbrand, Asbach.
Oma Kathi, genannt Kaddi
Schon bald entzündete sich ihr Bein infolge der Vergiftung durch das viele Rauchen. Am Übergang zum Fuß entstand eine offene Wunde, die nicht mehr verheilte. Sie wurde von Jahr zu Jahr größer und hatte nach 25 Jahren fast die Ausmaße ihres Fußes.
Das sogenannte offene Bein schränkte sie soweit ein, dass sie nur unter größten Schmerzen und humpelnd laufen konnte.
Rund eine Stunde war sie jeden Morgen damit beschäftigt, ihr offenes Bein zu salben und zu verbinden.
Da sie aber auch leidenschaftlich gern Asbach trank, hatte sie einen Teil des Flascheninhalts dazu verwendet, ihr Bein einzureiben, um somit eine Durchblutung anzuregen.
Offenbar ist sie nach der Logik verfahren, dass sie annahm, was ihr schmecke, könne für ihr Bein auch nicht schlecht sein!
Doch niemals hätte sie, selbst nicht im Traum, daran gedacht, mit dem Rauchen aufzuhören oder es zu reduzieren. Nein, sie konnte den Konsum zuletzt sogar noch auf weit über 100 Stück steigern, sodass sie höchstens noch zwei Stunden schlief. Sie lag dann nachts unter Schmerzen wach im Bett und schmökte eine nach der anderen. Trotzdem war sie, auch wenn es zu glauben schwerfällt, immer guter Dinge!
Wir hatten in dieser ersten Wohnung zwei Zimmer. Ein Schlafzimmer, in dem auch mein Kinderbett stand und ein Wohnzimmer, das aber so gut wie nie benutzt wurde. Außerdem hatten meine Eltern dafür auch gar keine Möbel.
Die Miete betrug, glaube ich, etwa dreißig Mark. Ja, Anfang der Fünfziger waren es noch ganz andere Kurse, als heute in unserer, auf allen Gebieten, inflationären Welt.
Mit Grausen erinnere ich mich daran, dass über meinem Bett ein Bild mit einem schwarzen Scherenschnitt hing. Darauf schauten immer Hänsel und Gretel ängstlich auf mich herunter. Davor stand die alte Hexe, gebückt und sich an einem Stock aufstützend. Sie sah ihre beiden Opfer mit durchdringendem bösem Blick an.
Jeden Abend musste ich mich wieder erneut zwingen, nicht dort hinzusehen, denn das Bild wirkte auf mich sehr bedrohlich. Ich bekam dann sofort fürchterliche Angst und konnte auch nicht mehr einschlafen.
Außerdem gab es noch einen größeren Raum, der als Küche fungierte. Doch sie war in keiner Weise mit einer Küche von heute zu vergleichen. Lediglich das Waschbecken erinnerte an den Zweck dieses Raumes. Es war riesig groß, hing in einer Ecke an der Wand und hatte die, damals übliche, Elfenbeinfarbe.
Ich werde bei dem Anblick immer an die kalte und sterile Krankenhausausstattung erinnert. Meine Mutter musste darin abwaschen, aber außerdem haben sich meine Eltern auch daran gewaschen.
Dieses ominöse Ding wurde damals „Ausguss“ genannt! Der Ausdruck „Waschbecken“ war, soweit ich mich erinnern kann, zu der Zeit noch gar nicht üblich. Duschen oder geschweige denn, eine Badewanne, gab es natürlich nicht. Die Toilette war im Hausflur und wurde üblicherweise auch von anderen Mietern benutzt.
Neben dem „Ausguss“ stand eine ungewöhnlich hohe Holzkiste, auf die ich immer gesetzt wurde, um abends, wenn es ins Bett ging, gewaschen und bettfertig gemacht zu werden.
Zur anderen Seite hin stand ein großer Herd, der mit Feuer funktionierte. Im unteren Teil des Herdes musste also ein Feuer entzündet werden, sodass einerseits die Küche geheizt wurde, und andererseits auf dem oberen Teil gekocht werden konnte. Die Küche war für uns der Lebensmittelpunkt. Hier spielte ich auf dem Fußboden oder am Tisch immer mit Autos oder autoähnlichen Gebilden.
Es war übrigens der einzige Raum, der beheizt werden konnte!
Die Küche lag nach hinten zum Hof ’raus, und ganz unten im Hof befand sich eine Sandkiste.
Wie mir meine Mutter erzählte, muss ich etwa zweieinhalb gewesen sein, als sie kurz das Zimmer verließ, um im Hausflur die Toilette aufzusuchen. Ich saß am Tisch und spielte. Es war Sommer und das Fenster, das sich über dem Tisch befand, war sperrangelweit geöffnet. Draußen in der Sandkiste hörte ich die spielenden Kinder. Neugierig geworden, kletterte ich auf den Tisch und stapfte unbeholfen in Richtung Fenster. Vornübergebeugt wollte ich natürlich auch sehen, welchen Kindern den Stimmen aus der Sandkiste denn nun zugeordnet werden konnten.
Beinahe hätte sich das Schreiben dieses Buches schon erledigt und mein Leben wäre jäh zu Ende gewesen, bevor es richtig angefangen hatte.
Aber in diesem Augenblick kam meine Mutter wieder herein und erlitt fast einen Herzschlag, als sie mich am offenen Fenster und vornübergebeugt sah. Sie machte jetzt einen großen, schnellen Satz nach vorn, um mich noch Sekunden vor dem drohenden Fenstersturz ganz fest packen zu können!
O.k., jetzt stand es also erst recht fest, den harten Weg gehen zu müssen und mich nicht mittels der schnelleren Variante davonstehlen zu dürfen!
Um nach der ersten Zeit des Darbens, auch für feierliche Anlässe, die meiner Erinnerung nach, jedoch nie stattfanden, ausgestattet zu sein, beschaffte mein Vater nun die Wohnzimmereinrichtung.
Zu diesem Zweck besorgte er einen kleinen Handwagen und fragte zuvor den Gemüsehändler, Herrn Murkewitz, der in unserer Straße einen kleinen Gemüseladen betrieb, ob er ein paar alte Holzkisten, in denen das Gemüse ausgelegt wurde, entbehren konnte.
Einige der Holzkisten konnten wir daraufhin von ihm bekommen, und fortan dienten sie bei uns als spartanische Einrichtung für unser kleines Wohnzimmer. Meine Mutter legte noch ein paar Kissen und Decken darauf und schon hatten wir drei Sessel bzw. sie waren eher und mit reichlich gutem Willen als sesselähnliche Sitzgelegenheiten zu bezeichnen.
Ja, das war nun unser neues Wohnzimmer! Aber, wie gesagt, ich kann mich kaum daran erinnern, dass wir es je benutzt hätten.
Geld war bei uns damals mehr als knapp, denn zu der Zeit begann mein Vater gerade eine einjährige Kurzlehre als Industriekaufmann. Begleitet wurde die Lehre von einem Abendschullehrgang, der ihn auf die Prüfung vor der Industrie- und Handelskammer vorbereitete.
Bis dahin hatte er noch als Briefbote bei einer Wilhelmshavener Zeitung gearbeitet.
Finanziert wurde das Ganze von seinem Vater, also meinem Opa, dem Landtagsabgeordneten der SPD.
Das er dies seinem Sohn ermöglichte, war seiner Großherzigkeit geschuldet, denn Letzterer hatte ihm zuvor, im Dritten Reich, jahrelang das Leben sehr schwer gemacht.
Als überzeugter HJ-Junge, war sein Vater, das SPD-Mitglied, für ihn ein Dorn im Auge. Ständig gerieten die beiden darüber in Streit und es kam fast einem Wunder gleich, dass mein Vater ihn nicht denunziert hatte, denn die SPD war ja inzwischen verboten!
Das war der eine Punkt - der andere war, dass er seinen Vater verachtete, da dieser, seiner Meinung nach, und dem damaligen Zeitgeist entsprechend, zu weich war.
Er war nämlich verständnisvoll und gutherzig! Also, ein sträflicher Makel, nicht nur in den Augen meines Vaters.
Mein Opa - Hans Lange (1899 – 1956) Das kleine Bild zeigt ihn 10 Jahre zuvor, kurz nach der Rückkehr aus dem Krieg
Dass er der Erziehung meines Vaters nicht mit Schlägen Nachdruck verlieh, beruhte nicht zuletzt auf dessen Erlebnisse mit seinem Vater. Dieser wiederum war nämlich sehr hart und streng, also genau das Gegenteil.
Und der hieß ebenfalls „Otto Lange“!
Als Stadtrat war er damals in Wilhelmshaven sehr bekannt. Natürlich strich er von ihm jede Menge Schläge ein. Diese Methoden stießen ihn, meinen Opa, jedoch zutiefst ab und veranlassten ihn zu dem Entschluss, diese Erziehungsmethoden bei seinem Sohn auf gar keinen Fall zu wiederholen!
Dessen Vater wiederum hatte unter seinem Schicksal, einen weichen bzw. gutmütigen Menschen zum Vater zu haben, auch zutiefst gelitten und wünschte sich nichts sehnlicher, als den dominanten und herrischen Pascha.
Somit lässt sich ganz klar die ständige Wiederholung der Reihenfolge in den Lebensrollen erkennen. Ich bin sicher, der Erste gewesen zu sein, der diesen Fluch der ewigen Wiederholung durchschaut hat, und unabhängig davon, sie niemals fortgeführt hat!
Opa Hans mit seinem Vater Otto Lange
Bevor mein Vater später in Kriegszeiten als Funker auf einem U-Boot Dienst tat, hatte er während seiner HJ-Zeit auf der Schiffswerft in Wilhelmshaven eine Lehre zum Elektromechaniker durchlaufen.
Mein Vater Otto Lange
Sein damaliger Ausbilder und Meister hatte die sadistische Art, wenn „seine“ Lehrlinge nach getaner Arbeit, die Werkstatt geputzt hatten, was ja auch zur Ausbildung gehört, dies auf folgende Weise zu kontrollieren:
Ganz oben auf dem Spind, wo niemand hinkam, sah er nach, ob sie dort wohl auch geputzt hätten. Und natürlich hatten sie nicht! Dann fuhr er mit dem Finger diese Fläche ab und wischte ihn nun den Lehrlingen übers Gesicht, bis sie vollkommen schwarz verdreckt waren.