Nachtsplitter - Maja von Vogel - E-Book

Nachtsplitter E-Book

Maja von Vogel

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Beschreibung

Ein Filmriss mit fatalen Folgen Eigentlich wollte Jenny beim Rockfestival nur ein bisschen Spaß mit ihren Freunden haben. Doch dann wacht sie mitten in der Nacht halbnackt in einem fremden Auto auf – und kann sich an nichts erinnern. Was ist passiert? Und gibt es irgendeinen Zusammenhang mit dem tödlichen Unfall, der sich auf der angrenzenden Autobahn ereignet hat? Als Jenny nachforscht, kommt die ganze schreckliche Wahrheit ans Licht.   Aus der Reihe ›dtv pocket crime‹

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Seitenzahl: 228

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Maja von Vogel

Nachtsplitter

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe 2011© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40752-6 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-78254-8Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/​ebooks

Es passierte völlig unerwartet. Nichts hatte darauf hingedeutet. Alles war in Ordnung gewesen.

Die Autobahn war nicht besonders voll, das Fahren ging fast wie von selbst. Das Radio dudelte leise vor sich hin und sie summte mit, während sie das Fenster ein wenig herunterkurbelte. Durch den Spalt wehte die Nachtluft herein, die immer noch warm war und nach Sommer, abgeriebenem Gummi und Abgasen roch. Es war ein heißer Tag gewesen. Heiß und lang, doch bald waren sie zu Hause.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel. Lena schlief. Ihr Kopf war zur Seite gesunken, die langen Haare verdeckten ihr schmales Gesicht. Sie war völlig erschöpft. Kein Wunder, es war viel später geworden, als sie geplant hatte. Eigentlich hatten sie zum Abendessen wieder zu Hause sein wollen, aber dann war es so nett gewesen bei Cora und Holger auf der Terrasse.

Im Radio begann ein neuer Song. Es war ein Sommerhit aus dem letzten Jahr, den sie immer sehr gern gehört hatte. Leise sang sie mit. Lena murmelte etwas im Schlaf. Ein Schild kündigte die Ausfahrt an. Sie setzte den Blinker, wechselte von der mittleren auf die rechte Spur. Gleich waren sie zu Hause.

In diesem Moment sah sie den Schatten, der wie ein unheilvoller Komet auf sie zuraste. Dann zerbarst die Nacht. Ein lauter Knall, der ihr Trommelfell zerschnitt und die Luft aus ihren Lungen quetschte. Die Dunkelheit vor der Windschutzscheibe zersplitterte in tausend Scherben. Sie schrie auf, riss das Lenkrad herum. Wie in Zeitlupe drehte sich der Wagen einmal um die eigene Achse. Die Räder auf der Fahrerseite hoben ab, sie segelten auf die Leitplanke zu. Einen Moment schien das Auto der Schwerkraft zu trotzen, bevor es gegen die Leitplanke krachte.

Ein letzter Gedanke zuckte wie ein stummer Schrei durch ihren Kopf.

Lena!

Dann wurde es dunkel.

Inhalt

Samstag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Sonntag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Montag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Dienstag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Donnerstag

Sonntag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Mittwoch

Kapitel 1

Kapitel 2

Zwei Wochen später, Samstag

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Samstag

1

»Wie sehe ich aus?« Pia betrachtete sich kritisch in dem großen Spiegel an meiner Zimmerwand.

»Super«, sagte ich. »Wie immer.«

Pia fuhr sich mit allen zehn Fingern durch ihre langen, blonden Haare und seufzte. »Wenn meine Haare bloß nicht immer so platt herunterhängen würden. Sie haben überhaupt kein Volumen.«

»Stimmt.« Ich verzog keine Miene. »So kannst du echt nicht auf die Straße gehen.«

Ich kannte Pia fast so gut wie mich selbst. Sie wusste genau, dass sie super aussah. Ihr ständiges Gejammer über ihre Haare, ihre (perfekte) Figur und ihre (angeblich) zu große Nase war reine Show. Fishing for compliments. Aber bei mir fischte sie vergeblich. Ich tat ihr schon lange nicht mehr den Gefallen zu widersprechen.

Pia boxte mich in die Seite. »Ekel!«

Ich grinste und hielt ihr die Sektflasche hin. »Trink lieber noch was, Vogelscheuche.« Pia griff nach der Flasche und nahm einen großen Schluck.

Das war unser Ritual. Wir gingen fast jeden Samstag aus. Ins Rock Café, die einzige Disco der Stadt, die halbwegs akzeptable Musik spielte, auf Partys oder Konzerte. Vorher trafen wir uns bei Pia oder mir, stylten uns und tranken Sekt. Vorglühen nannte Pia das.

Sie gab mir die Flasche zurück. Ich setzte sie an die Lippen und ließ den letzten Rest lauwarmen Sekt meine Kehle hinunterlaufen. Dann zückte ich mein Handy und filmte unser Spiegelbild. Ich hatte eine Weihnachtsbaum-Lichterkette um den Spiegel drapiert und die vielen kleinen Glühbirnen leuchteten wie Sterne vor der dunkelgrauen Wand. Sie waren die einzige Lichtquelle im Zimmer, abgesehen von den Kerzen, die in einem zweiarmigen Leuchter auf der Fensterbank flackerten. Den Leuchter hatte ich vom Flohmarkt. Er war alt und angelaufen, aber ich mochte die schnörkeligen Verzierungen, die sich seinen Fuß hinaufrankten, und die Vorstellung, dass er schon vielen Menschen vor mir Licht gespendet hatte.

Auf dem Display meines Handys erschienen zwei Mädchen, ein blonder Engel und eine Schwarzhaarige mit blassem Gesicht und dunkel umrandeten Augen. Pia und ich. Früher hatten wir einander ziemlich ähnlich gesehen, aber seit ich vor zwei Jahren damit angefangen hatte, mir die Haare zu färben, und Schwarz zu meiner Lieblingsfarbe erklärt hatte, war eine Verwechslung absolut ausgeschlossen. Mir gefiel das dunkelhaarige Mädchen auf dem Display. Es sah cool aus. Und irgendwie unnahbar.

Schwenk durch mein Zimmer. Der kleine Schreibtisch, auf dem sich lauter Schulkram neben meinem alten, zerkratzten Laptop stapelte. Die Matratze auf dem Boden mit den vielen Kissen und dem schwarzen Bettzeug. Der abgeschabte Teppichboden (kackbraun), von dem man glücklicherweise nicht viel sah, weil ich schwarze Flokati-Teppiche darübergelegt hatte. Die grauen Wände (selbst gestrichen), die meine Mutter absolut furchtbar fand. Ihrer Meinung nach verwandelten sie mein Zimmer in eine dunkle Höhle. Dass ich genau das damit bezweckt hatte, ging ihr einfach nicht in den Kopf. Das Bücherregal, vollgestopft mit alten Kinderbüchern, Krimis, Romanen und zerfledderten Comics. Zwischen den Bücherstapeln ein paar Fotos in silbernen Rahmen. Pia und ich beim Karneval vor fünf Jahren. Sie als Prinzessin, ich als Seeräuber. Markus mit Dreitagebart und hellblauen Augen, die von selbst zu leuchten scheinen. Mein Vater, der mich auf den Schultern trägt und dabei lacht, als würde er mein Gewicht gar nicht spüren. Seine Hände um meine schmalen Knöchel in geringelter Strumpfhose.

Schwenk zurück. Pia zog noch einmal ihre Lippen nach, zupfte ihr durchscheinendes Spitzentop zurecht und warf mir im Spiegel eine Kusshand zu. »Auf geht's. Jetzt erobern wir die Nacht!«

Der blonde Engel verschwand, nun blickte mich nur noch die Dunkelhaarige vom Display aus an. Ich lächelte ihr zu, sie lächelte zurück. »Wir werden heute jede Menge Spaß haben«, versprach ich ihr, bevor ich das Handy in die Tasche steckte.

2

Pia schwankte leicht, als sie vor mir die schmale Treppe hinunterging. Im Erdgeschoss schlüpfte ich schnell in meine Chucks und griff nach der abgewetzten Jeansjacke, die auf dem Stuhl neben der Garderobe lag.

Meine Mutter war nicht da. Sie hatte Spätschicht und würde frühestens um halb elf zurück sein. Was gut war, denn sie wäre von meiner Sektfahne alles andere als begeistert gewesen. Sie hasste es, wenn ich trank. Wahrscheinlich hatte sie im Krankenhaus zu viele Kids mit Alkoholvergiftung behandelt. Dass ich alt genug war, um meine eigenen Entscheidungen zu treffen, drang nur ganz allmählich in ihr Bewusstsein.

Auf dem Weg zur Tür musste ich aufstoßen. Saurer Sektgeschmack stieg meine Kehle hinauf und ich hielt mir automatisch die Hand vor den Mund. Pia schwang sich kichernd ihren Rucksack über die Schulter.

»Ups!« Ich kramte in meinen Taschen nach einem Kaugummi. Stattdessen fand ich ein altes, leicht verklebtes Pfefferminzbonbon und steckte es in den Mund. »Kann losgehen.«

Ich löschte das Licht und wir verließen das Haus.

Es dämmerte, als wir uns auf unsere Räder schwangen und losradelten. Es war immer noch sehr warm, doch der Fahrtwind brachte zumindest ein bisschen Kühlung. Er wehte meine Haare nach hinten und blies meinen schwarzen Falten-Minirock hoch. Ein paar Jungs, die uns auf dem Bürgersteig entgegenkamen, pfiffen anerkennend. Ich ignorierte sie.

Wir fuhren langsam, obwohl wir spät dran waren. Markus würde bestimmt schon warten, aber das machte mir nichts. Falls ich deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt hatte, war es in einer Mischung aus lauwarmem Sekt und Partylaune ertrunken. Außerdem war es einfach zu schwül, um sich zu beeilen.

Pia atmete tief ein. »Diese Nacht riecht nach jeder Menge Party, Spaß und Sex! Ich muss heute unbedingt einen Typen klarmachen, sonst sterbe ich.«

»Paul?«, fragte ich, während die Häuser in Zeitlupe an uns vorbeizogen. Aus den geöffneten Fenstern drangen Stimmen, Fernsehgeräusche und der Geruch nach Bratkartoffeln mit Speck. Irgendjemand hörte Volksmusik. Für einen Moment hatte ich das seltsame Gefühl, durch eine Theaterkulisse zu fahren.

Pia verzog das Gesicht. »Quatsch! Mit Paul wird's allmählich langweilig. Außerdem scheint er die falschen Schlüsse zu ziehen. Er hat letzte Woche dreimal versucht, mich anzurufen. Denkt er, wir wären jetzt zusammen oder so was, bloß weil wir ein paarmal im Bett gelandet sind?«

Pia hatte noch nie eine längere Beziehung gehabt. Dafür aber jede Menge Sex. Sie schleppte fast jedes Wochenende einen anderen Typen ab. Dass ihre Wahl mehrmals hintereinander auf denselben fiel, war die absolute Ausnahme. Im Vergleich dazu war mein Liebesleben ziemlich langweilig. Markus und ich waren seit einem halben Jahr zusammen. Erst lief es ganz gut, doch seit einer Weile kriselte es. Das anfängliche Kribbeln, das ich in seiner Gegenwart ständig gespürt hatte, machte sich immer seltener bemerkbar, dafür stritten wir uns umso öfter. Ich hatte mich sogar schon gefragt, warum ich überhaupt noch mit Markus zusammen war. Ich schob den Gedanken schnell beiseite, bevor ich schlechte Laune bekam.

»Warum probierst du's nicht mal ernsthaft mit Paul?«, fragte ich. »Ich finde ihn echt nett.« Ich wich einer dicken, getigerten Katze aus, die am Ortsrand majestätisch über die Straße stolzierte.

Pia zog einen Schmollmund. »Ja, echt nett und echt langweilig. Im Bett hat er auch nicht besonders viel drauf. Letztes Mal bin ich fast dabei eingeschlafen. Was ich jetzt dringend brauche, ist Abwechslung.«

Wir hatten den Ort verlassen und fuhren auf einem asphaltierten Radweg zwischen den Feldern hindurch in Richtung Autobahn. Wir waren nicht die Einzigen. Vor und hinter uns waren kleinere und größere Gruppen von Leuten unterwegs, zu Fuß oder auf Fahrrädern. Alle strömten in eine Richtung. Zum Blauen See, einem kleinen Baggerloch im Wald auf der anderen Seite der Autobahn. Dort fand heute das alljährliche Rock am See-Festival statt. Es war der Höhepunkt des Sommers, die letzte Gelegenheit, ausgiebig zu feiern, bevor die Schule und der Lernstress wieder richtig losgingen. Bevor die Tage kürzer wurden und der Herbst begann.

Dieses Schuljahr würde hammerhart werden. Die letzte Versetzung hatte ich nur knapp geschafft. Ich war in der Fünften schon einmal sitzen geblieben, eine weitere Ehrenrunde konnte ich mir nicht leisten. Noch etwas, woran ich heute nicht denken wollte.

Als wir über die Autobahnbrücke radelten, wehte der Wind Musik zu uns herüber. Gitarre und Schlagzeug. Die erste Band spielte bereits. Ich wollte diesen Abend unbedingt genießen. Noch einmal so richtig durchstarten, bevor am Montag der Ernst des Lebens wieder losging.

Das war zumindest der Plan.

3

»Da seid ihr ja endlich!«

Markus lehnte am Schlagbaum, der den Beginn des Festivalgeländes markierte. Er schnippte seine Zigarette in den Sand und kam auf uns zu. Er trug das dunkelbraune Tomte-Tour-T-Shirt, das ich ihm als Erinnerung an unser erstes gemeinsames Konzert zum Geburtstag geschenkt hatte, und seine löchrige Lieblingsjeans. Seine Augen lächelten, als er mich sah, und ich bekam nun doch noch ein schlechtes Gewissen. Er war kein bisschen sauer, weil ich ihn hatte warten lassen. Wie immer.

Ich bremste und stieg vom Rad. »Sorry, ist etwas später geworden.«

»Wir mussten uns erst noch hübsch machen.« Pia kicherte.

Markus stand jetzt direkt vor mir. Er strich mir eine leicht verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn und fuhr mit dem Finger meinen Hals entlang. »Du siehst toll aus.« Er küsste mich. Es schmeckte nach Tabak und Pfefferminzkaugummi. So vertraut und doch irgendwie schal. Seit wann eigentlich?

Sein Mund hatte mir gleich gefallen. Er war ziemlich groß, mit prallen, sanft geschwungenen Lippen. Der ideale Kussmund, hatte ich gedacht, als ich Markus zum ersten Mal ins Gesicht sah. Das war vor einem Dreivierteljahr auf einem Konzert im Alten Schlachthof gewesen. Rock und Punk von verschiedenen Newcomer-Bands. Die meisten ziemlich schlecht, es war kein besonders toller Abend gewesen. Pia und ich wollten gerade gehen, als Markus mich anrempelte. Sein Bier schwappte auf meine Jeans. Ich war ziemlich sauer. Er entschuldigte sich ungefähr tausendmal und bestand darauf, mir und Pia als Entschädigung etwas zu trinken auszugeben. Ich hatte eigentlich keine Lust, aber Pia war sofort Feuer und Flamme. Kein Wunder, Markus passt genau in ihr Beuteschema. Groß, blonde Wuschelhaare, Koteletten, Dreitagebart. Und dann noch der Kussmund und seine tollen blauen Augen. Wenn er einen damit ansieht, ist das, als würde einem die Sonne ins Gesicht scheinen. Warm, angenehm, einfach ein rundum gutes Gefühl.

Pia baggerte Markus nach allen Regeln der Kunst an, während ich etwas gelangweilt danebenstand. Aber er ging überhaupt nicht darauf ein. Er schien immun gegen Pias Charme zu sein und das kommt wirklich nicht oft vor. Statt mit meiner besten Freundin zu flirten, wollte er wissen, was ich für Musik höre. So fing alles an.

»Ihr habt noch nichts verpasst«, sagte Markus. Seine Hand lag auf meiner Hüfte. »Die erste Band hat gerade erst angefangen.«

»Na dann, nichts wie rein ins Vergnügen!« Pia marschierte sofort los.

Wir schoben unsere Fahrräder ein Stück den Sandweg entlang, lehnten sie an einen Baum und ketteten sie aneinander. Der Wald war voller Fahrräder, sie standen überall herum wie die Objekte eines seltsamen Kunstprojekts.

Der Festivalplatz war erst zur Hälfte gefüllt. Vor der Bühne hatte sich ein kleiner Pulk gebildet, vermutlich eingefleischte Fans der Band, die sich dort gerade abmühte. Sie spielten Coverversionen von AC/DC und das nicht einmal schlecht. Trotzdem kam keine richtige Stimmung auf. Die meisten Besucher warteten auf die Haupt-Acts des Abends und hielten sich bis dahin in der Nähe der Getränkebuden auf.

»Wollt ihr was trinken?«, fragte Markus über die Musik hinweg. Sein Arm lag locker auf meinen Schultern, während wir über den Platz schlenderten. Ich unterdrückte den Impuls, ihn abzuschütteln.

Anfangs hatte mir das gefallen. Händchen halten, Arm in Arm durch die Gegend laufen, eng aneinandergeschmiegt, sodass jeder sehen kann, dass man zusammengehört. Zu zweit sein, nicht mehr allein. In Sicherheit. Jetzt nervte mich dieses Beziehungsgetue immer öfter. Vielleicht machte mich zu viel Nähe einfach aggressiv.

»Für mich ein Bier«, sagte Pia.

»Okay.« Markus nahm den Arm von meiner Schulter und ich atmete sofort wieder freier. »Und für dich?«

»Dasselbe.«

Er verschwand zwischen den Leuten, die den nächstgelegenen Getränkestand umlagerten. Die Sommernacht senkte sich sanft über den Platz. AC/DC schepperte aus den Boxen. Es roch nach Fichtennadeln, trockener Erde und Gras. Nach der langen Hitzeperiode war der Boden hart und rissig. Ein dünner Staubfilm hatte sich auf meine Chucks gelegt. Selbst die hohen Fichten, die den Platz umgaben, sahen grau aus. Irgendwo hinter den Bäumen lag der See. Plötzlich sehnte ich mich nach seinem kühlen, klaren Wasser, das alles abwaschen würde. Den Staub, die leicht melancholische Stimmung, die mich gerade überkam, und den schalen Nachgeschmack von Markus' Kuss.

»Mann, hier ist ja noch überhaupt nichts los«, stellte ich fest.

Die angenehme Benommenheit vom Sekt, die ich zu Hause noch gespürt hatte, war verflogen. Der Fahrtwind hatte sie aus meinem Kopf gepustet. Ich freute mich auf ein kühles Bier.

Pia nickte. »Und die Band ist auch scheiße. Siehst du irgendwen?« Sie schaute sich suchend um.

Ich schüttelte den Kopf. Lauter unbekannte Gesichter leuchteten mir aus dem Blau der Nacht entgegen. Dabei war bestimmt unsere halbe Schule hier.

»Shit!« Pia duckte sich plötzlich und suchte hinter mir Deckung.

»Was ist denn?«

»Da vorne ist Paul mit seinen Kumpels«, zischte Pia. »Sie kommen direkt auf uns zu. Lass uns abhauen!« Sie griff nach meinem Arm und zerrte mich auf die andere Seite des Getränkestands.

Ich machte mich mit einer schnellen Bewegung los. »Was soll das?«

»Puh, das war knapp.« Pia tat so, als wäre sie gerade einem Killer-Kommando entwischt. »Wenn Paul mich sieht, werde ich ihn bestimmt den ganzen Abend nicht mehr los. Der Typ ist die reinste Klette. Darauf hab ich echt keine Lust.«

»Willst du jetzt etwa ständig vor ihm weglaufen?«, fragte ich. »Das ist doch albern!«

»Nur so lange, bis er checkt, dass ich nichts von ihm will.«

»Warum redest du nicht einfach Klartext mit ihm? Das wäre wesentlich einfacher, als jedes Mal die Flucht zu ergreifen, wenn er irgendwo auftaucht.«

»Hey, ist das da hinten nicht Jakob?« Pia reckte den Hals, um einen Blick über den Pulk von Mittzwanzigern zu werfen, die neben uns standen und sich mit ihren Plastikbechern voller Bier zuprosteten. Wahrscheinlich Studenten aus einer der umliegenden Uni-Städte. Das Festival zog nicht nur Leute aus unserem Ort an, sondern aus der gesamten Region und darüber hinaus.

»Lenk nicht ab!«, sagte ich vorwurfsvoll.

Das war typisch Pia. Mit unangenehmen Themen brauchte man ihr nicht zu kommen. Sie ging Konflikten genauso geschickt aus dem Weg wie Gesprächen, auf die sie keine Lust hatte.

»Das ist er, eindeutig.« Pia grinste, ohne auf meine Bemerkung einzugehen. »Ich glaube, heute ist mein Glückstag.«

Sie ließ mich stehen, schlängelte sich durch die Menge und tippte einem hochgewachsenen Typ auf die Schulter. Als er sich umdrehte, erkannte ich ihn auch. Jakob Irgendwas, der Neue aus unserer Klasse. Vorgestern hatte Herr Mertens ihn mitgebracht und als »neues Mitglied unserer Klassengemeinschaft« vorgestellt. Jakob hatte neben ihm gestanden und keine Miene verzogen. Er war weder rot geworden noch hatte er zu Boden geschaut. Er hatte uns einfach gemustert, einen nach dem anderen, ohne große Neugier. Dann hatte er sich auf dem einzigen freien Platz rechts von mir niedergelassen und seitdem kaum mehr als drei Worte von sich gegeben. Die Versuche einiger Mädels, in der Pause mit ihm Kontakt aufzunehmen und ihn ein bisschen auszufragen, hatte er allesamt höflich, aber bestimmt abgeblockt. Niemand wusste, woher er kam, was ihn hierher verschlagen hatte und warum es scheinbar unter seiner Würde war, mit uns zu reden.

»Cooler Typ«, hatte Pia mir zugeraunt. Ich hatte das Glitzern in ihren Augen gesehen. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, wann sie es bei ihm versuchen würde. Jetzt war offenbar der richtige Moment gekommen. Kurz erwog ich, eine Wette mit mir selbst darüber abzuschließen, ob Pia es schaffen würde, bei Jakob zu landen, oder nicht. Doch da ich ihre Chancen absolut nicht einschätzen konnte, ließ ich es bleiben.

Ich sah, wie Pia Jakob ansprach. Sie lächelte, seinen Gesichtsausdruck konnte ich nicht deuten. Er schien überrascht zu sein, aber nicht wirklich begeistert. Eher amüsiert. Pia zeigte zu mir, legte den Kopf schief. Sie griff nach seinem Arm, er folgte ihr. Sie gaben ein schönes Paar ab. Er war einen Kopf größer als sie, eher drahtig als muskulös, die dunklen Haare nachlässig mit etwas Gel gestylt. Sie tänzelte wie eine blonde Elfe vor ihm über den staubigen Platz, zwischen den Festivalbesuchern hindurch, die allmählich etwas zahlreicher wurden.

»Sieh mal, wen ich getroffen habe!«, rief Pia aufgedreht.

»Hallo«, sagte Jakob.

Ich nickte ihm zu. »Hi. Ich bin Jenny.«

»Ich weiß.«

Während Jakobs Blick auf mir ruhte, fielen mir zum ersten Mal seine Augen auf. Sie waren dunkel und matt wie schwarzes, unpoliertes Glas. Als würden sie das Licht aufsaugen.

Markus erschien neben mir. »Da seid ihr ja! Ich hab euch schon überall gesucht. Verdammt voll am Getränkestand.« Er verteilte Plastikbecher mit Bier an Pia und mich.

»Das ist Jakob«, sagte Pia. »Er ist neu in unserer Klasse.«

»Tatsächlich?« Markus musterte Jakob mit einem schnellen Blick, während er demonstrativ den Arm um meine Hüfte legte und seine Finger unter meinen Nietengürtel schob. »Hast du mir gar nicht erzählt.«

»Hab ich wohl vergessen.« Ich war plötzlich genervt. Was sollte dieses besitzergreifende Getue? Ich konnte es nicht leiden, wenn Markus mich wie sein Eigentum behandelte. Ich machte einen Schritt zur Seite, sodass er mich loslassen musste, trank einen Schluck Bier und tat so, als würde ich sein Stirnrunzeln nicht bemerken. Das Bier war lauwarm und schmeckte abgestanden. Trotzdem tat der bittere Geschmack auf der Zunge gut.

»Markus.« Markus schüttelte Jakobs Hand. »Und? Wie gefällt's dir hier so?«

Jakob zuckte mit den Schultern. »Kann ich noch nicht sagen. Wir sind erst vor einer Woche hergezogen.«

»Wo hast du denn vorher gewohnt?«, wollte Pia wissen.

»In Süddeutschland. Ein kleines Kaff in der Nähe von Rosenheim, kennst du bestimmt nicht.«

»Ist dein Vater versetzt worden?«, fragte Pia weiter. Ich musste beinahe grinsen. Pia konnte ziemlich hartnäckig sein. Aber Jakob ließ sich nicht so leicht aushorchen.

»So was Ähnliches«, antwortete er knapp.

»Na dann – darauf, dass du dich schnell bei uns einlebst.« Markus hob seinen Becher. »Prost!«

Wir stießen an und tranken. Die Band hatte ihren Auftritt inzwischen beendet und war in den Backstagebereich verschwunden. Eine Handvoll Fans stand noch vor der Bühne, klatschte und pfiff hartnäckig. Aber offenbar war keine Zugabe geplant. Gedudel vom Band setzte ein, angenehm leise nach dem Heavy-Metal-Sound. Der Andrang an den Getränkebuden nahm zu, weil sich alle in der Pause mit Bier versorgen wollten. Grölende Festivalbesucher schoben sich an uns vorbei und ich machte noch einen Schritt zur Seite, um nicht angerempelt zu werden.

Markus unterbrach das kurze Schweigen, das sich zwischen uns ausgebreitet hatte. »Hoffentlich ist die nächste Band besser.«

»Wer spielt denn gleich?«, fragte Pia.

Markus zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Hosentasche. »Jumping Fish. Kenn ich nicht. Aber danach spielt XXL, die will ich unbedingt sehen. Die sollen richtig gut sein.« Er steckte den Zettel wieder weg.

»Jetzt wird sowieso erst mal umgebaut«, sagte Pia. »Sollen wir woanders hingehen, bis die nächste Band anfängt? Vielleicht ist nachher mehr los.«

Markus warf mir einen fragenden Blick zu. Ich zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.« Im Grunde war es mir ziemlich egal, wo wir herumhingen.

»Kommst du mit?« Pia sah Jakob von der Seite an.

Er zögerte kurz und ich ging davon aus, dass er Nein sagen würde. Doch dann nickte er. »Okay.«

Wir liefen den Sandweg durch den Wald zurück bis zur Autobahnbrücke. Der Weg war nicht beleuchtet. Die Lichter vom Festivalplatz verblassten allmählich und silbrig weißes Mondlicht sickerte zwischen den Bäumen hindurch. Uns kamen jede Menge Leute entgegen. Nachher würde definitiv mehr los sein. Vielleicht kam dann endlich richtig Stimmung auf. Bisher war der Abend ziemlich lau verlaufen.

4

Wir hingen auf der Autobahnbrücke herum und schlugen die Zeit tot. Ich saß neben Pia auf dem Asphalt, das Geländer im Rücken. Genau genommen war es hier genauso öde wie auf dem Festivalplatz, aber das störte niemanden. Das Bier war längst alle. Pia zog etwas aus ihrem Rucksack.

»Seht mal, was ich hier habe!« Sie schwenkte eine Weinflasche. »Der gute Lambrusco vom Supermarkt. Möchte jemand einen Schluck?«

Sie öffnete den Schraubverschluss und reichte mir die Flasche. Ich trank als Erste, dann gab ich den Wein an Jakob weiter, der neben mir am Geländer lehnte. Markus und er rauchten und unterhielten sich über Belanglosigkeiten. Machten dumme Witze, redeten ein bisschen über Musik, Filme und Fußball. Bildeten Silben, Wörter und Sätze, ohne wirklich etwas zu sagen. Ich hörte nur mit halbem Ohr zu. Trotzdem registrierte ich, dass Jakob nicht viel von sich preisgab. Er ließ hauptsächlich Markus reden. Markus' Stimme klang weich, die Wörter aus seinem Mund verwaschen. Wie immer, wenn der Alkohol zu wirken begann. Meistens wurde er irgendwann furchtbar rührselig, schwor mir ewige Liebe und versicherte immer wieder, dass ich seine absolute Traumfrau sei. Ich wusste jetzt schon, dass ich heute keine Lust darauf hatte.

Ich zog mein Handy heraus und filmte den grauen Asphalt, auf dem ich saß. Das Geländer gegenüber, dahinter die Autobahn. Weiße und rote Lichter in der Dunkelheit, die näher kamen und sich wieder entfernten. Es war nicht viel Verkehr. Schwenk zu Pia. Ihr blasses Engelsgesicht sah im grellen Neonlicht der Brückenbeleuchtung etwas kränklich aus. Der tropfenförmige Anhänger an ihrem Silberkettchen hob sich dunkel von ihrem Hals ab. Sie winkte und machte einen Kussmund. Dann flüsterte sie mir zu: »Was hältst du von Jakob? Der ist doch süß, oder?«

Ich zuckte mit den Schultern. Süß war eindeutig das falsche Wort. Unnahbar traf es eher. Er legte es offenbar darauf an, geheimnisvoll zu wirken. Vielleicht war das seine Masche.

»Ich finde ihn eher distanziert. Und ziemlich arrogant.« Ich filmte Pias Gesicht, während ich sprach. »Vielleicht steht er nicht auf Mädchen.«

Sie kicherte. »Das werde ich schon noch herausfinden, keine Sorge.« Ihre Augen glitzerten siegessicher. Ich kenne niemanden, der so viel Selbstvertrauen hat wie Pia. Sie kriegt alles, was sie will. Normalerweise jedenfalls.

Ich filmte, wie Pia aufstand und zu den Jungs hinüberging. »Hast du vielleicht eine Zigarette für mich?«, fragte sie Jakob.

»Klar.« Er zog eine Zigarettenschachtel aus seiner abgewetzten Lederjacke und hielt sie Pia hin. Pia bediente sich. Normalerweise raucht sie nicht. Nur, wenn sie betrunken ist oder Eindruck auf einen Typen machen will. An diesem Abend traf beides zu. Sie ließ sich von Jakob Feuer geben, inhalierte tief und blies Jakob den Rauch ins Gesicht. Er sah sie an und ich hätte zu gern gewusst, was er dachte.

Schwenk zu Pia. Sie warf ihre Haare über die Schulter zurück. »Hast du hier schon ein paar Leute kennengelernt?«

»Nicht wirklich.« Jakob klang nicht so, als würde er es bedauern.

»Du bist eher der Einzelgänger-Typ, stimmt's?« Pia lächelte. »Das gefällt mir.«

»Tatsächlich?« Jakob zog eine Augenbraue hoch.

Pia nickte langsam. »Tatsächlich.«

Aus der Ferne ertönte das monotone Hämmern eines Schlagzeugs. Die nächste Band hatte mit dem Soundcheck begonnen.

Pia zog noch einmal an ihrer Zigarette, dann schnippte sie sie über die Brüstung. Ein rot glühender Punkt, der immer kleiner wurde, bis er irgendwo in der Dunkelheit auf dem harten Asphalt der Autobahn landete. »Scheint gleich weiterzugehen«, stellte sie fest. »Wollen wir zurück?«

»Ach was, das dauert bestimmt noch.« Meine Stimme aus dem Off. »Die brauchen doch immer ewig für den Soundcheck.« Ich hatte keine Lust aufzustehen.

»Genau.« Schwenk zu Markus. Er setzte sich neben mich. So dicht, dass sich unsere Schultern berührten und ich die Wärme seiner Haut spüren konnte. Das Bild wurde unscharf. »Wir bleiben noch ein bisschen hier.«

»Wie ihr wollt.« Pias Schulterzucken auf dem Display. Sie wandte sich an Jakob. »Kommst du wenigstens mit? Oder willst du mich alleine durch den dunklen Wald gehen lassen?«

»Natürlich nicht.« Jakobs Augen funkelten spöttisch. »Du könntest dich schließlich verirren und von wilden Tieren gefressen werden.«

»Genau.« Pia zwinkerte mir zu. Sie war sich ihrer Sache sehr sicher. »Und ihr zwei treibt's nichts zu bunt, okay? Wir sehen uns später.«

Pia und Jakob gingen davon. Ich filmte, wie ihre Hand beiläufig die seine streifte. Als die beiden Silhouetten in der Dunkelheit verschwunden waren, beendete ich die Aufnahme und steckte das Handy ein.

»Möchtest du Wein?« Ich hielt Markus die Flasche hin, die neben mir auf dem Boden stand. Sie war noch halb voll.

Er schüttelte den Kopf. Ich nahm einen Schluck und stellte die Flasche wieder weg.

»Pia scheint ja ziemlich auf diesen Jakob abzufahren.« Markus grinste. »Ich wette, zwischen den beiden läuft heute noch was.«

»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Irgendetwas störte mich an der Vorstellung von Pia und Jakob, die sich im Wald zwischen Blättern und Moos wälzten. Ich wusste bloß nicht, was. Und dann entglitt mir der Gedanke auch schon mir wieder.