Nach Obama - Christoph Bieber - E-Book

Nach Obama E-Book

Christoph Bieber

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Beschreibung

Donald Trumps Präsidentschaft ist nur ein Symptom für eine schon lange schwelende Krise der Demokratie. Millionen Amerikaner haben kein Vertrauen mehr in das politische "Establishment" und die Medien. Nur allzu verlockend klingt da Trumps Versprechen, er werde das Land aufrichten und die Macht wieder in die Hand des Volkes legen. Nun scheint er die Vereinigten Staaten jedoch ins Chaos zu stürzen: umstrittene Dekrete, dubiose Rücktritte - und der nächste Skandal ist immer nur einen Tweet entfernt. Wo stehen die USA nach Obama? Warum ist die Gesellschaft so gespalten? Und was bedeutet der Präsident Trump für das Land?

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Christoph Bieber, Klaus Kamps

Nach Obama

Amerika auf der Suche nach den Vereinigten Staaten

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Die USA haben einen Wahlkampf von noch nie dagewesener Schärfe erlebt. Blickt das Land mit Donald Trump als Präsident in den Abgrund? Wie geht es weiter? Gewiss ist, dass die Vereinigten Staaten als nationale Wertegemeinschaft, als imagined community, nicht mehr funktionieren. Die Ursachen für diesen Verlust sehen die Autoren im 11. September 2001 und seinen Folgen, in religiös und rassistisch motivierter Gewalt, ökonomischer Verunsicherung, wachsender sozialer Ungleichheit, parteiischen Medienunternehmen und dem wachsenden Misstrauen gegenüber dem Politikbetrieb in Washington D.C. Im »Blick zurück nach vorn« analysieren sie aktuelle Verwerfungen der amerikanischen Gesellschaft und besichtigen zentrale Schauplätze im Selbstfindungsprozess einer beschädigten Nation. Denn »nach Obama« stellen sich viele Fragen: Was sind die Herausforderungen, und wie sind die Weichenstellungen einer neuen Führungsriege zu bewerten, auf der Suche nach einem überzeugenden Narrativ für das Land?

Vita

Christoph Bieber ist Professor für Ethik in Politikmanagement und Gesellschaft an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen. Seit 20 Jahren hat er die US-Wahlkämpfe vor Ort verfolgt und darüber berichtet.

Klaus Kamps ist Professor für Kommunikationswissenschaft an der Hochschule der Medien in Stuttgart. Seine Arbeitsschwerpunkte sind u.a. Medien und öffentliche Kommunikation in den USA.

Inhalt

1. Danach

2. Alles auf Anfang

9/11

Zäsur

Außenpolitik, Sicherheitspolitik – eine neue Architektur

Scheitern wie Bush

Hello Chicago

Change

Krisenbewältigung und Tea Party

Reformen, Folgen und Erfolge

Scheitern wie Obama

Abschied: Hello Chicago 2.0

3. Die verlorene Nation

Pausenspiele

Vorgestellte Gemeinschaften

We the People of the United States

American Dream

4. Parteien und Bewegungen

Dynamik im Parteiensystem

Eine digitale Präsidentenpartei?

Digitale Entkopplung und Online-Autonomie

Tea Party Patriots: Basis, Modernisierung und Flügelkampf

Von Occupy Wall Street zu Occupy DNC

Mobilisierung: Online meets offline

5. Gespaltenes Land, gespaltene Medien

Es war einmal in Amerika: Qualitätsmedien, Medienqualitäten

Fairness ohne Doktrin?

In press we trust?

Von kleinen und großen Echokammern

Medienberichterstattung im Präsidentschaftswahlkampf 2016

Rechts, außen: Breitbart, Bannon, Yiannopoulos

Fake news

6. Kampagnenzeit

America, you can be my ex-wife

»Ich bin auch dabei« – Auftakt Clinton

Ein Professor aus Harvard: Lawrence Lessig vs. Big Money

The Apprentice – Der Kandidatenlehrling

Facetten des Trump Style

@realDonaldTrump – Eine Überdosis Öffentlichkeit

Immer diese Clintons

E-Mail für dich

Clinton, lost

Trump und der unerwartete Erfolg

Better call Saul – Wer wählte Trump?

7. Das Electoral College und andere Fehler im System

Die indirekte Präsidentschaftswahl: Sonderfall und Anachronismus?

On the Road: Der Wahlkampf als Landnahme

Selektive Wahlkampfführung

Wahlorganisation als Inside Job

Das Electoral College erneuern

8. Welcome to Trumpland

Personalrekrutierung als Realityshow

Two and a half men – Pence, Bannon, Priebus

The Newsroom

Familienbande

#ObamaFarewell

Die Inauguration

Parcours der Macht

America First – Die Inaugurationsrede

My crowd is bigger than yours – Der Tag danach

9. Ausblick: Orange is the New Black

#notmypresident – Opposition und Protest

Executive Orders – Hochgeschwindigkeitspolitik mit Hindernissen

Regieren in Echtzeit

America’s Future

Anmerkungen

1. Danach

2. Alles auf Anfang

3. Die verlorene Nation

4. Parteien und Bewegungen

5. Gespaltenes Land, gespaltene Medien

6. Kampagnenzeit

7. Das Electoral College und andere Fehler im System

8. Welcome to Trumpland

9. Ausblick: Orange is the New Black

1. Danach

Alle glücklichen Nationen gleichen einander, jede unglückliche Nation ist auf ihre eigene Weise unglücklich.

Die Wahl Donald Trumps am 8. November 2016 zum Nachfolger Barack Obamas im Amt des US-Präsidenten erfahren viele Amerikaner, erfährt die Welt als schwer verdauliche Sensation. Unvorstellbar erschien ein Sieg des so unseriös wie schrill agierenden politischen Neulings aus New York, den sich selbst Spitzenpolitiker seiner eigenen Partei nicht im Weißen Haus vorstellen wollten. Und obwohl in der Woche vor der Wahl die Umfragen ein immer knapperes Resultat prognostizierten, sahen sie nahezu unisono Hillary Clinton im Vorteil – wie schon im gesamten Wahlkampf. Dann wird es doch Trump, wider alle Erwartungen und Vorhersagen und entgegen vieler Hoffnungen. Es war und ist, kurz, nicht zu fassen.

Eine große Zahl der amerikanischen Bürgerinnen und Bürger hat Donald Trump gewählt. Für einen anderen großen Teil markiert die Wahl eine profunde Krise der Demokratie, eine historische Revolte gegen Aufklärung, Partizipation und politischen Anstand, eine Tragödie der amerikanischen Republik und Verfassung. Die Washington Post bezeichnet das Land als Kollateralschaden der Kampagne eines Narzissten, die New York Times wähnt noch in der Wahlnacht die Nation ob eines impulsiven President-elect am Abgrund. Jenseits des Atlantiks kommentiert der britische Guardian Trumps Sieg als schwarzen Tag für die Welt, als politisches Erdbeben ohnehin – soweit »The Donald« auch nur wenige seiner Wahlkampfankündigungen wahr machen sollte. Und für die deutsche Leserschaft bringt Der Spiegel es auf einen hierzulande besonders apokalyptischen Alarmismus: »Trump des Willens«.1

Donald Trump folgt also Barack Obama als 45. Präsident der Vereinigten Staaten. Größer könnte der Kontrast kaum sein: Hier Obama, der früh in seiner Präsidentschaft den Friedensnobelpreis erhielt, ein Hoffnungsträger, der gleichwohl auf eine ambivalente Bilanz seiner Amtszeit zurückblicken muss. Dort der 70-jährige Immobilienmilliardär, dessen tabulose, polternde Rhetorik von Beginn an das bindende, zentrale Moment seines Wahlkampfs darstellt – und nicht etwa Feinheiten eines politischen Programms. Und auch der Unterschied zur Gegenkandidatin Hillary Clinton ist gewaltig: Eine erfahrene Politikerin, die zudem auf acht Jahre als First Lady zurückblickt, mit einem versierten Wahlkampfteam hinter sich und unterstützt vom Amtsinhaber. Dass es unter diesen Vorzeichen im Rennen um die Präsidentschaft überhaupt hatte eng werden können, schon das überrascht.

Normalerweise hätte sich Clinton durchsetzen müssen. Bei allen Schwächen und heiklen Momenten ist sie doch qualifiziert, professionell und zudem vorbereitet auf das Amt. Die Demokraten stellen sich schließlich einigermaßen vereint hinter sie. Sie erfährt die öffentliche Unterstützung durch weite Teile der Publizistik, Gesellschaft und Wirtschaft. Sie liefert eine solide, gehaltvolle Kampagne und verhält sich in den Fernsehduellen wie eine Politikerin. Allerdings hat sie mit einer E-Mail-Affäre zu kämpfen, die ausgerechnet in der letzten Woche vor der Wahl wieder hochkocht. Und was offenbar deutlich schwerer wiegt, als manche zuvor vermuteten: Weite Teile der Wählerschaft sehen in Hillary Clinton geradezu den Prototypen des Mitglieds eines argwöhnisch betrachteten Washingtoner Establishments.

Demgegenüber sorgt bereits die Nominierung Trumps zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner für Schockzustände in den Kommentarspalten. Das liegt weniger an dem dürftigen politischen Angebot, das die Trump-Kampagne vorlegt, sondern vielmehr an seiner Person, an seinem Auftreten. Obwohl der Charakter eines Kandidaten immer in den Fokus einer Präsidentschaftswahl gerückt wird, ist dieser Fall besonders. Von Beginn an ist es ein parteiinterner Streit der Republikaner, ob Trump nicht doch ein Hochstapler sei, der Unterstützung unwürdig: Da ist seine mangelnde Qualifikation, sein zweitklassiges Cäsarentum, seine unberechenbare Attitüde, sein bestenfalls absurder, eher clownesker Kommunikationsstil – eine oft als ignorant bis giftig eingestufte Mischung aus Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Nationalismus und Vulgarität. Am Ende führt er mit der vollen Wucht des Populismus und einem lockeren Zugang zur Lüge einen historisch schonungslosen Wahlkampf – mit dem bekannten Resultat eines republikanischen Machtausbaus. Die politischen Verhältnisse entlang der Pennsylvania Avenue haben sich geändert – es passt ins Bild, dass just im Herbst und auf halber Strecke zwischen Weißem Haus und Kapitol ein neues (Luxus-)Hotel eröffnet: Das Trump International im Old Post Office, einem schlossähnlichen Gebäude, in dem einst Regierungsbüros untergebracht waren.

Die Reaktionen in den westlichen Demokratien, auch in den USA selbst, sind drastisch. Derart umstritten war zweifellos noch kein frisch gewählter US-Präsident. »How can 59.054.087 people be so DUMB?«, fragt die Schlagzeile des britischen Boulevardblatts Daily Mirror – anlässlich der Wiederwahl von George W. Bush 2004. Zwölf Jahre später illustriert das Blatt die Schlagzeile »What have they done?« mit einer Freiheitsstatue, die sich vor dunkel aufziehenden Wolken beide Hände vor das Gesicht hält, als könne selbst sie, die so vieles erlebt hat, es einfach nicht fassen. Ein kreatives Bild angesichts der transformativen Kraft, die dem Ereignis innewohnen könnte und die das Land der Freiheit erschüttert. Rechtskonservativen Populisten in Europa mache die Wahl »Mut« – so Frauke Petry, Trump habe »die Karten zur politischen Zeitenwende in der Hand«. Zeitenwende? Der Trump’sche Populismus sei ein »tumber Tribalismus«, schreibt dagegen Die Zeit, seine im Krawallstil vorgetragenen Botschaften seien »längst überwunden geglaubte Impulse, die an den Grundfesten der Aufklärung rütteln«.2

»Längst überwunden geglaubte Impulse« – das dürfte eine Anspielung auf das zentrale Moment der Kampagne sein: Den Appell an die Wut, den Hass und den Verdruss solcher Wählerinnen und Wähler, die sich von Washington vernachlässigt und von der Globalisierung überrollt fühlen, denen der amerikanische Traum in weite Ferne geraten war. Dabei hält die Trump-Kampagne der ohnehin schon gespaltenen Nation einen Spiegel des Niedergangs vor: die Politik korrupt, das Land eine einzige Gewaltorgie und überschwemmt von illegalen Einwanderern, das Volk betrogen, belogen und machtlos. Make America Great Again – fast zwangsläufig und rational, so die Idee, solle man ihn, den Macher, einfach mal machen lassen: America First.

Der beispiellosen Kampagne, der Wahlnacht, den ersten Protesten folgt eine standesgemäß atemlose Transitionszeit in der Phase zwischen Wahl und Amtseinführung am 20. Januar. Bizarr allein schon die Auseinandersetzung mit dem Lifestyle-Magazin Vanity Fair, das sich ganz unfair in einer beißenden Kritik an einem Restaurant im New Yorker Trump Tower äußert: So jedenfalls die Wahrnehmung des über Twitter, natürlich, zurückschießenden President-elect. Unfair behandelt fühlt er sich von den Medien ohnehin, die er zu einer Art Sondierungsgespräch einlädt, dann wieder auslädt, dann schließlich doch zu sich kommen lässt – um sich mit der Chefredaktion der als liberal geltenden New York Times und anderen zu streiten. Überhaupt mutiert der Trump Tower zu einem seltsamen Vorhof der Macht: Dort empfängt der Namensgeber in pseudobarockem Ambiente Japans Premier Shinzo Abe – gemeinsam mit seiner Tochter, was nicht nur als Fingerzeig kommender Verflechtungen gewertet wird, sondern als kleiner Marketingskandal durch die Blätter rauscht: Weil ein Foto des Treffens in der Werbung für die Schmuckkollektion eben der Tochter auftaucht. Davon mag Abe nicht viel mitbekommen, denn seine Sorgen sind anders gelagert und beschäftigen sich mit dem am Horizont schimmernden Protektionismus und der Frage, ob die Amerikaner künftig noch militärisch für die Sicherheit seines Landes garantieren werden (oder ob Japan sich Atomwaffen zulegen sollte).

Der kommende Präsident trifft sich natürlich schnellstmöglich mit dem Noch-Präsidenten, der ihn in einem »freundschaftlichen Gespräch« – so muss es dann wohl heißen – an die Verfassung erinnert. Obama selbst mag in erster Linie eruieren, wie viele der Trump’schen Ideen, die sein politisches Erbe bedrohen, doch nur der Strategie des populistischen Wahlkampfs geschuldet sind. Etwa zeitgleich wird, als eines der ersten Mitglieder der Entourage, Stephen Bannon als oberster Berater im Weißen Haus benannt: Ein rechtskonservativer Publizist, der zum Schrecken vieler verkündet, man werde nun »50 Jahre regieren«, und noch in der ersten Woche der Amtszeit Trumps den »Mainstream-Medien« den Rat zurumpelt, einfach mal den Mund zu halten: Habe man denn immer noch nicht kapiert, was in Amerika passiert?

In der Tat: Im Lichte der Ereignisse ist es keine publizistisch-strategische Überhöhung, zu fragen, was da gerade in den USA passiert. Wie entwickelt sich diese ungeheure Kluft zwischen Links und Rechts, wenn die die Wahl gewinnende Kraft unverhohlen Bürger- und Menschrechte verachtet, Toleranz für eine Sünde hält und Pressefreiheit zur Farce erklärt, zumal Trump sich sowieso im »Krieg« mit den Medien befinde? Wie fügt er seine Präsidentschaft in das System der Gewaltenteilung, wie arrangiert er sich mit dem Kongress und den Gerichten?

Dass sich die Fragen derart türmen, liegt natürlich am transformativen Anspruch, den Donald Trump erhebt. Insbesondere wird sich – wieder einmal – die Frage nach dem divided political heart stellen: Was Amerika ist, was es sein will, wie es glücklich werden kann, steht im Wettbewerb vornehmlich zweier politischer Kräfte. Es liegt nahe, das konventionell zu beschreiben: als die Zerrissenheit des Landes entlang der Parteilinien. Und in einem Zwei-Parteien-System mag das eine über weite Strecken zutreffende und hinreichende Beschreibung sein.

Andererseits sind die USA auch ein Land von ungeheurer Heterogenität. Ein Land der Vielfalt, der Widersprüche und der allgelegentlichen Ungereimtheiten. Und daher stellt sich über den politischen Streit hinaus die Frage, was diese Nation überhaupt zusammenhält – insbesondere, wenn die Wirklichkeit sich lange nicht mehr mit der »amerikanischen Ideologie« des Landes der unbegrenzten Möglichkeiten deckt. Wie steht es um die Rituale und Symbole, um die Integrationsklammern, um universelle oder amerikanische Werte – alles im Lichte der politischen Kluft, die sich durch das Land zieht.

Wir glauben, und das ist ein wichtiger Gedanke des Essays, dass die Beschreibung des Landes als divided country im Kern zutrifft. Darüber hinaus denken wir, dass es sinnvoll ist, die USA als eine verlorene Nation in einem weiteren Sinne aufzufassen. Nationen sind imagined communities3 – vorgestellte Gemeinschaften, basierend auf spezifischen, geteilten Ideen von Grenzen und Souveränität, von Exklusion und Inklusion. Anders ausgedrückt: Die Nation ist eine Erfindung, eine Erfindung vieler. Heute würde man vielleicht von Narration sprechen. Sie ist eine historische, abstrakte Erscheinung, die von den Zeitgenossen beständig erneuert wird. Niemand schwimmt zweimal durch den gleichen Fluss: Donald Trump mag verkünden, Wege und Mittel zu suchen oder schon zu kennen, die Vereinigten Staaten »wieder groß« zu machen. Das ist ja seine zentrale Botschaft. Aber es kann eben nicht eine Idee vom Amerika des 20. Jahrhunderts sein. Daran müsste er scheitern. Es kann allenfalls eine bescheidene Idee davon sein: Er ist nur eine, wenngleich wichtige Person unter Millionen seiner Landsleute, die heute, gestern und morgen auf der Suche nach ihrer Nation, nach ihrer Vorstellung davon, was die Vereinigten Staaten von Amerika waren, sind, sein sollen, sein können. Ein tatsächlich altes Lied dieser Quest for America – einer auf ganz eigene Weise unglücklichen Nation.

2. Alles auf Anfang

9/11

Als am 11. September 2001 die Zwillingstürme des World Trade Centers einstürzen und ein Passagierflugzeug in das Pentagon in Washington gelenkt wird, ist es eine Zäsur nicht nur in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Es ist ein monströser Terrorakt, eine Attacke auf die USA und am Ende auch Auftakt zu einem globalen, neuen terroristischen Zeitalter. Seit die britische Marine 1814 Fort McHenry bei Baltimore bombardierte, ist das US-amerikanische Festland nicht mehr von außen angegriffen worden. »Heute hat das Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts stattgefunden«, notiert Präsident Bush in seinem Tagebuch1 – ein für das modernere Amerika sicher näher liegender Vergleich. Pearl Harbor, Hawaii, 7. Dezember 1941: Das Staatsgebiet der USA wird von der japanischen Pazifikflotte angegriffen – das Datum markiert den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg.

Der Überfall auf Fort McHenry aber inspiriert seinerzeit, als die Nation noch im Begriff war, sich zu konsolidieren, ein Gedicht, das später als the star-spangled banner zum Text der Nationalhymne aufsteigt. Der »elfte September«, für den sich rasch das Kürzel 9/11 einbürgert, erfährt dieses Sternenbanner als Flagge, die man anfassen kann: Die Supermarktkette Wall Mart verkauft in diesen Tagen rund 20 Mal mehr US-Flaggen als sonst2 – und das in einem Land, das wahrscheinlich das einzige Land der Erde ist, das einen flag day kennt – einen Feiertag zu Ehren der Flagge, weshalb man annehmen darf, dass ohnehin schon jeder Haushalt über mindestens ein Exemplar verfügt.

Nach 9/11 passiert, was passieren muss: Die Amerikaner rücken zusammen, bei allen Unterschieden, die nachgerade die DNA dieses so heterogenen Land ausmachen. Das Unglück des terroristischen Massenmordes lässt alle Differenzen, auch politische, nichtig erscheinen. Rally around the flag – und das ist nicht nur sinnbildlich gemeint: Wer in jenen Tagen in New York oder andernorts in den Vereinigten Staaten unterwegs war, der wird sich daran erinnern. Und in New York entsteht eine Ikone des Fotojournalismus. Thomas E. Franklin schießt es noch am Nachmittag des 11. Septembers: Drei Feuerwehrleute, die an einem dünnen, aus den Trümmern ragenden Mast das Sternenbanner hissen. Das Foto findet sofort Platz in buchstäblich Hunderten von US-Medienformaten, denn es erinnert frappant an ein berühmtes Foto von Joe Rosenthal – Flag raising on Iwo Jima, das Hissen des Sternenbanners auf der kleinen, umkämpften Pazifikinsel am 23. Februar 1945. Derartige Parallelen müssen nicht herbeigeredet werden: Schnell ist die Rede vom war on terror. Und spätestens als der Präsident, als George W. Bush auf einen Trümmerhaufen des Ground Zero klettert, sich ein Megafon geben lässt und zu den Feuerwehrleuten und Helfern spricht, ist allen klar, dass das Land in den Krieg ziehen wird.

Bush: »I want you all to know that America today, America today is on bended knee, in prayer for the people whose lives were lost here, for the workers who work here, for the families who mourn. The nation stands with the good people of New York City and New Jersey and Connecticut as we mourn the loss of thousands of our citizens.«

Rescue worker: »I can’t hear you!«

Bush: »I can hear you! I can hear you! The rest of the world hears you! And the people – and the people who knocked these buildings down will hear all of us soon!«

»USA! USA! USA!«, schallt es daraufhin minutenlang über Ground Zero. Und es ist ein anderes »USA!« als das, das Donald Trump 15 Jahre danach bei seinen Wahlkampfreden in den saubergefegten Flugplatzhangars des rust belt entgegengebellt wird. Der Patriotismus der New Yorker des 11. Septembers ist vom Nationalismus der Trump-Kampagne so weit weg wie der Mars von der Erde. In der offenen, bunten Welthauptstadt des Handels, seiner Heimatstadt im Übrigen, wird Trump am 8. November 2016 zwischen 12 und 18 Prozent der Stimmen erhalten. Für George W. Bush sind es indes die folgenreichsten Worte seines Lebens. (Und seine Zustimmungswerte erreichen ein astronomisches Rekordhoch.) Spätestens seit diesem Tag befinden sich die USA in einem globalen Krieg gegen den Terror.

Zäsur

Wer weiß, welchen Kurs die Präsidentschaft von George W. Bush genommen hätte. Spektakulär genug hatte sie zumindest begonnen: Erst ein Urteil des Supreme Court zum Nachzählverfahren in Florida hatte ihm die Präsidentschaftswahl 2000 gesichert – ein immer noch äußerst umstrittener Entscheid. Der politisch eher unauffällige, christlich-konservative Bush kann Al Gore, der für die Demokraten ins Rennen geht, wohl nur deshalb besiegen, weil die amerikanische Bevölkerung den Demokraten nach dem langen Gezerre im Clinton-Lewinsky-Skandal nicht mehr über den Weg traut – zumal nicht dem intellektuellen Gore, der als Vize von Clinton irgendwie gleich in Sippenhaft genommen wird.

So aufregend das Wahlverfahren tatsächlich war, umso unauffälliger entwickeln sich die ersten Monate der Bush-Präsidentschaft. Das Aufregendste, was der Sommer 2001 im politischen Washington bringt, sind die Vorläufer einer Auseinandersetzung um die Regulierung von Biotechnologie – man ist gespannt, wie sich der fundamental-christliche Präsident in einem konkreten Fall aufstellen würde. Am meisten noch abgelenkt ist Bush von den Vorbereitungen einer Steuerreform. Präsidentielles Tagesgeschäft. Und damit passt es auch in das Bild einer plätschernden Politik, dass Bush in einer Grundschule in Sarasota, Florida, von der Nachricht überrascht wird, ein Flugzeug sei in einen Turm des Trade Centers in New York gestürzt. Da zunächst noch angenommen wird, es handele sich um einen Unfall, setzt Bush seine Vorlesestunde mit den Zweitklässlern fort. Auf einer Tafel hinter ihm steht: »Lesen macht ein Land groß«. Wenig später betritt sein Stabschef, Andrew H. Charge, erneut das Klassenzimmer, beugt sich über den auf einem Kinderstuhl sitzenden Präsidenten und flüstert ihm ins Ohr, nun sei ein zweites Flugzeug in den Nachbarturm gestürzt. Dies sei ein Angriff auf Amerika.

Was nun passiert, entbehrt nicht einer nachdenklich stimmenden Symbolik. Bushs Mimik erstarrt, ja er wirkt sogar verwirrt. Während die Welt auf den Fernsehbildschirm blickt, beendet der Präsident in der Emma-E.-Booker-Grundschule seine Vorlesestunde in aller Ruhe, aber sichtlich angespannt, und begibt sich in einen Medienraum. Erst hier sieht er als einer der Letzten, was passiert ist. Später wird er in einem Interview beschreiben, dass er in diesen Minuten beschlossen habe, in den Krieg zu ziehen.3

So beginnt dann im Grunde schon mit dem Einschlag des ersten Flugzeugs ein neues amerikanisches Zeitalter; jedenfalls kann ganz sicher von einer Zäsur gesprochen werden, denn die Bush-Regierung steuert in der Außen- und Sicherheitspolitik unmittelbar nach 9/11 einen neuen Kurs. Bush selbst muss später auch zugeben, dass er sich zu sehr auf die Innenpolitik konzentriert habe und Warnungen vor der terroristischen Bedrohung nicht die Bedeutung beigemessen habe, die sie verdient hätten. Seitdem aber sei ihm die Sicherheit des amerikanischen Volkes zur »heiligen Pflicht« geworden.4

Die Öffentlichkeit selbst scheint – noch für Wochen – geschockt. Und sie hat mindestens zwei Dinge zu »schlucken«: Erstens zeigen die Angriffe bei aller wirtschaftlichen, politischen, militärischen Macht, die die USA unzweifelhaft besitzen, dass das Land verletzlich ist – auf eigenem Territorium, trotz aller Sicherheitstechnologie. Nicht selten wird in jenen Tagen auf den britisch-amerikanischen Krieg (1812–1814) verwiesen, von dem hier ja schon die Rede war: Der Feind attackiert das Land im Land selbst. Das ist neu und wird als Katastrophe in der Katastrophe gewertet. Zweitens wird unmittelbar die Symbolik des Angriffs auf die Twin Towers, auf das Pentagon und auf die wahrscheinlichen zusätzlichen Ziele Weißes Haus oder Kapitol wahrgenommen: Symbole der amerikanischen Größe, des amerikanischen (Selbst-)Bewusstseins – und der offenen, freien Gesellschaft, der Demokratie und des freien Handels. Nach dem Ende des Kalten Krieges war ein derartiger Angriff auf die letzte verbliebene Großmacht schlicht unvorstellbar. Man wird brutal gewahr, dass die in der Nation tief verwurzelten Ideale von Freiheit, Gerechtigkeit, dass die Vorstellung eines american exceptionalism nicht nur nicht geteilt, sondern bekämpft werden. Wahrscheinlich ist diese Verletzung von Selbstverständlichkeiten mit ein Grund dafür, dass in den kommenden Wochen nur wenig öffentliche Diskussion aufkommt oder gar Kritik geäußert wird, als die Regierung Bush vom Kongress immer mehr Milliarden Dollar für den Krieg gegen den Terrorismus einfordert und beginnt, die in den USA eigentlich geheiligten Bürgerrechte einzuschränken. Die Transformation der Gesellschaft wird akzeptiert.

Außenpolitik, Sicherheitspolitik – eine neue Architektur

»Die Vereinigten Staaten von Amerika, lange Jahre ein Liebling des Schicksals, befinden sich auf Kollisionskurs mit der Geschichte. Durch zwei Jahrzehnte einer fast mythischen Unabhängigkeit von der alten Welt getrennt, aber seit kurzem durch ein plötzliches Ereignis der Verwundbarkeit konsterniert, verschließt Amerika die Augen vor der Erkenntnis, dass die neue Welt des 21. Jahrhunderts notwendigerweise eine Welt der gegenseitigen Abhängigkeit, der Interdependenz sein wird. […] Von der HIV-Epidemie bis zur globalen Klimaerwärmung, von marktbeherrschenden globalen Medienkonzernen bis zu internationalen Verbrechersyndikaten verlangt jedes Problem der […] interdependenten Welt von Amerika, sich nach außen zu orientieren. Stattdessen kneift es die Augen zu und kehrt sich nach innen, die Außenwelt nur noch mit einem Tunnelblick wahrnehmend […].«5

Diese Worte fand der Politikwissenschaftler Benjamin Barber im Vorfeld des Irakkrieges vor beinahe 15 Jahren. Und er beschreibt damit, dass dem katastrophalen Trauma von 9/11 eine weitere nationale Katastrophe folgte – so jedenfalls seine pointierte Meinung: Eine Sicherheits- und Außenpolitik, die letztlich dazu führt, dass die Vereinigten Staaten unter der Ägide von Bush beginnen, ihre eigenen Werte zu »verhandeln«.

Das ist in mancher Hinsicht paradox: In dem Augenblick, in dem sich die Nation einig wie selten um den Präsidenten als Personifikation ihrer selbst versammelt, genau dann beginnt sie damit, ihre Prinzipien zu hinterfragen, ja leichtfertig aufs Spiel zu setzen.

Politisch beginnt der Kampf gegen den Terrorismus mit einem dramatischen außenpolitischen Kurswechsel, für den der Kongress dem Präsidenten schon drei Tage nach den Anschlägen alle Vollmachten verleiht. Dass der Präsident in Krisenzeiten gegenüber dem Kongress eine besonders machtvolle Position einnimmt, ist allerdings nicht neu; es traf zum Beispiel schon auf Franklin D. Roosevelt zu, sowohl in der Wirtschaftskrise als auch im Zweiten Weltkrieg. Kein Kongressabgeordneter mag sich in solchen Situationen vorwerfen lassen, politisch notwendige und moralisch unumgängliche Maßnahmen auszubremsen. Sichtbar wird hier ein Defekt in der Architektur des Systems der checks and balances: Weil die Exekutive zulasten der demokratischen Kontrolle durch den Kongress den politischen Entscheidungsdiskurs dominiert.

Und so gelingt es dann der Regierung Bush, knapp sechs Wochen nach 9/11, dass der Kongress ein Anti-Terror-Gesetzespaket verabschiedet: den Provide Appropriate Tools Required to Interrupt and Obstruct Terrorism, was sich sinnigerweise als PATRIOT-Act zusammenfassen lässt. Und dagegen kann doch niemand etwas haben! Ganz allgemein geht es also um die Bereitstellung angemessener Hilfsmaßnahmen zur Terrorbekämpfung. Konkret können des Terrorismus verdächtige Personen eher verhaftet werden, können Institutionen wie Banken oder auch Universitäten durchsucht werden, wenn es denn der Gewinnung nützlicher Informationen zur Terrorabwehr dient. Dieser Punkt wäre im Lichte des Fourth Amendment der US-Verfassung kritisch zu betrachten. In diesem Zusatz werden einschlägige Rechte auf Sicherheit der Person gegenüber dem Staat definiert. Vor allem aber wird nun der Weg frei gemacht für eine riesige Behörde, die die innere Sicherheit stärken soll: das Department of Homeland Security (www.dhs.gov). Das Amt fasst nun 27 recht diverse Behörden in einem zusammen (zum Beispiel Küstenwache, Grenzpolizei, Einwanderungsbehörde, Secret Service oder Gesundheitsamt) und beschäftigt derzeit immerhin rund 230.000 Personen.

Außenpolitisch markiert die sogenannte Bush-Doktrin das künftige außen- und militärpolitische Selbstverständnis der USA. Die Doktrin »überarbeitet« bisherige Vorstellungen vom Präventivkrieg: Nicht nur seien militärische Operationen (der USA) gerechtfertigt, wenn sie dazu dienen, einen unmittelbar bevorstehenden Militärschlag abzuwehren (sogenannter preemptive war), sondern auch, wenn die Gefahr einer mittelbar möglichen militärischen Gefahr abzuwenden sei. Die Doktrin ist hoch umstritten, zumal sie in einer diskutierten Version die Sicherung der militärischen Vormachtstellung zum Schutz der Demokratie und des freien Handels umfasst – was bedenklich viel Interpretationsspielraum bietet. Natürlich aber hat die Doktrin einen schlechten Ruf, weil sie den Afghanistan- und insbesondere den Irakkrieg legitimieren sollte.

Scheitern wie Bush

Irgendwie ist es dann einer der größten Treppenwitze in der Geschichte der politischen Lüge, dass George W. Bush, dessen Regierung mit einer ganzen Lügenmatrix um den Vorwurf des Besitzes von Massenvernichtungswaffen den Irakkrieg vorbereitete, am 1. Mai 2003 eben diesen Krieg für beendet und die Mission der Truppen für »accomplished« erklärt – auf einem kameragerecht vor der kalifornischen Küste beigedrehten Flugzeugträger, der den Namen von Honest Abe trägt, von Abraham Lincoln. Beendet ist die Mission da lange nicht – und gekostet hat die Aktion, wie es heißt, einen Zuschlag von rund 250.000 Dollar, weil das Schiff lichttechnisch zunächst »falsch herum« lag und einmal um 180 Grad gedreht werden musste.6 Sicher ist die Lüge keine Erfindung des 21. Jahrhunderts, aber Bush hat einiges dazu beitragen, das Misstrauen der Amerikaner in die Entscheidungen Washingtons zu steigern.

Und: Die Angriffskriege in Afghanistan und im Irak bleiben im Kongress weitgehend widerspruchsfrei – was von Trump im Wahlkampf aufgegriffen und gegen Hillary Clinton vorgebracht wird. Dabei gelingt es den Amerikanern mit diesen Kriegen auch nicht wirklich, das Momentum der globalen Welt- und Sicherheitspolitik zu bestimmen. Im Gegenteil ist eher festzuhalten, dass eine falsche Analyse der militärischen und außenpolitischen Lage das Land weitgehend isoliert; zumindest in den Irakkrieg ziehen die Amerikaner ohne internationale Billigung oder Unterstützung, was einen basalen, heute noch spürbaren negativen Effekt hat: Er stärkt eher die antiwestlichen Kräfte, ja er dürfte die Radikalisierung des Nahen Ostens weiter vorangetrieben haben. Da auch eine profunde militärisch-politische Strategie und Abstimmung mit den westlichen Partnern fehlt, trägt Bush dazu bei, dass in seine Regierungszeit der (heute seltener gehörte) Gedanke fiel, man müsse eigentlich zwischen einem europäischen und einem amerikanischen Westen unterscheiden.

Ein nachhaltiges Erbe dieser Regierungsperiode – außen- wie innenpolitisch – ist die Internierung von rund 700 vorwiegend arabischen und muslimischen Häftlingen auf dem US-Militärstützpunkt Guantánamo. Für internationale Kritik sorgt dabei der Umstand, dass die Kriegsgefangenen als unlawful combatants eingestuft werden – und damit nicht unter die Genfer Konventionen fallen. Als Folge fühlten sich offenbar US-Geheimdienstleute dazu ermächtigt, während der Verhöre das sogenannte waterboarding einzusetzen. International zählt die Methode als Folter. Die Praxis wird durch ein US-Gericht schließlich gestoppt – nur um Jahre später im »lauten Denken« des Donald Trump wieder aufzutauchen.

Aber zunächst wird sich Barack Obama mit dem Problem beschäftigen müssen.

Hello Chicago

Chicago, Grant Park, 5. November 2008: Barack Obama hat gerade die Wahl zum 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten gewonnen und hält vor geschätzt 240.000 Menschen seine Siegesrede – ein rhetorisches Meisterwerk. Die Rede ist knapp 25 Minuten lang und enthält alles, was man von ihr erwarten darf: den Dank an seine Unterstützer, sein Wahlkampfteam, seine Familie, die Hochachtung vor Senator John McCain, ein Lob seines künftigen Vize Joe Biden und zuletzt auch ein geradezu lehrbuchartiges Element des storytelling, das die Amerikaner in den emotionalen Bildern einer stimmigen Geschichte an ihre Erfolge der Vergangenheit erinnert. So schlägt er einen Bogen zum Leitmotiv seines Wahlkampfs, seiner Präsidentschaft: Change und Hope. Insbesondere aber greift Obama gleich zu Anfang der Rede die Skepsis all jener auf, die zweifelten, dass er, dass ein Schwarzer Präsident der Vereinigten Staaten werden könne:

»If there is anyone out there who still doubts that America is a place where all things are possible, who still wonders if the dream of our founders is alive in our time, who still questions the power of our democracy, tonight is your answer. […] It’s the answer spoken by young and old, rich and poor, Democrat and Republican, black, white, Hispanic, Asian, Native American, gay, straight, disabled and not disabled. Americans who sent a message to the world that we have never been just a collection of individuals or a collection of red states and blue states. We are, and always will be, the United States of America.«

Die Vereinigten Staaten von Amerika. Analysten fällt sofort auf, dass Obama hier metaphorisch anschließt an eine Rede, die er knapp vier Jahre zuvor, am 24. Juli 2004, auf dem Parteitag der Demokraten in Boston gehalten hat. Diese Keynote befördert die innerparteiliche und nationale Wahrnehmung des seinerzeit eher unbekannten Obama ungemein. Sie ist ein Meilenstein auf seinem Weg zur Präsidentschaft. Auch dort greift er das Bild der Einigkeit in der Vielfalt auf, das ja auch das Staatsmotto der USA ist: »It’s what allows us to pursue our individual dreams, yet still come together as a single American family: ›E pluribus unum‹, out of many, one.« Man mag freilich einwenden, gerade im so patriotischen Amerika sei es zwingend, die Einigkeit der Nation zu beschwören. Das ist sicher richtig. Bereits Thomas Jefferson, der dritte US-Präsident, erinnerte seine Landsleute in seiner Inaugurationsrede am 4. März 1801 an eben diese Einigkeit: »We are all Republicans, we are all Federalists.« Aber schon bei Jefferson ist das mehr als Metaphorik: Er und Aaron Burr, sein Gegenkandidat, hatten beide die gleiche Anzahl Stimmen im Electoral College erhalten, 73, und das Repräsentantenhaus musste in einer knapp 30-stündigen Sitzung und mehreren Wahlgängen das Patt überwinden. Einigkeit als Legitimation.

Für Obama ist die Beschwörung der Einheit eine Notwendigkeit. Er will und braucht eine moderierende Präsidentschaft. Auch in seiner ersten Antrittsrede klingt das an, natürlich, das Motiv der Vereinigten Staaten – und es ist ein Versprechen. Am Ende seiner Präsidentschaft muss er sich dann eingestehen, dass der Parteienzwist stärker ist als alle Worte, etwa in seiner letzten State of the Union Address: »It’s one of the few regrets of my presidency – that the rancor and suspicion between the parties has gotten worse instead of better.« Er hat Erfolge vorzuweisen, zum Beispiel eine prosperierende Wirtschaft mit etwa 18 Millionen neuen Jobs, die Arbeitslosenquote hat sich seit seinem Amtsantritt halbiert. Aber seine Präsidentschaft ist geprägt von einer beispiellosen Blockadepolitik, die seine Reformvorhaben in weiten Teilen einschränkt. Insofern ist Claus Leggewie zuzustimmen: Es ist eine irgendwie rätselhafte Bilanz, eine Bilanz des gelungenen Scheiterns.7 Das klingt so ambivalent, wie es ist.

Change

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Bei Obama ist es der Zauber der Rede, des gesprochenen Wortes, der ihn zusammen mit einem modernen Wahlkampf ins Weiße Haus führt: Hope, Change, Yes we can. Er ist zweifellos ein Hoffnungsträger, national wie international. Er vermag Zuversicht zu vermitteln – er, der junge Präsident, gerade einmal zehn Monate im Amt, erhält in einem Akt der vorauseilenden Gewissheit im Herbst 2009 den Friedensnobelpreis. Das Land steckt in der schwierigsten Wirtschafts- und Finanzkrise seit der Großen Depression. Und das Land sehnt sich nach einer außenpolitischen Kurskorrektur, denn es ist verwickelt in Kriege, die der Präsidentschaft von Bush das Etikett imperial anheftet.

Von Bush übernimmt Obama aber auch das Amerika der unvereinigten Staaten. Schon im Wahlkampf formierte sich die Opposition gegen Obama als eine Opposition gegen die multiethnische Realität des Landes; von offenem Rassismus mag man nicht sprechen. Doch stehen die Obamas für das progressive Milieu der Metropolen und Großstädte, für das fortschrittliche, offene Amerika, dem die andere Hälfte, das ländliche, suburbane Amerika mit fast schon fanatischem Misstrauen begegnet. Will Obama das Land reformieren, dann muss er die gesellschaftlichen Gräben überwinden, muss die ideologische Polarisierung glätten. Genau darin liegt sein (in wechselnden Metaphern) beständiger Bezug auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Gelegentlich klingt es wie ein verzweifelter Appell.

Denn das Vorhaben ist groß: Obama möchte das Land nicht »nur« reformieren, er will es transformieren: Zunächst geht es darum, die Kriege in Afghanistan und im Irak und menschenrechtswidrige Praktiken des war against terror so schnell wie möglich zu beenden – und damit die außenpolitische Isolation des Landes. Vor allem aber strebt Obama in seiner Präsidentschaft eine communitarian correction an: die Korrektur einer langen, eher individualistischen Tradition in Amerika. Am besten mag man sich das wohl mit den Worten John F. Kennedys vorstellen: »Frag nicht, was dein Land für dich tun kann, frag, was du für dein Land tun kannst.« Diese Idee entspringt weniger einer ideologischen Position, vielmehr einem pragmatischen Denken, nur so könne das »geteilte Land« seine Probleme in den Griff bekommen: seien es Fragen der Wirtschaftspolitik, sei es die Problematik der Gesundheitsreform, sei es der Umweltschutz und mehr. Mit anderen Worten zielt die Präsidentschaft nicht nur auf Wandel, sondern auf einen post-partisan-Ansatz, der die parteipolitischen Gräben im Lande zuschütten möchte.

Nebenbei bemerkt: Dass Obama in seiner Regierungspraxis von Beginn an ausnehmend kompromissbereit agiert und den Konsens sucht, wird ihm von den linken wie rechten Polen des politischen Spektrums sofort übel genommen: Die Bereitschaft, auf den Gegner zuzugehen, gilt nicht unbedingt als klug, sondern wird als Ausdruck politischer Untreue und mangelnder Prinzipien bewertet.

Krisenbewältigung und Tea Party

Als Obama sein Amt antritt, erbt er eine Wirtschafts- und Finanzkrise, die nicht nur das eigene Land, sondern gleich die globale Wirtschaft vor enorme Herausforderungen stellt. Darauf muss reagiert werden, bevor an die eigenen Reformvorhaben gedacht werden kann. Der erste Antrag, den die Obama-Regierung im Kongress einbringt, ist daher die zweite Stufe eines Hilfsprogramms (Troubled Asset Relief Program), das noch von George W. Bush auf den Weg gebracht worden war. Verhindert werden sollen damit unter anderem die Bankrotte von General Motors und Chrysler. Schon diese Maßnahmen stoßen bei der Bevölkerung mehrheitlich auf Ablehnung.

Als Obama dann wenig später, im Februar 2009, also in den ersten Wochen seiner Amtszeit seinen American Recovery and Reinvestment Act ankündigt, löst der Börsenreporter Rick Santelli mit einer Schimpftirade gegen diese Wirtschaftspolitik auf CNBC die Gründung der Tea Party aus. Santelli regt sich insbesondere auf über die wohlfahrtsstaatlichen Programme und sogenannte Bailouts für zahlungsunfähige Kreditnehmer, die in dem Konjunkturpaket enthalten sind. Sein Zorn kumuliert im historischen Rückgriff auf die amerikanische Revolution und die Boston Tea Party, als Kolonisten aus Wut über die englische Konsumsteuer britische Schiffe kaperten und deren Ladung – überwiegend Tee – in den Bostoner Hafen kippten. Ein für Amerikaner sehr sinniges Bild, das umgehend Breitenwirkung entfaltet: Unmittelbar nach der Tirade wird ein Mitschnitt online gestellt – und eine veritable Medienkampagne beginnt. Über die Multiplikatoren Drudge Report und Fox News erreicht sie das erzkonservative Talk Radio und dann den Nachrichten-Mainstream. Bald schon steht TEA als Akronym für taxed enough already. Insbesondere verlässt der Protest das Netz, im Frühjahr und im Sommer kommt es in vielen Städten zu Demonstrationen gegen die als Big Government gelesene Wirtschaftspolitik Obamas. Am 12. September erlebt schließlich Washington eine Großkundgebung gegen die Gesundheitsreform der Regierung. Tenor: Die USA seien auf dem Weg in den Sozialismus. Konsequenterweise firmiert der Protest meist unter dem Motto »I want my country back«. Für Europäer ist diese Haltung gelegentlich unverständlich: Was sollte so schlecht daran sein, wenn sich jeder im Lande eine Krankenversicherung leisten kann? Es ist stets die Frage des staatlichen Eingriffs und Vorschreibens, das ist selten populär – weil es Eigenleistung hemmt, Anstrengung und Kreativität des Einzelnen unterdrückt.

Im Inneren des politischen Systems entfaltet die Tea Party ihre Wirkung nach den midterm elections vom November 2010, als sie etwa ein halbes Dutzend Sitze im Senat und gut 60 Sitze im Repräsentantenhaus erobert. Sie formiert sich rechtspopulistisch, konzentriert sich auf zwei Positionen: freie Märkte und wenig Staat. Die sich bildende Bewegung wird zum Zentrum des Protestes gegen die Politik Obamas. Was der Präsident vielleicht unterschätzt hat: Change löst bei Traditionalisten mit Hang zur Statusverteidigung eher Angst und Unsicherheit aus als Euphorie.