Nacht der Einsamen - Julie Fellmann - E-Book

Nacht der Einsamen E-Book

Julie Fellmann

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Beschreibung

In der kleinen Gemeinde Birk vor den südlichen Toren Münchens wird der Bürgermeister tot aufgefunden, erhängt im eigenen Wohnzimmer. In der gleichen Nacht wir im Wald von Birk die Grundschuldirektorin des Ortes erdrosselt. In ihrer Manteltasche findet sich eine Streichholzschachtel mit der Aufschrift "Luciferin". Kommissar Garcia und sein fünfköpfiges Team suchen fieberhaft nach einer Verbindung zwischen den beiden Morden. In der psychiatrischen Klink von Birk wird ein verurteilter Straftäter behandelt, der als "Würger" bekannt ist. Doch Garcia misstraut dieser Spur. Er schürft tiefer, bis er Zusammenhänge findet, die weit in der Vergangenheit liegen.

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Die Handlung dieses Romans ist frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Romanfiguren mit lebenden oder toten Personen sind nicht beabsichtigt, ebenso wenig eine Beschreibung der Verhältnisse in tatsächlich existierenden Institutionen, Organisationen oder Vereinigungen.

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Rosenheimer Verlagshaus erschienenen Originalausgabe 2012

© 2012 Rosenheimer Verlagshaus GmbH & Co. KG, Rosenheimwww.rosenheimer.com

Titelfoto: © Dieter Hawlan – istockphoto.com und © andreiuc88 – fotolia.com Autorenfoto auf der Buchrückseite: Franz Heller Lektorat und Satz: VerlagsService Dr. Helmut Neuberger & Karl Schaumann GmbH, Heimstetten Datenkonvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

E-Book ISBN 978-3-475-54180-3 (epub)

Vorher

Wie schnell in dieser Gegend der Nebel vom Fluss aufsteigt und alles in seine dichten weißen Schwaden hüllt. Zunächst nur ein milchiger Schleier, hat er sich zu einer unheimlichen Nebelwand verdichtet, die alles verschluckt – Bäume, Tiere, Menschen. Was hat eine einsame Spaziergängerin zu dieser dunklen Stunde hier draußen verloren?

Sie zieht sich die Mütze tiefer ins Gesicht, fröstelt trotz ihres Wintermantels. Aber es ist nicht nur die feuchte Kälte. Waren das nicht Schritte hinter ihr? Immer wieder dreht sie sich um, hastig, ängstlich. Hat sich da etwas bewegt? Eine Gestalt zwischen den hohen schattenhaften Bäumen? Die Frau geht schneller, strauchelt durch das unwegsame Gelände, sieht kaum mehr die eigene Hand vor Augen.

Ein erstickter Schrei. Oder doch nur ein nachtaktives Tier auf Beutejagd, ein Marder vielleicht? Geräusche, Rascheln, ein dumpfer Schlag, fremd und bedrohlich. Dann ist wieder alles still. Und doch – ihr scheint, als folge ihr jemand, als sei sie nicht allein in dieser kalten, nebligen Frühjahrsnacht.

Beinahe wäre sie gestolpert. Vor ihr ragt ein einsamer steinerner Pfeiler aus dem Boden wie ein verwitterter Grabstein. Die Spaziergängerin unterdrückt einen Schrei. Hätte sie sich die Zeit genommen, die kaum mehr leserliche Inschrift auf dem Stein zu entziffern, hätte sie erfahren: »Hier wurde durch ruchlose Hand gemeuchelt am 2. März 1854 Kaspar Holler …«

Doch die Angst hat die Frau längst weitergetrieben. Ein Schauer jagt ihr über den Rücken, Panik … »Ich hätte niemals hierher kommen sollen!« Dieser Satz formt sich in ihrem Kopf, erst leise, dann immer lauter, immer eindringlicher, immer rhythmischer. Mehr und mehr schiebt sich der Rhythmus vor diesen Satz, kommt näher und näher, unaufhaltsam, dumpf, bedrohlich, alles übertönend. Und dann, wie von weit, fügt sich eine Melodie zu diesem Rhythmus. Durchdringend, gehetzt, ein sinnloses Flehen. Überlaut in ihrem Kopf hört die Frau nun den drohenden Rhythmus des Knochenmanns und das verzweifelte Flehen des Mädchens.

Freitag Abend

Greta schlief. Wie mädchenhaft sie aussah, wovon sie wohl gerade träumte? Was wusste ein Vater schon von den Träumen seiner vierzehnjährigen Tochter, vor allem ein Vater wie er, ein Wochenendvater! Schlimmer noch, ein Alle-vierzehn-Tage-Wochenendvater. Ihre rosigen Wangen, der leicht geöffnete Mund, ein rundliches Bein, das unter der Decke hervorragte. Greta meinte, sie sei pummelig, und versuchte sich ständig in neuen Diäten. Dabei würde sie sicher einmal so eine Bohnenstange wie ihre Mutter werden. Aber das Wort Babyspeck wollte Greta nicht hören. Dafür war sie stolz auf ihre langen weizenblonden Haare.

Garcia fuhr sich durch sein dichtes schwarzes Haar, und dabei durchzuckte ihn wieder dieser Gedanke, den er so ungern zuließ. Aber er war da, ganz plötzlich. Seine Tochter Greta, die nichts von ihm hatte, äußerlich betrachtet zumindest. War das wirklich seine Tochter?

Seit 14 Jahren zahlte er Alimente. Seit 14 Jahren verbrachte er – wie die meisten Trennungsväter – jedes zweite Wochenende mit ihr. Und doch – wusste er, mit wem Lydia damals noch zugange gewesen war? Lydia, eine von vielen, Lydia, mit der er nie eine ernsthafte Beziehung gehabt hatte, Lydia, die Zufallsbekanntschaft. Mit seinen 29 Jahren war er damals meilenweit davon entfernt gewesen, Familienplanungen machen zu wollen. Er schmiedete an seiner Karriere und genoss das Leben und seine Freiheit in vollen Zügen. Und dann war Greta gekommen, einfach so, ungeplant, und er sollte plötzlich Vater sein. Garcia liebte Greta, kein Zweifel. Außerdem wäre Lydia doch nicht so dumm gewesen, ausgerechnet ihm, einem Polizeibeamten, damals noch nicht einmal Hauptkommissar, ein Kind anzuhängen, wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre. Sonst hätte sie doch wohl besser daran getan, einem Millionär oder zumindest einem Anwalt oder Notar die Vaterschaft unterzujubeln. Und dennoch …

Einmal war Garcia nah dran gewesen, einen heimlichen Vaterschaftstest durchzuführen. Er saß ja sozusagen an der Quelle. Eines dieser langen weizenblonden Haare hatte er bereits sorgsam in einen durchsichtigen Plastikbeutel gepackt und war damit ins rechtsmedizinische Institut marschiert, wo Professor Bernauer, einer seiner ältesten Freunde, als Pathologe arbeitete. Und dann? Noch ehe er die Türe erreicht hatte, hatte er dieses »und dann« zu Ende gedacht und in letzter Sekunde kehrtgemacht. Greta war seine Tochter, und wenn er auch nicht all zuviel von ihr wusste, und wenn er auch mit Lydia schon lange nichts mehr gemein hatte, so war er doch der Vater dieses Kindes, der leibliche vermutlich, der gefühlte sicher. Und dabei beließ er es vorerst.

Garcia schüttelte den Kopf, verjagte den subversiven Gedanken und schloss ganz leise wieder die Tür. Er würde Greta einen Zettel auf den Küchentisch legen, falls sie nachts aufwachte. Bis morgen früh wäre er sicher zurück.

Birk, wo war das überhaupt? Irgend so eine kleine Gemeinde vor den südlichen Toren Münchens. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Er hatte das Ortsschild schon einige Male passiert, im Sommer, wenn Stau auf der Garmischer Autobahn war und er über Landwege zum Starnberger See gefahren war. Gehalten hatte er in Birk nie, aber er glaubte, sich an den typischen kupfergrünen Zwiebelturm der Dorfkirche erinnern zu können.

Leise schlich er aus seiner Wohnung und ging die zwei Stockwerke zu Fuß hinunter. Der Innenhof war menschenleer, aber in einigen Fenstern der umliegenden Wohnungen brannte Licht. Auf einem Balkon glomm trotz der Kälte einsam die Zigarette eines nächtlichen Rauchers. Garcia, der höchstens mal auf einer Party eine Zigarette schnorrte, mehr um ins Gespräch zu kommen als aus Lust, blickte mitleidig zum Balkon hinauf. »Wahrscheinlich verbietet ihm seine Frau, in der Wohnung zu rauchen«, schoss es ihm durch den Kopf. Dann setzte er sich ans Steuer seines schwarzen BMW, startete den Motor und fuhr los, ohne sich die Zeit zu nehmen, das Navigationssystem zu programmieren. Er steuerte den Wagen an mehreren Gruppen feiernder Jugendlicher vorbei, die rauchend und mit Bierflaschen bewaffnet der Kälte trotzend den Gärtnerplatz bevölkerten. Auf ihrem alten Mofa kam ihm Mama Afrika entgegen, die hier mittlerweile eine feste Institution war. Sie war ein bayerisches Urgestein mit wirrem gefärbtem Haar und Hippieklamotten, aber auch eine gewiefte Geschäftsfrau, die Bier an die Jugendlichen verkaufte, das sie auf einem Anhänger mit ihrem Mofa hinter sich her zog.

»Wieder mal auf freiem Fuß?«, rief Garcia ihr zu.

Mama Afrika winkte fröhlich. Sie wurde regelmäßig von der Polizei aufgegriffen, weil sie kein Gewerbe angemeldet hatte. Dass Garcia auch von der Polizei war, ahnte sie nicht, hatte er doch selbst auch schon das ein oder andere Bier bei ihr gekauft.

Er fuhr weiter und versuchte dabei, das Navigationssystem durch Sprachsteuerung einzustellen. Den Zielort »Birk« verstand das Navi schon beim zweiten Versuch, für die Straße jedoch machte es mehrfach abenteuerliche Vorschläge, die mit dem Wort »Goyastraße« definitiv nichts zu tun hatten. Als das Navi auch nach Anschreien den Vorschlag »Anton-Fingerle-Straße« machte, ging Garcia kopfschüttelnd dazu über, an der nächsten roten Ampel den Straßennamen per Hand einzutippen.

Trotz der vorgerückten Stunde – ein Blick auf die digitale Anzeige verriet ihm, dass es 22.55 Uhr war – waren auf Münchens Straßen viele Autos unterwegs, die meisten voll besetzt mit jungen Leuten auf Feiertour. Das Navi leitete Garcia die Isar entlang stadtauswärts, vorbei an der Großmarkthalle, vor der wie üblich einige Autos mit rosa Leuchtsignal parkten. Im Sommer standen die Bordsteinschwalben, die hier ihre Dienste anboten, an ihre Wagen gelehnt, aber jetzt war es noch zu kalt, und so lockten allein die pinkfarbenen Neonlichtröhren hinter den Frontscheiben. Über mangelnde Kundschaft brauchten sie sich keine Sorgen zu machen, schließlich war die Münchner Großmarkthalle der drittgrößte Umschlagort für Obst und Gemüse in Europa, gleich nach Paris und Mailand.

Garcia kannte nur einen Teil des über 300 000 Quadratmeter großen Areals, den Blumengroßmarkt, auf dem einst sein Freund Christoph als Blumenhändler angefangen hatte. Die Blumen hatte Garcia bei ihm zum Einkaufspreis bekommen, und so war es gewissermaßen Christoph zu verdanken, dass Garcia, damals Anfang zwanzig, wildromantisch und chronisch pleite, einst seine große Liebe mit hundert roten Rosen hatte erobern können. Was mochte wohl aus Melanie geworden sein?

»Mit der Romantik ist es seither stetig bergab gegangen«, dachte sich Garcia. »Aber den Christoph könnt ich mal wieder anrufen.«

Auf Höhe des Tierparks, der auf der anderen Isarseite lag, bog Garcia rechts ab und fuhr die Steigung hinauf, die ihn auf die Wolfratshauser Straße leitete, eine der Hauptverkehrsadern Münchens. Sie führte ziemlich schnurgerade aus der Stadt hinaus, immer nach Süden, bis nach Wolfratshausen. Der Verkehr am südlichen Münchner Stadtrand hatte sich gelichtet, und bald passierte Garcia das Schild, das ihm signalisierte, dass er nun die Landeshauptstadt verließ. Tatsächlich wurde die Landschaft fast schlagartig ländlich. Zur Rechten der Forstenrieder Park mit seinen hohen Nadelbäumen, zur Linken die Häuser in immer größeren Abständen. Bald folgten zu beiden Seiten nur noch kahle Felder, dunkel starrende Flächen, die zu dieser nächtlichen Stunde auf Garcia irgendwie trostlos wirkten. Dann, von Weitem sichtbar angeleuchtet auf einer Anhöhe, der Zwiebelturm von Birk, genau wie Garcia ihn in Erinnerung hatte. Kurz nach dem Ortschild von Birk erblickte er den weißblauen Maibaum, stolz gen Himmel ragend, Zierde eines jeden oberbayerischen Dorfes, das etwas auf sich hält.

Garcia folgte den Anweisungen seines Navis: Noch zweimal abbiegen, dann den kleinen Hügel hinauf, und schon stand er vor dem besagten Haus.

Es war etwas abgelegen in einer reinen Anliegerstraße, die in einer Sackgasse endete, die Nachbarhäuser mit ihren großen Gärten in angenehmer Entfernung. Der Vorgarten war sehr gepflegt, der mit Klinkersteinen gepflasterte Weg zur Haustür von sorgfältig zugeschnittenen Buchsbäumen gesäumt. Dennoch wirkte dieses Haus wenig einladend. Das Walmdach gab ihm etwas Gedrungenes, und die vergitterten Fenster verstärkten noch den abweisenden Eindruck.

Doch heute war in der Goyastraße 13 einiges los. Der Tatort glich einem Rummelplatz: Polizisten, Spurensicherer, Sanitäter, die sich hinter dem rot-weißen Absperrband tummelten, das den Hauseingang und das Garagentor vor Eindringlingen schützen sollte. Davor drängten sich schaulustige Nachbarn, hastig in Mäntel gehüllt, einer trug sogar noch Pantoffeln an den Füßen.

Alexander Garcia schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und betrat das Einfamilienhaus durch die massive Eingangstüre aus dunklem Holz. In der engen, sauberen Diele roch es nach Putzmittel. Die Garderobe aus gezwirbelten Holzhaken vermittelte gediegenen Landhausschick, auf dem gefliesten Boden lag ein wohl maßgeschneiderter lodengrüner Läufer.

»Danke.« Garcia nahm von einem der Spurensicherer im weißen Astronautenlook ein Paar Plastiküberschuhe entgegen und streifte sie über seine Straßenschuhe. Dann folgte er dem lodengrünen Läufer, der direkt ins Wohnzimmer führte.

Unübersehbar auf den Terracottafliesen lag inmitten des großen Raums die Leiche. Sie war noch nicht zugedeckt, und Garcia verschaffte sich einen ersten Eindruck. Ein Mann mittleren Alters, etwa 1,80 Meter groß, eher kräftig, jedenfalls nicht mehr ganz schlank, eitel wohl, denn am Revers seines Trachtenjankers prangte eine Edelweiß-Brosche. Neben der Leiche stand ein Schreibtischstuhl, und etwas weiter hinten lag ein seltsames Korbgeflecht auf dem Boden.

Eine junge Frau kam auf Garcia zu, und er schüttelte ihr die Hand: »Servus Lydia.«

»Lucia.«

»Lucia, natürlich.« Einmal mehr fragte Garcia sich, wie diese junge, durchaus attraktive Frau zu dem Beruf Todesermittlerin gekommen war. Irgendwann würde er sie mal nach Dienstschluss auf einen Drink einladen. Dann konnte er sie ja fragen. Aber jetzt war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, zumal sie nicht einmal lächelte.

»Eine Polizeistreife war als Erstes da«, informierte sie ihn. »Dann der Notarzt. Er hat den Tod festgestellt, war sich aber wegen der Sachlage nicht sicher, deshalb haben die Kollegen uns gerufen.«

»Und?«

»Die These Selbstmord lässt sich fast ausschließen. Es besteht zumindest ein sehr begründeter Verdacht auf Mord.«

Garcia ließ den Blick schweifen. Eine etwas abgewetzte Couchgarnitur aus Leder, ein niedriger Couchtisch, antik gebeizt, alles akkurat sauber gehalten, keinerlei Krimskrams. Weiter hinten, vor dem Bücherregal, ein kleiner Schreibtisch. Ein Spurensicherer packte von dort gerade Papiere in eine Plastikhülle.

An der Wand über der Couch hing ein Bild, das nicht so recht zum Rest der Einrichtung passen wollte. Garcia hätte hier eher ein paar Hirschgeweihe vermutet und betrachtete interessiert das in einem einfachen Wechselrahmen steckende Foto-Poster. Es zeigte vier Personen in der Wüste, zwei davon ritten auf Kamelen, zwei fungierten als Kamelführer. Das wirklich Eigenartige daran war, dass sie Instrumente bei sich trugen, eines der Kamele musste sich sogar mit einer Harfe auf dem Buckel abmühen. Der Mann, der dieses Kamel führte, hielt in der anderen Hand ein Saxophon und kam Garcia irgendwie bekannt vor. »Quadro Nuevo« stand in leicht verschnörkelter Schrift über dieser unwirklichen Wüstenszenerie. Jetzt fiel es ihm wieder ein, es handelte sich um eine Münchner Band, die er selbst vor ein paar Jahren in einem Jazzclub erlebt hatte, den diese vier Musiker mit ihrer Mischung aus Improvisationen, Weltmusik und Entertainment aufgeheizt hatten.

Lucia riss ihn aus seiner Betrachtung. Sie deutete an die Wohnzimmerdecke: »Siehst du das da?«

Garcias Blick folgte ihrem Finger. Aus einem der dicken rustikalen Holzbalken ragte ein Metallhaken, und an diesem Haken baumelte ein Stück Seil.

»Scheint ziemlich gut verschraubt zu sein. An dem Haken hing der Tote, aufgehängt an einem Strick. Wie lange er da schon hing, lässt sich noch nicht ganz genau sagen, aber sehr lange wohl nicht. Er war noch warm.«

Gemeinsam knieten sie vor der Leiche nieder. Die Wangen des Toten waren von roten geplatzten Äderchen durchzogen, seine Augen weit aufgerissen, und auch im Weiß der Augen waren rote Adern geplatzt. Die Zunge hing seitlich aus dem halb geöffneten Mund. Es war kein schöner Anblick, aber Garcia hatte schon weit schlimmer zugerichtete Leichen gesehen. Automatisch fuhr er sich durch die schwarzen Haare, sein Tick. Dann nickte er Lucia auffordernd zu.

»Warum nicht Selbstmord?«

»Die Hände des Toten waren auf dem Rücken gefesselt. Mit Handschellen. Die Spurensicherung hat sie bereits beschlagnahmt.« Lucia zögerte. Dann deutete sie auf den Mund des Toten. »Siehst du die aufgeschürfte Haut auf den Lippen und um den Mund? Und diesen rötlichen Abdruck? Ich vermute, er wurde getaped.«

»Er wurde was?«

»Jemand hat ihm den Mund mit festem Klebeband zugepappt und später das Tape wieder abgerissen. Als er gefunden wurde, war sein Mund jedenfalls frei. Vielleicht sollte es nach Selbstmord aussehen. Das Klebeband wurde zumindest bisher noch nicht gefunden.«

»Wenn es nach Selbstmord aussehen sollte, hätte der Täter doch auch die Handschellen entfernt.«

»Vielleicht wurde er gestört.«

»Oder jemand wollte ihn zum Sprechen bringen, bevor er ihm den Todesstoß gegeben hat.«

Nachdenklich betrachtete Garcia die Leiche. Fast unhörbar murmelte er vor sich hin: »Was hattest du wohl zu beichten?«

Dann wandte er sich wieder Lucia zu: »Wer hat den Toten gefunden?«

In diesem Moment hörten sie ein lautes Aufschluchzen. Lucia deutete in die Richtung, aus der das Geräusch kam. »Seine Ehefrau. Sie hockt in der Küche. Die Kollegen von der Streife sind bei ihr.«

Garcia rappelte sich etwas schwerfällig auf. »Ich sollte wieder regelmäßig joggen gehen«, dachte er. Dann ging er Richtung Küche.

Das Erste, was er von Frau Hartmann erblickte, waren die hellroten Haare, die aussahen, als wären sie über den Küchentisch ausgebreitet worden. Die Frau des Toten hatte ihren Kopf auf der Tischplatte in die Arme vergraben, und ihr ganzer Körper wurde von ruckhaften Schluchzern geschüttelt. Neben ihr saß eine Polizistin in Uniform und blickte hilflos zu ihrem Kollegen, der etwas abseits an der Anrichte lehnte. Beide waren sichtlich erleichtert, als Garcia den Raum betrat und ihnen signalisierte, er werde sich um die Dame kümmern.

Frau Hartmann hob langsam den Kopf und blickte Garcia mit ihren hellen grünen Augen an, völlige Leere im Blick. »Das wird Zeit kosten«, dachte Garcia. »Die Frau ist ja völlig aufgelöst.« Umso erstaunter war er, als das Schluchzen abrupt aufhörte, die Frau sich gerade aufsetzte, sich mit dem Taschentuch, das die Polizistin ihr gereicht hatte, die Augen trocknete und Garcia höflich die Hand reichte.

»Dolores Hartmann.«

»Alexander Garcia, Hauptkommissar bei der Kripo München. Frau Hartmann, mein ehrliches Beileid.«

»Danke.« Zu seinem Erstaunen klang Dolores Hartmanns Stimme ruhig und beherrscht.

»Interessante Frau«, dachte Garcia. »Als steckten zwei verschiedene Persönlichkeiten in ihr. Als könne sie ihre Gefühle auf Knopfdruck deaktivieren.«

»Frau Hartmann«, begann er, »ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen. Meine Kollegin sagte mir, Sie hätten Ihren Mann gefunden. Ich wäre Ihnen trotzdem sehr dankbar, wenn Sie mir ein paar kurze Fragen beantworten könnten.«

Dolores Hartmanns Miene verriet keinerlei Gemütsregung, und sie nickte fast unmerklich.

»Erlauben Sie?«

Garcia setzte sich ihr gegenüber an den Küchentisch und begann behutsam mit der ersten Befragung der rothaarigen Witwe.

Als Garcia in dieser Nacht heimkam, war es schon gegen halb drei Uhr morgens. Der unberührte Zettel auf dem Küchentisch und ein Blick in Gretas Zimmer bestätigten ihm, dass diese sein Gehen gar nicht bemerkt hatte. Garcia wusste, dass es jetzt keinen Sinn hatte, sich hinzulegen, zu aufgewühlt war er von all den Eindrücken. Er setzte sich an den Küchentisch, holte seinen Notizblock hervor, den er bei der Befragung der Witwe nicht verwendet hatte, um das Ganze nicht zu sehr nach einem Verhör aussehen zu lassen, und schrieb sich Stichpunkte auf. Das diente vor allem zur Beruhigung seiner Nerven, denn er hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis und Gespräche konnte er auch nach Wochen noch fast wörtlich wiedergeben. Nach etwa einer Stunde hatte er seine Gedanken so weit sortiert, dass er genügend Müdigkeit verspürte, um schlafen zu gehen. Bevor er den Block zuklappte, warf er noch einmal einen Blick auf seine Notizen. Der letzte Satz lautete: Wo lag das besondere Ereignis im Vorfeld der Tat?

Diese Dunkelheit macht ihr Angst. So eine tiefe, bodenlose Dunkelheit hat sie noch nie erlebt. Die Augen können sich nicht an sie gewöhnen, denn von nirgendwoher dringt Licht. Es bleibt einfach schwarz. Tiefschwarze Nacht. Oder tiefschwarzer Tag. Sie weiß es nicht mehr. Sie hat die Stunden nicht gezählt, seit sie hierher gebracht wurde. Sie kann nicht schreien. Sie kann nicht weinen. Und mittlerweile kann sie auch nicht mehr beten. Sie kauert in einer Ecke, in der Hocke, kaut an ihren Nägeln und wiegt sich endlos von einem Fuß auf den anderen wie ein Tier in Gefangenschaft. Und sie wartet. Wartet, wie ein Tier, das den Schritt seines Wärters sofort erkennt, wartet auf den Schritt des Knochenmanns. Und dann hört sie ihn. Erst von fern, dann lauter und lauter, nähert sich der dumpfe Rhythmus des Knochenmanns. Sie hört auf, sich zu wiegen. Sie ist wie gelähmt. Wenn sie könnte, würde sie auch aufhören zu atmen. Aber stattdessen geht ihr Atem rascher und rascher. Sie möchte schreien. Aber sie kann nicht mehr schreien. Sie kann nicht mehr weinen. Sie hat keine Gebete mehr.

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