Nachbarn - Nele Sickel - E-Book

Nachbarn E-Book

Nele Sickel

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Beschreibung

Die Erde im Jahr 2320. Giftige Luft und verheerende Stürme haben die Menschheit unter gläserne Kuppeln getrieben. Im Gedränge der Stadt sucht die siebzehnjährige Bren ihre Schwester Cay. Dabei hört sie Gerüchte von Entführungen, einem mysteriösen Club und uralten Legenden. Bren schenkt ihnen keine Beachtung. Doch dann taucht Cay wieder auf – und sie ist nicht mehr dieselbe.

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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Widmung

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Einundzwanzig

Zweiundzwanzig

Dreiundzwanzig

Vierundzwanzig

Fünfundzwanzig

Sechsundzwanzig

Siebenundzwanzig

Danksagung

Über die Autorin

Programmvorschau

Nele Sickel

Nachbarn

Mehr Infos unter:

www.talawah-verlag.de

Besuchen Sie uns im Internet:

www.talawah-verlag.de

www.facebook.com/talawahverlag

erschienen im Talawah Verlag

1. Auflage 2020

© Talawah Verlag

Text: Nele Sickel

Umschlaggestaltung: Jaqueline Kropmanns

https://www.jaqueline-kropmanns.de/ -

Lektorat & Korrektorat: Jessica Weber

Satz: Svenja Hawkins

unter Verwendung von:

© Depositphotos

ISBN: 978-3-947550-562

Für meine Schwestern

Lilja, Dora und Kaja

Als sie das Wummern hörte, richtete Bren sich auf und sah zur Seite. Neben ihr grub sich silberglänzender Stahl in die schwarze Erde. Viel zu schnell bewegte sich der Pflug in ihre Richtung. Wer zur Hölle hatte … Bren brachte nicht einmal den Gedanken zu Ende. Ehe sie sich’s versah, war sie auf den Beinen und sprintete los. Aufgewirbelter Staub machte ihren Hals trocken und brannte in ihren Augen. Erdbrocken streiften ihre Glieder. Am Rande ihres Sichtfelds funkelte bereits das Silber. Sie kniff die Augen zusammen, gefasst auf Blut und Schmerz, und machte gleichzeitig einen Hechtsprung nach vorn. Für eine Sekunde war da nichts, nur Luft. Dann prallte der Boden gegen ihren Brustkorb, Arme und Beine.

Kurz harrte Bren so aus, der Länge nach hingestreckt, jede Faser ihres Körpers angespannt, aber sie blieb heil. Eine Sekunde, dann zwei. Immer noch Krach, kein Schmerz. Die mörderischen Klingen mussten an ihr vorbeigezogen sein.

Da öffnete sie die Augen und kam wieder auf die Füße. In der Nähe lagen und standen andere Arbeiter, die genau wie sie die Flucht ergriffen hatten. Und der voll automatisierte Pflug wummerte immer noch ohne Ziel und ohne Fahrer über das Kartoffelfeld.

Bren richtete ihren Blick auf die gläserne Kuppelwand, die sich am anderen Ende des Feldes gen Himmel streckte und so die Erde, die Pflanzen und vor allem die Menschen vor der tödlichen Marsatmosphäre schützte. Wenn der Pflug nicht anhielt, würde er dagegen prallen, und Bren bezweifelte, dass das Glas das aushalten würde. Sie mussten etwas tun. Um sie herum starrten Menschen fassungslos auf das eigensinnige Fahrzeug. Niemand war in Bewegung, anscheinend erkannte niemand, was geschehen würde.

Also rannte Bren los. Für ein so schweres Arbeitsgerät hatte der Pflug ein beachtliches Tempo drauf. Die aufgewühlte Erde brach immer wieder unter ihren Füßen weg. Ihre Knöchel bogen sich. Die Staubwolke wurde dichter. Stimmen. Hinter ihr begann jemand zu schreien. Bren strauchelte, raffte sich auf, warf sich weiter vorwärts. Sie hustete heftig, aber sie holte auf.

Der Pflug musste schon zwei Drittel seiner Strecke bis zur Kuppel zurückgelegt haben, da erreichte sie ihn endlich. Sie presste die Zähne zusammen und stürzte sich ein letztes Mal nach vorn. Mit beiden Händen packte sie die Fahrzeugverstrebung. Sie riss die Arme an ihre Brust, zog sich hoch. Ihre Füße fanden Halt auf den Stufen vor der Fahrertür. Dort klammerte Bren sich fest. Mit dem Unterarm rieb sie sich hektisch den Staub aus den Augen, dann blickte sie durch die Scheibe in der Tür ins Fahrzeuginnere.

Der Knopf für die Bremse war der blaue ganz links. Sie musste herankommen. Nur wie? Bren rüttelte an der Tür, fand sie aber wie erwartet verschlossen. Und eine Zugangsberechtigung hatte sie als Pflanzarbeiterin nicht. Ein Blick nach vorn bestätigte ihr, was das stete Rattern der Räder und die lauter werdenden Schreie in ihrem Rücken längst verraten hatten: Keine Zeit mehr für einen Plan B.

Kurzentschlossen löste Bren eine ihrer Hände von der Fahrzeugverstrebung. Sie winkelte den Ellenbogen an und stieß ihn kräftig gegen die Scheibe. Es knackte. Stechender Schmerz fuhr ihren Oberarm hinauf bis in die Schulter. Ihr wurde schwindlig, aber das Glas blieb heil. Also kniff sie Augen und Lippen zusammen und stieß erneut zu. Der Schmerz kehrte umso heftiger zurück und diesmal klirrte es.

Eilig riss Bren die Augen wieder auf, lehnte sich nach vorn, streckte den Arm in die von Scherben gerahmte Öffnung und angelte nach dem blauen Knopf. Sie hatte ihn fast, rutschte ab, streckte sich noch einmal. Dann presste sie mit aller Kraft dagegen.

Der Pflug schnaufte laut. Er zitterte. Seine Räder schrien. Das Wummern erstarb. Ein kräftiger Ruck ging durch das gesamte Fahrzeug. Seine Wucht warf Bren über Bord und zum zweiten Mal an diesem Tage knallte sie der Länge nach auf den Boden.

Stille.

Bren spürte ihren Arm ziehen und pochen, spürte den dumpfen Schmerz, der ankündigte, dass sie sich bei ihrer Landung etliche blaue Flecken zugezogen hatte, spürte die Nässe der Erde in ihrem Gesicht. Sie rollte sich auf die Seite und hörte sich selbst stöhnen, ehe sie ihre Augen wieder aufzwang. Keine zwei Meter von ihr fing sich Scheinwerferlicht in der Oberfläche der Glaskuppel. Sie war so nah, dass Bren die Linien und Muster im roten Sand dahinter ausmachen konnte.

In der Kuppel selbst gab es keine Linien oder Muster zu entdecken. Keine Risse. Sie war heil geblieben.

»Das kann nicht dein Ernst sein. Ich muss arbeiten, Rik!« Bren stand im Büro ihres Supervisors, hielt den professionell verbundenen rechten Arm an ihren Oberkörper gepresst und funkelte ihr Gegenüber auf seinem protzigen Drehstuhl entgeistert an.

»Vergiss es!« Rik schüttelte den Kopf und fuhr sich mit einer Hand durch sein dünnes, blondes Haar. »Der Bruch und die Schnittwunden heilen auch so. Ich genehmige keine teure Operation, um zu richten, was von allein abheilt.«

»So kann ich aber nicht arbeiten.«

»Da sind wir einer Meinung.« Er beugte sich nach vorn und über sein Personal-Pad. Damit rief er einige Daten ab, ehe er wieder zu Bren aufsah. »Du bist drei Monate und zwei Tage hier. Deine Schicht endet ohnehin in einem Monat. Diesmal nimmst du dir einfach ein paar Wochen mehr Urlaub und kehrst dann frisch und erholt zu uns zurück.« Er lächelte. Es war weder aufrichtig noch unfreundlich.

Bren stöhnte frustriert. »Scheiß auf den Urlaub, Rik! Ich komme hier gut klar. Besser als manch anderer und das weißt du. Wir stünden überhaupt nicht hier, wenn nicht irgendein Vollidiot den Pflug falsch abgestellt hätte. Ich habe mir den Arm nicht gebrochen, weil ich dumm oder tollpatschig wäre. Ich habe da unter der Glasglocke einer Menge Leute den Arsch gerettet!«

Rik nickte. »Und wir alle sind dir sehr dankbar dafür. Wolltest du das hören?«

»Nein, verdammt! Ich will die OP. Ich kann nicht auf die Erde zurück, ich brauche das Geld.«

»Du verdienst in der nächsten Schicht wieder welches. Das hier ist kein Rauswurf, du musst nur erst fit werden.« Er lächelte und diesmal glaubte Bren, dass es väterlich aussehen sollte.

»Ihr schuldet mir was«, knurrte sie. »Ich hab das für alle getan, ihr schuldet mir was!«

Darauf änderte sich Riks Miene. Die geduldige Herablassung verschwand und machte einem Anflug von Ärger Platz. Rik richtete sich in seinem Stuhl zu voller Größe auf. Er straffte seine Schultern, legte beide Handflächen vor sich auf der Tischplatte ab und sah Bren direkt in die Augen.

»Du vergisst wohl, dass wir dich genau dafür bezahlen. Der Weltraum ist gefährlich, Liebes, und deshalb muss jeder, ich wiederhole: jeder, der hier oben arbeitet, auch ganz besondere Risiken eingehen. Für nichts anderes verdient ihr euch hier eine goldene Nase, von der jeder Erntehelfer unten in der guten alten Heimat nicht einmal zu träumen wagt. Wir schulden dir gar nichts, Bren. Du hast getan, wofür du bezahlt wirst. Gut gemacht! Jetzt geh nach Hause und komm zurück, wenn du wieder arbeiten kannst.«

Bren holte tief Luft. Ihr war danach, ihren Frust herauszuschreien, doch sie war nicht dumm genug, es tatsächlich zu tun. Sie öffnete den Mund, wollte diskutieren, doch es kam nichts heraus. Die Argumente waren ausgetauscht, die Standpunkte waren klar. Und sie konnte nicht gewinnen.

»Dein letztes Wort?«, fragte sie bloß. Anspannung und Ärger schwangen deutlich in ihrer Stimme mit.

Rik lehnte sich zurück und nickte. »Mein letztes Wort. Es tut mir leid, dass du verletzt wurdest, Bren, aber ich bin froh, dass du getan hast, was du getan hast, und du solltest froh sein, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Wir sehen uns in neun Wochen.«

Einen letzten Moment lang starrte Bren ihren Supervisor zornig an, dann drehte sie sich um und hastete durch die Bürotür nach draußen, ehe sie etwas sagen oder tun konnte, das ihre Rückkehr zum Mars gefährdet hätte. Es half nichts. Auch wenn Rik ein Arsch sein konnte, sie durfte es sich unter keinen Umständen mit ihm verscherzen. Sie brauchte diesen Job.

Wenig später kniete Bren in ihrer Schlafnische und sammelte, so gut es ohne die rechte Hand ging, ihre wenigen Habseligkeiten zusammen. Etwas Unterwäsche und ihr Personal-Pad. Mehr war es nicht. Das alles verschwand in einer kompakten Umhängetasche.

Kaum war das erledigt, rollte Bren sich auf den Rücken. Sie nestelte mit der linken Hand am Reißverschluss ihres Arbeitsoveralls und ärgerte sich darüber, wie furchtbar kompliziert ihre Verletzung selbst die einfachsten Dinge machte. Drei Anläufe brauchte sie, ehe sie den Reißverschluss ganz geöffnet hatte und damit beginnen konnte, sich ungeschickt aus den Stoffschichten zu befreien.

Nach einer Weile fiel der Overall endlich von ihr ab. Sie öffnete ihre Schuhe und schlüpfte gänzlich aus ihrer Kleidung. Dann trat sie den Overall mit den Füßen aus der viel zu engen Schlafkoje und zog umständlich ihre Reisekleidung über. Als sie fertig war, legte Bren sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und kletterte, so vorsichtig es ging, aus ihrer Nische heraus.

Von ihrem Bett aus ging es etwa einen Meter in die Tiefe. Sie ließ die Beine über den Rand baumeln, richtete sich auf – wobei sie den Kopf einziehen musste, um aufrecht in der Nische Platz zu haben – und stieß sich ab. Die Landung war nicht graziös, aber sie gelang. Bren wandte sich um und sah noch einmal die Wand entlang und hinauf, in die mehrere hundert Schlafnischen eingelassen waren. Sie konnte von Glück sagen, dass sie eine der tieferen abbekommen hatte und jetzt nicht auf die Leiter angewiesen war.

Glück … Na ja, was man so Glück nannte … Bren beugte sich nach unten und hob ihren Overall auf. Sie wollte ihn schon in den Wäscheschacht am Ende des Raums werfen, hielt jedoch inne. Er war zu schwer.

Rasch ließ sie ihn wieder auf den Boden fallen und kontrollierte seine Taschen. Tatsächlich: In der linken Beintasche war noch etwas. Sie zog das Ding heraus und es entpuppte sich als handliche Laser-Hacke. Es war das Werkzeug, mit der sie auf dem Feld letzte Steine beseitigt hatte, die dem Pflug entgangen waren. Sie hätte das Ding nach Abschluss ihrer Arbeit wieder abgeben sollen, aber das war in dem Tumult dieses Tages schlicht untergegangen. Jetzt, da sie es gefunden hatte, sollte sie es zu Rik zurückbringen.

Sollte … Bren zögerte. Sie hob den Kopf und vergewisserte sich, dass sie allein auf dem Gang war, dann ließ sie die Laser-Hacke in ihre Umhängetasche gleiten. Der Tag hatte ihr so viel Unglück eingebracht, dass sie jetzt durchaus einen kleinen Bonus einstreichen konnte. Sie musste immerhin Geld verdienen und vielleicht ließ sich auf der Erde eher jemand davon überzeugen, sie trotz ihres Arms einzustellen, wenn sie ihr eigenes Werkzeug mitbrachte. Egal wie Rik dazu stand: Wenigstens das war man ihr hier schuldig.

Die Türen des Transport-Rovers schlossen sich zischend. Bren festigte den Griff um den Riemen ihrer Tasche und blickte hinauf zu dem Kuppeldach über ihr. Irgendwo da oben musste sie sein, die Erde. Doch die umliegenden Scheinwerfer leuchteten zu hell, um im Himmel irgendetwas anderes auszumachen als Schwärze.

Bren richtete ihre Aufmerksamkeit auf die graue Linie, die sich einmal von links nach rechts komplett über den Himmel zog. Nach über einem Jahr des Pendelns zwischen Mars und Erde hatte sie sich immer noch nicht an den Anblick gewöhnt. Kuppeln, die aufklappen konnten, machten ihr Angst. Natürlich waren sie notwendig, das war ihr klar. Wäre die Kuppel dauerhaft verschlossen, hätte das Spaceshuttle, das nun auf sie wartete, schwerlich landen und wieder starten können.

Trotzdem war es unheimlich.

Langsam setzte Bren sich in Bewegung. Trockener Stein knarzte leise unter ihren Füßen. Vor ihr hatten ihre Mitreisenden bereits die Türen des Shuttles erreicht und kletterten einer nach dem anderen in sein Inneres. Bren wusste, sie sollte sich beeilen, wenn sie noch einen der unteren Schlafplätze abbekommen wollte. Dennoch behielt sie ihr Tempo bei und wandte den Kopf im Laufen nach links, wo sie das ferne Licht der ersten Stadt auf dem roten Planeten erahnen konnte. Tradition war Tradition.

Sie schaute dem Lichtfleck entgegen und flüsterte: »Ich komme wieder. Noch drei Schichten. Dann bringe ich Cay mit und wir erobern dich!«

Der Lichtfleck nahm ihre Worte wie immer kommentarlos entgegen. Bren lächelte. Dann wandte sie den Blick wieder nach vorn und eilte zum Shuttle.

Ausgestreckt auf ihrer Liege in der wenig beliebten zugigen Ecke direkt neben der Toilette starrte Bren auf ihr Personal-Pad. Jeden Moment war es so weit. Sie würden endlich in Empfangsreichweite kommen. Der äußerste Deep-Space-Satellit war nicht mehr weit von ihrer Position entfernt und sobald sie nah genug herangeflogen waren, würde sie endlich wieder von Cay hören.

Es hatte ein paar Tage gedauert, aber nun, da sie den Weg zur Erde bereits halb hinter sich gebracht hatten, hatte Bren ihre schlechte Laune abgelegt. Ja, sie waren in finanziellen Schwierigkeiten. Ja, Bren würde zusehen müssen, so schnell wie möglich einen Übergangsjob zu bekommen. Doch dafür würde sie Cay wiedersehen und ganze fünf Wochen mit ihr haben. So lange hatte Bren ihre kleine Schwester nicht mehr an einem Stück gesehen, seit sie den Job auf den Marsfeldern angenommen hatte.

Drei kurze Pieptöne kündeten davon, dass das P-Pad Kontakt zum irdischen Mailsystem aufgenommen hatte. Aufgeregt betätigte Bren das Nachrichtensymbol auf dem Bildschirm. Dreizehn ungelesene Nachrichten. Alle von Cay. Bren grinste. Bevor sie sich aber an die Lektüre machte, schickte sie zuerst ihre eigene Nachricht ab:

Besorg Limonade! Schmeiß sämtliche ätzenden Typen aus der Wohnung! In einer Woche bin ich zu Hause, Schwesterchen!

Senden. Schon öffnete Bren die erste Nachricht. Cay hatte sie wenige Stunden nach Brens letztem Aufbruch geschrieben.

Es ist leer hier ohne dich, stand darin. Es ist jedes Mal leer hier ohne dich und diesmal bin ich kurz davor, Figuren an die Wand zu malen, damit ich nicht so allein bin. Oder technische Zeichnungen, wie wär’s damit? Wenn du wiederkommst, habe ich die neue Marsskyline an unsere Wände skizziert, und wenn ich mich dann endlich bewerben kann, laden wir die ganzen Planungstypen zu uns in die Wohnung ein, damit sie meine Arbeit bestaunen können. Das wär doch mal originell. – Komm ganz schnell wieder, sonst mach ich das wirklich!

Mit einem wehmütigen Lächeln schloss Bren die Nachricht und öffnete die nächste.

Je mehr Zeit verstrich, desto gefasster wurden Cays Botschaften. Bald ließen sie erkennen, wie viel Freude Cay in ihrem Alltag fand. Ihr Ingenieursstudium lief wie erwartet ausgezeichnet und auch der Nebenjob als Schreibkraft sorgte, wenn schon nicht für Erfüllung, offensichtlich doch immer wieder für Erheiterung. Keine Dramen, keine suspekten Männergeschichten, alles friedlich.

Nachdem Bren die letzte Nachricht geschlossen hatte, schaute sie hoffnungsvoll auf den Posteingang und erwartete halb, dort schon die erste jubelnde Reaktion auf ihre verfrühte Heimkehr vorzufinden. Aber der Posteingang blieb leer.

Sei nicht dumm!, ermahnte sie sich. Noch brauchten die Daten eine ganze Weile, um von hier zur Erde und wieder zurück zu wandern. Cay würde antworten. Mit diesem Gedanken zwang Bren sich, das P-Pad auszumachen und ein wenig zu schlafen. Wenn sie nur lange genug schlief, würde beim Aufwachen sicher eine Nachricht auf sie warten.

Bren übersprang immer mehrere Stufen auf einmal, während sie die Treppe zur Oberfläche hinaufeilte. Oben angelangt, gönnte sie sich nicht wie sonst eine Minute, um an das SUB-Zeichen gelehnt zu verweilen und den Anblick der vertrauten Stadtkulisse unter der himmelhohen Kuppel zu genießen. Stattdessen eilte sie weiter und ließ die aus der Untergrundbahn strömenden Menschenmassen rasch hinter sich.

Im Schatten der alten Betonklötze, die Bren ihr Viertel nannte, tummelten sich noch mehr Menschen und während sich Bren sonst über die vertraute Kulisse freute, ärgerte sie sich heute nur darüber, wie viele Passanten ihr gedankenlos in den Weg trampelten. Sie musste nach Hause!

Cay hatte sich nicht gemeldet. In der gesamten letzten Woche kein Wort, kein Ton von ihr. Irgendetwas stimmte nicht. Ihre kleine Schwester war vielleicht in Schwierigkeiten, hatte schrecklichen Liebeskummer oder sonst etwas und Bren war nicht da. Das durfte nicht sein.

Also drängte sie sich an Leuten vorbei, stieß sie zur Seite, ignorierte böse Blicke und garstige Kommentare, während sie auf den Eingang ihres Wohnblocks zusteuerte. Es war ein uralter Betonklotz, rissig, mit doppelt verglasten Fenstern in brüchigen Plastikrahmen und einem Skelett aus Stahlstreben, zusammengehalten nur noch von verblassten Graffiti, klebrigem Müll und dem Starrsinn des Denkmalschutzes. Aber er stand noch. Bren lief schneller.

Endlich gelangte sie zur Tür. Sie kickte einen leeren Instant-Food-Container beiseite, dann hielt sie – so gut der Verband um den gebrochenen Arm es zuließ – ihr Handgelenk an den Sensor. Das Gerät erfasste ihren ID-Chip, erkannte sie als Bren und ließ sie ein.

Drinnen war es menschenleer. Erleichtert, nun endlich ungestört voranzukommen, spurtete Bren den Korridor entlang, vorbei an dem seit Monaten blockierten Fahrstuhl, und die sieben Treppen hinauf zu ihrer Wohnung. Sie keuchte, als sie die oberste Stufe erklomm, und krampfte die unverletzte Hand um ihre Tasche, die ihr längst zu schwer geworden war. Trotzdem hielt sie nicht inne. Sie rannte zur dritten Tür, ließ abermals ihren ID-Chip scannen und stürzte in die Wohnung.

Es sah alles aus wie immer. Brens Bett war noch so ordentlich gemacht wie bei ihrer Abreise. Nur ein paar Klamotten hatten sich inzwischen darauf angesammelt. Cays Bett auf der anderen Seite war zerwühlt und sah aus, als wäre es vor Kurzem erst verlassen worden. Einer der Sessel war nah ans Fenster gerückt und etwas Geschirr stand auf der Fensterbank. Daneben lag Cays Personal-Pad. Keine Geräusche aus der Kochnische oder dem Bad.

»Cay?«

Keine Antwort.

Bren ging zum Fenster und betätigte den Start-Button des verwaisten P-Pads. Der Bildschirm erwachte flackernd zum Leben und zeigte neben dem tadelnden Akku-leer-Symbol die übliche Aufforderung, für weiteren Zugriff den ID-Chip vor den Scanner zu halten. Links oben war das Datum eingeblendet: 8. Mai 2320. Rechts daneben zeigte ein kleiner Briefumschlag an, dass es einundzwanzig neue Nachrichten zu lesen gab. Sonst war da nichts. Kein Eingabefeld, keine Abwesenheitsnotiz. Nichts.

Mit einem frustrierten Knurren schaltete Bren das P-Pad aus, warf ihre Tasche auf den Boden und schaute sich im Rest der Wohnung um. Aber auch hier nirgendwo eine Nachricht. Das wenige Essen im Kühlschrank war noch gut, kein Schimmel auf dem benutzt zurückgelassenen Geschirr. So lange konnte Cay noch nicht weg sein. Wäre da nicht die wochenlange Funkstille gewesen, Bren hätte geglaubt, Cay wäre an diesem Tag einfach nur überhastet zur Arbeit aufgebrochen und hätte ihr P-Pad in der Wohnung vergessen. Aber so? Sie musste sie suchen.

Nate!, war das Erste, was Bren in den Sinn kam. Ohne sich noch einmal umzusehen verließ sie die Wohnung, eilte die Treppen hinab ins Erdgeschoss, rannte über den Flur und klopfte an die Tür an seinem Ende.

»Nate!«, rief sie, während sich ihr Klopfen in kräftige Faustschläge verwandelte. »Nate! Lass mich rein, verdammt!«

Die Tür ging auf und der hochgewachsene, drahtige Dealer, der dahinter zum Vorschein kam, bedachte Bren mit einem amüsierten Lächeln. »Ah, Madame Wachhund, so früh wieder zurück? Ich dachte, wir würden noch etwas länger von dir verschont bleiben.«

»Wo ist Cay?« Bren machte einen ungeduldigen Schritt auf ihn zu, sodass sie nun beinahe Brust an Brust standen.

»Wenn du es nicht weißt …«, brummte Nate von oben herab.

»Lass die Spielchen! Ist sie bei dir?«

»Wonach sieht’s denn aus?«

Damit trat er einen Schritt beiseite und verschaffte Bren freie Sicht auf seine alte Schlafcouch, den niedrigen Tisch, auf dem sich dreckiges Geschirr stapelte, die riesige Leinwand, die die ganze rechte Zimmerseite einnahm und die Berge von Kisten und anderen Behältnissen in den Zimmerecken, um deren Inhalt Bren sich lieber keine Gedanken machen wollte. Cay war nirgendwo zu sehen.

»Okay, sie ist nicht hier«, räumte sie ein und richtete ihre Augen wieder auf Nate. »Aber hast du sie gesehen? Habt ihr wieder was miteinander?«

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wüsste echt nicht, was dich das anginge.«

»Nate, verdammt, das ist kein Spiel! Wir reden hier von Cay! Sie ist weg und ich muss wissen, wo sie ist, hörst du?«

»Ja, ich höre.« Nate breitete seine Arme in einer beschwichtigenden Geste aus. »Und ich denke, du solltest erst mal wieder runterkommen. Ich weiß nicht, ob du es da oben auf dem Titan mitbekommen hast …«

»Mars, du Supergenie! Eins ist ein Mond, das andere ein Planet.«

»Was auch immer … Ich weiß nicht, ob du es mitbekommen hast, aber Cay ist sechzehn geworden, während du unterwegs warst. Sie ist jetzt erwachsen, Madame Wachhund. Volljährig. Genau wie du und ich. Und nebenbei bemerkt kaum ein Jahr jünger als du, oder? Du solltest vielleicht aufhören, dich wie ihre Mutter aufzuführen, und anfangen, zu akzeptieren, dass Cay ihr eigenes Leben lebt und dabei weder dir noch mir noch sonst wem Rechenschaft schuldig ist. Sie ist weg? Okay, ihr Ding. Sie taucht schon wieder auf.«

Bren starrte Nate unverändert an. Wieder machte sie einen Schritt auf ihn zu, drang bewusst in seine persönliche Sphäre ein. »Es geht hier nicht um Rechenschaft. Es geht um die Frage, ob es ihr gut geht. Sie ist noch nie abgehauen, ohne sich zu melden. Ist etwas passiert? Nimmt sie irgendwas? Hast du ihr was gegeben? Habt ihr wieder mal Schluss gemacht?«

»Das geht dich …«

»Verdammt! Nate, bitte!«

Er seufzte und schüttelte den Kopf. Dann sah er sie frustriert an. »Meinst du wirklich, ihr ist etwas passiert?«

»Ja! Nein. Ich weiß es nicht. Genau deshalb muss ich sie finden. Nate, bitte!«

»Sie war nicht hier«, gab er endlich zu. »Sie will nichts mehr von mir wissen, wie du dich vielleicht erinnerst. Daran hat sich nichts geändert. Ich hab keine Ahnung, wo sie ist, ehrlich.«

Bren meinte, Bedauern aus seiner Stimme herauszuhören, und ihr Beschützerinstinkt drängte sie, ihm noch einmal einzubläuen, dass er sich von ihrer Schwester fernhalten sollte. Aber das hier war definitiv nicht der richtige Moment dafür.

» Ich danke dir«, rang sie sich stattdessen ab. »Falls sie auftaucht, sag mir bitte Bescheid, ja?«

»Wenn Cay es so will, sicher.«

»Nicht nur … Ach, was auch immer.« Sie drehte sich auf dem Absatz um und verschwand aus Nates Wohnung. »Man sieht sich.«

»Nur, falls ich es nicht vermeiden kann«, nuschelte Nate, bevor er die Tür hinter ihr ins Schloss gleiten ließ.

Bren blieb allein auf dem Korridor zurück. Sie sah zu den Reihen verschlossener Türen, die sich zu beiden Seiten den Gang hinunter zogen. Das hier war sicher nicht die liebenswerteste oder aufmerksamste Nachbarschaft, die man sich vorstellen konnte, aber es waren die Menschen, die tagein, tagaus mit Cay unter einem Dach lebten. Da musste doch irgendjemand wissen, was mit ihr war. Zumindest wissen, wann sie verschwunden war. Vielleicht würde das helfen. Vielleicht wusste ja sogar jemand mehr.

Mit diesen Gedanken machte Bren sich daran, an eine Tür nach der anderen zu klopfen. Obwohl bereits früher Abend war und die meisten Bewohner schon seit einiger Zeit Feierabend haben mussten, machte keiner auf. Entweder sie waren tatsächlich aus oder sie weigerten sich schlicht, ihre Türen zu öffnen. So oder so: Als Bren das Ende des Korridors erreicht hatte, war sie mehr als nur ein bisschen frustriert. Trotzdem machte sie weiter. Sie nahm sich ein Stockwerk nach dem anderen vor und ließ keine Tür aus.

Die erste, die sich ihr dann öffnete, befand sich im dritten Stock. Eine dunkelhaarige Frau in mittlerem Alter sah heraus. An ihr Bein gepresst stand ein kleines Mädchen und schaute aus großen, gleichgültigen Augen zu Bren auf. Bren kannte keine der beiden.

»Ja?«, fragte die Frau abweisend.

»Hallo, entschuldigen Sie. Ich suche meine Schwester. Sie heißt Cay und wohnt im siebten Stock. Ein bisschen größer als ich, zierlich, blond … Sie ist nicht zu Hause und ich mache mir Sorgen. Haben Sie sich vielleicht in letzter Zeit gesehen?«

Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich kenne deine Schwester nicht«, meinte sie nur und betätigte den Türschalter.

»Aber …«, begann Bren. Doch da hatte sich die Tür bereits geschlossen.

Bren seufzte frustriert. Sie wandte sich von der Tür ab und mit grimmiger Entschlossenheit abermals den nächsten zu.

Viel ergab ihre Suche auch in den nächsten beiden Etagen nicht. Gelegentlich öffnete jemand die Tür, aber kaum einer kannte Cay, und wer sie kannte, konnte sich nicht erinnern, ob und wann er sie zuletzt gesehen hatte. Bren wollte die Leute schütteln für so viel Gleichgültigkeit. Doch sie beherrschte sich und beschränkte sich stets auf ein verbissenes Danke, ehe sie ihren Weg fortsetzte.

Es war die letzte Tür im sechsten Stock, die schließlich noch einmal vor ihr aufglitt.

Aus einem kitschig eingerichteten Zimmerchen sah die alte Mape zu Bren auf und lächelte sie an. »Ah, schau, das Mädchen aus der Sieben«, sagte sie. »Besuchst uns auch wieder mal, hm? Hab dich lange nicht gesehen.« Ihr neugieriger Blick glitt an Bren hinab und nahm jeden Zentimeter genau unter die Lupe: den zerzausten Pferdeschwanz, die ehemals frischen Kleider, den gebrochenen Arm, alles.

»Arbeit«, entgegnete Bren und zuckte die Schultern. »Haben Sie Cay gesehen? Sie ist nicht zu Hause und ich erreiche sie nicht …«

»Cay ist weg?« Die alte Mape machte große Augen. »Armes Ding. Ich hab sie neulich noch gesehen …«

»Was, wirklich? Hat sie gesagt, wohin sie will?«

Mape schüttelte den Kopf: »Nein. Ich weiß nicht … nein.«

»Wissen Sie noch, wann Sie sie gesehen haben?«

Wieder ein Kopfschütteln. Enttäuscht ließ Bren die Schultern sinken.

»Es ist schade um all die jungen Dinger«, fuhr Mape fort. »Verschwinden ja immer wieder welche in letzter Zeit.«

»Was?«

»Ja, leider. Es ist eine ganz und gar merkwürdige Sache, wirklich.«

»Wieso hat mir davon keiner was gesagt? Ermitteln die Behörden?«

Abermals schüttelte Mape den Kopf. »Die meisten kriegen’s gar nicht mit. In den Nachrichten hört man nichts davon und hier achtet ja niemand auf den anderen. Keiner hat Zeit. Ich wette, als du im Haus nach deiner Schwester gefragt hast, wussten die meisten nicht einmal, wer sie ist, stimmt’s?«

Bren nickte frustriert.

»Siehst du? Wie sollten sie da merken, dass sie weg ist? Aber es fehlen Leute. Nicht nur hier aus dem Haus, auch aus den umliegenden. Ich habe Zeit. Ich höre Dinge.«

»Vielleicht sind die Leute einfach weggezogen? Ich meine, wer würde das nicht, wenn er es könnte, oder? Ist nicht die beste Gegend hier …«

»Wenn du meinst«, entgegnete Mape. »Aber was ist mit deiner Schwester? Ist die auch weggezogen, hm?«

»Nein, sie …«

»Siehst du?«

»Ach, verdammt! Haben Sie irgendwas gehört? Von den anderen Leuten? Wo sie sein könnten? Sind hier irgendwelche Gangs aktiv geworden oder so?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Mape wiegte ihr faltiges Gesicht bedächtig von einer Seite zur anderen. »Ich glaube auch nicht, dass sie beraubt wurden oder etwas in der Art, falls du das fürchtest. Nicht diese Leute. Kaum einer darunter, der der Typ für Schwierigkeiten gewesen wäre. Nenn es Intuition einer alten Frau, aber ich glaube, es geht etwas anderes vor. Etwas Fremdes. Etwas Altes. Kein Fall, den die Behörden klären könnten.«

Darauf wusste Bren keine Antwort. Sie versuchte, ihre Enttäuschung zu verbergen. Bis zu diesem Moment hatte sie wirklich geglaubt, dass die Alte ihr weiterhelfen konnte. Dass sie etwas wusste. Und nun hatte sie mit ihren letzten Worten offenbart, dass nichts weiter in ihr vorging als die senile Paranoia einer längst in die Jahre gekommenen Frau, die hin und wieder etwas Beachtung und jemanden zum Zuhören brauchte. Einer netten Frau, keine Frage, aber das änderte nichts.

Die alte Mape schenkte Bren ein trauriges Lächeln. »Ist ein gutes Mädchen, deine Schwester. Immer höflich. Ich hoffe, du findest sie wieder.«

»Danke«, erwiderte Bren und rang sich ebenfalls ein Lächeln ab. »Falls Sie Cay sehen, sagen Sie ihr bitte, dass ich nach ihr suche?«

Mape nickte, schlurfte einen Schritt zurück und schloss ihre Tür.

Sobald die Alte fort war, drehte Bren sich um und verließ das Haus. Es war zu spät, um in dem Büro, in dem Cay aushalf, nach ihr zu fragen. Aber das Pflegeheim ein paar SUB-Stationen weiter mochte noch für Besucher geöffnet sein. Vielleicht wusste Nan etwas darüber, wo Cay abgeblieben war.

Vor dem Eingang zum Pflegeheim hielt Bren ihr Handgelenk an den Sensor und tatsächlich glitten die Türen für sie auf. Es konnte nicht mehr lang sein, bis die Nachtruhe alle Besucher zwang, das Heim wieder zu verlassen, aber noch durfte sie rein. Und um diese Zeit waren glücklicherweise so wenige Pflegekräfte eingesetzt, dass niemand im Foyer war, der sie für den späten Besuch hätte tadeln können.

Bren ging an den leeren Tischen und Wartebänken des Foyers vorbei zu dem Snackautomaten in einer der hinteren Ecken. Wieder ließ sie ihren ID-Chip einscannen und bezahlte damit eine kleine Tafel Schokolade. Es war kein gutes Mitbringsel. Nichts, was sie der Frau, die beinahe so etwas wie eine Mutter für Cay und sie gewesen war, unter anderen Umständen nach monatelanger Abwesenheit mitgebracht hätte. Aber es herrschten keine anderen Umstände und unter diesen war die kleine Tafel alles, was sie sich zeitlich und finanziell leisten konnte.

Sie nahm die Schokolade, steckte sie ein und ging damit aus dem Foyer hinaus in den angrenzenden Gang. Von dort aus weiter mit dem Aufzug in den dritten Stock. Nans Zimmer befand sich auf der linken Seite. Als Bren diesmal ihr Handgelenk scannen ließ, schwang die Tür nicht direkt auf. Stattdessen wurden ihre Personaldaten im Inneren des Patientenzimmers angezeigt und Nan oder eine ihrer beiden Mitbewohnerinnen mussten entscheiden, ob sie Bren hereinließen oder nicht.

Die Entscheidung dauerte nicht lang. Bereits nach wenigen Sekunden glitt die Tür auf und Bren schaute in Nans strahlendes Gesicht. Die anderen beiden Frauen im Hintergrund schliefen.

Als Bren eintrat, richtete Nan sich in ihrem Bett in eine sitzende Position auf und breitete ihre Arme aus. Folgsam begab Bren sich in die Umarmung und drückte den zerbrechlichen Körper der älteren Frau vorsichtig an sich.

»Du bist zurück, wie schön«, hauchte Nan gegen ihre Schulter. »Was ist mit deinem Arm passiert? Geht es dir gut?«

Bren schüttelte den Kopf und löste sich behutsam aus der Umarmung. »Es ist nichts weiter. Nur ein kleiner Bruch. In ein paar Wochen bin ich wieder auf dem Damm.«

Sie musterte Nan von oben bis unten. Mehr und mehr Furchen bahnten sich durch ihre blasse Haut und man sah ihr selbst im Sitzen an, wie schwer es ihr fiel, ihren Körper wenigstens halbwegs unter Kontrolle zu halten. Ein kaum merkliches Zittern zog sich ihre Arme hinauf bis zu Schultern und Kopf. Lediglich die Beine unter der Decke lagen komplett still. Und dass das ein noch furchtbareres Zeichen war, war klar. Bren dachte an die starke, kleine Frau zurück, die noch vor zwei Jahren auf Cay und sie und so viele weitere Pflegekinder aufgepasst hatte. Ihnen ein Zuhause geboten hatte. Es war erschütternd, zu sehen, wie viel davon so schnell verloren gegangen war. Aber Nans Augen leuchteten noch. Ihr Mund lächelte noch dasselbe Lächeln, mit dem sie Bren in der Vergangenheit so viele Male Mut gemacht hatte. Sie hatte sich längst nicht aufgegeben und Bren konnte nicht anders, als sie dafür zu bewundern.

»Du siehst gut aus«, sagte sie laut. »Oh, und ich hab dir was mitgebracht.« Sie zerrte die Schokolade aus der Hosentasche und legte sie neben Nans Bett auf den Nachttisch. »Es ist nicht viel, ich weiß, aber ich komme quasi direkt vom Raumhafen.«

»Du musst mir gar nichts mitbringen, Bren. Du sorgst dich viel zu sehr, das sage ich dir immer wieder.«

Bren winkte ab und setzte sich neben ihre ehemalige Pflegemutter auf die Bettkante. Dann nahm sie Nans runzlige Hand. »Nan, hast du in letzter Zeit was von Cay gehört?«

Sofort wurde Nans Miene ernster. »Nein, was ist mit ihr? Ist was passiert?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Bren ein und drückte Nans Hand. »Sie ist nicht zu Hause und ich habe eine Weile nichts von ihr gehört. Vielleicht ist sie nur wegen irgendetwas unterwegs und hat mir nur nicht Bescheid gesagt, weil sie nicht wissen konnte, dass ich zu früh zurück nach Hause komme. Aber sie hat ihr P-Pad nicht dabei und ich … ich mache mir einfach Sorgen. Hast du sie gesehen?«

»Nein. Nicht im letzten Monat. Sie war vor einiger Zeit mit Kuchen hier und wir haben ihren Geburtstag nachgefeiert, danach habe ich sie nicht mehr gesehen. Du kennst sie doch, Bren. Sie lebt ihr Leben und hat keine Zeit, alle zwei Wochen hier in diesem Hort der Langeweile vorbeizusehen.«

»Ja.« Bren seufzte. »Ich weiß.«

»Du solltest dir ein Beispiel an ihr nehmen«, setzte Nan schmunzelnd hinzu.

»Aber …«

»Nichts aber! Ich habe an die hundert Kinder großgezogen und ich freue mich immer, wenn ihr mich besuchen kommt. Aber glaubst du, auch nur einer der anderen verbringt so viel Zeit hier wie du? Es ist lieb, dass du dich sorgst, ehrlich. Ich weiß das zu schätzen. Aber glaub mir, das Leben ist zu kurz, um es nur in Sorge um andere zu verbringen.«

»Das …«

Nan hob die Hand und hielt Bren so ein weiteres Mal vom Sprechen ab. »Und Cay macht es ganz richtig, wenn du mich fragst. P-Pads sind eine großartige Angelegenheit, aber ein kleiner Urlaub ohne sie tut hin und wieder ganz sicher Wunder.« Sie lächelte. »Wann wolltest du denn nach Hause kommen, ehe dir das mit deinem Arm passiert ist?«

»In etwas mehr als drei Wochen.«

»Und Cay hat dir versprochen, dass sie dann da sein wird?«

»Sicher. Sie ist immer da.«

»Dann wird sie das auch diesmal sein. So wie ich unser hübsches Wunderkind kenne, ist sie ihrem Stundenplan mal wieder meilenweit voraus und gönnt sich gerade irgendwo eine wohlverdiente Pause und jede Menge Spaß. Tu das Gleiche, Bren! Und mach dir erst Sorgen, falls sie in diesen drei Wochen dann immer noch nicht da ist, ja?«

Bren seufzte. »Ich werd’s versuchen«, log sie.

Sie glaubte nicht daran, dass Cay sich Urlaub genommen hatte. Nicht ohne abzuwaschen oder etwas zu packen, nicht ohne ihr P-Pad. Aber Nan konnte ihr offensichtlich nicht weiterhelfen und Bren wollte sie nicht unnötig belasten. Auch nicht damit, dass sie sich keine Freizeit gönnen konnte, weil sie dringend Arbeit brauchte. Weil sie im Moment keine Ahnung hatte, wie sie die Miete und Cays Studiengebühren für den kommenden Monat aufbringen sollte. Das waren Dinge, mit denen sie allein fertig werden würde. Also lächelte sie und wechselte das Thema.

Erschöpft und entmutigt kehrte Bren in den antiquierten Betonklotz zurück. Sie stieg hinauf zu ihrer Wohnung, öffnete die Tür und hoffte auf ein Wunder. Doch der Raum dahinter hatte sich nicht verändert. Alles lag nach wie vor an seinem Platz und keine Cay sprang aus dem Sessel, um sie zu begrüßen.

Bren seufzte und kehrte direkt wieder um. Sie hätte gern ihr P-Pad genommen und einfach eine Vermisstenanzeige aufgegeben, die Behörden informiert. Aber was sollte sie denn schreiben? Schwester seit vier Stunden nicht in der Wohnung aufgetaucht? Beantwortet keine Nachrichten? Hat den Abwasch stehen gelassen? Nein, für eine Anzeige brauchte sie mehr – vor allem mehr Zeit, und die würde sie der Sache auf keinen Fall lassen.

Sie überlegte, ob sie noch einmal alle Nachbarn abklappern sollte, entschied jedoch, dass ihr die Erfolgschancen gemessen am Zeitaufwand zu gering waren. Es war schon spät. Sie würde rausgehen und im Fevernight nach Cay suchen, vielleicht auch im Ol’ Moon. Vorher aber würde sie es zumindest noch einmal bei den unmittelbaren Nachbarn versuchen. Wenn jemand etwas mitbekommen hatte, dann sie.

Cen, der links von ihnen wohnte, reagierte nicht auf Brens Klopfen. Auch Bri und Asly eins weiter waren nicht zu Hause. Bren setzte die Runde stoisch fort, bis sie schließlich bei Pat angelangt war, der schräg gegenüber von ihr wohnte. Als sie an seine Tür klopfte, hörte sie Schritte im Inneren, und gleich darauf glitt die Tür zur Seite.

Bren wich überrascht zurück. Vor ihr stand nicht der mittvierziger Junkie, der schon lange hier gelebt hatte, bevor Cay und sie vor zwei Jahren eingezogen waren. Stattdessen starrte sie auf den wohldefinierten Körper eines deutlich jüngeren Mannes. Der Fremde hatte rotes Haar – nur etwas dunkler als ihr eigenes –, leicht gebräunte Haut und war mit nicht mehr bekleidet als einem Paar blauer Boxershorts. Bren gestattete sich einen Moment, in dem sie den Anblick schlicht auf sich wirken ließ. Dann schaute sie an dem Mann vorbei und musterte die Wohnung in seinem Rücken: ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett, ein kleiner Holo-Projektor. Es war eindeutig Pats Wohnung, auch wenn Bren sie noch nie zuvor in einem derart aufgeräumten Zustand erlebt hatte.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Mann in der Tür zu. »Hi«, begann sie. »Ich bin Bren von nebenan. Wo ist denn Pat?«

»Wieso?« Ihr Gegenüber schaute misstrauisch.

»Ich wollte ihn was fragen.«

Der Fremde verschränkte die Arme vor der Brust. Es war eindeutig eine Geste der Abwehr, nicht der Scham. »Pat ist nicht da.«

So einfach ließ Bren sich nicht abwimmeln. »Es ist wirklich wichtig, dass ich mit ihm spreche. Wann kommt er wieder?«

»Weiß nicht.«

»Wo ist er denn hin?«

»Weiß nicht.«

»Seit wann ist er weg?«

»Weiß nicht.«

»Na klasse! Wenn du nicht weißt, wo er ist und seit wann er weg ist, wer bitte hat dich dann hier reingelassen, hm?«

Darauf schwieg der Fremde und sie fürchtete, er würde ihr jeden Moment die Tür vor der Nase zusperren. Um ihm keine Gelegenheit dazu zu geben, machte Bren einen Schritt nach vorn und trat in den Türrahmen. Sie stand nun dicht an dicht mit dem halbnackten Unbekannten und noch immer ließ er kein Zeichen der Scham oder Verunsicherung erkennen. Unter anderen Umständen wäre es eine reizvolle Begegnung gewesen. So aber raubte sie Bren den letzten Nerv.

»Hör zu!«, erklärte sie scharf. »Und wenn du den alten Pat um die Ecke gebracht und seine Wohnung illegal besetzt hättest, es wäre mir egal, in Ordnung? Ich bin auf der Suche nach meiner Schwester. Nur darum geht’s mir. Hast du sie gesehen? Blond, etwas größer als ich, wohnt hier schräg gegenüber.«

Der Fremde schüttelte den Kopf, doch etwas in seinem Blick änderte sich. Er sah Bren einen Augenblick an, dann machte er einen Schritt zurück und trat beiseite.

»Komm rein.« Alles Abweisende war aus seiner Stimme verschwunden.

Bren folgte ihm und trat in die Wohnung. Der Unbekannte bot ihr mit einem Wink den einzigen Stuhl an, aber Bren ließ sich stattdessen mit einem kleinen Sprung auf der Tischplatte nieder. Daraufhin nahm er den Stuhl. Von dort aus sah er sie aufmerksam an.

»Wieso suchst du deine Schwester?«

»Dumme Frage. Weil sie weg ist.«

»Weg im Sinne von was? Heute mal unpünktlich? Abgehauen? Entführt?«

»Wie bitte kommst du auf entführt?« Diesmal war es an Bren, ihn misstrauisch zu mustern.

»Ich meine, glaubst du, ihr ist was Schlimmes passiert?«

»Wieso? Hast du was in der Richtung mitgekriegt? Hat ihr irgendjemand was getan?« Bren hatte Schwierigkeiten, die Panik aus ihrer Stimme herauszuhalten.

»Nein, nein!« Der Fremde hob beschwichtigend die Hände. Er atmete tief durch und beugte sich ein wenig nach vorn. »Ich habe keine Ahnung, wo deine Schwester ist. Aber Pat ist auch verschwunden. Deshalb bin ich hier. Ich suche ihn. Inzwischen schon seit einigen Wochen.«

»Was?«

»Pat ist mein Vater.«

»Pat hat ein Kind?«

»Mehrere sogar. Mit Zugangsberechtigung für seine Wohnung. Was meinst du, wie ich sonst hier reingekommen bin? Ich bin Sioh. Hat er nie von mir geredet?«

Bren schüttelte den Kopf.

Falls diese Enthüllung Sioh zu schaffen machte, ließ er es sich nicht anmerken. »Als er sich plötzlich nicht mehr gemeldet hat«, erzählte er weiter, »bin ich hergekommen, um nach ihm zu sehen. Aber er ist weg. Einfach weg.«

Bren runzelte die Stirn. Die Sorge in seiner Stimme klang echt. »Und du meinst, er wurde entführt?«

Sioh schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Ich wüsste nicht, warum. Er wohnt ganz allein hier und das bisschen, was er besitzt, ist noch da. Es ist, als wäre er einfach eines Tages aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen. Und wenn du jetzt sagst, dass es mit deiner Schwester auch so ist … Vielleicht ist ihr das Gleiche passiert wie ihm.«

»Ich will dir ja nicht zu nahe treten«, setzte Bren mit aller Vorsicht an, die sie noch aufbringen konnte, »ich weiß ja nicht, wie eng dein Verhältnis zu deinem Vater war … ist … aber ich könnte mir schon das eine oder andere vorstellen, das ihm zugestoßen sein könnte. Er ist ein Junkie.«

»Hey!«

Bren hob die Hände, fuhr aber fort: »Zugegeben: Meistens hat er sich ganz gut im Griff, aber wer weiß? Vielleicht lungert er gerade irgendwo in den Straßen herum und ist voll auf 7D. Oder er hat Schulden gemacht, die er nicht zurückzahlen kann, und versteckt sich.«

»Das glaube ich nicht. Er hätte was gesagt …«

»Glaub es oder nicht. Meine Schwester ist jedenfalls kein Junkie und ihr ist sicher nicht das Gleiche passiert wie deinem Vater.«

»Ach nein? Und was ist mit den anderen, die verschwunden sind? Waren das auch alles Junkies?«

»Was denn für andere?«

»Man erzählt sich Dinge …«

»Meinst du mit man die alte Mape von unten? Du solltest nicht alles glauben, was sie sagt. Sie ist senil, denke ich.«

»Nicht nur sie. Wie gesagt: Ich bin schon seit Wochen hier und versuche, meinen Vater zu finden. Ich hab mich überall in der Gegend umgehört. In den letzten Monaten scheint eine ganze Handvoll Leute verschwunden zu sein und kaum einer davon ist wieder aufgetaucht. Einige reden von Gangs oder Serienmördern. Andere meinen, die Leute wurden entführt, aber keiner hat von einer Lösegeldforderung oder so erzählt. Irgendetwas stimmt nicht. Irgendetwas geht vor.«

»Du weißt, dass das verrückt klingt, oder?«

Sioh lachte. Es war ein hartes, freudloses Lachen und wie er da saß, halbnackt in Pats einzigem Stuhl, überlegte Bren, ob er vielleicht wirklich nicht alle beisammen hatte. »Wenn du das schon für verrückt hältst, dann sollte ich dir wohl lieber nicht von meiner Theorie erzählen.«

Brens Skepsis wuchs. »Was denn für eine Theorie?«

Mit einem Mal musterte Sioh sie eingehend. Sein Blick fuhr von ihren Knien den Oberkörper hinauf und blieb an ihren Augen hängen. Er schien zu überlegen, ob er es wagen oder doch lieber einen Rückzieher machen sollte.

Bren schaute ruhig zurück und bemühte sich, so wenig wie möglich von ihrer Anspannung zu zeigen. Sie wollte seine Prüfung bestehen. Trotz allem. Ja, vermutlich war er übergeschnappt und dann würde sie am Ende feststellen, dass sie lediglich ihre Zeit mit ihm vertan hatte. Genau wie mit Mape. Aber was, wenn nicht? Was, wenn er ihr doch helfen konnte, auf Cays Spur zu kommen? Es war ja nicht gerade so, dass sie sich vor Anhaltspunkten nicht zu retten wusste. Wenn er auch nur irgendetwas Interessantes mitbekommen hatte, musste sie es wissen.

Glücklicherweise bestand ihr Pokerface und Sioh fuhr fort: »Okay, bevor ich loslege, mach dir bitte klar, dass ich wirklich nur von einer Theorie spreche. Es ist bestimmt nicht die einzige mögliche Erklärung und ganz sicher nicht die beste, aber es ist eine, auf die ich immer wieder stoße und bei der einfach einiges … ich weiß nicht … passt.«

»In Ordnung.«

Noch einmal atmete Sioh tief durch, setzte an, stockte aber gleich darauf. »Eins noch: Die reine Theorie klingt noch viel verrückter ohne die Erklärung dazu. Ich will es erklären. Also sag erst einmal gar nichts und lass mich ausreden, okay?«

»Okay.«

»Okay.«

Wieder eine Pause. Bren gab ihr Bestes, ihre Ungeduld zu verbergen.

»Feen!«, platzte Sioh endlich heraus.

»Feen?«, echote Bren fassungslos. »Wie die aus Cinderella?«

Er sah sie vorwurfsvoll an. »Du hast es versprochen!«

Sie biss sich auf die Unterlippe und nickte.

»Keine Holo-Figur mit Flügeln und Zauberstab. Nicht so was wie in den Kinderfilmen. Nein, ich meine, ich hab das recherchiert. Der Mythos ist alt, sehr alt.«

Bren verkniff sich einen Kommentar dazu, dass man sein mühsam zusammengespartes Wikipedia-Geld sicher für sinnvollere Dinge ausgeben konnte als für die Suche nach Märchenfiguren. Das war nicht ihre Sache. Ihre Sache war es jetzt nur, zuzusehen, wie sie hier so schnell wie möglich heil herauskam.

»Die Geschichten stammen aus ganz verschiedenen Teilen der Welt und sind immer wieder anders. Mal werden Feen als gut beschrieben und erfüllen Wünsche, mal sind sie hinterhältige Geister. Und einige von ihnen entführen Menschen, wusstest du das?«

Bren schüttelte den Kopf. Woher sollte sie so etwas auch wissen?

»Sie entführen sie nicht nur, sie verändern sie. Sie locken Menschen in ihre Welt, machen sie ihr altes Leben vergessen. Es gibt immer wieder Berichte von Festen und dem Essen da, das man nicht essen sollte. Von schönen Frauen, die Kinder zu sich holen und nie wieder hergeben.«

»Und was genau hat das alles mit Pat zu tun?«, fragte Bren und rückte weiter auf die Tischkante, bereit für den Absprung. »Er ist kein Kind. Hast du ihn vielleicht auf einer Party verloren?«

»Nein, aber es ist nicht so, dass die Vermissten gar nicht wieder aufgetaucht wären, weißt du? Ich habe von mindestens zwei Fällen gehört, in denen die Leute noch einmal gesehen wurden, aber sie waren verändert. Und da ist dieser neue Club, der vor ein paar Monaten im Glasviertel aufgemacht hat. Von dem war auch mehrfach die Rede. Man kommt nicht rein. Keine Ahnung, was da drin los ist. Aber es würde passen, oder? Partys, Drinks, unerklärliche Veränderungen … Und Leute, die zwar noch da sind, denen scheinbar nichts Schlimmes passiert ist, die aber einfach nicht mehr nach Hause kommen wollen.«

Bren schüttelte den Kopf. Mit einem schwungvollen Satz sprang sie von der Tischplatte. »Klingt für mich nach einem neuen Umschlagpunkt für 7D oder, was weiß ich, 8D – gibt’s so was inzwischen? Jedenfalls nicht nach Feen oder Hexen oder sonst einem Hokuspokus.«

Sioh stand auf und trat ihr in den Weg. »Du hast gesagt, du hörst es dir in Ruhe an. Du hast gesagt, dass du der Theorie eine Chance gibst.«

»Ich hab auch zugehört.« Sie legte die unverletzte Hand auf seine Brust und schob ihn beiseite. »Feen! Tolle Theorie! Ich danke dir dafür, dass du diese Weisheit mit mir geteilt hast, aber ich muss jetzt wirklich wieder los und weiter nach meiner Schwester suchen.« Mit diesen Worten drängte sie sich an ihm vorbei und aus der Wohnung hinaus.

»Alien Neighbours«, rief er ihr nach. »Falls du deine Meinung änderst: Das ist der Club, in dem du nach deiner Schwester suchen solltest.«

»Danke«, sagte sie, ohne es zu meinen. Dann ging sie schnell und ohne sich noch einmal umzusehen.

Vor dem Fevernight hatte sich eine Schlange gebildet. Die erste Vorstellung des Abends musste in Kürze beginnen. Bren reihte sich unter die Wartenden und wandte den Blick ab, um ihre Missbilligung nicht allzu öffentlich zur Schau zu stellen. Sie hatte diesen Ort nie gemocht.

Weiter die Straße herunter drängten sich andere Menschengruppen in die Clubs und Bars des Viertels oder steuerten auf das nahe Holo-Kino zu, um sich dort irgendeine Spätvorstellung anzusehen. Musik drang aus jedem der Läden und mischte sich draußen zu unangenehmen Disharmonien.

So viele Menschen, so viel Nähe. Früher hatte Bren das nichts ausgemacht. Städte waren immer brechend voll. So war das eben, wenn sich eine Population quer über einen ganzen Planeten verstreut entwickelt und ausgebreitet hatte und sich dann unter ein paar Tausend Kuppeln zurückzog. Man war es gewöhnt. Aber seit Bren die Arbeit auf dem Mars angenommen hatte, hatte sie vergessen, wie viel gedrängter noch das Nachtleben war. Wie drückend die Musik und der Geruch der legalen Drogen, Alkohol und 6D, sein konnten. Ganz zu schweigen von den hin und wieder untergemischten illegalen Duftnoten. Auf dem Mars gab es keinen Alkoholausschank. Es gab auch keine Holo-Kinos, zu deren ach so tollem Gesamterlebnis die Leute 6D einwarfen, um sich durch die Droge noch mehr in der Geschichte zu verlieren. Und es gab keine Orte wie das Fevernight. Nichts davon hatte ihr gefehlt.

Von hinten drängelte jemand. Bren wurde dichter an die Rücken der Männer vor ihr geschoben. Es roch nach Schweiß. Sie rümpfte die Nase, wandte den Kopf und versuchte, sich mit den Filmchen auf den Werbetafeln des Holo-Kinos abzulenken. Da schlugen sich zwei Kerle mit einem Baummonster um eine mysteriöse Kiste. Eine Shuttlepilotin küsste lachend ihre Geliebte. Eins weiter hockte eine Frau in Schwarz mit Hörnern auf der Stirn und rissigen Flügeln über einer bewusstlosen Blondine und kicherte wahnsinnig. Feenschlaf– Wer weckt Dornröschen? stand unter dem letzten Film. Bren runzelte die Stirn.