Nachtstimmen - Anne Amalia Herbst - E-Book

Nachtstimmen E-Book

Anne Amalia Herbst

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Beschreibung

"Du bist Teil meiner Schattenseele. Also höre ich deinen Ruf. Und antworte. Jederzeit." Irland – Banfhile-Cottage. Auf der Flucht vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens gerät Anne in die Vorbereitungen für ein magisches Ritual zur Wintersonnenwende. Ihre Geschichte soll sie erzählen, dann lassen die Bewohnerinnen des Cottage sie bei sich wohnen. Anne verwebt Erfundenes mit Erlebtem zu einer farbenprächtigen Liebesgeschichte über die Maid und ihren mysteriösen Darklord. Schnell verfällt sie dem charismatischen Italiener, als der sich die Spielfigur entpuppt ... und dann entwickeln die fantastischen Geschehnisse ihrer Geschichte nach und nach ein Eigenleben. Nachtstimmen ist der Auftakt zu einer erotischen Fantasy-Trilogie. Alles nur ein Traum? Mitnichten! Das Wissen um die Wahrheit ist höchst gefährlich, wenn man nicht mehr sicher sein kann, wer wirklich hinter den Kulissen alle Fäden von Annes Geschichte in der Hand hält.

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Inhaltsverzeichnis

Zitat

Impressum

Die Banfhile-Chroniken

Kapitel 1 - Die Flucht

Kapitel 2 - Tag 1 in Irland

Kapitel 3 – Annes Geschichte: 1. Akt

Kapitel 3a

Kapitel 4 – Tag 1 in Irland neigt sich dem Ende zu

Kapitel 5 – Tag 2 in Irland

Kapitel 6 – Annes Geschichte: 2. Akt

Kapitel 6a

Kapitel 7 – Tag 2 in Irland neigt sich dem Ende zu

Danksagung

Zwillingsseelen - Band 2 der Banfhile-Chroniken:

 

 

 

 

»Alle Menschen träumen, aber nicht alle gleich. Die in der Nacht in den staubigen Winkeln ihres Gehirns träumen, wachen am Tag auf und wissen, dass es nur Schäume waren; aber die Tagträumer sind gefährliche Menschen, denn sie können ihre Träume mit offenen Augen leben, um sie in die Tat umzusetzen.«

 

Lawrence von Arabien (1888–1935)

Impressum

 

Anne Amalia Herbst

Die Banfhile-Chroniken

Band 1

Nachtstimmen

 

ISBN eBooks:

978-3-946376-04-0 (ePub)

978-3-946376-05-7 (mobi)

978-3-946376-07-1 (Print)

 

Copyright © 2012 Erstfassung Anne Amalia Herbst, (Veröffentlichung Originalfassung: 15.12.2012)

© 2016 Lysandra Books Verlag (Neuauflage, überarbeitete Version)

Lysandra Books Verlag

Inh. Nadine Reuter

Overbeckstr. 39

01139 Dresden

www.lysandrabooks.de

 

Covergestaltung: © 2016 Traumstoff Buchdesign www.traumstoff.at.vu

Coverfoto: © 2012 Claudia Konerding, Bremen; Covermotive © Slava Gern und cerrophotography (shutterstock.com)

Lektorat überarbeitete Version 2016 / Satz: Lysandra Books Verlag

 

 

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Lysandra Books Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung - auch auszugsweise - durch Film, Funk, Fernsehen, elektronische Medien und sonstige öffentliche Zugänglichmachung.

 

Sämtliche Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

 

 

 

 

Die Banfhile-Chroniken

 

 

 

Nachtstimmen

 

 

 

 

 

 

Band 1

 

 

Ein erotischer Fantasy-Roman

von Anne Amalia Herbst

Kapitel 1 - Die Flucht

An einem Samstag Mitte Dezember 2012

 

»... eil dich, wir müssen fertig werden! Sie kann jeden Augenblick den Abzweig finden! Wir brauchen mehr von diesen Schwarzen in den nächsten Tagen ...«

Ich verstumme, als ich neben mir ein undeutliches Brummen zur Antwort erhalte, und prüfe die Konsistenz der pechschwarzen Masse im Kessel vor mir. Ein einladender Duft von Vanille zieht durch die Küche des Steinhauses und lässt mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Der Duft will nicht so richtig zu dem passen, was meine Augen im Schmelztiegel erblicken. Langsam verflüssigt sich der Klumpen.

Ich wende mich den anderen Töpfen zu. »Und schick die Druiden heim! Sie müssen fort sein, wenn sie ankommt!« Stehe in einer überhitzten Hexenküche inmitten duftender Yule-Plätzchen und Früchtebrot, umgeben von Mehl, Anis, Mandeln und Zimt. Klopfe den Gästen auf die gierigen Finger und gieße hastig die letzten Kerzen.

Einige sind bereits fertig abgekühlt und vorsichtig aus den Formen geklopft: Blockkerzen, weiße Sprenkel wie Schneeflocken auf schwarzem Untergrund, mit eingearbeiteten Rosenblättern in Weiß und Rot. Weiß für die Magie des Vollmondes, die Balance, Reinheit und Spiritualität. Schwarz für das symbolische Schließen von Türen, für das Loslassen von Verwirrung und Hader, für Schutz und Wahrheit. Rot für Feuer, für Willenskraft, Mut und Stärke. Und Leidenschaft. Die Zeichen der Göttin.

Von all dem werden wir in den nächsten Tagen mehr als genug brauchen. Also gieße ich noch ein paar mehr, als Vorrat. Man kann nie wissen; die Nächte der alten Welt sind lang und voller Überraschungen.

In der Mitte des massiven Holztisches steht das Meisterstück. Eine runde Kerze im Durchmesser eines Tellers, mit mehreren Dochten. Eine Mischung aus goldenem und silbernem Wachs, getrennt durch feine blaue, gelbe und orangefarbene Wachslinien. Im Fluss erstarrt, einander umarmend und umwerbend wie zwei Liebende. Als Krönung Einschlüsse von weißen Rosenköpfchen und Mistelzweigen. Mit einem leichten, unaufdringlichen Duft nach Zimt. Das Ergebnis einer einstündigen Zeremonie zweier Wicca-Meisterinnen. Gott und Göttin in perfekter Harmonie. Fertig zum Gebrauch. In der Nacht des Yule-Rituals ...

 

Italien, Rom

»... die Informationen sind eindeutig. Sie hat überstürzt das Land verlassen. Was sollen wir tun?« Hastig geflüsterte Worte in der relativen Dunkelheit des Beichtstuhls. Von draußen drang kein Wort herein, die Kirche war zu dieser Zeit nicht übermäßig besucht. Der perfekte Ort für ein informelles Treffen.

Durch das mit dichtem Flechtwerk versehene rechteckige Fenster sah sie im Kerzenschein den Schemen des Mannes auf der anderen Seite. Die Frau rückte in der Enge der Kabine ihre Kapuze zurecht und strich sich nervös eine Strähne des kupferblonden Haares hinters Ohr. Ihre Kniegelenke schmerzten, sie war nicht mehr an längeres Knien gewöhnt.

»Kennen wir ihre Destination?«, kam die geflüsterte Gegenfrage durch die dünne Trennwand.

»Nicht Italien. Dublin oder anderswo auf der irischen Insel«, antwortete sie.

Das Schnaufen auf der anderen Seite ließ sie ahnen, dass das keine guten Neuigkeiten waren. »Aber sie ist allein«, beeilte sie sich hinzuzufügen.

»Diese Entwicklung sollte keine Rolle mehr spielen, so Sie Ihre Aufgabe zu unserer Zufriedenheit ausgeführt haben, Lady. Es ist bereits zu spät!«, vernahm sie die leise Antwort.

Sie nickte und hoffte, dass er Recht behielt. Er sollte es wissen. Unterdrückte Anspannung ließ sie mit der diamantenbesetzten Creole in ihrem linken Ohrläppchen spielen.

»Wie geht es Ihrem Gatten? Ich bin sicher, er ist wohlauf und unserer Sache weiter gewogen?«, kam die nächste Frage.

Gerade als sie anhob zu sprechen, hörte sie außerhalb des Beichtstuhls Geräusche in unmittelbarer Nähe. Sie waren nicht mehr allein. »Um dieses Thema kümmere mich. Kein Grund zur Besorgnis!«, zischte sie.

Der Mann hatte den Neuankömmling ebenfalls gehört und beendete abrupt das Gespräch, indem er die Stimme erhob und laut intonierte: »Deine Sünden sind dir vergeben. Gehe hin in Frieden!« Schnell setzte sie ihre überdimensionierte Sonnenbrille von D&G auf und antwortete ebenso deutlich: »Dank sei Gott! Auf Wiedersehen, Padre!«

Für einen Augenblick lugte sie durch den Vorhang, beruhigte sich mit einem tiefen Atemzug und rauschte dann auf hohen Absätzen aus dem Beichtstuhl und der Kirche, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen. Wie ihr Gesprächspartner seinen Weg aus dem Confessionale fand, brauchte sie nicht zu interessieren, er würde wie immer an alles gedacht haben.

Am Straßenrand wartete ihre Limousine, ein deutsches Fabrikat. Deren Qualität schätzte sie am meisten. Der Fahrer ließ hinter ihr die Tür ins Schloss fallen, und eine Minute später fädelten sie sich geschmeidig in den chaotischen römischen Samstagnachmittagsverkehr ein. Sie sank tiefer in die schwarzen Ledersitze, schlug die Kapuze zurück und zückte ihr Smartphone.

Während sie wählte, gab sie dem Fahrer ihre Anweisungen. »Paolo, fahr mich nach Hause! Es eilt! Unterwegs halten wir kurz im Büro, ich habe noch wichtige Unterlagen zu holen!« Draußen glitt die Stadt an ihr vorbei, doch sie hatte kein Auge für deren Schönheit. Sie ärgerte sich maßlos, dass sie sich schon wieder mit ihrem Mann auseinandersetzen musste. Würde das denn nie enden? Sie sollte das Problem ein für alle Mal aus der Welt schaffen.

 

Irland, irgendwo an der Westküste

Mit zittrigen Händen legte Anne den Rückwärtsgang ein und stieß mit dem Wagen ein paar Dutzend Meter zurück. Trat das Gaspedal zu ungehalten durch und rauschte mit gefährlichem Linksdrall gegen den Bordstein. Würgte den Motor ab. Auch nach vier Stunden hatte sie sich noch nicht an den Linksverkehr gewöhnt. Sie war zum Glück weit genug von großen Städten entfernt. Inzwischen war die Verkehrsrichtung sogar nahezu egal, weil nur noch eine Fahrspur existierte. Wenn nur der Mietwagen das Lenkrad nicht auf der falschen Seite hätte! Das Zittern nahm zu und erinnerte sie an ihr Vorhaben.

Sie musste dringend etwas essen! Anne kämpfte mit einem Anflug von Unterzuckerung. Gerade hatte sie sich auf der Suche nach dem richtigen Abzweig nach Emlagh im County Kerry erneut verfahren. Frustration mischte sich in ihre Weltuntergangsstimmung. Seit eine Vollsperrung auf der N69 sie von der vorgegebenen Route abgebracht hatte, irrte sie in der Landschaft umher. Die Navigationstechnik hatte die Mitarbeit verweigert - eine freundliche Frauenstimme befahl alle paar hundert Meter konsequent die Umkehr, bis sie das Navi des unkomfortablen Gefährts entnervt abschaltete. Die Karte, die ihr die Autovermietung in Dublin ins Handschuhfach gelegt hatte, erwies sich als ebenso unnütz. Sie zeigte in der Gegend, in der sie Freyas Cottage vermutete, keine ausgebauten Straßen. Das Internet war auch keine Hilfe, die Adresse brachte keine Treffer.

»Wann immer du in Westirland bist, komm vorbei - du bist stets willkommen!« Eine schicksalhafte Einladung, vor Monaten in einem Internetchat zwischen zwei praktisch Fremden ausgesprochen. Eine Aufforderung, der sie nun nachkommen würde. Blind für die spektakulären Landstriche um sie herum kämpfte sie die Tränen nieder. Schon wieder. Fixiert auf ihren Herzschmerz und die überstürzte Flucht aus Deutschland.

Ihr Weg führte sie durch kleiner werdende Ortschaften, deren Namen sie nirgends erkennen konnte, um sich zu orientieren. Keine Menschenseele unterwegs, um nach der Richtung zu fragen. Mitte Dezember, der sich an diesem Tag in all seiner milchig-nebligen, typisch irischen Schönheit präsentierte, kamen offenbar nicht viele Fremde in diesen Teil von Westirland. Die Einheimischen wiederum schienen mit Dingen beschäftigt zu sein, die sich ausschließlich hinter verschlossenen Türen abspielten.

Warum hatte sie bloß der überwältigenden Sehnsucht nachgegeben, jenes abgelegene Cottage zu suchen? Banfhile, verwunschenes irisches Erbe. Ihr Internetkontakt, die Schriftstellerin Freya, hatte in den Chats ein lebhaftes Bild des großzügigen Anwesens gemalt. Ganz klar, für ein solches Erbe wäre Anne auch aus Amerika in die Heimat der Vorfahren zurückgekehrt, wie Freya es getan hatte.

In der vergangenen Nacht war jene lange zurückliegende Einladung aus ihrem Unterbewusstsein aufgetaucht. Zur denkbar ungünstigsten Zeit überhaupt, als die ersten Wellen einer jeglicher Logik entbehrenden Panikattacke über sie hinwegzurollen drohten. Angst hatte ihr die Kehle zugeschnürt. Es hatte anscheinend nur einen Weg gegeben, um der Einkesselung zu entgehen und wieder frei atmen zu können. Dieser Weg führte direkt zum Flughafen. Jenes Cottage dominierte ihre Gedanken, drängte die Panik zurück und ließ sie nicht mehr los, bis sie endlich auf die Abflugzeiten starrte.

Annes Handy produzierte beharrlich neue Fehlermeldungen und holte sie damit aus endlosen Grübeleien zurück. Fahrig griff sie nach dem Gerät. Nachricht an Freya nicht zustellbar, Senden fehlgeschlagen. Schon wieder. Wenn man die kurze Botschaft, die sie geschickt hatte, nachdem sie aus dem Flieger gestiegen war, nicht mitzählte, kam sie ohne jede Vorankündigung. Möglicherweise war die Frau gar nicht daheim, denn auf deren Antwort hatte sie nicht gewartet. Vielleicht war die Nachricht ebenfalls in den Weiten des Netzes verloren gegangen.

Unerwarteter Gast hin oder her - Anne vertraute darauf, dass die Freundin sie nicht abweisen würde, wenn sie einmal auf deren Schwelle stand. Spekulierte darauf, dass keine Urlauber in Freyas gemütlichem Steincottage am Ende von Nirgendwo eingebucht sein würden. Wenn es in dieser Gegend weder Handyempfang noch eine nennenswerte Bevölkerungsdichte gab, standen ihre Chancen gut, im Cottage untertauchen zu können.

Sie erinnerte sich bruchstückhaft an die Stunden zwischen Aufbruch in Berlin und Ankunft in Dublin. In aller Herrgottsfrühe hatte ein Taxi sie zum Flughafen gefahren. Eine Zeitlang hatte sie auf die Abflugtafel gestarrt, die Schultern hochgezogen und innerlich verkrampft. Was war der Weg, wenn man bereits jenseits aller Traurigkeit stand? Die Welt um sie herum schrumpfte zum Tunnel. Ihre Augen nahmen nur zwei Ziele wahr: London-Dublin. London. Dublin. London. Dublin. Es siegte der stetig in ihrem Inneren ablaufende Film mit Bildern über jenes abgelegene Cottage, das sie seit Stunden nicht finden konnte. Torfgeruch, sanft abfallende grüne und braune Hügel im Westen Irlands, knisterndes Kaminfeuer und heißer Tee.

Angesichts ihrer Stimmungslage glich es einem Wunder, dass sie tatsächlich in Dublin gelandet war und nicht doch in der letzten Minute versucht hatte, das Flugzeug nach London zu nehmen. Ein verborgener Teil von ihr, sie nannte diesen streng bewachten Teil liebevoll nur noch das Teufelshörnchen, hatte ob des Flugziels seine spitze Zunge gewetzt und sie wissen lassen, was es von dieser feigen Entscheidung hielt. Anne hatte dabei nicht wirklich gut abgeschnitten. Das Teufelshörnchen ergriff eindeutig Partei für London. Doch eigentlich sollte sie dieses Wochenende in Leipzig sein. Nicht in Dublin. Nicht in London. In Leipzig. Wenn nicht ... Am Ende hatte daher lediglich die Logik gesiegt, unterbrach sie sich.

Deswegen hatte der Flieger sie nach Dublin gebracht. Deswegen kurvte sie nun mit einem Mietwagen mitten durchs Nirgendwo. Deswegen war sie nur mit leichtem Gepäck aufgebrochen. Hatte ihrer Mutter eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, dass sie kurzfristig beruflich außer Landes müsse und rechtzeitig vor den Weihnachtsferien zurückkommen würde. Und ihr aufgetragen, die Kinder für sie zu küssen. Sie hasste es zu lügen, aber es war besser so für alle Beteiligten.

Das sei die klügere Wahl, suggerierte die realistische Seite in ihr. Wer konnte schon voraussagen, wie sie in London empfangen worden wäre. Ob sie überhaupt empfangen worden wäre, nach allem.

Das Handy flog auf den Beifahrersitz. An der nächsten Weggabelung hielt sie nach rechts und gab Gas. Sie würde sich fortan von ihrem ungefähren Richtungsgefühl leiten lassen. Irgendwann musste die Küste auftauchen. Oder ein größerer Ort mit Passanten. Eine Tankstelle. Oder, wie eben, ein Pub. Dessen bizarre Fassade sie wieder aus ihren Gedankenspiralen gerissen hatte, als sie zuerst daran vorbeigerauscht war.

Nun blickte sie vom Auto aus zweifelnd hinüber. Ringsum ländliche Stille. Das einzeln stehende Haus wirkte seltsam deplatziert. Mehr tief als breit, dafür mit drei Etagen und einem überdimensionierten Schieferdach fügte es sich nicht ansatzweise in die umliegende aneinandergereihte Bebauung ein. Die Schaufensterfront des ›The Keys‹, wie goldene Lettern verkündeten, maß gerade fünf Meter und nahm damit die gesamte Breite des Hauses ein. Die Stockwerke darüber bestachen mit filigranen Bleiglasscheiben und dem Schwarzweiß einer Fachwerkfassade. Die Front beherrschte ein Wald aus ovalen Reklameschildern für irische Biere, der den Betrachter orientierungslos zurückließ. Unterbrochen wurde das Chaos durch knapp ein Dutzend Blumenampeln, die selbst zu dieser Jahreszeit in üppiger Farbenpracht von der Fassade baumelten. Die links und rechts der Tür aufgereihten mannsgroßen Tannenbäume ließen den Eingang zusätzlich wie einen Tunnel erscheinen.

Anne lauschte einen Moment auf ihren knurrenden Magen. Ihr Körper forderte nach mehr als einem Tag ohne Nahrung sein Recht. Sie fühlte sich fahrig, übermüdet und zunehmend reizbar. Sie würde nicht mehr lange weiterfahren können, ohne Nachschub an Kohlenhydraten. Wer wusste schon, wie lange sie noch herumirren würde, ehe sie Freyas Cottage fand? Also beförderte sie den Mietwagen etwas abseits auf einen freien Streifen Niemandsland und lief die wenigen Schritte bis zum Eingang des ›The Keys‹. Vielleicht waren die Anwohner dieses Ortes ja alle auf ein Nachmittags-Pint?

Die Tür war nur angelehnt. Sie betrat zögernd den Schankraum. Drinnen herrschte ein ähnlich liebenswürdiges Chaos wie an der Straßenfront. Der langgestreckte Grundriss mit dem Schaufenster als einzige Lichtquelle verlieh dem Raum einen höhlenartigen Charakter. Was für eine Überraschung, sie war der einzige Gast. Womöglich hatte der Pub geschlossen? Sie schnupperte. Irgendwo wurde etwas gebraten. In den Geruch von heißem Öl mischte sich ein Quäntchen Pfeifentabak. Sie bahnte sich ihren Weg durch handgeschriebene Kreidetafeln mit den Angeboten der Woche. Die Einrichtung ein wildes Sammelsurium unterschiedlicher Stilepochen. Kein Tisch, kein Stuhl glich dem anderen. Überall an den Wänden hingen vergilbte Fotografien in nachlässig zusammengezimmerten Rahmen, dazwischen Reklameschilder und antike Kochutensilien. Und Schlüssel. Unmengen an Schlüsselbunden. Das altmodische Ambiente legte sich dennoch wie Balsam auf ihre angeschlagenen Nerven.

Der feine Duft von Vanilletabak wurde stärker, je näher sie der Bar kam. Von dort hörte sie es rumpeln und rief einen Gruß in den Raum, um auf sich aufmerksam zu machen.

»Herrgott, a bhean! Was erschreckst du mich so?«, erhielt sie zur Antwort. Gefolgt von einem dumpfen Knall, als habe sich jemand an einer harten Oberfläche gestoßen, und einem herzhaften Fluch.

»Entschuldigung, haben Sie geöffnet?«

Auf ihre nochmalige Nachfrage hin kam ein schlohweißer Haarschopf hinter der Bar zum Vorschein. Einen Moment später tauchte er ab, ohne eine Antwort zu geben. Ein ersticktes Scheppern erklang, als habe er hastig eine Falltür im Boden zugeschlagen, in der er bis dahin rumort hatte. Dann richtete sich das Männlein zu seiner vollen Größe auf. Und die reichte gerade so aus, um über den Tresen zu schauen. Er drehte sich einmal orientierungslos um die eigene Achse, bis er seine Kundschaft entdeckt hatte, und klopfte sich den Staub von den Händen.

»Aye, natürlich haben wir geöffnet, Lady. Für Sie jederzeit!« Der Wirt bleckte gelbliche Zähne zu einem schiefen Lächeln. Falten hatten sich tief in sein Gesicht gegraben, aber er blickte sie aus munteren Augen freundlich an. Er tastete nach einer Pfeife, klemmte sie in den Mundwinkel und zündete den Tabak an. »Was darf ich bringen?«

»Ich, ähm ... Ich weiß nicht recht. Etwas Leichtes? Und ein Glas Wasser, bitte!«

Der Wirt schnalzte missbilligend ein paar Mal mit der Zunge, dass sie fürchtete, die Pfeife würde hinunterfallen. »Etwas Leichtes? Wasser? Das hier ist das ›The Keys‹, Lady, ein Pub! Kein Gourmetschuppen wie in der großen Stadt, aus der Sie kommen!«, stellte er klar. »So verhungert, wie Sie aussehen, brauchen's was Richtiges! Hingesetzt!«

»Im Grunde wollte ich nur nach dem Weg fragen. Ich habe mich verfahren, will nach ...«

»Erst wird gegessen, dann wird gefragt!«

Ihr Bauchknurren übertönte das Gezeter des Alten mühelos und gab ihm damit recht. Widerstrebend stand sie einen Moment da und überlegte. Sie war nicht in der Stimmung für ein Streitgespräch, warum also mit ihm argumentieren? Sie wollte einfach ihre Ruhe haben, sich schnell stärken und dann die Reise fortsetzen. Ihre Zurückhaltung nutzte der Wirt aus, zapfte ein Pint dunkles Bier und knallte es mit kämpferisch hochgezogenen Augenbrauen auf den auf Hochglanz polierten Tresen. »Das ist was G'scheites!«

Beim Anblick der cremigen Bierkrone schlossen sich ihre Finger automatisch um das Glas. Mit dem Daumen wischte sie über die kleinen perlenden Tropfen des Schwitzwassers. Mit dem Kopf deutete er zu einem gemütlichen Zweiertisch ganz in der Nähe der Bar, die unausgesprochene Aufforderung, sich zu setzen. Sie wankte hinüber, schälte sich aus ihrem Mantel und sank auf einen der Sitze.

»Was soll's zu essen sein, Lady?«, ließ er hinter seinem Tresen nicht locker.

Anne nahm einen herzhaften Schluck aus dem Bierglas und zwang sich zu einem Blick auf die Menüschilder. Etwas sagte ihr, lieber zu ordern, sonst würde er die komplette Auswahl auffahren, die die Küche zu bieten hatte, damit sie auch wirklich etwas aß.

»Ähm ... Einmal Sweet Potato Fries. Und das Pulled Pork-Sandwich, bitte!«

Der Alte nickte brüsk und verschwand grummelnd in Richtung Küche, um die Bestellung zu überbringen. Sie nutzte seine Abwesenheit und schaute sich nach dem Schild für die Toiletten um. Ihr Weg führte sie über eine enge Treppe in den ersten Stock des Gasthauses.

Als sie nach dem Lichtschalter tastete und dann von innen gegen die Tür der Damentoilette sank, riss sie staunend die Augen auf. Vor Anne erstreckte sich ein Prunkbad, das die gesamte Hausbreite einnahm: graugrüne Bodenfliesen, eine halbhohe Holzvertäfelung in derselben Farbe, darüber feine Tapeten mit Blütenranken in Flaschengrün und Creme. Die Bleiglasfenster verschwanden beinahe hinter opulenten grünen Samtvorhängen, deren Säume mit kleinen cremefarbenen Pompons abgesetzt waren, und einem dazu passenden Rollo. Ein antiker Waschtisch aus feinstem weißen Porzellan, Toilette und Bidet waren auf der einen Seite angeordnet. Gegenüber entdeckte sie eine freistehende Badewanne und daneben einen Sessel in Creme-Grün mit Beistelltischchen. Anne klappte der Mund auf. Der Raum strahlte eine Gemütlichkeit aus, die zum Verweilen einlud. Sie mochte das besondere Flair auf Anhieb. Hier mussten sich bei Betriebsamkeit doch sofort lange Warteschlangen bilden, wenn die Frauen drinnen die Zeit vergaßen?

Nachdem sie sich um ihre Bedürfnisse gekümmert hatte und sich die Hände wusch, fiel ihr Blick unweigerlich in den Spiegel über dem Waschtisch. Makellose helle Haut. Dunkles Haar, das bis zum mittleren Rücken reichte. Die feminine Figur in elegantes Schwarz gekleidet und mit dem gewissen Touch zum Außergewöhnlichen unaufdringlich gestylt. Jemand, der mit seiner Ausstrahlung normalerweise die Blicke auf sich zog, ohne es zu wollen oder besonders zu mögen. Doch heute fiel es ihr schwer, sich selbst in ihrem Spiegelbild zu finden. Ihr starrte eine abgekämpfte Frau Mitte dreißig entgegen. Ihre Augen verrieten sie. Riesige Seen, deren Glanz lediglich von wiederkehrenden Tränenschleiern herrührte. Der Anblick riss alle Gedanken zurück zu ihrem Dilemma.

Weniger als zwei Wochen vor Weihnachten stand sie verloren in einem irischen Waschraum, der auf groteske Weise eher an eine Filmkulisse als an einen Pub-Lokus erinnerte - auf der Flucht vor dem Scherbenhaufen ihres Lebens. Schlimmer hatte es sie nicht treffen können. Da kamen sie wieder, die Tränen. Angewidert wandte sie sich ab und ließ sich auf den Sessel fallen. Erschöpft verbarg sie ihr Gesicht mit den Händen.

Als sie einige Minuten später aufblickte, weckte ein Roman auf dem Beistelltischchen ihre Aufmerksamkeit. Das Buch lag aufgeschlagen da, so als hätte jemand begonnen, das erste Kapitel zu lesen und sei dann abgelenkt worden. Eine gebundene Ausgabe aus feinstem cremefarbenen Papier. Erlesene Typografie. Verspielte Illustrationen auf den Buchstegen zogen das Auge des Betrachters auf sich. Ein außergewöhnliches Buch. Sie beugte sich hinüber und suchte wahllos nach einem Absatz, um ein paar Zeilen zu lesen.

 

»... eines kann ich versprechen: Ihr werdet nie erfahren, wie viel davon wahr ist und was nur als unerreichbarer, verführerischer Traum mein Leben auf den Kopf stellt. An manchen Tagen kann ich die Grenze selbst nicht mehr ziehen, so fließend sind die Übergänge. Und wisst ihr was? Es ist mir vollkommen egal!«

 

Anne legte ehrfürchtig einen Finger an die Stelle, an der sie aufgehört hatte zu lesen und wartete mit angehaltenem Atem. So als sei es verboten, das Buch auch nur zu berühren. Natürlich passierte nichts von Belang. Unter ihren Fingerspitzen fühlte sie lediglich die Weichheit des Papiers. Also blätterte sie wahllos nach hinten, den kleinen Finger als Lesezeichen an der ursprünglich aufgeschlagenen Position belassend. Und erblickte Seiten, auf denen die Druckerschwärze förmlich vor ihren Augen zu verschwimmen schien, bis Worte nicht mehr erkennbar waren. Leere Seiten. Neugierig geworden inspizierte sie den Einband aus edlem grünen Leinen. Anstelle eines Titels prangte auf dem Buchdeckel lediglich ein Platzhalter aus filigranen cremefarbenen Blumenornamenten. Ganz unten stand geprägt ›Ein Drama in sechs Akten‹. Irritiert wechselte sie zur ursprünglich geöffneten Seite zurück.

Es hämmerte von draußen gegen die Holztür. Gerade als sie wieder die Finger ausstrecken und im Impressum nach dem Titel und dem Autor des sonderbaren Romans schauen wollte.

»Sind Sie da drin? Kommen Sie, das Essen wird kalt!«, insistierte der Wirt lautstark.

Anne zuckte zurück, als hätte sie sich an etwas Verbotenem verbrannt. Sie schoss aus dem Sessel hoch und antwortete mit vor Schreck schriller Stimme: »Ähm ..., ja ...« Ein sehnsüchtiger Blick zurück zum Tischchen. Doch als er anfing, ungeduldig an der Tür zu rütteln, vergaß sie das Buch und fuhr empört zum Eingang herum. »Ich komme ja schon!« Sie wappnete sich, um dem Alten zu erklären, dass es keineswegs anging, Gäste in ihrer Privatsphäre auf der Toilette zu stören. Als sie jedoch die Tür entriegelte und hinaus in den Flur trat, war von ihm weit und breit nichts zu sehen.

»Hallo?«

Verwirrt folgte sie ihm nach unten. Außer dem leichten Duft nach Vanilletabak und zweier über die Maßen beladener Teller an ihrem Platz fand sie keinen Hinweis auf die Anwesenheit des Wirtes. Anne nahm Platz und beäugte die üppigen Portionen. Nie und nimmer würde sie das schaffen! Dabei roch es köstlich. Sie zwang sich zu probieren. Doch es half nichts, innerhalb weniger Augenblicke verfing sie sich wieder im Dilemma ihrer Flucht. Nach einigen Bissen verging ihr der Appetit. Als sie die nahezu unberührten Teller von sich schob, tauchte das Pfeife paffende Männlein wie auf Abruf hinter der Bar auf.

»Ich möchte zahlen!«, informierte sie ihn. »Ich habe noch eine weite Fahrt vor mir.«

»Also junge Frau, so geht das nicht! Was soll ich denn in Rechnung stellen, wo alles noch auf dem Gedeck und im Glase ist?«

»Bitte entschuldigen Sie, es ist alles ganz lecker! Es liegt an mir, ich kann einfach nichts essen. Ich zahle natürlich für alles! Wenn Sie mir bitte erklären würden, wie ich nach Emlagh weiterfahren muss? Ich suche dort das Banfhile-Cottage und bin leider vom Weg abgekommen.«

»Das Cottage, so so. Nun, sowas passiert hier draußen von Zeit zu Zeit«, kommentierte der Alte ungerührt. »Doch dafür ist das ›The Keys‹ da. Bei uns findet ein jeder den passenden Wegweiser.«

Der Wirt schlurfte gebeugt am Tisch vorbei in den hintersten Bereich des Schankraumes. Sie hörte ihn in einer Ecke kramen, vermochte aber nichts zu erkennen.

Also rief sie ihm hinterher: »Haben Sie vielleicht eine detaillierte Karte? Auf meinem Atlas ist die Gegend gar nicht richtig verzeichnet, wahrscheinlich ist der Maßstab zu groß.«

Er hatte offenbar gefunden, wonach er gesucht hatte, denn er brummte zufrieden, klapperte mit ein paar Schlüsseln und kam dann aus dem Halbdunkel zurück. Vor ihr blieb er stehen, leider mit leeren Händen.

»Karten können da nicht helfen. Einen Wegweiser braucht man! Das Cottage ist nah. Halten Sie sich geradeaus, dann passieren Sie bald einen. Folgen Sie ihm ohne Zögern!«

Anne starrte den Wirt verdutzt an, der in aller Ruhe den Tisch vor ihr abräumte, aber ihren Blick mied.

»Ähm, also ... Sind Sie da sicher?«

»Unbedingt! Ich rate zum Aufbruch, denn dicker Nebel zieht auf! Vielen Dank für Ihren Besuch, die Rechnung geht aufs Haus! Gern beehren Sie uns auf der Heimreise wieder! Und jetzt gehen Sie!«

Kopfschüttelnd nahm sie ihren Mantel und verließ den Pub. Hatte der Alte sie gerade hinauskomplimentiert?

Kapitel 2 - Tag 1 in Irland

Westküste, Banfhile-Cottage, Samstagnachmittag, Mitte Dezember 2012

 

Die Vorhersage des seltsamen Alten hatte sich bewahrheitet. Von einem Moment zum anderen war Anne in eine dichte Nebelwand hineingefahren. Die Welt um sie herum schrumpfte auf den Innenraum des Autos zusammen. Die Lichtkegel der Scheinwerfer wurden keine drei Meter vor ihr regelrecht von der grauweißen Masse verschluckt, die bis hinunter auf die Fahrbahn waberte. Also fuhr sie einfach immer geradeaus, so schnell sie es eben wagte. Mehrmals hatte sie ihr Telefon gecheckt. Fehlanzeige. Kein Empfang. Dann endlich war aus dem Nebel ein verwittertes Hinweisschild nach Banfhile aufgetaucht und sie hatte gerade rechtzeitig das Lenkrad herumgerissen, um auf einen unausgebauten Feldweg abzubiegen. Ein paar Minuten später lichtete sich der Nebel ein wenig und sie sah die Zufahrt zu Freyas Anwesen vor sich liegen.

Anne steuerte den Wagen in der hereinbrechenden Dunkelheit in die schmale, geschotterte Einfahrt hinein und stellte den Motor ab. Wieder Stille. Reine, pure Stille. Bis auf das entfernte Blöken eines Schafes hörte sie keinen Laut. Alles strahlte Frieden und Ruhe aus, als sie aus dem Auto stieg. Sie konnte das Meer riechen, es musste also ganz in der Nähe sein. Das Anwesen wurde von einer dieser niedrigen Natursteinmauern eingegrenzt, die so typisch für Irland sind und deren Verlauf sich im Dunst verlor.

Die ganze Szene schien einem Heimatfilm entliehen. Eine pittoreske Landschaft, halb vom dicken Nebel verschluckt. Darin ein schiefergedecktes Cottage in Form eines traditionellen Haupthauses mit Anbau. Mit der Steinfassade und einem Erker mit weißem Lehmputz passte es sich so nahtlos in die Umgebung ein, als stünde es seit Urzeiten dort und wäre nicht von Menschenhand errichtet. In einem der Fenster leuchtete eine Kerze. Die kleine Oase warmen Lichts wies ihr wie ein Leuchtturm den Weg. Sie schlenderte den kurzen Weg bis zum Haus hinüber.

Unter normalen Umständen hätte ihr das Herz bis zum Hals geklopft bei der Aussicht, Freya kennenzulernen. Die vielen Monate, die sich beide Frauen regelmäßig im Chat getroffen hatten, hinterließen ein inniges Gefühl von Freundschaft. Doch im realen Leben waren sie sich noch nie begegnet. Trotzdem war sie jetzt hier. Und ihr Inneres war viel zu sehr in Aufruhr, um sich darum zu sorgen.

Sie klopfte an die mit grünen Zweigen geschmückte Cottage-Tür aus massivem, dunkelrot gestrichenem Holz, nachdem sie vergeblich nach einer Klingel Ausschau gehalten hatte. Im Grunde wollte sie sowieso nur allein sein, sinnierte sie. Weit weg von allem, was sie in Berlin zu ersticken drohte. Anne kämpfte die aufwallenden Tränen nieder. Das Knarren der sich öffnenden Tür unterbrach ihre Gedankengänge. Zum Glück war tatsächlich jemand daheim.

In der Türöffnung stand eine untersetzte Frau mit schlohweißem Haar und einem vom Alter gezeichneten Gesicht. Die Art, in der sie ihr Gegenüber aus zwar freundlichen, aber unerbittlichen Augen von unten herauf musterte, hinterließ das Gefühl, innerhalb einer Sekunde bis zum tiefsten Abgrund der Seele gewogen worden zu sein. Diesen dunkelbraunen Augen blieb nichts verborgen. Anne schluckte und suchte nach Worten. Suchte nach einem klaren Gedanken. Mit Macht versetzte es sie um zehn Jahre in der Zeit zurück.

Sie hatte in ihrem Leben einige Déjà-vus erlebt, angenehme und weniger angenehme, aber was sie in diesem Moment aus dem Nichts heraus traf, brachte den letzten Funken Logik in ihr zum Erlöschen. Ihr Verstand konnte nicht begreifen, was diese Frau zu dieser Zeit an diesem Ort machte.

Das war nicht Freya. So viel war sicher. In der Tür stand, ihr vollkommen unbegreiflich, ihre Vermieterin aus dem letzten Wales-Urlaub. Als wäre nicht ein einziger Tag seitdem vergangen, sah sie exakt so aus wie in jenem schicksalhaften Herbst vor zehn Jahren.

Dieselben klassischen Gesichtszüge, die noch immer die Schönheit vergangener Jahre erahnen ließen.

Dieselben schlohweißen, langen Haare, im Nacken zu einem dicken Zopf zusammengefasst.

Dieselben wissenden Augen, die bis auf den Grund einer Seele sehen konnten.

Derselbe gefangen nehmende Blick, dasselbe einladende Lächeln.

Die Greisin stand aufgrund eines nicht endenwollenden Rückenschmerzes leicht nach vorn gebeugt und stützte sich auf einen abgenutzten Spazierstock mit unzähligen Kerben. Sie trug ein übergroßes hellgraues Grandfather-Shirt mit blauen Streifen und einen Wollrock. Genauso hatte Anne sie im Gedächtnis behalten. Selbst der leichte Duft von getrockneten Kräutern und frischem Backwerk, der sie unaufdringlich umgab, entsprach exakt ihrer Erinnerung.

Damals in Gwynedd hatte die Alte eines Morgens während der Zubereitung des Frühstücks behauptet, in die achtzig Jahre zu zählen. Was bedeutete, dass sie jetzt über neunzig sein musste.

»Ah, a leanbh realtaí! Endlich hast du es geschafft, Sternenkind!« Die Frau überging ihr Schweigen, lächelte sie warm an und öffnete die Tür ein Stück weiter. Anne erinnerte sich mit schmerzhafter Klarheit an ihr letztes Zusammentreffen. Hilflos und vollkommen durcheinander schüttelte sie den Kopf, auf der Suche nach Worten.

Und wurde von einer hellen Stimme aus dem Inneren des Hauses gerettet: »Morrigan, bitte lass Anne herein! Ich bin gleich bei euch!« Der unüberhörbar darin mitschwingende Südstaatenakzent kam überraschend und schaffte es für einen Augenblick, ein schmales Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern.

Mit einem beinahe unverständlich hervorgebrachten »Willkommen auf Banfhile! Komm herein, Kind, es wird draußen jede Minute kälter und dunkler!« wurde sie einfach an der Hand gefasst und ins Haus gezogen.

Anne fand sich in einem spärlich beleuchteten Flur wieder. Hinter ihr krachte die Haustür ins Schloss. Das Geräusch jagte ihr eine Gänsehaut über den Leib. Ihre Augen mussten sich erst an die Finsternis drinnen gewöhnen. Die niedrige Decke mit den dunklen Holzbalken und die fast schwarzen Schieferplatten des Fußbodens verstärkten das enge Ambiente des Flurs.

Annes Gedanken rasten auf der Suche nach einer Chance, die Situation zu verstehen. Das Zwielicht um sie herum verhüllte ihre Unsicherheit. Mit schamroten Wangen starrte sie die Frau namens Morrigan an, in der Hoffnung, eine logische Erklärung zu bekommen. Aber diese zuckte nur mit den Schultern, gab ein alles und nichts erklärendes »Boh« von sich und schlurfte ohne ein weiteres Wort davon.

Einige Augenblicke später erhellte das Licht aus der Küche den Flur und sie fand sich in einer herzlichen Umarmung wieder. Freya überwältigte sie mit ihrem Erscheinen, ehe sie die Freundin überhaupt mustern, geschweige denn begrüßende Worte finden konnte. Die Tränen wollten schon wieder aufwallen und es war harte Arbeit, sie zurückzuhalten. Nach einigen Momenten gab Freya sie frei und die beiden Frauen konnten einander messen.

Ihre Freundin war eine anziehende Frau in den besten Jahren, zierlich und biegsam in ihrer Gestalt. Die langen kohlrabenschwarzen Haare, nur von einer schneeweißen Strähne genau über ihrer linken Schläfe unterbrochen, trug sie offen. Diese Strähne hatte Freya bei Beschreibung ihres Äußeren stets scherzhaft ihren irischen Vorfahren zugeschrieben. Wo Anne mit Farbe nachhelfen musste, war das Schwarz ihrer Freundin deren natürliche Haarfarbe. Sie schaute in ein hübsches Gesicht mit Aufmerksamkeit erweckenden blauen Augen. Eine Aura, die an das mysteriöse Nachtleben von New Orleans, Freyas frühere Heimat, erinnerte, umhüllte sie.

»Willkommen! Nun sehen wir uns endlich!« Anne fühlte sich instinktiv wohl. Sie schloss kurz die Augen und inhalierte den Duft. Freya roch nach den leckersten Backwerken, mit denen man sich die Weihnachtszeit versüßen konnte. In diesem Moment verließen sie alle Zweifel, ob die Dinge, welche beide über die Monate einander anvertraut hatten, auch von Freyas Seite ehrlich gemeint waren.

»Sag, was hat dich so kurzfristig hierher verschlagen? Es ist wegen ihm, oder? Du hast uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt!« Ohne eine Antwort abzuwarten, half Freya ihr aus dem Mantel und beäugte anschließend kritisch den kleinen Rucksack, den Anne bei sich trug.

So musste sie erklären, dass keine Zeit zum Packen geblieben war. Wenig Gepäck, dafür ein über sechshundert Seiten starker Wälzer in ihrer Handtasche. Was wohl gewesen wäre, wenn sie den geheimnisvollen Roman aus dem Pub entwendet hätte? Ob der noch in ihre Handtasche gepasst hätte? Sicher waren die Buchstaben darin nur vor ihren Augen verschwommen, weil die Tränenschleier zurückgekehrt waren. Aber natürlich stahl Anne keine Bücher aus fremden Badezimmern!

Freya schüttelte lächelnd den Kopf, so als hätte sie ihre Gedanken erraten, sagte aber nichts. Stattdessen führte sie Anne ins überraschend geräumige Wohnzimmer und bot ihr einen Platz vorm knisternden Feuer an.

Dankbar sank sie auf der dunkelbraunen Ledercouch nieder und sog die Stimmung des Raums auf: Die niedrige Zimmerdecke war weggelassen worden, sodass die schweren Holzbalken bis in den Dachstuhl sichtbar waren, was den Eindruck von Weite schuf. Anne war überwältigt von dem anheimelnden Gefühl von Wärme, Geborgenheit und Familie, welches das Haus ausstrahlte. Freya wollte in die Küche eilen, um eine Erfrischung anzubieten, blieb dann jedoch stehen, als sie den fragenden Blick der Jüngeren auffing.

So erfuhr sie, dass Morrigan Freyas Tante war, die sie erst kürzlich bei sich aufgenommen hatte. Anne kämpfte noch immer mit der Herausforderung, nicht in Tränen auszubrechen. Daher entging ihr der bedeutungsschwangere Blick, den Tante und Nichte wechselten, als Morrigan in den Wohnbereich schlurfte und Freya in die Küche verschwand.

Sie kuschelte sich tief in eine der Couch-Ecken und sah sich um. Der offene Kamin vor ihr schien direkt aus der Steinmauer gehauen zu sein. Um ihn herum hatten die Bewohnerinnen große Stumpenkerzen arrangiert, die der Atmosphäre in einem Farbspiel aus Schwarz, Weiß und Rot etwas Einladendes und Beruhigendes vermittelten. Hinter ihr entdeckte sie mehrere bodentiefe Fenster, die sich zu einer Terrasse aus Natursteinen hin öffneten. Dahinter musste sich ein spektakulärer Blick auf eine Bucht eröffnen, die im Moment durch die zunehmende Dunkelheit nur zu erahnen war. Stattdessen spiegelte sich der Feuerschein sanft in den Glasscheiben. Die massiven Holzmöbel verschafften dem Raum zusätzlich ein gemütliches Ambiente. Das Haus war schon für die bevorstehenden Feiertage herausgeputzt. Anne mochte den unaufdringlichen Landhausstil auf Anhieb.

Die Greisin legte bedächtig ein Torfbrikett ins Feuer. Danach rückte sie ihren Schaukelstuhl etwas näher an den Kamin und ließ sich nieder. »Du bist weggelaufen!«, stellte sie trocken fest und schwieg dann, bis ihre Nichte mit einer dampfenden Tasse Gewürz-Chai und einem Truthahn-Sandwich zurückkehrte. Freya nahm auf dem anderen Ende der Couch Platz.

Seitdem konfrontierten die beiden Anne mit den unterschiedlichsten Fragen. Sie begann zu ahnen, dass ihre zögerliche Antwortstrategie nicht ausreichen würde, die beiden auf Distanz zu halten. Hinhalten war nicht akzeptabel. Natürlich war allein der Versuch unnütz, so zu tun, als sei alles in bester Ordnung und ihr Besuch nur ein Zufall, eine glückliche Fügung. Niemand kaufte ihr eine solche Ausrede ab. Vor allem nicht so kurz vor Weihnachten.

Anne erklärte stockend, dass sie ein sicheres Versteck brauchte, bis sich die Wogen in ihrem Leben geglättet hätten und sie wieder bei Sinnen war. Dass sie dringend Urlaub bräuchte vor sich selbst. Sie fürchtete, dass all die Traurigkeit, die Orientierungslosigkeit und der Schmerz mit Macht aus ihr herausdrängten. Dass Sehnsucht und Qual aus ihr heraustropften wie aus einem mehrfach geflickten, aber trotzdem lecken Gefäß. Egal wie sehr sie versuchte, diese Gefühle tief in sich zu verschließen.

Freya lud sie ein, ihre Sorgen mit ihr zu teilen. Leugnen war zwecklos, dafür hatte die Freundin in den Chats zu viele Details aufgeschnappt. Die Aussicht darauf, in den nächsten Tagen die komplette Geschichte zu Ohren zu bekommen, stachelte unterdrückte Schreibwut in der Schriftstellerin an.

Anne riss erschrocken die Augen auf. Sie konnte jene Unruhe einerseits gut verstehen. Zu oft hatte sie Ähnliches gefühlt, sich jedoch nur sporadisch den Luxus gegönnt, dieses Gefühl zuzulassen und zu schreiben. Zu groß war die Versuchung, für immer in ihren Hirngespinsten zu verweilen. Oder tat sie das schon? Das Teufelshörnchen, Quell ihrer Inspiration und unerschöpflicher Fantasien, ließ sich nicht einfach so kontrollieren und an die Leine nehmen wie früher. Im Grunde gar nicht mehr.

Morrigan war still geworden und starrte ins Feuer, ihr Schaukelstuhl bewegte sich nur leicht. Anne hatte schnell gemerkt, dass deren Fragen die gefährlicheren waren. Man tat gut daran, nicht ohne Nachdenken zu antworten.

Dagegen waren Freyas Fragen zuallererst einmal praktischer Natur und unverfänglich. Ob sie einen guten Flug gehabt hatte - ja. Ob sie mit dem Linksverkehr zurechtgekommen war - ja, mehr oder weniger. Ob für ihre Kinder daheim gut gesorgt sei - ja. Ob jemand zu Hause wusste, wohin sie geflogen war - nein. Und so weiter.

Wenn Anne ehrlich war, irritierte sie die Anwesenheit von Morrigan auf eine nicht zu definierende Art und Weise. Es erschien ihr unhöflich und respektlos, sofort die Sprache auf den wunderlichen Zufall des Wiedersehens zu bringen. Etwas in der Haltung der alten Frau ließ sie ahnen, dass sie heute darauf keine zufriedenstellende Antwort mehr erwarten konnte. Stattdessen hatte die Alte den Gast ihrer Nichte mit unangenehmen Fragen traktiert. Von denen eine jede ins Schwarze traf, da sie der Wahrheit sehr, sehr nahe kamen.

Anne war nie eine gute Schauspielerin gewesen. Und noch weniger eine Lügnerin. So rutschte sie unruhig auf den Lederpolstern hin und her. Daheim in Deutschland hatte sie einen handverlesenen Kreis enger Freunde, dem sie sich von Zeit zu Zeit anvertraute, zumindest in Teilen.

Welch Albtraum, wenn ihr sorgfältig gewobenes Netz aus Information und Spekulation, welches sie meisterlich um sich gesponnen hatte, nun Freya und ihrer Tante zum Opfer fiele ... All die vielen Puzzleteile, die sie mal hier, mal da im Gespräch mit Freunden und der Familie gestreut und diskutiert hatte, nachdem das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, zu groß geworden war, als dass sie es weiterhin ignorieren konnte. All die vergeblichen Versuche, die Situation zu lösen, sich zu befreien, ohne die ganze unglaubliche Geschichte auszuplaudern. Und doch in der Endkonsequenz zu misstrauisch, tatsächlich jemanden bis ins letzte Detail einzuweihen.

Zu groß war die Angst, dass man sie nicht verstehen würde. Zu groß auch die Angst, dass sie damit weitere Ereignisse anstoßen könnte, die sie nicht mehr überblicken, geschweige denn kontrollieren konnte. Und zu groß die Angst, jemanden Unbeteiligtes mit hineinzuziehen. Aber reden musste sie, um nicht den Verstand zu verlieren. Um zu wissen, was real war. Eines Tages war ihr die Messlatte für die Realität abhandengekommen. Was Anne zuerst nicht gestört hatte. Früher hatte sie ein gewisser Surrealismus auf unerklärliche Weise fasziniert, die Nacht und die Träume waren ihr Zuhause. So wie sie die Schönheit des Leidens faszinierend fand.

Doch etwas hatte sich verändert in den vergangenen Monaten. Ganz gewaltig verändert. Sie hatte sich verändert. Das Teufelshörnchen spendete jedes Mal begeistert Beifall, wenn sie erneut in ihre Traumwelten eintauchte, stand doch die Aussicht gut, dass sie dieses Mal nicht mehr zurückfand.

»Ich will alles wissen, von Beginn an. Jedes noch so kleine Detail. Jede Gefühlsregung. Erzähl es uns! Wir wollen es verstehen!« Freyas Worte hingen zwischen ihnen im Raum.

Nun hatte sie die Chance, sich die komplette Geschichte von der Seele zu reden, zwei im Grunde wildfremden Menschen gegenüber. Eine davon brannte darauf, die Handlung als Vorlage für ihren nächsten Bestseller-Roman zu verwenden. Das allein erweckte ihre Albträume zum Leben. Niemand durfte wissen, was sich wirklich zugetragen hatte, zu viel stand auf dem Spiel. Niemand. Niemals.

Morrigans wissende Augen ruhten auf Annes Gesicht und sie fragte sich, ob die Alte nicht die Wahrheit bereits aus ihrem Inneren herausgelesen hatte. Mit einem Mal schoss ihr eine absurde Idee durch den Kopf und so stimmte sie zu, ihr Dilemma mit den beiden Frauen zu teilen. In Form eines Schauspiels in mehreren Akten.

»Freya, schwörst du mir, dass allein ich am Ende entscheiden kann, was mit dem Manuskript passiert? Ich allein sage, ob diese Geschichte publiziert werden darf oder ob du die Urschrift vernichtest!«

»Aber natürlich! Ich respektiere deinen Willen, wenn du vor deiner Abreise entscheidest, die Mitschriften zu zerstören. Vertrau mir!«

Anne nickte und verlor einen kurzen Moment lang die Kontrolle über ihre Tränen. Mit den ersten herabregnenden Tropfen holte sie der Wirrwarr wieder ein. Unsicher, wie sie anfangen sollte, sprudelte ebendieses Chaos ungefiltert aus ihr heraus, beginnend mit dem Schluss.

»Er hat mir einen Antrag gemacht und das hat das Fass zum Überlaufen gebracht ...«, unterbrochen von einem unkontrollierten Schluchzer und einem Schniefen. Ihre Emotionen glichen tsunamiähnlichen Wellen, die auf Land trafen. Sie ertränkten die Atmosphäre im Cottage in purer Verzweiflung.

Freya rief erschrocken dazwischen. »Einen Antrag? Ich denke, er hat den Schwanz eingezogen? Und, warte mal, du bist doch verheiratet?«

Anne winkte nur hilflos ab und schüttelte ihren Kopf. Sie konnte nichts erklären, solange sie damit beschäftigt war, ihre Tränenflut einzudämmen und ein letztes Quäntchen an Würde vor den beiden Frauen zu bewahren.

»Also«, beschied die Freundin nach einem tiefen Atemzug, »du fängst am besten von vorne an! Es zu erzählen, wirklich alles zu erzählen, wird dir helfen. Du wirst merken, wie sich deine Sicht auf die Dinge ändern wird.« Sie reichte Anne ein Taschentuch. »Meine Tante ist immer ein Quell weiser Worte. Aber wir können dir auch einfach nur zuhören, wenn du es nicht diskutieren willst. Am Ende haben wir alle drei etwas davon - Morrigan hat weniger Langeweile, ich habe meine Geschichte und du Klarheit sowie eine Lösung für dein Problem!«

Anne tupfte sich die Augen trocken und hoffte, dass dies vorerst der letzte Gefühlsausbruch war, ehe sie später allein wäre. Mit einem Seitenblick auf die Alte unternahm sie einen letzten halbherzigen Versuch, sich würdevoll aus der Affäre zu ziehen, und sagte: »Ähm, die Details sind aber streckenweise recht offenherzig und es wäre mir sehr unangenehm, wenn ich damit Gefühle, Einstellungen oder Werte anderer verletzen würde. Ich meine ...«

Noch ehe sie diesen Satz beenden konnte, bemerkte Morrigan trocken: »Wir Alten wissen mehr vom Leben, als ihr uns zutraut. Und hab keine Angst, dass ich bei der Erwähnung von körperlicher Liebe tot umfalle! Ich habe über die Jahre vielen keltischen Fruchtbarkeitsritualen beigewohnt, und so manches Mal hatte ich die Ehre, die Gefährtin des gehörnten Gottes Cernunnos zu sein.«

Anne zuckte bei der Nennung dieses Namens unwillkürlich zusammen.

»Heute würdet ihr jungen Leute das womöglich Orgien nennen ... Wahrlich der beste Sex meines Lebens! Nimm bloß kein Blatt vor den Mund, ich denke nicht, dass mich auf diesem Gebiet noch etwas überraschen kann!«, fuhr Morrigan mit einem aufmunternden Nicken in ihre Richtung fort.

Am Ende war es Anne, die mit hochrotem Kopf und vor Überraschung offenem Mund den Blick senkte.

Freya klopfte sich vor Vergnügen auf die Schenkel und rief begeistert wie ein kleines Kind: »Prima, ich will wirklich alle Details!« Dann suchte sie hastig ihre Schreibutensilien zusammen und zündete weitere Kerzen an.

Anne trank derweil nachdenklich einen Schluck Chai aus der überdimensionierten Steinguttasse. Sie beobachtete das kurze Aufflammen der Dochte und die bald beruhigend flackernden Flammen. Sie wartete, bis die Freundin ebenfalls Platz genommen hatte, und ergab sich in ihr Schicksal.

»Gut, ich erzähle euch diese Geschichte. Als ein Drama in sechs Akten, jeden Tag ein Stück. Aber eines kann ich versprechen: Ihr werdet nie erfahren, wie viel davon wahr ist und was nur als unerreichbarer, verführerischer Traum mein Leben auf den Kopf stellt. An manchen Tagen kann ich die Grenze selbst nicht mehr ziehen, so fließend sind die Übergänge. Und wisst ihr was? Es ist mir vollkommen egal!«

Warum kamen ihr diese Worte so vertraut vor, als hätte sie ihr jemand in den Mund gelegt? Verwirrt zog sie den Kopf ein und schüttelte sich, um die Gedanken zu klären.

Morrigan zuckte mit den Schultern. »Es mag mehrere Dimensionen dessen geben, was du Realität nennst, Sternenkind, nicht nur, was du mit deinen Augen siehst und mit deinem Ego begreifst.«

Freya nickte und murmelte: »Die Voraussetzung dafür, dass sich eine Grenze relativieren kann, liegt im Erkennen der Wahrheit ... So verwandelt sich das Drama in ein Lustspiel mit unendlich vielen glücklichen Kapiteln ...«

Sie schaute Anne mit einem herausfordernden Blick an, den diese überhaupt nicht zuordnen konnte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass unterschwellig etwas geschah, von dem sie wissen sollte, was es war. Und das sie doch nicht zu fassen bekam, egal wie sehr sie sich anstrengte, einen Blick darauf zu erhaschen.

Morrigan starrte in die Flammen des Kamins und erklärte mit fester Stimme: »Es ist für uns nicht von Belang, was Wahrheit und was Traum ist, so lange du die Botschaft, die dir das Leben sendet, verstehst! Und die Lektionen lernst, die deine Seele für dich ausgewählt hat.«

Und so sah sich Anne das zweite Mal an diesem Tag zurück in die Vergangenheit versetzt.

Kapitel 3 – Annes Geschichte: 1. Akt

Ein Jahr zuvor, Anfang Oktober 2011, Stadtrand von Berlin

 

Maid an (@) King: »Mylord, Ihr ehrt mich, eine Audienz zu gewähren.« Bewege mich vorwärts und nehme die Kapuze des schweren schwarzen Samtmantels ab, um mich im Inneren der Burg umzusehen. »Euer Reich ist ausgezeichnet versteckt und geschützt, es war ein rechtes Abenteuer, hierherzukommen!«

 

Widerstrebend legte Anne ihr iPhone beiseite. Ihre sechs Monate alte Tochter Gillian störte sie mit greinender Stimme unnachgiebig mitten in ihrem neuesten Projekt. Einem Live-Rollenspiel, welches gerade aus einem Fantasy-Onlinespiel heraus seinen Anfang nahm. Sie war Feuer und Flamme, endlich einmal wieder. Alles, was Abwechslung versprach, war ihr dieser Tage willkommen. So konnte sie kurzzeitig vergessen, dass sie übermüdet war. Hungrig. Ungeduldig und genervt. Die letzten Monate hafteten ihr wie eine einzige emotionale Herausforderung an.

Anne wollte endlich die Elternzeit genießen, aber irgendeine unsichtbare Macht schien dabei ein Wörtchen mitreden zu wollen. Sie kam nicht zur Ruhe. Obwohl sie die Geburt körperlich verarbeitet hatte, schwankte sie von Tag zu Tag mehr zwischen Überreizung, Langeweile, Ungeduld und Selbstmitleid. Dabei galten dreifache Mütter als ausreichend leiderprobt, was die ersten Wochen mit dem neugeborenen Nachwuchs anging.

Die junge Frau erinnerte sich lebhaft an die Abschiedsworte der Hebamme bei deren letztem Hausbesuch. An ihr aufmunterndes Versprechen, dass die gemeinsame Zeit umso erträglicher würde, je eher Anne akzeptierte, dass ihre Tochter gern umhergetragen werden wollte. Das Wort Schreikind hatte unausgesprochen zwischen den beiden in der Luft gehangen.

Neben dem 24/7-Dienst für Gillian buhlten das viereinhalb Jahre ältere Zwillingspaar Julian und Laurine, ihr Mann Sebastian und ein vor zwei Jahren neu bezogenes Eigenheim samt großem Garten mit unterschiedlichem Erfolg um ihre Aufmerksamkeit. Der fünfte Geburtstag der Zwillinge stand unmittelbar ins Haus. Und nun auch noch ein Todesfall.

In ihr alltägliches Familien-Chaos war am Tag zuvor die Nachricht geplatzt, dass ihre Oma verstorben war. Anne hatte keine Möglichkeit gehabt, Abschied zu nehmen. Sie verdrängte die Trauer, so gut es ging, vergrub sie unter ihren Alltagssorgen und dem allgemeinen Schlafmangel.

Die Zwillinge besuchten tagsüber einen nahe gelegenen Kindergarten, Sebastian arbeitete Schichten. Das ließ sie zumeist allein mit der Jüngsten zurück. Ihre Eltern lebten nicht in Berlin. Ihrem engeren Freundeskreis gehörten überwiegend Berufstätige an. Die waren unter der Woche ausnahmslos schlecht zu erreichen, wenn ihr nach Reden und Jammern zumute war.

Anne hatte also vor ein paar Wochen ganz unzeremoniell vor dem Geschrei ihrer Tochter kapituliert. Sich damit abgefunden, Gillian permanent herumzutragen oder bei ihr auszuharren, bis sie endlich schlief. Doch auch dann ließ die Kleine sich nicht ablegen oder an andere Menschen weitergeben. Nicht einmal schlafend. Nicht einmal an den Papa. Anne hatte vieles probiert, nichts half. Zumindest konnte sie wählen zwischen Autofahren, Tragen und Kuscheln. Letzteres war am effektivsten. Daher bedeutete Schlafengehen à la Klein-Gillian, dass sie ihre Tochter neben sich ins Bett legte und so lange mit ihr kuschelte, bis die Kleine eingeschlafen war. Tags wie nachts, egal, was die unzähligen Baby-Ratgeber davon hielten, die sie verzweifelt gelesen hatte.

Doch auch diese Lösung war mit einem Problem behaftet: Schlief die Kleine endlich ein, gelang es der Mama anschließend nur selten, aufzustehen und das Schlafzimmer auf leisen Sohlen zu verlassen. Kurzum, Gillian hatte ihre Mutter voll im Griff. Und die Hebamme fand das so vollkommen in Ordnung. Anne gefiel es weniger.

Sie hatte entschieden zu viel Zeit zum Nachdenken. Wünschte sich zurück ins Büro, in ihren Job, und wusste doch, dass eine andere Rolle von ihr erwartet wurde. Suchte aus der Not heraus händeringend nach Ablenkung und einer sinnvollen Beschäftigung, während sie Stunde um Stunde im Bett lag.

Ihre Tochter hatte sich inzwischen beruhigt und schlief weiter, das Gesicht fast gänzlich in Annes Armbeuge vergraben und die Fäuste in den Ärmelstoff gekrallt. Sie nahm vorsichtig ihr Handy wieder zur Hand.

 

King an (@) Maid und (/) Alle: »Mylady, seid willkommen in meiner bescheidenen Heimstatt! Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen. Ich stehe vor Euch als der Herrscher des Königreichs Kerystrum. Einem von Menschen lange vergessenen Reich, versteckt in den verwunschenen Landstrichen des alten Europas, wo die Herrschaft der Vampire, der Elfen und Zauberer seit der Zeit der Urahnen noch immer ungebrochen ist. Seit ein paar Monden regen sich unsere Feinde, vage noch, aber sie mobilisieren Truppen zum Feldzug gegen mein Königreich. Daher habe ich all meine Verbündeten aufgerufen, an meine Seite zu eilen, auf dass wir gemeinsam den Kampf aufnehmen können für den Erhalt der letzten Hochburg der wahren Herrscher der alten Welt! Ritter, Magier, Vampire, Elfen, Werwölfe - alle sind mir willkommen! Und Ihr, Mylady, seid meinem Rufe augenscheinlich ebenfalls gefolgt!«

 

›King‹ war der Name eines Gefolgsmannes in einem Fantasy-Onlinespiel, welches Anne während ihrer Bettzwangspausen auf ihrem iPhone spielte. Wie dekadent, schoss ihr durch den Kopf. Nur hatte das in den Schlaf Streicheln der Kleinen in der Realität keinerlei dekadente Note, sondern rein praktische Bedeutung.

Der Student aus Los Angeles war am Tag zuvor mit der Idee auf sie zugekommen, an einem neuen Live-Rollenspiel über sein imaginäres Königreich mitzuwirken. Sie fragte sich einen Moment lang, welche Vorstellung der Amerikaner vom ›alten Europa‹ hatte, wenn er das Rollenspiel ausgerechnet an diesen Schauplatz verlagerte.

Da Annes Spielcharakter - sie mimte eine hochrangige Dunkel-Elfe und Geschichtenerzählerin - über eine Gefolgschaft von mehreren tausend Spielern verfügte, versprach sich der ,King' dadurch regen Zulauf für sein Projekt. Also hatte sie ihr Profil verlinkt und zugesagt, ihr Gefolge auf dieses Seitenprojekt aufmerksam zu machen.

Sie fand die Idee fesselnd genug, um dafür ein wenig ihrer Zeit zu verwenden. Schließlich war es nicht so, dass sie gerade viel zu tun gehabt hätte. Aber das mussten die Fans in diesem Spiel nicht wissen. Sie mussten im Grunde überhaupt nichts über die wahre Anne wissen. Sie mussten nur ihre erfundene Geschichten lesen und gut finden. Und das taten sie zuhauf.

Ihre Profilseite quoll über vor Lobreden, literarischen Werken ihres Gefolges, den zahllosen Anfragen neuer Gefolgsleute und deren Bitten um Broadcasts, kleine Veröffentlichungen in Form einer raffiniert in Prosa verpackten Werbung für die Spielercodes der Mitspieler. Welch süße Ablenkung in ihrem nervenaufreibenden und gleichzeitig doch so tristen Alltag. Und nun noch ein Live-Rollenspiel. Perfekt und gerade zur richtigen Zeit. Anne ersann ihren nächsten Spielzug und schrieb, solange Gillian noch schlief.

 

Maid @ King / All: Schaue mich weiter um, überwältigt von der Zufluchtsstätte des Königs. Des Lehnsherrn von Kerystrum. Der Ritt zu dieser Trutzburg war beschwerlich und voller Gefahren. Ich nehme am Rande wahr, dass sich in der Eingangshalle noch weitere Herrschaften befinden, die mir unbekannt sind. Möglicherweise seine Garde. Reiche dem König gedankenverloren die Hand.

 

King @ Maid: Küsse Myladys Hand. Weise den Weg in einen angrenzenden Raum mit einer offenen Feuerstelle, in der die Holzscheite knistern und die fensterlose Kammer in einen flackernden rötlichen Feuerschein hüllen. Lasse die Tür hinter uns schließen. »Ihr seht ganz entzückend aus. Wollt Ihr nicht am Feuer Platz nehmen, Ihr müsst müde sein!«

 

Maid @ King: Meine Hand, die eben den Verschluss des Umhangs öffnen will, um ihn einem herbeieilenden Diener zu überreichen, kommt zu einem Halt, als ich das Kompliment aus dem Mund des Lehnsherrn vernehme. »Mylord, Ihr schmeichelt mir ...«, murmele ich errötend. Und setze mich, ohne den Umhang abzulegen.

 

King @ Maid: Nicke Mylady zu und bedeute dem Diener, ihr einen Kelch Blutwein anzubieten. Verberge meine Neugier, ob sie diesen Kelch annehmen wird. Kenne Myladys Herkunft nicht und rätsele.

 

Maid @ King: Nehme den Kelch an, den mir der Diener des Königs anbietet. Der Höflichkeit muss Rechnung getragen werden. Auch in Zeiten wie diesen darf eine Lady ihre gute Erziehung nicht vergessen. Egal, wie sehr ich diesen Wein verabscheue. »Haltet für einen Moment mit den schönen Worten ein, Mylord. Wir haben an diesem Abend dringendere Dinge zu besprechen! Ich bin kein Ritter, kein Zaubermeister, kein Vampirlord, nur eine Lady, aber ...« Werde in meiner Rede von einem lauten Krachen unterbrochen, mit dem die Tür gegen die Steinwand schlägt ...

 

Neben ihr wachte Gillian langsam wieder auf und rieb sich die Augen. Es war höchste Zeit, sich um die Haushaltspflichten zu kümmern. Annes Tage drehten sich nur noch um Einkaufslisten, besabberte Babysachen, anzuwärmende Flaschen, chaotische Einfälle der Zwillinge, die Launen ihres Ehemannes und, nicht zu vergessen, das Meinungsbild der Nachbarn. Statt wie gewohnt um Projekte, Verhandlungen und viel, viel Geld. Kein Wunder, dass sie frustriert war. Sie legte ihr iPhone mit Bedauern beiseite und zwang ihre Gedanken zurück ins Hier und Jetzt.

Statt Myladys Rolle zu verfeinern galt es, mit Gillian auf dem Arm der Wäsche eines fünfköpfigen Haushalts Herr zu werden. Dies barg ausreichend Reizpotenzial, da ihr Mann seine Schmutzwäsche bis in die entlegensten Winkel eines knapp 200 Quadratmeter großen Hauses verteilte und keine Rüge der Welt ihn dazu bewegen konnte, sie dort zu sammeln, wo sie hingehörte. Sogar ihre Kinder waren ordnungsliebender.

So wurde Anne, im Kopf noch halb mit der Komposition ihres nächsten Spielzugs abgelenkt, recht unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Ihr Blutdruck stieg allmählich. Als sie nach fünf Minuten einen beachtlichen Berg an einzelnen verdrehten Socken, getragenen T-Shirts und Boxershorts in verschiedenen Stadien der Knäuelbildung zusammengesammelt hatte und in Richtung Hauswirtschaftsraum aufbrach, wurde ihr eine kleine Unachtsamkeit zum Verhängnis.

Bemüht, die wieder halb eingenickte Gillian, die an ihrer linken Schulter lehnte, und den Wäscheberg gemeinsam zu transportieren, hatte sie sich den Blick auf den Weg verbaut. Prompt stolperte sie an der nächsten Tür. Das hölzerne Ende von Laurines Steckenpferd war fein säuberlich in Fußangelhöhe arrangiert - ihre Tochter hatte am Abend zuvor ihr derzeitiges Lieblingsspielzeug in direkter Nachbarschaft zum Wirtschaftsraum zum Schlafen in den »Stall« gebracht.

Nun hatte dieser listige Gaul Anne ein Bein gestellt, und um das Kind an ihrer Schulter nicht fallen zu lassen, segelten alle mühsam zusammengesammelten Kleidungsstücke ihres Mannes zurück auf den Boden. Ihre schreckhafte, ruckartige Bewegung ließ Gillian aufheulen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich Annes milde Verstimmung in kochende Wut verwandelt. Sie klaubte die zerstreuten Teile auf, versetzte dem Steckenpferd einen wenig freundschaftlichen Tritt und gelangte im zweiten Anlauf bis zur Waschmaschine.

Inzwischen bog und wand sich das Baby in ihrem Arm und machte die Bestückung der Waschtrommel zur nächsten abenteuerlichen Aufgabe. Was zur Hölle tat sie hier eigentlich? Von wegen dekadent! Warum war ihr bisher nie aufgefallen, wie bürgerlich, wie banal ihr Dasein war?

Als die Waschmaschine endlich zu arbeiten begann, befand Anne, dass der Rest des Haushalts gut und gerne noch etwas warten konnte. Lieber übte sie mit Gillian Drehungen vom Rücken auf den Bauch. Wie viele Monate würde es noch dauern, ehe sie wieder ins Büro flüchten konnte? So sehr sie ihre Kinder auch liebte, sie brauchte dringend eine Pause von Gequäke und drögen Haushaltspflichten. Oder wenigstens adäquate Ablenkung, um über den Rest des Tages, der Woche - nein, besser des ganzen Monats zu kommen.

Das Rollenspiel lief dazu für ihren Geschmack etwas schleppend an. Keine neuen Beiträge seit ihrem letzten Zug, stellte sie eine Stunde später ernüchtert fest. Es war der erste Tag und kaum einer wusste von dem Projekt, tröstete sie sich selbst und beschloss, endlich die Werbetrommel zu rühren. Sie hatte vorsorglich in ihrem letzten Spielzug Köder für etwaige Neuankömmlinge ausgelegt, damit die den Faden der Geschichte aufgreifen und sich eigene Charaktere zulegen konnten. Jetzt fehlte nur noch die Werbung. Denn was niemandem bekannt war, konnte auch nicht zum Erfolg werden.

Zuvor musste sich Anne auf ihrer Profilseite durch umfangreiche Korrespondenz arbeiten. Zehn Nachrichten waren seit dem Morgen eingegangen. Drei neue Gefolgschaftsanfragen, die sie gleich annahm. Zwei Fans priesen ihre Veröffentlichungen vom gestrigen Tag, zwei weitere baten sie um eine individuelle Geschichte zur Bekanntmachung ihrer Spielercodes und der Rest war allgemeines Blabla.

Anne wollte gerade einen Verweis auf das Rollenspiel verfassen, da blinkte die nächste Nachricht auf und hielt sie einen Moment von ihrem Vorhaben ab. Einer der neuen Gefolgsleute, deren Anfragen sie soeben bestätigt hatte, hinterließ einen längeren Kommentar.

 

Darklord: »Mylady, Ihr habt wirklich schriftstellerisches Talent. Ich bin unsicher, ob ich Euch meine Geschichte erzählen kann. Zu viele Tage habe ich in der Dunkelheit meines Daseins verbracht, und die Erinnerung an mein einstiges Selbst schmilzt mit der Zeit dahin. Zurück bleiben nur Kälte und die Erinnerung an ein wunderschönes Gesicht, das mich liebevoll aus tiefblauen Augen ansieht. Die Rückbesinnung auf ein Gefühl leidenschaftlicher Liebe und Einheit, von dem ich weiß - nein, von dem ich lediglich hoffe -, dass ich es damals in dem Teil meiner Vergangenheit, zu dem ich jetzt keinen Zugang mehr habe, kannte. Zu sehr bin ich in der Zeit verloren, der gute Teil von mir vergessen. Ohne Vergangenheit. Ohne Zukunft. Auf der Suche nach meinen Wurzeln, nach dem Ursprung dieses vergessenen Teils meiner Selbst. Um Frieden zu finden. Um auszuruhen. Aber lassen wir das für den Moment. Ich muss mich vorerst verabschieden: Ein alter Bekannter scheint Neuigkeiten zu ebendieser meiner Suche zu haben. Küsse, meine dunkle Lady, mit all dem bisschen Liebe, das meine gequälte Seele noch in der Lage ist zu fühlen.«

 

Anne war nicht richtig bei der Sache, sondern gedanklich beim Formulieren der Werbung für das Rollenspiel, als sie diese Zeilen ein erstes Mal überflog. Sie hatte aufgehört zu zählen, wie viele Spieler mit Namen »Darklord« in ihrem Gefolge waren, zwischen den unzähligen Legolas', Ablegern der Tafelrunde und Zauberern von Oz. Offenbar hatte sie jetzt einen weiteren dunklen Lord dazubekommen.

Der Fairness halber musste sie sich eingestehen, dass ihr Spielername für ein Fantasy-Spiel auch nicht von großem Einfallsreichtum zeugte - sie nannte sich eben einfach die »Maid«. Sie las Darklords Nachricht noch ein zweites Mal, diesmal aufmerksamer. Ihr Gefolgsmann schien wie sie selbst einen Hang zum Schreiben zu besitzen, mit einer ausgeprägten Ader zum Dramatischen. Was faszinierte sie nur an seiner Geschichte auf den zweiten Blick? Vielleicht war es das Verlorene, das Dunkle, das bewusst Dramatisierte und das Ungesagte. Etwas in diesen Zeilen schien Anne zu rufen, sie nicht loszulassen und so formulierte sie eine kurze Antwort.

 

Maid: »Mein Lord, ich fühle mich geehrt, dass Ihr mich mit der Tiefe Eurer Gedanken bekanntmacht. Ich bitte Euch inniglich, mir den Fortgang Eurer Suche mitzuteilen. Ebenso spüre ich die ungebändigte Freude in Euch, einen Federkiel zu schwingen. Daher erlaube ich mir, Euch auf das Rollenspiel-Projekt eines Gefolgsmanns aufmerksam zu machen, das gerade neu begonnen hat und schneidige Charaktere braucht. Es wäre mir eine Freude, Euch dort mit trefflich spitzer Feder an meiner Seite zu wissen. Die Maid, die wohl eher eine dunkle Damsel ist.«

 

Einmal auf Darklords Profilseite, las sie wie gewohnt in die Kommentare hinein - schließlich wollte sie möglichst viele ihrer Gefolgsleute einordnen können - und stellte fest, dass er sich seit geraumer Zeit mit einer amerikanischen Studentin namens Freya unterhielt, die irgendwo in den Südstaaten Theologie und europäische Mythologie studierte.

Sie horchte auf. Es war nicht alltäglich, dass sich Amerikaner für europäische Mythologie interessierten. Eine Leidenschaft, die Anne durchaus teilte. Der Darklord hatte sich in vollendeter Gentleman-Manier über den Fortgang der Studien auf dem Laufenden halten lassen.

Anne fand darüber hinaus ihre Hoffnung auf weitere literarische Werke nicht erfüllt. Sie hätte gern noch mehr von diesen düster-romantischen Zeilen gelesen. Allerdings schien der Darklord in dem gleichen Maße, wie er den Damen als Troubadour begegnete, dem einen oder anderen Spieler als streitbarer Ritter entgegenzutreten. Seine Gespräche vergangener Tage, die sie nachlesen konnte, waren von einem feinen Humor und mit genau dem richtigen Maß Ironie gespickt.

Später am Abend wandte sie sich wieder dem Rollenspiel zu und wurde von den Ereignissen während ihrer Offline-Zeit überrascht.

 

Darklord @ King / Maid: