Nach verlorener Zeit - Susann Englert - E-Book
NEUHEIT

Nach verlorener Zeit E-Book

Susann Englert

0,0

Beschreibung

Hamburg, August 2023 Emma, Mutter eines sechsjährigen Sohnes, und ihr Bruder Nico gehen dem Schreiben ihrer verstorbenen Mutter Sabine nach, in dem sie ihre Kinder darum bittet, für zwei Wochen in ihre Heimatstadt zurückzukommen. Nun stehen sie mit gemischten Gefühlen vor ihrem Elternhaus, das sie vor langer Zeit begonnen hatten zu meiden. Sabines letzter Wille galt aber nicht nur ihnen, sondern auch Tom, dem Sohn ihres Lebensgefährten Matthias. Nico verließ frühzeitig das Haus seiner Kindheit und vor sieben Jahren trennten sich die Wege von den Geschwistern und Tom endgültig voneinander. Seit einer Auseinandersetzung mit seinem Vater ist er spurlos verschwunden. Emma und ihn verbanden starke Gefühle und ihr Schmerz darüber veranlasste ihren Bruder dazu, sie zu sich zu holen. Was war vor sieben Jahren geschehen? Wenn es ihrer Mutter tatsächlich gelungen ist, Tom ausfindig zu machen und er auf das Schreiben eingehen würde, dann könnten die Geschwister und er endlich die Chance bekommen wieder zueinanderzufinden. Zudem sollte Tom unbedingt etwas von Emma erfahren...

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 352

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Eine starke Verbundenheit

zwischen drei Menschen.

Viele Jahre, die sie

voneinander trennten.

Inhaltsverzeichnis

1. Kapitel

6. August

2. Kapitel

Rückblende

3. Kapitel

4. Kapitel

7. August

5. Kapitel

Rückblende

Rückblende

6. Kapitel

7. Kapitel

8. August

Rückblende

8. Kapitel

9. Kapitel

9. August

10. Kapitel

Rückblende

11. Kapitel

12. Kapitel

10. August

13. Kapitel

14. Kapitel

11. August

15. Kapitel

12. August

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

14. August

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

15. August

25. Kapitel

16. August

26. Kapitel

27. Kapitel

17. August

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

18. August

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

19. August

34. Kapitel

35. Kapitel

36. Kapitel

20. August

Epilog

1. September

1. Kapitel

6. August

Die Abfahrt Schleswiger Damm führt Emma weiter über die zwei Märchenwege. Zuerst geht es über den Königskinderweg, benannt nach Die beiden Königskinder der Gebrüder Grimm, und von dort biegt sie rechts auf den Dornröschenweg ab. Ebenfalls abgeleitet von der gleichnamigen Erzählung der Brüder. Weiter mit der Fahrt auf dem Bönningstedter Weg macht ihr abermals bewusst, dass Geschehenes alles andere als ein Märchen mit einem glücklichen Ende für sie alle gewesen ist.

Es liegt auf der linken Seite. Das mit Liebe erbaute Blockhaus ihres Vaters. Das große Anwesen hat seinen Platz an der nordwestlichen Grenze der Hansestadt Hamburg. In Schnelsen, im Bezirk Eimsbüttel. Mit wenigen Schritten gelangt man nach Bönnigstedt und befindet sich fortan in Schleswig-Holstein.

Den Motor abgestellt und das Auto auf dem großen, mit Kieselsteinen bedeckten Platz geparkt. Ein kleiner schlafender Junge auf der Rücksitzbank, der nicht ahnen kann, weshalb seiner Mutter in jenem Moment ein mulmiges, gar eigenartiges, Gefühl überkommt. Vor sieben Jahren, an ihrem 18. Geburtstag, hat Emma ihr Elternhaus verlassen. Ein Jahr nach ihrem heute 26-jährigen Bruder Nico und nach ihrer großen Liebe Tom, der nochmals ein Jahr älter als Nico ist.

Ihre Wege haben sich nicht getrennt, weil sie es so wollten. Sie sind auseinandergegangen, da es zu jener Zeit keine andere Möglichkeit gegeben hatte.

Zu allem Glück haben sich Emma und ihr Bruder nie aus den Augen verloren. Für kurze Zeit hat sie bei Nico gewohnt. Tom hingegen war wie vom Erdboden verschluckt. Sie haben versucht, ihn über zwei Jahre lang zu finden, aber taten es leider nie. Die Geschwister sind sich nicht einmal sicher, ob er noch am Leben ist.

Emma steigt leise aus dem Auto, um ihren Sohn Toni nicht zu wecken. Sie stellt sich vor das, sich im kanadischen Stil zeigende, Holzhaus. Sie fährt sich mit den Händen durch ihr kastanienbraunes Haar und atmet tief ein und aus. Ihr Vater hat dieses Haus mit Leidenschaft und viel Liebe zum Detail für seine Familie gebaut und es steht in einer wahrlich ruhigen Gegend.

Das Grundstück besitzt die Größe eines halben Fußballfeldes, in welchem das Haus gut ein Viertel einnimmt. Der Garten rundherum von diesem ist sehr groß und es grenzt kein weiterer Bau daran an.

Das Naturstamm-Blockhaus zeigt sich mit einer Fassade aus mittelbraunem Fichtenholz und einem schwarzen Reet-Dach. Weiße Rahmen zieren die Fenster und Türen.

Die Veranda am vorderen Teil des Hauses besitzt einen dunkelbraunen Holzboden aus Cumaru. Die aus Lärchenholz gefertigte Einzäunung des Anwesens erstrahlt ebenfalls in weißer Farbe.

Emmas Vater hatte diesen Traum erbaut und nachdem er starb, als sie zwölf Jahre alt gewesen ist, schien allmählich die Liebe aus diesem zu verschwinden. Die Liebe jedoch, von ihrem und Nicos Vater zu ihnen und Kanada, bleibt mit einem einzigen Blick auf das Familienhaus für immer bestehen.

Ein lautes Motorengeräusch reißt Emma aus ihren Gedanken. Sie dreht sich um und vernimmt eine Staubwolke, ehe sie ihren Bruder auf seinem Motorrad erkennt. Nico stoppt neben Emmas schwarzem Golf, steigt ab und nimmt sich den Helm vom Kopf. Seine Schwester lächelt ihn an.

„Du bist gekommen.“, freut sie sich.

„Ich sagte doch, dass ich komme, wenn du dich dafür entscheidest.“ Nico nimmt seine Schwester zur Begrüßung in die Arme und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.

Es ist ihm anzumerken, dass er dem Ganzen etwas skeptisch entgegensieht. Ihre Mutter ist im Frühjahr dieses Jahres an einer Krankheit gestorben. Da ihr der baldige Tod bewusst gewesen ist, verschickte sie drei Briefe. Ein Brief für Nico, ein Brief für Emma und ein weiterer für Tom. In den Kuverten je ein Haustürschlüssel.

Matthias, so schrieb sie, würde nicht anzutreffen sein. Sie ließ ihn gehen, weil er nicht mit ihrer Krankheit zurechtkam. Matthias, Toms Vater, war der neue Lebensgefährte ihrer Mutter gewesen. Knapp drei Jahre lebten alle gemeinsam unter einem Dach.

Emma war sich schon von Beginn an sicher, dass er keine gute Seele besaß. Er war unfair, schroff und behandelte seinen Sohn wie einen Fremden, den er nicht leiden konnte. Emma und Nicos Mutter, Sabine, liebte Matthias sehr und übergab ihm sämtliche Entscheidungen im Haus mit warmer Hand. Das hatte zur Folge, dass sie vor Jahren drei Menschen aus ihrem Leben gehen sah. Die einzigen Lebenszeichen waren kurz gehaltene Geburtstags- und Weihnachtsgrüße, die stets über eine zum Anlass passende Karte verschickt worden waren.

Eine Beerdigung gab es nicht oder aber sie wollte nicht, dass ihre Kinder davon erfuhren.

In jenem Moment ist ein Klopfen zu hören und Emma und ihr Bruder lösen sich voneinander. Toni winkt förmlich hinter der Beifahrerscheibe und fordert seine Mutter damit auf, ihn aus dem Auto zu lassen. Toni springt freudig heraus.

„Onkel Nico!“, ruft er und läuft ihm in die Arme.

„Hey. Komm her, Kumpel, und lass dich drücken.“

„Damit möchte ich auch mal fahren.“

„Dafür musst du noch etwas größer werden.“, lacht Nico auf und wuschelt Toni durch sein volles Haar.

„Wie wäre es, wenn wir erst einmal reingehen? Unser Gepäck auf die Zimmer bringen und uns dann im Garten treffen?“, schlägt er als nächsten Schritt vor und Emma nickt einverstanden.

Als sie in das Haus eintreten, hat jeder seine eigenen Gedanken im Kopf. Abgesehen von einem Keller und Dachboden, ist das Innere des Hauses übersichtlich auf eine Etage aufgeteilt. Es gibt vier Schlafzimmer, zwei Bäder, eine großzügige Küche, mit einer in der Mitte stehenden Theke, und ein daran angrenzendes gemütliches Wohnzimmer mit einem geschlossenen Kamin. Der Boden in Küche und Wohnzimmer besteht aus hellem Laminat und der Eingangsbereich ist mit französischen Fliesen verziert, die schon einige hundert Jahre alt sind. An den Decken sind freiliegende Holzbalken angebracht, die den Räumlichkeiten einen gewissen Charme verleihen.

Kaum etwas hat sich verändert. Es kam vielleicht das ein oder andere Möbelstück hinzu oder ein anderes wurde ersetzt, aber im Großen und Ganzen war es so, als wären sie alle nie weg gewesen.

Sie stehen noch immer im Vorraum, nicken sich stumm zu und jeder geht durch den Flur hindurch in sein altes Zimmer. Auf dem Weg dorthin setzt Nico Toni, den er seit seiner Ankunft auf dem Arm hat, ab, so dass er seiner Mutter folgen kann.

„Das war also dein Zimmer, Mama?“, fragt Toni und schaut sich im Raum um.

„Ja, Spatz, das war mein Zimmer.“, gibt sie ihm kurz zur Antwort.

Sie muss diesen Moment selbst erst auf sich wirken lassen. Toni setzt sich auf das frisch bezogene Bett und lässt seine Beine baumeln.

Emma stellt ihren Koffer ab. Sie läuft zu ihrer Kommode aus Zedernholz und fährt mit dem Finger über die Oberfläche. An der Wand hängen Fotos von der Familie. Ihr Vater lächelt ihr von einem der Bilder aus zu. Sie geht an das Fenster, welches direkt zur Gartenseite hinaus zeigt. Sie öffnet dieses und atmet die frische Luft ein. Genau das, was sie gerade braucht.

„Mama, hier liegt ein Brief.“, ruft Toni ihr zu.

Emma dreht sich zu ihrem Sohn um und setzt sich neben ihn auf das Bett. Er gibt ihr das Kuvert in die Hand, auf welchem in Großbuchstaben „EMMA“ steht.

Die Briefe des Notars Michael Hübler, die an Nico, Emma und Tom herausgeschickt worden waren, beinhalteten neben dem Haustürschlüssel ein weiteres Schreiben. Sie erfuhren darin vom Tod ihrer Mutter sowie von ihrem letzten Willen. Alle vier sollten für zwei Wochen im Sommer hierher zurückkommen. Gemeinsam. Deshalb hatte ihre Mutter zwei Wochen im August ausgewählt. In dieser Zeit wäre auch Toni in den Ferien. Am vorletzten Tag des Aufenthalts würde sie Herr Hübler besuchen und mit ihnen sprechen. Der letzte Wille ihrer Mutter klang für Emma in jenem Moment interessant und skurril zugleich.

Sie setzt sich zu ihrem Sohn auf das Bett und nimmt den Brief von ihm entgegen. Sie öffnet die Verschlusskappe, faltet den Zettel auseinander und beginnt zu lesen.

Meine liebe Emma,

wenn du diese erste Zeile liest, dann weißt du bereits, dass ich von euch gegangen bin. Wenn du die weiteren Zeilen liest, dann bedeutet das, dass du auf das Schreiben des Notars eingegangen bist. Ist dem so, dann freut mich das sehr und ich danke dir dafür. Natürlich hoffe ich inständig, dass Nico und Tom dies auch getan haben.

Ich wusste schon seit vielen Monaten, dass ich nicht mehr lange leben werde und statt eine große Beerdigung zu planen, war es mir lieber, meine verbleibende Zeit in diese Herzensangelegenheit zu investieren. Matthias war meine Krankheit letzten Endes zu viel geworden und er hat mich verlassen. Ich entschied mich, einen Privatdetektiv anzuheuern, der Tom ausfindig macht. Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass auch er bei euch ist.

Wichtig für mich ist, dass ihr endlich wieder gemeinsam Zeit miteinander verbringt. Ihr habt euch immer gut verstanden, du und Tom hierbei sehr gut, und wurdet vor langer Zeit auseinandergerissen. Ich war ein Hauptgrund hierfür. Ich bin mir sicher, dass es auch für Toni eine sehr schöne Zeit werden wird.

Es tut mir alles unendlich leid. Ich kann die Zeit nicht mehr zurückdrehen und vielleicht kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem ihr mir doch noch verzeihen könnt. Selbst jetzt, nachdem ich nicht mehr unter euch weile.

Gib Toni einen Kuss von mir.

In Liebe,

deine Mutter

Emma legt die Seiten auf das Bett und muss etwas mit den Tränen kämpfen. Tonis schief geneigter Kopf richtet sich vor ihr Gesicht.

„Alles gut, Mama? Was steht da drin?“, will er neugierig und auch mitfühlend wissen.

Emma hält kurz inne und zieht Toni zu sich.

„Das wir hier Urlaub machen sollen.“, flunkert sie.

„Und das macht dich so traurig?“

„Nein, ich bin nicht traurig. Es ist einfach nur alles gerade etwas viel. Weißt du, ich bin, seit dem du geboren wurdest, sogar schon davor, nicht mehr hier gewesen.“

„Und warum?“ Er bohrt weiter nach.

„Das erzähle ich dir ein andermal. Versprochen.“

„Okay. Gehen wir dann jetzt zu Onkel Nico?“ Emma schickt Toni schon einmal zu seinem Onkel.

Sie sagt ihm, dass sie noch einen kurzen Moment braucht.

Nachdem er das Zimmer verlassen hat, setzt sie sich wieder ans Bettende. Nervös lässt sie ihre Hände auf ihren Oberschenkeln auf und ab rutschen. Sie hört ihren lauten Herzschlag und gibt sich Mühe ruhig zu atmen. Ihre Mutter hat also wirklich einen Privatdetektiv auf Tom angesetzt, denkt sie sich.

Würde das bedeuten, dass er definitiv gefunden worden ist? Oder wurde er nicht gefunden, weil er...? Nein, ermahnt sie sich. So weit darf sie nicht denken.

Für einen kurzen Moment überlegt sie, warum sie unbedingt hierher kommen wollte. Weshalb sie sich darauf eingelassen hat.

Nico ist nur für sie mitgekommen, da ist sie sich sicher. Er selbst hätte es definitiv abgelehnt.

Ihr Bruder verbindet das Haus mit ihrem Vater, das weiß sie. Doch ihr ist auch bewusst, dass es seit seinem Tod nicht mehr dasselbe für ihn ist.

2. Kapitel

Toni erfreut sich an dem großen Garten. Er rennt herum und bestaunt die Umgebung. Nico hat allen etwas zum Trinken nach draußen mitgenommen und sitzt auf dem Loungesofa, das aus beigem Rattan hervorgeht und mit cremefarbenen Sitzkissen versehen ist.

„Mutter hat wirklich an alles gedacht und sogar den Kühlschrank auffüllen lassen.“, entgegnet er aufgesetzt.

„Ich habe noch nicht nachgeschaut.“, entgegnet sie leise und lässt ihren Blick in die Weite schweifen.

Auch hinter dem Grundstück liegt angrenzend kein weiteres Haus. Weit und breit nichts als eine saftig grüne Wiesenlandschaft geradeausblickend und einige hundert Meter weiter ein Wald, der sich mit zig großen Bäumen zeigt.

„Hey Schwesterchen. Komm und setz dich mal zu mir.“, bittet er Emma, denn er weiß genau, was mit ihr los ist.

Emma nimmt neben ihrem Bruder Platz. Er reicht ihr daraufhin ein Glas mit Saft.

„Du denkst über den Inhalt des Briefes nach, oder?“, beginnt er. „Der Teil mit dem Privatdetektiv.“

Emma presst die Lippen zusammen und wirkt weiterhin nachdenklich.

„Denkst du, er wurde von ihm gefunden?“, fragt er vorsichtig.

„Denkst du, dass sie auch wirklich einen Detektiv beauftragt hat?“, kommt sie mit der Gegenfrage, die auch Nico kurz zum Überlegen bringt.

„Selbst wenn es so wäre, können wir uns nicht sicher sein, dass er herkommen wird.“, erwidert er schweren Herzens.

„Sieben Jahre, Nico. In dieser Zeit kann sich so viel verändern.“, sagt sie resigniert vor sich hin.

„Ich persönlich glaube, dass er es in Betracht zieht, da er weiß, dass sein Vater nicht hier ist.“, versucht er jetzt positiver zu klingen. „Er hätte dich nie freiwillig alleine gelassen.“

„Das weiß ich.“ Emma atmet tief durch. „Ich will nur wissen, dass er noch am Leben ist.“, stößt sie hervor.

„Nicht nur du.“, entgegnet Nico und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn.

„Gibt es hier auch einen Ball? Hier wäre so viel Platz zum Fußballspielen.“, unterbricht Toni die Stille und setzt ein breites Grinsen auf.

„Komm, wir schauen mal im Gartenhäuschen nach.“

Nico lächelt Emma mitfühlend an und fordert Toni auf, mit ihm mitzukommen. Emma schaut ihnen nach und ebenfalls auf das Gartenhaus. Es ist in zwei Räume aufgeteilt. Im kleineren Raum sind Utensilien verstaut und im Größeren gibt es eine zierliche Bar sowie eine gemütliche Sitzgelegenheit. Erinnerungen bringen Emma dazu, daran zurückzudenken, dass genau dieser Moment dort, an jenem Tag, für sie und Tom zum Verhängnis geworden war.

Rückblende

Es war ein Sonntag. Sabine und Matthias wollten ein wenig durch die Stadt schlendern gehen und sich einen schönen Tag machen. Emma und Tom nutzten die Stunden und fühlten sich frei davon, sich verstecken zu müssen.

Sie verbrachten den Tag gemeinsam im Garten und gingen etwas später in das Gartenhaus. Tom breitete dort eine Decke auf dem Boden aus und nachdem sie es sich darauf gemütlich gemacht hatten, verloren die beiden jedes Zeitgefühl und nahmen auch keine Geräusche mehr von außen wahr.

Sie liebten sich voller Hingabe und Zärtlichkeit und bemerkten nicht, dass die Tür für einen kurzen Moment geöffnet wurde.

Als sie nach einiger Zeit wieder ins Haus zurückgingen, saßen Matthias und Sabine am Esszimmertisch. Matthias hatte vor sich zwei gepackte Rucksäcke gestellt, die für seinen Sohn bestimmt waren.

In seiner Hand hielt er einen Umschlag.

Tom und Emma wussten, sie wurden ertappt und der so wunderschön begonnene Tag nahm ein schlimmes Ende.

Während Emmas Mutter kaum etwas sagte und vorrangig Matthias das Wort überließ, zeigte ihr Blick lediglich pure Entsetzung. Sie schien beinahe angewidert zu sein. Matthias hingegen war rot vor Zorn und redete lautstark.

„Wie konntet ihr beide das nur tun?“

„Ihr beide seid so etwas wie Geschwister.“

„Sie ist gerade einmal siebzehn und du bist zwanzig.“

„Was zum Teufel denkt ihr zwei euch dabei?“ Tom und Emma konnten gar nicht alles wahrnehmen, was Matthias von sich ließ.

Tom wartete, bis sein Vater eine Pause machte, und wollte Gegenargumente einbringen. Er äußerte, dass sie keine Geschwister seien, und er sagte auch, dass er Emma liebte. Daraufhin stand sein Vater auf, ergriff seinen Sohn mit ganzer Kraft am Oberarm und zerrte ihn in sein Zimmer.

„Gib mir dein Handy!“, forderte er ihn auf, nachdem er ihn unsanft auf sein Bett geschubst hatte.

„Nein. Das werde ich nicht.“, weigerte er sich.

Matthias schlug ihn daraufhin mit der flachen Hand ins Gesicht. „Sofort!“, schrie er.

Sein Blick wurde furchteinflößend und Tom zog sein Handy aus seiner Hosentasche. Sein Vater entriss es ihm.

„Du nimmst dir jetzt die zwei Rucksäcke und den Geldumschlag. Danach verschwindest du hier und lässt dich nie wieder blicken. Du hast eine Minderjährige verführt und dir sollte bewusst sein, dass das eine Straftat ist. Weißt du eigentlich, wie sehr du mich blamiert hast? Was soll Sabine jetzt von dir denken? Was soll sie von euch denken? Ihr habt euch wie die kleinen Kinder benommen.“

Tom stellte sich mit herausgestrecktem Brustkorb vor seinen Vater.

„Ist das dein einziges Problem, Vater? Ob ich dich blamieren könnte? Ob ich deinen verdammten Ruf zerstöre? Ich weiß, dass du froh wärst, würde es mich nicht geben, aber Emma und ich wir lieben uns.

Durch dich und Sabine haben wir zueinandergefunden. Und nein, wir haben uns sicherlich nicht wie Kinder aufgeführt. Wir haben gewusst was wir tun, weil wir es wollten!“, brüllte Tom seinen Vater förmlich an.

„Ach, du willst nun uns beiden die Schuld für euer Verhalten geben, ist es das? Was fällt dir eigentlich ein.“ Letzten Satz kaum ausgesprochen, erfüllten Tom mehrere Fausthiebe mit Schmerz.

Nachdem sein Sohn kaum noch Kraft aufbringen konnte, zerrte Matthias ihn zurück in das Esszimmer.

Emma redete dort unter Tränen auf ihre Mutter ein, die weiterhin vor Fassungslosigkeit das Schweigen vorzog und einzig und allein den Kopf schüttelte.

Matthias beachtete die Frauen gar nicht wirklich und nahm die gepackten Sachen und den Umschlag. Er lief mit seinem Sohn zur Haustür, öffnete diese und schob ihn so unsanft nach vorne, dass er auf die Kieselsteine fiel.

Emma rannte nach draußen und kniete sich zu ihm.

Sie versuchte ihm aufzuhelfen, und als er sich hustend zu ihr drehte, sah sie seine blutende Lippe und das bereits gerötete Auge.

„Was soll das?“, schrie sie Matthias an. „Er hat nichts gemacht!“ Tränen rannen über ihre Wangen.

„Das lass mal meine Sorge sein.“, erwiderte er trocken.

Matthias ging zu ihr und nahm sie am Handgelenk, um sie wieder ins Haus zu holen. „Du kommst jetzt mit und du verschwindest hier, Tom!“

„Was soll das heißen? Wenn er geht, dann gehe ich mit ihm.“, sagte sie voller Entschlossenheit.

„Oh nein, junge Dame. Du gehst nirgendwo hin. Geh zu deiner Mutter, Emma.“, forderte er sie auf.

Sabine stand vom Stuhl auf, um ihre Tochter davon abzuhalten, wieder zu Tom zurückzugehen. Gleich, wie sie sich wehrte, ihre Mutter hielt sie fest umschlossen.

„Hör auf Emma. Du bleibst hier bei uns. Mach es nicht schwerer als es gerade eh schon ist. Ihr müsst für euren Fehler einstehen.“, flüsterte sie.

Tom stand auf und schaute Emma tief in die Augen.

Sein Vater forderte ihn immer wieder auf, sich vom Grundstück zu entfernen. Er blickte resigniert zur Seite, nochmals kurz zu Emma, drehte daraufhin der Eingangstür den Rücken zu und ging. Er wusste, hätte er dies nicht getan, wäre die Situation noch weitaus mehr eskaliert.

Emma schrie vor Verzweiflung, als Matthias die Tür von innen schloss. Er packte sie wieder am Handgelenk und brachte sie in ihr Zimmer. Er nahm den Schlüssel aus dem Schloss heraus und sperrte von außen zu.

„Nimm dir die Zeit, um über eure Aktion nachzudenken. Wirklich sehr enttäuschend.“, gab er vor dem Verlassen kopfschüttelnd von sich.

Emma wartete kurz und ging dann zum Fenster, um es zu öffnen. Sie stieg heraus und wollte um das Haus laufen. Den Hof fast erreicht, stand Matthias auch schon wieder vor ihr.

„Denkst du, das habe ich mir nicht gedacht?“ Seine Augen funkelten vor Wut. „Gehe sofort wieder so in dein Zimmer, wie du gerade herausgekommen bist!“ Emma blickte zur Hofeinfahrt und konnte Tom nicht mehr sehen.

„Ich werde nicht hierbleiben. Geh mir aus dem Weg.“, forderte sie Matthias auf. „Du bist nicht mein Vater, also muss ich dir auch nicht gehorchen.“ Emma zitterte am ganzen Körper.

„Deine Mutter aber zählt auf mich. Siehst du nicht, wie fertig sie das alles macht? Ihr habt damit ihre Gefühle verletzt. Emma, noch ein einziges Mal. Gehe wieder auf dein Zimmer und schließe das Fenster hinter dir! Ich will nicht ungemütlich werden.“

Emma sah ihn an und schüttelte ihren Kopf zur Verneinung. Etwas zu sagen fiel ihr schwer.

Matthias nahm sie mit einem Ruck und warf sie sich wie einen Sack über die Schulter. Er brachte sie über die Haustür hinein, wieder in ihr Zimmer und warf sie förmlich aufs Bett. Er ging zum Fenster, um es zu schließen, und nochmals zu Emma. Er schaute sie nachdenklich an, um sie zu irritieren, und dann gab er ihr eine Ohrfeige, ehe er das Zimmer wieder verließ und erneut von außen absperrte.

In kürzester Zeit hatte Emma ebenfalls herausgefunden, dass Tom sein Handy nicht bei sich hatte. Sie versuchte, ihn noch am Abend anzurufen, doch Matthias hatte abgenommen.

Mehrere Fluchtversuche in den darauffolgenden Tagen scheiterten und deshalb entschloss sich Emma schweren Herzens dazu, etwas Zeit verstreichen zu lassen.

Rückblende

Nico, der für seinen Neffen einen Ball zum Spielen gefunden hat, kann sich auch noch sehr gut daran erinnern, als seine Schwester ihn Wochen später versucht hatte, mehrmals zu erreichen.

Er war gerade bei einem geschäftlichen Treffen in der Kölner Innenstadt und nutzte sofort die Mittagspause aus. Er setzte sich auf eine Bank im Max-Dietlein-Park und wählte die Nummer seiner Schwester. Nach dreimaligem Klingeln ging sie an ihr Handy.

„Emma, ist alles okay? Ich konnte nicht rangehen.“, entschuldigte er sich und hörte sie am anderen Ende der Leitung schluchzen.

„Er hat ihn rausgeworfen. Ich konnte nichts machen.

Er hat auf ihn eingeschlagen.“, sprudelte es aus ihr heraus.

„Emma, ganz ruhig. Wer hat wen rausgeworfen?“ Nico war mehr als irritiert und ihm gefiel es gar nicht, seine Schwester so verzweifelt zu hören.

„Matthias hat Tom und mich zusammen gesehen.“, begann sie, sich zusammenreisend. „Wir kamen in die Küche und unsere Mutter und Matthias saßen am Tisch. Matthias sagte, Tom solle das Haus verlassen und sich nie wieder blicken lassen. Er hat auf ihn eingeprügelt, bis er den Hof verlassen hat. Ich kann ihn nicht einmal anrufen. Matthias hat ihm sein Handy abgenommen.“

In Nico stieg die blanke Wut auf. Wobei der Freund ihrer Mutter die zwei erwischt hatte, war ihm schnell bewusst.

„Wann war das?“, wollte er wissen.

„Vor etwa drei Wochen. Matthias scheint mich mit Argusaugen zu beobachten, ob ich auch bloß nicht vorhabe zu verschwinden. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Nico.“

„Warum hast du mich nicht früher angerufen?“

„Ich weiß es nicht. Mir war das alles zu viel. Aber ich habe das Gefühl, dass es mir hier immer schlechter geht.“

„Du weißt doch, dass du mich jederzeit anrufen kannst. So haben wir es uns versprochen. Vor allem, wenn etwas passiert ist.“ Nico war fix und fertig über diese Neuigkeiten.

Er machte sich Sorgen um seine Schwester und ebenfalls um Tom.

„Was genau meinst du mit schlechter?“, ging er wieder auf ihre Aussage ein.

„Mir ist ständig schwindelig und ich habe das Gefühl, ich könnte jeden Moment den Boden unter den Füßen verlieren. Mir ist täglich schlecht, vielleicht aber auch, weil ich kaum etwas esse.“

Nico zählte eins und eins zusammen und ihm schoss eine weitere Möglichkeit für Emmas Verfassung in den Kopf.

„Habt ihr immer verhütet, Emma?“, versuchte er einfühlsam in Erfahrung zu bringen.

Auf der anderen Leitung wurde es still und er hörte nur ihr leises atmen.

„Oh nein!“, entgegnete sie erschrocken.

„Hol dir bitte einen Test und erst einmal Gewissheit.

Dann rufst du mich sofort wieder an.“

„Okay, das mache ich.“

„In nicht einmal zwei Wochen bist du volljährig und ich werde dich holen kommen.“, versicherte er seiner Schwester mit aller Bestimmtheit.

„Wirklich?“ Erleichterung lag in ihrer Stimme.

„Ich verspreche es dir.“

„Dann melde ich mich bald wieder.“

„Wehe, wenn nicht. Es wird alles gut, Emma.“

„Bis dann Nico und danke.“

„Bis dann Emma.“, verabschiedete er sich und legte den Hörer auf.

Toni war das, was ihnen von Tom geblieben ist, da sie ihn seither nicht wiedergesehen haben. Nico hatte Emma an ihrem Geburtstag zu sich geholt und ihr durch die Schwangerschaft geholfen. Er hielt ihre Hand auch bei der Geburt des Kleinen. Sie früher zu sich zu holen, wäre nicht ohne Hindernisse möglich gewesen. Die Beziehung der Geschwister zueinander hatte sich seitdem sehr gefestigt und Toni war Emmas wie auch Nicos größter Stolz.

Doch heute spürt vor allem Emma, dass jene Person in diesem Moment hier fehlt. Hofft darauf, ein Motorengeräusch zu hören oder aber, dass die Haustür aufgeschlossen wird. Doch leider vergebens. Nichts dergleichen geschieht am späten Nachmittag, am Abend oder ehe die drei ins Bett gehen.

3. Kapitel

Emma erwacht spät abends, als sie hört, wie sich die Haustür öffnet. Ein kurzer Blick zu Toni zeigt ihr, dass er weiterhin tief und fest schläft.

Leise und vorsichtig steigt sie aus dem Bett, um ihn schlussendlich nicht doch noch zu wecken. Stillen Schrittes verlässt sie ihr Zimmer und geht auf Zehenspitzen den Gang entlang.

Vor der Haustür, mit dem Rücken zu ihr stehend, ist er. Die Sporttasche in der Hand haltend, um das Haus allem Anschein nach wieder verlassen zu wollen.

Seine Hand umgreift bereits den Türknauf.

„Tom?!“, flüstert Emma. Sie glaubt zu schlafwandeln.

Seine Hand löst sich, nachdem er kurz zusammengezuckt ist. Tom dreht sich langsam zu ihr um.

„Hey.“, ist das einzige Wort, welches er herausbringt.

Sein Blick schweift über Emma, die in kurzen grauen Shortys und mit einem weißen Top bekleidet an der Wand lehnt. Sie spielt nervös mit ihren Händen herum und er kann den Glanz in ihren Augen selbst in der Dunkelheit wahrnehmen.

„Willst du wirklich wieder gehen?“, fragt sie irritiert.

Ihr Herz rast und ihr Atem geht unregelmäßig.

Tom stellt daraufhin die Tasche auf dem Boden ab, steckt seine Hände in die Hosentaschen und geht ihr entgegen. Vor Emma stehend blickt er ihr tief in die Augen. Seine Sprache scheint ihn für diesen Moment verlassen zu haben. Sein Kinn zittert.

Die Jahre haben bei ihm eine äußerliche Veränderung mit sich gebracht. Seine dunkelblonden Haare sind noch wild gewachsen, doch statt dem Kurzhaarschnitt von früher, der ihn stets aussehen ließ, wie einen beliebten Quarterback aus einem amerikanischen Highschool-Film, trägt er nun längeres Haar, welches hinter seinen Ohren versteckt ist. Er hat einen gestutzten Bart über seiner Oberlippe und an seinem Kinn entlang. Seine treuen rehbraunen Augen sind jedoch noch jene wie früher.

„Du hast dich ziemlich verändert.“, stößt sie hervor.

Tom fährt sich mit Daumen und Zeigefinger über seinen Bartwuchs.

„Deine Haare sind auch etwas dunkler und leicht rötlich, wie ich sehe.“, entgegnet er ihr kurz und blickt ihr tief in ihre braunen Augen.

Wie wunderschön Emma doch ist, denkt er sich. Die seichten Sommersprossen über ihrer zierlichen Nase, die schön geschwungenen Augenbrauen und die zarte Haut ihres Gesichtes. Selbst wenn auch er sieht, dass sie erwachsen geworden ist.

Stets hat er so sehr darauf gehofft, sie endlich wiederzusehen, doch in diesem Augenblick scheint eine undefinierbare Distanz zwischen den beiden zu existieren. Die Situation erscheint wie ein Stummfilm.

Keiner der beiden regt sich. Minuten vergehen, in denen sie sich lediglich ansehen. Emma bricht die Stille.

„Bleibst du?“, schluchzt sie leicht und bleibt leise, um weder Nico noch Toni zu wecken.

„Ja, ich bleibe.“, antwortet Tom bestimmt und Emma schmunzelt etwas.

„Dann weißt du ja, wo dein Zimmer ist.“

„Ja, das weiß ich noch.“, versucht er mit einem sanften Lächeln zu erwidern.

„Dann gehe ich mal lieber wieder ins Bett. Wir sehen uns dann heute Morgen?!“

„Ich werde da sein.“, verspricht er ihr.

„Gute Nacht.“, verabschiedet sie sich.

Sie schafft es einfach nicht, noch länger in seiner Nähe sein.

„Gute Nacht.“, entgegnet er kurz.

„Tom?“ Sie dreht sich nochmals zu ihm um. „Du sollst wissen, dass ich mich freue, dich zu sehen. Nico wird es auch tun. Ich bin gerade nur etwas durcheinander.“, meint sie leicht abwesend.

„Das verstehe ich. Es geht mir nicht anders.“

Emma lächelt so gut sie kann und geht wieder in ihr Zimmer zurück. Sie legt sich zu Toni ins Bett, sieht zu ihm und daraufhin an die Holzdecke des Zimmers.

Tränen rinnen über ihre Wangen und rieseln auf ihr Kopfkissen herab. Sie legt sich auf die Seite und in eine Embryostellung. Emma vergräbt ihr Gesicht in den Stoff ihrer Decke und versucht ihre Emotionen unter Kontrolle zu bekommen.

Nur allzu gern wäre sie Tom um den Hals gefallen, doch diese Situation gerade, hatte sie völligst überfordert. Sie kommt sich vor, als wäre sie in einer Schockstarre gefangen.

Tom ist wirklich hier. Er ist gefunden worden und ist dem Schreiben nachgegangen. Emma sieht ihn vor ihrem inneren Auge wieder und wieder vor sich. Als er sich zu ihr umgedreht hat und auf sie zugegangen ist. Im ersten Moment glaubte sie, gleich den Boden unter den Füßen zu verlieren. Sie hat sich selbst darüber gewundert, dass sie in diesem Moment so standhaft bleiben konnte.

Sie hofft inständig, dass er sein Versprechen beibehält und am Morgen noch immer da ist. Erst dann kann sie sich sicher sein, dass Nico und sie ihm nicht egal sind. All die verdrängten Gefühle der letzten Jahre sind fortan wieder da. Emma hat Tom so sehr geliebt und ihr wird in diesem Moment bewusst, dass sie nie damit aufgehört hat.

Tom wartet, bis Emma in ihrem Zimmer verschwunden ist. Er nimmt seine Tasche und geht leise in seines. Tom stellt sein Gepäck am Bettende auf dem Boden ab und setzt sich auf die Matratze.

Er vergräbt sein Gesicht in den Händen. Kann kaum wahrnehmen, dass er vor einigen Minuten Emma vor sich stehen gehabt hatte. Emma, mit der er so viel verbindet. Die er, so scheint es für ihn, im Stich gelassen hat. Er hat sich seinem Vater nicht zur Wehr setzen können, sondern ließ alles an jenem Tag einfach geschehen.

Tom war sich nicht sicher, ob Emma und auch Nico, die ihn in kürzester Zeit akzeptierten und in ihrer Mitte aufgenommen hatten, wütend auf ihn sind oder sich freuen, dass sie nach all den Jahren wieder ein Lebenszeichen von ihm bekommen.

Er hatte nie vor die beiden zu meiden. Hatte selbst versucht sie zu finden, doch tat es nicht.

Nach dem Tod seiner Mutter sind die beiden zu seiner Familie geworden. Emma und Nico wurden zu den wichtigsten Menschen in seinem Leben. Die beiden durch Matthias verloren zu haben, steigert den Hass von Tom auf ihn umso mehr.

Tom lässt sich nach hinten auf das Bett sinken und sieht sich im Zimmer um. Er hat es sich dort nie wirklich heimisch gemacht. Doch was noch immer auf seinem Nachttisch steht, ist das Foto seiner Mutter. Auf dem Bild umarmt sie ihn, da war er in etwa vier Jahre alt. Sie lächelt in die Kamera und drückt ihre Wange an seinen kleinen Kopf. Wie sehr er sie doch vermisst.

Nie im Leben hätte sie so etwas zugelassen. Zu keiner Zeit. Doch der Autofahrer, welcher sie in der Nacht übersehen hatte, beendete ihr Leben viel zu früh.

Neben dem Bilderrahmen sieht er einen Briefumschlag mit seinem Namen in Großbuchstaben. Er nimmt ihn in die Hände und öffnet diesen, um den Inhalt zu lesen.

Lieber Tom,

wenn du diese erste Zeile liest, dann weißt du bereits, dass ich von euch gegangen bin. Wenn du die weiteren Zeilen liest, dann bedeutet das, dass du auf das Schreiben des Notars eingegangen bist. Ist dem so, dann freut mich das sehr und ich danke dir dafür. Natürlich hoffe ich inständig, dass Emma und Nico dies auch getan haben.

Ich möchte, dass du weißt, dass ich dich nicht aus Neugierde von einem Privatdetektiv aus finden lassen wollte. Mein Wunsch war es, dass Emma, Nico und du wieder zusammenfinden. Ich trage eine Mitschuld daran, dass sich eure Wege trennten. Leider ist all das nicht mehr rückgängig zu machen und da ich der Meinung bin, dass ihr euch nach kürzester Zeit sehr nahe standet, vor allem du und meine Tochter, bin ich mir sicher, dass ihr auch nach dieser langen Zeit wieder zusammenfinden könnt.

Da ich weiß, dass du auf deinen Vater nicht gut zu sprechen bist, werde ich mich bezüglich seiner Person zurückhalten. Doch dafür habe ich noch etwas für dich, was dir etwas von deiner Mutter zurückgeben soll. Ich habe deinen Vater überredet und das war gar nicht so leicht. Die besagte Sache liegt unter deinem Bett.

Mit dir habe ich meiner Tochter einen für sie überaus wichtigen Menschen entrissen und ich kann dir sagen, dass in jenen Wochen ihre Welt zusammenbrach. Es tut mir leid.

Sabine

Tom legt den Brief auf dem Kopfkissen ab und blickt sich nochmals im Raum um. Für kurze Zeit scheint er vergessen zu haben, dass er wirklich wieder hier ist.

Er setzt sich auf und lässt seinen Oberkörper von der Bettkante aus hinunter auf den Boden sinken. Er neigt seinen Kopf und lugt unter das Bettgestell.

Darunter liegt ein dunkelbrauner Gitarrenkoffer.

Tom zieht diesen hervor und betrachtet ihn. Soll darin wirklich das sein, was er vermutet? Zaghaft öffnet er den Reißverschluss und daraufhin das Etui.

Er kann seinen Augen nicht trauen. Am unteren Rand der linken Seite sind ein Unendlichkeitszeichen aufgemalt und Noten zeigen sich rundherum dessen auf. Seine Mutter sagte ihm einmal, dass es für sie bedeutet, dass die Musik unsterblich ist.

Er streicht mit den Fingern über das Symbol, das naturfarbene Holz und die Saiten. Tom kann kaum glauben, dass er die Gitarre seiner Mutter in den Händen hält. Seine Finger zittern und er muss schlucken. Er schließt seine Augen und gibt sich Mühe, die aufkommenden Tränen mit tiefen Atemzügen zu unterdrücken. Er verharrt einige Minuten so, bis er das Instrument wieder sorgfältig im Koffer verstaut hat und zurück unter das Bett schiebt.

Nach einiger Zeit verfällt er, samt Jeans und T-Shirt, in einen unruhigen Schlaf.

4. Kapitel

7. August

Nico geht am nächsten Tag in den Garten hinaus und stellt sich neben seine Schwester. Sie steht mit der Kaffeetasse in der Hand da und blickt in die Ferne.

„Guten Morgen. Schon lange wach?“

„Seit zwei Stunden.“, gibt sie zu.

„Was hat dich nicht schlafen lassen?“, will er wissen, da es gerade einmal kurz nach halb acht ist.

Ohne ihren Blick zu ihm zu wenden und gerade sagen wollend, dass Tom in der Nacht gekommen ist, kommt der auch schon zu ihnen heraus. Emmas Mimik zu ihrem Bruder bedarf keinerlei Worte mehr.

„Hey Nico.“, sagt er vorsichtig.

„Wow.“, stößt er hervor.

Nico ist wie vor den Kopf gestoßen. Er geht zur Lounge und stellt seine Tasse Kaffee auf dem Tisch ab. Er geht auf Tom zu und bleibt vor ihm stehen.

Nico schaut ihn eindringlich an und Tom glaubt, sich gleich einen derben Fausthieb einzufangen. Nico klopft mit seiner Hand auf Toms Brust und Schulter, als wolle er sichergehen, dass er echt ist. Nicos Kopf wippt von oben nach unten und kurz darauf krallt er seine Hand in Toms T-Shirt und zieht ihn zu sich, um ihn in die Arme zu schließen.

„Alter, wir dachten ernsthaft, du würdest nicht mehr unter uns Lebenden sein.“

Tom erwidert die herzliche Begrüßung, doch traut sich kaum etwas zu sagen. Er glaubt weiterhin, die zwei endlos enttäuscht zu haben.

„Du wurdest also tatsächlich gefunden.“, ruft er enthusiastisch.

Emma beobachtet alles weiterhin aus der Ferne.

„Ja, der Detektiv hat alle Arbeit geleistet.“, entgegnet Tom.

„Vielleicht hätten wir beide das vor sieben Jahren auch machen sollen, Emma.“ Der Versuch, die Situation aufzulockern, geht nicht ganz auf.

Der Augenausdruck seiner Schwester zeigt, dass sich in ihrem Inneren die Gefühle mischen und Tom getraut sich kaum sie anzusehen. Passend zur Situation steht Toni nun im Türrahmen.

„Guten Morgen. Ihr seid ja alle schon wach.“ Mit seinem grauen Schlafanzug, mit dem Motiv von Paw Patrol, und barfuß, rennt er auf Tom zu.

Emma befürchtet, ihre Tasse fallen zu lassen. Ihre Hände beginnen zu zittern. Toni streckt seine Hand zu ihm aus.

„Ich bin Toni und du?“

Tom mustert den kleinen Jungen mit den großen hellbraunen Augen und dem dunkelblonden wuscheligen Haar. Er sieht kurz zu Emma hinüber. Sie starrt betroffen auf den Boden.

„Hast du keinen Namen?“, lacht Toni und reißt Tom aus seinem Gedankenkarussell.

Er kniet sich zu ihm hinunter und erwidert das Händeschütteln.

„Natürlich, den habe ich. Ich bin Tom.“ Er verschluckt die Wörter beinahe.

„Ich habe schon von dir gehört.“, freut er sich. „Jetzt habe ich meinen Onkel Nico und Onkel Tom. So toll.“

„Soll ich dir einen Kakao machen, Spatz?“, ruft Emma fragend, mit der Hoffnung, irgendeine Aufgabe zu bekommen.

„Oh ja.“, gibt er zur Antwort.

„Schon Zähne geputzt?“, fragt Nico mit hochgezogenen Augenbrauen.

Tonis verschmitztes Grinsen verrät ihn auf Anhieb.

„Bin schon unterwegs.“ Rasant rennt Toni ins Badezimmer und Emma geht mit einem flüchtigen Schmunzeln an den Männern vorbei und in das Haus hinein.

Nico klopft Tom auf das Schulterblatt.

„Hol dir doch erstmal einen Kaffee.“, sagt er nur und geht zur Lounge, um sich zu setzen.

Tom geht nach drinnen und holt eine Tasse für sich aus dem Küchenschrank. Er geht hinter Emma vorbei zur Kaffeemaschine. Sie rührt mit einem Kochlöffel Kreise in der warm werdenden Milch. Ihr Körper durchfährt ein elektrisierendes Gefühl, als sie seine Nähe spürt.

„Könnten wir dann ein Stück gehen? Richtung See vielleicht?“, fragt er sie, während er sich Kaffee einschenkt.

„Das ist wahrscheinlich eine gute Idee.“

„Kannst du mich bitte ansehen, Emma?“, fleht er fast.

Sie schaut zu ihm auf. In seine Augen zu sehen, lässt nun ihren ganzen Körper verrückt spielen.

„Nach dem Kaffee?“, fragt sie ihn.

Er nickt und wendet sich von ihr ab, um nach draußen zu gehen.

Nico, der draußen sitzt, denkt, dass sich Tom mit seinem Kaffee zu ihm setzen wird. Tom jedoch kommt heraus und läuft auf die hintere Seite des Gartens zu. Nico sieht, wie er das kleine Tor öffnet und auf die Wiese hinausgeht. Tom kniet sich dort nieder und hält seine Kaffeetasse mit beiden Händen fest umschlossen.

Nico muss selbst erst einmal verarbeiten, dass Tom wirklich hier ist. Innerlich ist er ganz aufgewühlt. Es ist ein Gefühl von Freude und Ungläubigkeit, dass sich in ihm mischt.

Steckt Nico auch gerade in seinem eigenen emotionalen Chaos, ist er sich sicher, dass Tom in diesem Moment noch weitaus mehr verdauen muss. Er und seine Schwester haben ihn sieben Jahre nicht gesehen. Tom hingegen hat nicht nur sie beide für diese Zeit verloren gehabt. Er ist gerade von einem kleinen Jungen begrüßt worden, der, wenn man Emma und sein Äußeres zusammennimmt, nur sein Sohn sein kann.

„Wo ist denn Onkel Tom hin?“, will Toni wissen, der sich mit seinem Kakao zu seinem Onkel setzt.

Nico zeigt es ihm mit einer Kopfgeste.

„Was macht er dort?“, fragt er verdutzt.

„Weißt du, Kumpel. Manchmal braucht jemand einen Moment für sich alleine.“

„Aber ihr habt euch doch so lange nicht gesehen.

Warum will er da schon wieder alleine sein?“

„Genau deswegen.“, erwidert er melancholisch und zieht seinen Neffen zu sich heran.

Tom verharrt in seiner Position und schaut auf den entfernt gelegenen Wald hinaus.

Es ist sicher nicht gut gewesen, gerade Nico zu ignorieren und davon gegangen zu sein. Doch Tom hat mehr Raum für sich gebraucht. Emmas Blick auf den Boden, als Toni plötzlich vor ihm stand, hat Bände gesprochen.

Dieser kleine schlaksige Junge, der ihn vor wenigen Minuten so freudig in Empfang genommen hat. Tom hat nicht nur Emma in seinen Gesichtszügen erkannt.

Der Druck auf seiner Brust ist so groß, dass er am liebsten einen lauten Schrei von sich gelassen hätte.

Da das aber ziemlich unangebracht ist, versucht er seine innere Unruhe, wie in der Nacht, mit tiefen Atemzügen zu bewältigen. Wie er es in der Klinik beigebracht bekommen hat. Er merkt gar nicht, dass er seine Tasse währenddessen unbemerkt leer trinkt.

Tom erhebt sich und getraut kaum, sich umzudrehen.

Langsamen Schrittes geht er wieder auf den Garten zu.

In diesem Moment sieht er auch Emma auf sich zukommen. Ihr Blick ist wehmütig. Wie auch seiner.

Sie neigt ihren Kopf zur linken Seite, um ihm damit verständlich zu machen, dass sie jetzt gehen können.

Er stellt seine Tasse im Gras ab. Einen kurzen Blick auf Nico und Toni gelegt, folgt er Emma über die Wiese.

Vom Anwesen des Hauses gehen Emma und Tom gemeinsam den schmalen Waldweg entlang. Um sie herum erstrecken sich kräftige Bäume und spenden Schatten. Leichte Sonnenstrahlen durchbrechen die Baumkronen und lassen Lichtstreifen auf dem Schotter, der mit Gras bewachsen ist, aufblitzen. Sie laufen einige Meter schweigend nebeneinander her. Beide die Hände in ihren Hosentaschen versteckt.

„Wir haben dich die ersten zwei Jahre versucht zu finden.“, bricht Emma abermals die Stille.

„Ich habe die ersten drei Jahre kaum existiert.“

„Wie meinst du das?“

„Ich bin von Berlin aus nach Brandenburg gegangen.

Schon in Berlin begann ich auf die schiefe Bahn zu geraten. Ich habe mich mit den falschen Leuten abgegeben und bin der Sucht verfallen. Ich hatte einige Zeit keinen festen Wohnsitz.“, gibt Tom ehrlich zu und ist keinesfalls stolz darauf. „Nachdem ich es allmählich wieder geschafft hatte, einen klaren Kopf zu bekommen, habe ich wieder den Namen meiner Mutter angenommen.“

„Das erklärt natürlich unseren Misserfolg auf der Suche nach dir.“ Emma will im Moment nicht näher auf seine vergangene missliche Lage eingehen, da sie es sich in etwa denken kann. „Wo lebst du jetzt?“

„In der Nähe des Bremerhavens. Seit knapp vier Jahren. Und ihr?“

„Wir wohnen beide in Köln. Bereits all die Jahre über.

Nico wohnt auf der einen und ich auf der anderen Seite der Stadt.“

„Du sollst wissen, dass auch ich versucht habe, euch ausfindig zu machen, doch ohne wirklichen Erfolg.

Keine Telefonbucheinträge und Auftritte in den sozialen Medien.“ Wehmut liegt in seiner Stimme.

„Ja, da halten wir uns eher zurück.“, schmollt sie.

Tom kann sich nicht länger zurückhalten. Die Frage brennt in ihm.

„Emma, wie alt ist Toni?“ Sie atmet tief ein und aus.

„Er ist sechs.“, antwortet sie und blickt kurz zu ihm.

„Ich denke, ich kenne deine nächste Frage.“, nimmt sie es ihm voraus.

„Was wäre die Antwort?“ Nun schaut Tom zu ihr und ihre Blicke treffen sich.

„Die Antwort wäre ja. Ich nehme an, das hast du dir heute Morgen bereits gedacht, oder?“

„Um ehrlich zu sein, ja.“ Tom wirkt traurig.

Die ersten sechs Jahre seines Sohnes hat er somit verpasst. Weiß nicht einmal, dass er Vater geworden ist.

„Weiß er es?“, fragt er sie.

Emma schüttelt den Kopf.