Nachtwald - Tríona Walsh - E-Book

Nachtwald E-Book

Tríona Walsh

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Beschreibung

Ein Herrenhaus mitten im Wald. Ein unerwarteter Gast. Ein Wochenende, das zum Albtraum wird. Nach sechs Monaten Abwesenheit lernt Lizzie endlich George, den neuen Ehemann ihrer Mutter, kennen. Um die Hochzeit nachzufeiern, fährt die Familie für ein Wochenende nach Westirland in Georges Haus. Statt des erwarteten kleinen Cottages stellt sich dieses als riesiges, etwas verfallenes Herrenhaus heraus. Es liegt mitten in einem dunklen Wald, und selbst die Zufahrt ist so zugewachsen, dass es nur mit einem längeren Fußmarsch erreicht werden kann. Doch dann findet noch jemand den Weg durch den Wald – und dieser Gast wird nicht einfach wieder weggehen. Ein albtraumhaftes Wochenende beginnt, während dem ein Geheimnis nach dem anderen ans Licht kommt. Und danach ist nichts mehr so, wie es vorher war.

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Seitenzahl: 447

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Tríona Walsh

Nachtwald

Thriller

 

Aus dem Englischen von Birgit Schmitz

 

Über dieses Buch

 

 

Butler Hall, ein düsteres, etwas verfallenes Herrenhaus im Westen Irlands. Nach Monaten ohne Kontakt trifft Lizzie hier wieder auf ihre Familie, um die Hochzeit ihrer Mutter zu feiern. Das Haus liegt mitten in einem dunklen Wald, selbst die Straße dorthin ist so zugewachsen, dass das Haus nur zu Fuß erreicht werden kann. Doch dann findet noch jemand den Weg durch den Wald – und dieser Gast wird nicht einfach wieder weggehen. Ein albtraumhaftes Wochenende beginnt, während dem ein Geheimnis nach dem anderen ans Licht kommt. Und danach ist nichts mehr so, wie es vorher war.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Tríona Walsh liebt es, Krimis und Thriller zu lesen und zu schreiben, ist im wirklichen Leben aber ziemlich gesetzestreu. Die zweimalige Gewinnerin des Wettbewerbs »Irish Writers Centre Novel Fair« lebt mit vier Kindern, drei Katzen und einem Ehemann in Dublin. Ihr erster Thriller »Schneesturm« eroberte direkt die Bestsellerlisten in Großbritannien, Irland und Deutschland. Auch ihr zweiter Thriller »Nachtwald« erscheint in vielen Ländern weltweit.

Inhalt

[Widmung]

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Epilog

Brief von Tríona Walsh

Für meine Lieblingseltern

Prolog

MONTAG, 23:00 UHR

Lizzie rang nach Luft. Ihr war schwindlig, und ihre Beine drohten nachzugeben – ausgerechnet jetzt, wo sie sie am dringendsten brauchte.

Claire neben ihr konnte sich kaum noch aufrecht halten.

»Bleib bei mir, Mum, lass mich nicht allein«, flehte sie.

»Lizzie«, flüsterte Claire.

Nun brachen sich die Tränen Bahn, die Lizzie schon so lange zurückgehalten hatte. Sie raubten ihr in der Dunkelheit das letzte bisschen Sicht.

Die Bäume um sie herum rückten näher. Alles schien sich gegen die beiden verschworen zu haben, so dass sie den herabgefallenen Ast auf dem Waldboden übersahen.

Sie stürzten darüber.

Lizzie japste. Ohne sich zu rühren, blickte sie nach oben. Zwischen den Baumwipfeln sah sie ein winziges Stück Himmel. Ein Stern funkelte, als wollte er ihr zuzwinkern. Sie formulierte im Stillen einen Wunsch.

Mach, dass wir lebend hier rauskommen.

Dann mobilisierte sie ihre letzten Kraftreserven und drehte sich um. Durch ihren verletzten Arm schoss ein scharfer Schmerz. Sie tastete nach ihrer Mutter, lauschte und kroch ganz dicht an sie heran. Der morastige Waldboden quoll schmatzend zwischen ihren Fingern hindurch.

Claire war in sich zusammengesackt.

Lizzie hockte sich hin, schob die Hände unter die Achseln ihrer Mutter und schleifte sie zu einem großen Baum. In der Dunkelheit konnte sie sich nur mit Hilfe ihres Tastsinns orientieren.

Sie lehnte sich gegen den feuchten Stamm und drückte ihre Mutter an sich.

»Tut mir so leid«, hauchte Claire kaum hörbar.

Lizzie hielt sie weiterhin fest, tastete nach Claires Handgelenk und fühlte ihren schwachen Puls.

Sie würde sterben, wenn sie nicht bald in ein Krankenhaus kam.

Lizzie weinte lautlos.

Dann erhob sie sich zitternd und zog ihre Mutter mit sich hoch.

Da!

Ein Geräusch. Ganz in der Nähe.

Ein metallisches Klacken.

Ein Gewehr, das nachgeladen wurde.

Man hatte sie gefunden.

Kapitel 1

Drei Tage zuvor

FREITAG, 14:00 UHR

Lizzie trat leicht gegen den Rucksack zu ihren Füßen. In dem halben Jahr auf der Farm hatte sie die Handvoll Bücher und die Kleider zum Wechseln, die sich in der Tasche befanden, eine Million Mal gelesen und getragen. Damals beim Packen hatte sie nicht recht gewusst, was sie mitnehmen sollte. Unter Druck konnte sie einfach nicht klar denken. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, strich sich die Haare, die ihr noch nicht im Gesicht klebten, hinter die Ohren und wünschte sich, sie hätte einen Sonnenhut mitgebracht. Aber kein Wunder, dass sie vor sechs Monaten, bei zwei Grad mitten im kalten Winter, nicht auf diese Idee gekommen war. Als ihre Mutter sie hier abgesetzt hatte und weggefahren war, ohne sich noch einmal umzusehen, hatte der Eisregen Lizzie sofort bis auf die Haut durchnässt.

Sie schaute die Einfahrt hinunter. Immer noch keine Spur von ihnen.

Sie hatte sich hier vergessen gefühlt. Aber genau das hatte sie auch gewollt. So wie man eine Suchmaschine bitten konnte, alle persönlichen Spuren aus ihren Ergebnissen zu löschen. Ein geplantes Vergessenwerden. Lizzie und ihre Mutter waren sich einig gewesen, dass sie eine Auszeit voneinander brauchten. Der Unfall hatte das Fass zum Überlaufen gebracht. Lizzie schüttelte den Kopf. Sie erschrak noch immer, wenn sie daran dachte, dass sie betrunken Auto gefahren war. Und unverzeihlicherweise sogar mit ihrem Bruder an Bord. Liam hatte keine schweren Verletzungen davongetragen, nur diese fiese Schnittwunde am Kinn. Doch selbst ein winziger Kratzer wäre zu viel gewesen. Nach dem Unfall hatte Claire ihr nicht mehr in die Augen sehen können. Die Familie war eh schon am Limit gewesen, und dann machte Lizzie auch noch so was. Claire hatte sie direkt hierhergebracht. Sie hatte sich bereit erklärt, Lizzie über Liams Befinden auf dem Laufenden zu halten – nachdem Lizzie sie unter Tränen darum gebeten hatte –, aber das war auch schon alles. Keine Besuche. Kein netter Austausch via E-Mail. Ein sauberer Bruch.

Lizzie hob ihren Rucksack vom Boden hoch und setzte ihn auf. Sie würde zur Straße hinuntergehen und dort warten. Sie warf noch einen letzten Blick zurück zur Eingangstür der Klinik. Doch es war niemand da, um sie zu verabschieden, nur der rot-braune Kater beobachtete sie träge aus dem Schatten. Die meisten anderen Patienten hier waren deutlich älter gewesen als sie, und viel mehr als ihre Süchte hatten sie nicht gemeinsam gehabt. Aber obwohl Lizzie auf Distanz zu ihnen geblieben war, hatten sie ihr auf ihre Art doch geholfen. Allein zu sehen, in welchem endlosen Kreislauf der Selbstzerstörung die anderen gefangen waren, hatte eine heilsame Wirkung auf sie gehabt. Sie wollte nicht so sein wie sie. Sie war erst dreiundzwanzig Jahre alt und schämte sich schrecklich dafür, dass sie ihr Leben schon jetzt derart vermasselt hatte.

Sie winkte Castor, dem Kater, kurz zu und ging dann die lange, staubige Einfahrt hinunter.

Das Viehgitter am Tor der Zufahrt schepperte laut, als sie mit ihren Doc Martens darüberstiefelte. Neben einem großen Findling mit der Inschrift Entzugsklinik St. Brigid’s Farm stellte sie ihren Rucksack wieder ab.

Die Therapie war weder leicht gewesen noch irgendwie glamourös. Aber sie hatte funktioniert. Lizzie wurde trocken nach Hause entlassen.

Na ja, nach Hause ging es nicht direkt. Sie würden nach Westen fahren, um dort ein langes Wochenende zu verbringen. Wohin genau wusste Lizzie nicht.

Sie hörte ein Geräusch in der Ferne und blickte hoch. Ein Auto näherte sich. Bei genauerer Betrachtung war es eher ein Kleinbus. Er kam langsam näher und hatte einen unliebsamen Begleiter im Schlepptau: Beklommenheit. Das bevorstehende Wiedersehen bereitete Lizzie Bauchschmerzen. Sie hatte seit Tagen schlecht geschlafen deswegen.

Der Wagen bremste ab und kam zum Stehen. Der Fahrer trug eine Sonnenbrille, die seine Augen verbarg; er beachtete sie gar nicht. Die Schiebetür ging auf, und Claire stieg aus. Sie trug ein blaues T-Shirt, Jeans und Wanderstiefel, was nicht so recht zu ihrer schicken Hochsteckfrisur und ihrem sorgfältig geschminkten Gesicht passen wollte. Federleichtes buntes Konfetti folgte ihr wie ein Kometenschweif.

»Hallo, Mum«, sagte Lizzie und lächelte probeweise.

»Hallo, Lizzie.« Claire verzog keine Miene. Welche Gefühle sie mit der heutigen Entlassung ihrer Tochter verband, zeigte sie nicht. Auch nach all der Zeit blieb sie reserviert. Lizzie konnte es ihr nicht verübeln. Umgekehrt hätte sie sich genauso verhalten.

»Wer hat denn das Konfetti geworfen?«, fragte Lizzie, als ein paar der bunten Papierflocken vorbeiwirbelten; sie wollte eine fangen, trieb sie jedoch nur von sich weg. Sie achtete darauf, kein Misstrauen durchklingen zu lassen.

»Ach, das waren die Angestellten in unserer Pension. Und bevor du fragst: Sie waren auch die Trauzeugen. Wir haben die Hochzeit nicht heimlich groß gefeiert, ohne dir Bescheid zu geben.«

»Weiß ich doch …«, antwortete Lizzie, aber ganz sicher war sie sich nicht. Vor dem Entzug hätte sie sich selbst nicht zu einer Hochzeit eingeladen. Und auch sonst zu nichts.

»Es ist genauso abgelaufen, wie ich dir geschrieben hab. Wir wollten es nur offiziell machen, mit so wenig Brimborium wie möglich.« Claire zog die Augenbrauen hoch. »Liam war auch nicht dabei. Und Freya, Georges Tochter, auch nicht. Nur wir zwei.«

»Ich glaub dir ja.«

»Hoffentlich. Wir haben es vor allem deshalb heute gemacht, weil wir auf die Weise alles prima verbinden können: erst die Heirat in Dublin, dann dich hier einsammeln und dann auf zu Georges Haus in Mayo. Die Farm liegt ja quasi auf dem Weg nach Westen.«

Na also, da war sie doch, die praktisch denkende, vernünftige Claire. Lizzie hatte gewusst, dass sie irgendwo dadrinnen verborgen war. Auf die Nachricht, dass ihre Mutter heiraten wollte, hatte sie fassungslos reagiert. Während sie heute Morgen ihre Siebensachen zusammengesucht und einen letzten Streifzug über die Farm gemacht hatte, hatte ihre Mutter in Dublin einem Mann das Jawort gegeben, den Lizzie noch nie gesehen hatte. Das war bizarr, und alles daran war völlig untypisch für Claire. Lizzie kam es so vor, als wären mit Claire – kaum dass sie die Sorge um ihre Tochter los war – die Pferde durchgegangen. Erst hatte Lizzie das noch für einen Scherz gehalten. In der E-Mail, in der es eigentlich darum ging, wann sie Lizzie abholen würden, hatte Claire die Bombe platzen lassen und ihr von Georges Heiratsantrag berichtet. Die beiden hatten nicht lange gefackelt und gleich Nägel mit Köpfen gemacht.

»Stellst du mir deinen Märchenprinzen denn auch vor?«

»Natürlich.« Claire wandte sich dem Wagen zu und nickte. In der Schiebetür erschien zunächst nur ein Kopf mit grau-blondem, weich fallendem mittellangem Haar. Dann stieg ein sehr großer Mann aus, dessen Kleidung, wie Claires, eher zu einer Wanderung als zu einer Hochzeit gepasst hätte. Mit einem strahlenden Lächeln streckte er Lizzie die Hand hin.

»Hallo, Elizabeth! George Butler, freut mich, dich kennenzulernen. Du kannst auch …« Dann stockte er. Sein Lächeln erstarb. Sie wussten alle drei, was er sagen wollte. »Du kannst auch Dad zu mir sagen.« Ein alberner Scherz, ein spontaner launiger Spruch, um das Eis zu brechen, wenn man sich den unbekannten Kindern einer neuen Partnerin vorstellt. Bei jeder anderen Familie wäre er harmlos gewesen und hätte wahrscheinlich auch die gewünschte Wirkung gehabt. Bei ihrer allerdings nicht.

Der arme George stand nun peinlich berührt vor ihr.

»Mach dir nichts draus«, sagte Lizzie und griff nach seiner Hand. »Schön, dass wir uns kennenlernen.«

George lächelte erleichtert und drückte ihr die Hand.

»Ja, das freut mich auch. Deine Mutter hat mir alles über dich erzählt.«

»Das will ich nicht hoffen«, sagte Lizzie.

George lachte herzlich über ihre Antwort, aber Lizzie brachte nur ein schwaches Lächeln zustande. Das war eigentlich kein Scherz gewesen.

Aber es war gut, George endlich kennenzulernen. Lizzie wusste bislang nur sehr wenig über den neuen Mann an der Seite ihrer Mutter. Claire hatte in einer ihrer Mails erwähnt, dass sie in ihrer Selbsthilfegruppe für junge Witwen und Witwer jemanden kennengelernt hätte. (Obwohl wir natürlich nicht mehr wirklich jung sind, hatte sie geschrieben. Ich bin 45, nicht 25, und er 54. Aber ich schätze mal, das ist alles relativ.) Er stamme aus Mayo und habe eine Tochter, die im selben Alter sei wie Lizzie. Das war’s. Aber nicht nur das Tempo, das die beiden vorlegten, schockierte Lizzie – zwischen ihrem Kennenlernen und ihrer Hochzeit lagen gerade mal die sechs Monate, die Lizzie in St. Brigid’s verbracht hatte. Es gab doch auch noch all das, was vorher passiert war. Vor fünf Jahren. Mit Dad. Sie konnte nicht verstehen, wie Claire danach so spontan sein konnte, so sorglos.

Aber sie hatte nichts gesagt. Hatte keinen Ärger gemacht. Sie war jetzt die neue Lizzie und wollte ihre Mutter glücklich machen. Schließlich hatte sie die letzten fünf Jahre damit zugebracht, Claire das Herz zu brechen. Es wurde Zeit, dass sie dazu beitrug, dass es ihr wieder gut ging. Wie dieser George Butler es offenbar auch tat.

George nahm Lizzies Rucksack und trug ihn zum Kofferraum. Als Lizzie ein paar Schritte auf den Wagen – und damit auch auf Claire – zu machte, wurde beiden gleichzeitig bewusst, dass die meisten wiedervereinten Mütter und Töchter sich in der Zwischenzeit wohl längst umarmt hätten. Lizzie beugte sich vor. Claire ebenfalls. Steif und förmlich. Sie hielten weiter so viel Abstand voneinander, dass eine Prozession zwischen ihnen hätte hindurchmarschieren können.

George kam wieder um den Wagen herum und zog an einem Hebel neben dem Sitz im Inneren, um ihn nach vorn zu klappen.

»Komm!«, sagte Claire. »Vor uns liegt eine lange Fahrt. Schließlich müssen wir einmal quer durchs Land. Dein Bruder sitzt auch hinten.«

»Hüpf rein!«, sagte George, und Lizzie nahm auf der Rückbank Platz. Neben Liam. Damit kam sie vom Regen in die Traufe. Die Aussicht auf das Zusammentreffen mit ihm hatte Lizzie ebenso viel Schlaf geraubt wie das bevorstehende Wiedersehen mit Claire.

Da saß er, mit klobigen Kopfhörern auf den Ohren. Die dumpfen Bässe von was auch immer er gerade hörte drangen schwach darunter hervor. Lizzie stockte der Atem. Er war gewachsen, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Das hatte sie nicht erwartet. Er war in ihrer Abwesenheit achtzehn geworden und sah jetzt aus wie ein Mann. Nicht mehr wie ein Junge. Noch dazu sah er einem bestimmten Mann sehr ähnlich. Ihrem Dad. Das schwarze Haar, die blauen Augen, das war alles gleich geblieben. Und doch auch irgendwie verändert. Liams Kinnlinie wirkte jetzt ausgeprägter, mehr so wie Declans. Sie hoffte nur, dass er immer noch der nette und liebenswürdige Junge war, der er bisher gewesen war, und nicht auch Declans Persönlichkeit übernommen hatte.

Sie glitt auf die Rückbank und legte den Sicherheitsgurt an. Liam starrte grußlos weiterhin aus dem Fenster. Das Sonnenlicht fiel auf die weiße Narbe, die sich über seinen Kiefer zog. Sie war nicht mehr so rot und geschwollen wie am Anfang, sondern verblasst. Wie hoffentlich auch seine Erinnerung an jene Nacht. Liams demonstratives Schweigen deutete jedoch auf das Gegenteil hin.

George zog die Autotür zu, und der Fahrer fuhr los. Während St. Brigid’s in der Ferne verschwand, sah Lizzie die Felder vorbeiziehen und hoffte, dass sie den schlimmsten Teil von sich dort zurückgelassen hatte.

»Hallo, Liam«, sagte sie testweise.

Nichts.

Sie legten Meile um Meile zurück, ohne dass Liam auch nur ansatzweise versuchte, ein Gespräch mit ihr anzuknüpfen. Stattdessen würdigte er sie keines Blickes. Einmal fuhr er das Fenster herunter, um eine Fliege hinauszulassen, drehte sich ihr aber nicht zu. Lizzie erwischte Claire ein paarmal dabei, wie sie verstohlen zu ihnen nach hinten sah. Lizzie wandte sich ab. Grüne Weiden und Schafe, kleine Städte und Dörfer zogen vorbei. Die Bewegungen des Autos wiegten sie sanft hin und her, bis sie ruhig wurde. Es vergingen Stunden, bevor sie das Schild sah: WILLKOMMEN IM COUNTY MAYO. Die Straßen wurden immer schmaler. Die Ortschaften seltener.

Je schlechter der Handyempfang wurde, desto mehr wandte Liam sich seinen Mitfahrern zu. Es war, als ließe die Wirkung eines Banns nach.

»Wo ist denn die Zivilisation geblieben?«, murmelte Liam.

»Die haben wir hinter uns gelassen«, sagte Lizzie. »Sie ist etwa fünfzig Jahre von hier entfernt.«

Er schaute sie an, ohne eine Miene zu verziehen. Dann starrte er wieder aus dem Fenster.

Zwanzig Minuten hinter dem letzten Dorf – das aus einem Pub und einem geschlossenen Postamt bestand – hielten sie am Straßenrand. Als sie dem Minivan entstiegen, standen sie direkt in der Nachmittagshitze. Sie streckten sich und schüttelten ihre von der langen Fahrt steifen Glieder.

»Am Ende dieses kleinen Sträßchens da liegt der Eingang zu meinem bescheidenen Domizil«, sagte George und zeigte auf einen holprigen Weg auf der anderen Straßenseite.

Alle richteten ihre Blicke dorthin. Das Sträßchen selbst sah okay aus. Weitaus abschreckender wirkten jedoch die Bäume zu beiden Seiten. Sie drängten sich, wie hohe Mauern, bis dicht an den Weg heran und erstreckten sich endlos in beide Richtungen. Mächtig, undurchdringlich und alles überschattend, dominierte dieser Wald jeden Zentimeter der Landschaft. Und selbst an diesem strahlenden Sommertag wirkte er finster und abweisend.

George hob die Taschen aus dem Kofferraum, dann ging er zum Fahrer und reichte ihm ein Bündel Geldscheine durchs Fenster.

»Am Dienstagmittag um zwölf wieder hier, an der gleichen Stelle«, sagte er zu ihm. »Wir haben hier draußen keinen Empfang, Sie können uns also nicht erreichen. Nachmittags gehen unsere Flüge ab Knock Airport, die dürfen wir nicht verpassen. Also seien Sie bitte pünktlich. Okay?«

Als der Mann nickte und weiterfuhr, schauten Lizzie und Liam auf ihre Handys. Tatsächlich, die Balken waren inzwischen komplett grau.

»Scheiße!«, rief Liam, seine Miene verfinsterte sich.

Lizzie war weniger entsetzt. Es gab ohnehin niemanden, der auf Nachrichten oder Social-Media-Posts von ihr wartete.

Sie blickte hoch und sah, dass George sie beide mit dem feixenden Grinsen eines Fünfjährigen betrachtete.

»Seht euch nur diese Bäume an! Sind sie nicht großartig?«

»Hm …«, machte Lizzie.

»Einfach herrlich!« George strahlte und setzte seinen schweren Rucksack auf.

»Okay, Leute, auf geht’s!«

Kapitel 2

»Wie bescheuert ist das denn?«, grummelte Liam, während er lustlos den Weg entlanglatschte und gegen Pilze trat, die am Fuß eines Baums wuchsen. »Wer baut denn mitten im Wald ein Haus?« Er schüttelte den Kopf.

Lizzie warf ihm einen Seitenblick zu. Claire und George gingen ein Stück vor ihnen, an sie waren seine Worte also nicht gerichtet. Aber da er auch nicht mit ihr redete, war sein Gegrummel wohl nur für seine eigenen Ohren bestimmt. Lizzie beschloss, ihm trotzdem zu antworten.

»Ich glaube, der Wald ist erst später gewachsen«, wagte sie sich vor. »Wir sind vorhin an den Resten von alten Torpfosten vorbeigekommen. Das Tor war früher bestimmt der Beginn einer repräsentativen Einfahrt. Wie’s aussieht, wird das Grundstück aber schon lange nicht mehr richtig gepflegt.«

Liam schaute sie an, sagte aber nichts. Also füllte Lizzie das Schweigen.

»Hat George dir schon mal was über das Haus erzählt?«

Liam schüttelte den Kopf.

»Gar nichts?«, hakte Lizzie ungläubig nach.

»Ich glaub, Mum hat gesagt, es wäre ein baufälliges Cottage oder so was in der Art.«

»Aha, verstehe.«

Lizzie schlug einen Schwarm kleiner Mücken weg und spähte auf der Suche nach einem ersten Hinweis auf das Haus angestrengt zwischen den Bäumen hindurch. Die kleine Gruppe folgte einem gewundenen Pfad aus festgetretener Erde. Sie waren ringsum von Wald umgeben. Regelrecht umzingelt. Wenn es mal Lücken gab, füllten Farne und wild wuchernde Rhododendren sie aus. Auf dem Waldboden vermoderten hier und da umgestürzte Bäume, aus deren moosbedeckten Stämmen kleinere schmarotzerische Pflanzen emporsprossen. Im Unterholz raschelte und in den Wipfeln über ihnen rauschte es. Dass es hier kühler war, fand Lizzie durchaus angenehm, den feuchten, modrigen Geruch, den sie beim Gehen aufwirbelten, allerdings weniger. Dieser Wald war anders als jeder andere, den sie kannte. Es gab weder befestigte Wege noch Schilder. Das hier war einfach pure Wildnis.

Sie schaute zu Liam.

»Wie … äh, ist es dir denn so ergangen?« Lizzie war erleichtert, endlich ein paar Wörter aus ihrem Bruder herausbekommen zu haben, und wollte am Ball bleiben. »Mum hat mich auf dem Laufenden gehalten. Na ja, hin und wieder. Ich bin froh, dass der Unfall dich nicht davon abgehalten hat, die Schule zu Ende zu machen.«

»Unfall? So nennst du das? Ich dachte, du wärst betrunken mit mir im Auto gefahren und hättest uns gegen eine Mauer gesetzt. Es ist nicht so, als wäre uns plötzlich irgendwas in die Quere gekommen, Lizzie.«

»Tut mir …«

»Oh, nein, bitte nicht!«

»Ich muss dir aber sagen, dass es mir leidtut, Liam. Ich muss es dir zeigen. Und Mum auch.«

Liam sah sie an und schüttelte den Kopf.

»Echt, Lizzie, lass es einfach.«

Er zog sich wieder in sein Schneckenhaus zurück und ging absichtlich langsamer, damit sie nicht mehr mit ihm reden konnte. Als Lizzie einen Blick nach hinten warf, hatte er seine Kopfhörer wieder aufgesetzt. Sie würde ihn in Ruhe lassen. Sie hätte ihn nicht drängen sollen. Aber sie konnte ja zu Claire und George aufschließen und bei ihnen einen neuen Versuch starten. Die beiden waren kurz stehen geblieben, und George beugte sich nach vorn, um Claire einen flüchtigen Kuss auf den Mund zu geben. Claire stand an einem der wenigen Flecken, an denen die Sonne durchs dichte Blätterdach fiel. Das Licht funkelte und tanzte auf ihrem Gesicht, und Lizzie fand, dass sie wie ein Fabelwesen aussah. Eine Waldfee. Claire strahlte ihren frischgebackenen Ehemann an. Sie wirkte wie verwandelt in ihrem Glück.

»Kommt, Leute, weiter geht’s!«, rief Claire. Dann noch mal lauter: »Liam!«

Lizzie drehte sich wieder nach ihrem Bruder um. Irgendetwas hatte ihn aufgehalten, und er blickte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Bei Claires zweitem Ruf schnellte sein Kopf herum, und er nahm die Kopfhörer ab.

»Planst du schon deine Flucht?«, flüsterte Lizzie, als er zu ihnen aufgeschlossen hatte.

»Kann schon sein«, murmelte er, ohne sie anzusehen. Er ging weiter und lief dann neben Claire und George her. »Willst du uns im finsteren Wald aussetzen, und dann müssen wir uns allein zu dem Fünf-Sterne-Hotel durchschlagen, in dem du mit George absteigst?«, fragte er. »Ich fühl mich hier wie in einem düsteren Märchen, Mum. Du hättest mich vorwarnen sollen, dann hätte ich mehr Brotkrumen mitgebracht.«

»Sei nicht albern, Liam«, erwiderte Claire glucksend.

Lizzie schaute weg. Der lockere Ton, in dem Liam mit ihrer Mutter sprach, die Ungezwungenheit zwischen den beiden tat weh.

»Keine Sorge, junger Mann«, sagte George, »hier wird niemand ausgesetzt!«

Liam wandte sich seinem neuen Stiefvater zu.

»Aber wir könnten uns verirren, oder? Ich meine, es gibt nicht mal einen richtigen Zufahrtsweg.« Er schaute sich um.

»Ein guter Geländewagen kommt hier durch«, antwortete George.

»Und warum laufen wir dann?«

»Weil’s Spaß macht! Außerdem hab ich keine Benzinschleuder.«

»Aber ohne kommt man hier doch gar nicht klar, oder? In der Gegend?«, sagte Lizzie. »Wie kriegt man denn ohne Auto seine Einkäufe nach Hause?«

George lachte.

»Für kleinere Besorgungen in der Umgebung hab ich ein altes Quad mit Anhänger. Und für die paar Male, die ich was Größeres transportieren muss, hab ich eine Absprache mit einem Farmer getroffen. Er liefert mir dann alles mit seiner Benzinschleuder.« George zeigte auf Reifenspuren auf dem Weg. »Da könnt ihr’s sehen. Er war hier und hat uns Vorräte fürs Wochenende gebracht. Sehr gut.«

»Hätte er nicht auf uns warten können?«, fragte Liam. »Der Weg zieht sich ja ganz schön, vor allem, wo wir auch noch unsere Sachen schleppen wie die Packesel. Es ist einfach zu heiß für so was, selbst hier im Wald.«

George stieß plötzlich ein derart lautes »Yihahh!« aus, dass sie alle genauso erschraken wie die Vögel in den Zweigen über ihnen, deren Flügel im gleichen schnellen Rhythmus schlugen wie ihre panisch klopfenden Herzen. Der Schrei prallte von den Bäumen ab, hallte durch den Wald und trieb Eichhörnchen und Kaninchen in seine dunkelsten Ecken. Derweil drehte George sich mit ausgebreiteten Armen um sich selbst. Mit seinen eins achtundachtzig und seiner kräftigen Statur sah er aus wie einer der Bäume um ihn herum. Lizzie stellte sich vor, aus seinen Zehen würden Wurzeln sprießen, die sich in die Erde hineinbohrten, seine Arme wären Zweige, und die Finger bildeten die Blätter.

»Siehst du denn nicht, wie toll das ist?«, sagte er. »Mir gefällt’s hier richtig gut. Wenn man den Weg zum Haus zurücklegen will, muss man es zu den Bedingungen der Natur tun und nicht zu denen des Menschen. Ich respektiere das! Es erinnert mich daran, dass wir nicht alles in der Hand haben. Auf die Weise kann man sich in Bescheidenheit üben, findest du nicht?«

»Äh, wenn du meinst«, erwiderte Liam.

»Aber ich versteh dich ja, es ist schon ein bisschen … unkonventionell. Wir renovieren das Haus bereits, seit mein Vater es geerbt hat. Das ist einfach sauteuer. Ständig fällt irgendwas an, was unaufschiebbar ist. Und bevor wir uns anderen Dingen zuwenden, wollen wir es erst mal wieder so herrichten, dass man darin wohnen kann.« George blickte sich um und schaute dann mit gerunzelter Stirn die hohen Bäume an. »Das alles hier draußen haben wir bislang weitgehend ignoriert. Außerdem halten die vielen Bäume und die fehlende Zufahrtstraße wenigstens die Leute fern! So brauchen wir keine Zäune.«

George griff nach Claires Hand, und sie gingen weiter.

Liam schaute Lizzie an.

»Zäune! Dass ich nicht lache. Wer sollte sich denn hierher schon verirren?«, sagte Liam.

»Stimmt.« Lizzie lächelte. »Er ist schon ein bisschen gewöhnungsbedürftig. Wenn du mich fragst, übertreibt er’s etwas.«

»Absolut.«

Liam blickte sich um.

»Also, was meinst du? Wie lange sind wir jetzt unterwegs? Fünfunddreißig Minuten? Vierzig?«, fragte er.

»Hab ich nicht drauf geachtet. Warum willst du das wissen?«

Lizzie sah ihren Bruder mit halb zusammengekniffenen Augen an. Warum interessierte er sich dafür, wie lange sie für den Weg zum Haus brauchten?

»Du denkst doch nicht ernsthaft darüber nach abzuhauen, oder?«

»Was? Wieso?« Liam sah sie an.

»Weil du so genau wissen willst, wie lange man bis zum Haus braucht. Klingt so, als würdest du schon heimlich Pläne schmieden.«

»Nein, ich hau nicht ab. Das kann ich Mum nicht antun.«

Liz spürte den Seitenhieb. Sie wussten alle, wer hier der Unruhestifter war. Plötzlich war Lizzie sich nicht mehr so sicher, ob sie noch Wert auf ein Gespräch mit Liam legte. Sie ließ ihn vorausgehen.

Inzwischen fand mehr Licht den Weg durch das Blätterdach. Sonnenstrahlen erhellten einzelne Stellen des Bodens wie Blitze. Claire war ein Stück weiter vorn an so einem Punkt stehen geblieben und hockte mit ihrem Telefon in der Hand über kleinen blauen Blumen. Lizzie stellte sich hinter sie.

»Machst du Fotos?«

Claire blickte zu ihr hoch.

»Nein, ich versuche rauszufinden, was das für Blumen sind, mit meiner Pflanzenbestimmungs-App.«

»Funktioniert das denn? Braucht man dazu nicht Empfang?«

»Doch, aber ich hab vor der Abreise die Datenbank der App runtergeladen, weil ich mir schon dachte, dass der Empfang hier schlecht ist.«

»Clever. Und? Hast du was rausgefunden? Wie heißen die Blumen? Sie sind hübsch.« Lizzie betrachtete über die Schulter ihrer Mutter hinweg die zarten Blüten. Sich in die Natur zu vertiefen, das war auf der Farm ein wichtiger Teil ihrer Therapie gewesen, und sie wusste, dass die Pflanzen auch auf ihre Mutter beruhigend wirkten.

Claire schaute wieder auf ihr Display. »Hier steht, dass es ein Veilchen ist. Sumpf-Veilchen, um genau zu sein.« Sie strich mit den Fingerspitzen über eines der zarten Blütenblätter. Dann richtete sie sich auf, und sie gingen gemeinsam weiter. Zwischen ihnen breitete sich ein unbehagliches Schweigen aus. Lizzie holte tief Luft.

»George fühlt sich in der Wildnis wohl, was?«

»Ja, total. Er ist ein echter Pfadfinder.«

»Jedenfalls scheint er diesen Ort sehr zu lieben.«

»Ja, stimmt.« Claire lächelte.

»Ich hoffe, dich liebt er genauso.«

Claire schaute Lizzie an.

»Du kannst ganz unbesorgt sein, Lizzie, in deinen Augen wirkt unsere Liebe wahrscheinlich ein bisschen zu zurückhaltend. Aber wir sind beide schon älter, da muss Liebe nicht immer mit Dramatik und großen Gesten verbunden sein.«

Sie ließ unausgesprochen, wer nie ohne Dramatik und große Gesten ausgekommen war. Inklusive einer letzten großen Geste, die alle anderen getoppt hatte.

»Das Tempo, in dem ihr geheiratet habt, kann ich weder alt noch langweilig finden.«

Claire schaute Lizzie an, ging aber schweigend weiter. Lizzie fühlte sich nicht wohl in ihrer Haut, wie immer, wenn ihre Mutter in Schweigen verfiel.

»Ich hab auf die harte Tour gelernt, dass es auch dann keine Garantie für ein Happy End gibt, wenn man jemanden sein Leben lang kennt.«

»Tut mir leid, Mum, ich wollte nicht …«, begann Lizzie, aber Claire schüttelte den Kopf.

»Wir sind gleich da, Leute!«, rief George. »Kommt, hopp, hopp! Die letzten Meter!«

»Wir kommen!«, rief Claire. Auf ihrem Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus.

Sie schaute Lizzie an. »Keine Sorge, ich weiß, was ich tue.«

Gemeinsam schlossen sie zu George auf und bewegten sich nach und nach aus der Dunkelheit des Waldes heraus. Und kaum dass nach dem kühlen, schattigen Wald die Sommerhitze wieder spürbar war, bildeten sich auf Lizzies Stirn die ersten Schweißperlen. Der Weg wurde breiter. Die vier folgten ihm, bis zwischen den Bäumen schließlich eine Rasenfläche in Sicht kam und das Grau von Steinen nach all den Grün- und Brauntönen des Waldes den ersten Hinweis auf die Gestaltung der Landschaft durch Menschenhand gab.

»Willkommen in Butler Hall!«, rief George, als sie wie Märchenfiguren aus dem Wald traten.

»Ach du Scheiße«, japste Lizzie. »Wahnsinn.«

Kapitel 3

Lizzie stand sprachlos da. Auch Claire und Liam blieb der Mund offen stehen.

»Das ist dein Haus?«, brachte Lizzie schließlich heraus.

Das da war kein baufälliges Cottage. Keine heruntergekommene Behausung. Stattdessen stand auf dieser Lichtung tief im Wald – beinahe wie von Zauberhand dorthin befördert – ein riesiges, beeindruckendes Herrenhaus. Das dreigeschossige Gebäude, das auf einem viel zu kleinen Grundstück errichtet war, verfügte über einen Portikus mit vier Granitsäulen, eine große, schwarz glänzende Tür und einen breiten Treppenaufgang.

»Yup.« George grinste. »Das ist es.«

Lizzie ließ ihren Rucksack fallen. Dann hob sie die Hand über die Augen und blickte ein weiteres Mal vom Boden bis zum Dach. Die hoch am Himmel stehende Sonne warf nur wenig Schatten.

»Toll, oder?«, sagte George mit einem noch breiteren Grinsen, wenn das überhaupt möglich war.

»Liam hat gesagt, es wäre ein baufälliges Cottage!«

George lachte.

»Na ja, ich hab mich vielleicht ein bisschen vage ausgedrückt.« Er drehte sich um und blickte Claire mit glänzenden Augen an. »Ich musste doch sicher sein können, dass du mich um meiner selbst willen liebst und nicht wegen meines Hauses«, meinte er grinsend.

»George Butler, du alter Dummkopf, natürlich liebe ich dich um deiner selbst willen … obwohl, jetzt vielleicht sogar noch ein bisschen mehr.« Claire legte lachend den Arm um George und schmiegte sich an ihn. »Jedenfalls ist das, verglichen mit deinem winzigen Apartment in Dublin, eine nette Abwechslung.«

»Bist du reich?«, fragte Liam mit dem Feingefühl eines Fünfjährigen.

»Schön wär’s!«

»Ist das die ›Ich bin nicht reich, ich hab nur ein paar Millionen auf der Bank‹-Sorte von nicht reich?«, fragte Liam weiter.

George lachte erneut.

»Nein, ich fürchte nicht. Es ist die ›Nicht reich‹-Sorte von nicht reich. Meiner Familie ist schon vor langer Zeit das Geld ausgegangen. Ungefähr um die Zeit, als das Haus in den 1920er Jahren in Flammen aufging. Darum hat es auch Jahrzehnte gedauert, bis wir angefangen haben, es wiederaufzubauen. Ich arbeite landesweit als Immobilienverwalter und veranstalte hier Jagdwochenenden für Firmen. Das bringt genug ein, um die Renovierung voranzutreiben. Aber ein heimlicher Milliardär bin ich nicht, leider!«

Lizzie blickte zurück zu dem Wald, aus dem sie gerade getreten waren. Bei all seiner verblüffenden Pracht war dieses Haus von Wald beinahe wie umringt. Wie muss das erst von oben aussehen? Sie stellte es sich aus der Vogelperspektive vor – meilenweit nur Wald, und dann in der Mitte dieses Anwesen, eine Nadel in einem Haufen aus Laub. An den Seiten des Hauses schienen die Bäume bis auf wenige Meter an die Mauern heranzudrängen. Sie fand das alles beunruhigend. Sie fühlte sich wie in einem Zombiefilm, in dem die Bäume die schwerfälligen Untoten darstellten, die langsam, aber stetig auf sie zukamen.

»Wer möchte es von innen sehen?«, fragte George und blickte die drei an. »Schauen wir doch mal nach, ob Freya schon da ist. Ihr Flieger sollte vor ein paar Stunden am Knock Airport landen. Vielleicht war sie schneller hier als wir.«

Freya? Lizzie erinnerte sich, dass Claire Georges Tochter mal erwähnt hatte. Aber davon, dass auch sie hierherkommen würde, war nicht die Rede gewesen. Ihr Mut sank.

George nahm Claire an der Hand und führte sie die Treppe hinauf zum Eingang.

»Ich glaub, ich bin in Downton Abbey«, sagte Liam und folgte ihnen.

»Echt unglaublich«, sagte Lizzie, die das Schlusslicht bildete. »Aber von den Bäumen kriege ich Platzangst. Sie wirken so bedrohlich.«

Liam schaute über die Schulter zum Wald hin.

»Beruhig dich, Lizzie. Das sind nur Bäume.«

Sie folgten Claire und George ins Haus.

»Wow«, sagte Lizzie erneut erstaunt und spiegelte damit die Verwunderung auf den Gesichtern ihrer Mutter und ihres Bruders wider. Sie sahen aus wie Kinder, die zufällig auf eine Schatzhöhle gestoßen waren. Die drei blickten sich neugierig um. Die Eingangshalle war mit schwarz-weißen Bodenfliesen ausgelegt, die Wände waren bis auf halbe Höhe mit dunklem Holz getäfelt, darüber hingen alte Gemälde. Hier drinnen war es wieder kühl wie im Wald, die Hitze draußen war sofort vergessen. Sie blieben stehen, und das Echo ihrer Schritte verhallte.

»Schön, oder?« George genoss die bewundernden Blicke, mit denen sie sich umschauten, und schien noch weiter zu wachsen.

»Ja, nicht schlecht«, sagte Claire.

»Aber es gibt noch immer sehr viel zu tun.« Er ging zu einer Tür auf der linken Seite der Halle und öffnete sie. Sofort scharten sie sich um ihn und schauten in den Raum dahinter. Er sah aus wie bei einem Rohbau, die Wände waren nur zur Hälfe verputzt, und im Kaminvorsprung klaffte da, wo eigentlich die Feuerstelle sein sollte, eine Lücke wie ein fehlender Schneidezahn. Der Boden bestand aus zusammengeflickten alten und neuen Holzdielen. Als sie eintraten, um sich genauer umzusehen, hallten ihre Schritte bis zu den Dachsparren zwei Stockwerke höher hinauf. Dem Echo folgend, blickten sie hoch und sahen durch die fehlende Decke das Zimmer darüber, das genauso kahl war. »Bislang ist erst der Hauptwohnbereich auf der anderen Seite des Hauses in einem Zustand, wie Freya und ich ihn uns für das gesamte Gebäude vorstellen, aber wir arbeiten uns Stück für Stück vor!«

Sie gingen wieder zurück in die Eingangshalle. Dort stand auf einem dunklen Holztisch ein großer Strauß Waldblumen in einer Kristallvase und verströmte seinen angenehmen Duft in die kühle Luft.

George sog ihn ein.

»Sie ist zu Hause«, verkündete er.

In dem Moment ging eine schwere Holztür auf der anderen Seite der Eingangshalle auf, und eine helle, fröhliche Stimme verkündete: »Und ob sie das ist!«

Eine zierliche junge Frau mit offenem blondem Haar trat in die Halle. Sie trug eine cremefarbene Yogahose und ein weites beigefarbenes Top – ein Hippie-Look, der Lizzie etwas bemüht vorkam.

»Freya! Liebling!« George breitete die Arme aus, und die junge Frau stürmte auf ihn zu. »Mein Liebling!«

Claire gesellte sich zu Lizzie und Liam.

»Sie war in den letzten zwei, drei Jahren in den Staaten und ist wegen des Visums in der ganzen Zeit kein einziges Mal zu Hause gewesen«, erklärte sie im Flüsterton. »Die beiden stehen sich sehr nahe. Freyas Mutter ist schon seit Ewigkeiten tot; sie war noch klein, als sie starb. Die beiden waren die meiste Zeit zu zweit.«

»Verstehe«, sagte Lizzie.

»Sie ist dreiundzwanzig wie du, Lizzie. Vielleicht findet ihr ja ein paar Gemeinsamkeiten.«

Lizzie unterdrückte ein Schnauben und ermahnte sich, dass sie doch jetzt die neue Lizzie war. Auch wenn ihre Mutter nicht sarkastisch geklungen hatte, als sie das mit den Gemeinsamkeiten gesagt hatte, war schwer vorstellbar, dass sie es ernst gemeint hatte. Dieses Mädchen, das mit silbernen Clips geschmückte kleine Braids in den langen blonden Haaren trug, wirkte wirklich nicht wie eine Gleichgesinnte. Wieso, ist sie auch eine Versagerin und suchtkrank?, war sie versucht zu fragen, murmelte aber stattdessen nur ein unverbindliches »Mmmm«.

George wandte sich ihnen, Freya im Arm, breit grinsend zu.

»Freya, das ist Claire, und das sind ihre Kinder – Elizabeth und Liam.«

Freya machte einen Schritt nach vorn.

»Hallo zusammen!« Sie winkte ihnen kurz zu. »Superschön, euch alle kennenzulernen.«

Claire trat ebenfalls vor und reichte Freya die Hand. »Es freut mich sehr, dich endlich persönlich kennenzulernen, und nicht nur auf dem Computerbildschirm.«

»Ja, geht mir genauso, Claire«, sagte Freya, ignorierte die Hand und umarmte ihre neue Stiefmutter stattdessen.

Lizzie hielt den Atem an. Diesem rotwangigen Mädchen war glatt zuzutrauen, dass sie als Nächstes »Darf ich Mum sagen?« fragte. Und wegen der angespannten Atmosphäre zwischen Claire und ihr wollte Lizzie so etwas nicht hören. Doch die Frage kam nicht. Sie atmete auf.

»Ich hoffe, ihr hattet einen tollen Tag. Ich hab letzte Woche kurz überlegt, meinen Flug umzubuchen und uneingeladen bei der Hochzeit aufzukreuzen! Stellt euch vor, ich wäre in die Trauungszeremonie geplatzt, als wollte ich Einwände erheben. Oder hätte die Tür aufgerissen und ›Halt!‹ geschrien!« Sie lachte.

»Ich bin froh, dass du das nicht gemacht hast«, sagte George. Als er seine Tochter anschaute, schien der Hauch eines Zweifels in seinem Blick zu liegen, so als fragte er sich, ob sie wirklich nur Spaß gemacht hatte.

»Das hätte ich schon nicht getan, Daddy, keine Sorge.« Sie verdrehte die Augen.

»Es ist wirklich toll, dich hierzuhaben, Freya«, erklärte Claire. »Aber ich muss sagen, ich habe ein schlechtes Gewissen.«

»Ein schlechtes Gewissen?«, fragte George stirnrunzelnd.

»Ich meine, wird es jetzt nicht schwierig für dich, wieder in die Staaten einzureisen? Dein Dad hat mir erzählt, du wärst ewig nicht zu Hause gewesen, weil dein Visum abgelaufen ist und du nicht wieder reinkommst, wenn du einmal ausgereist bist. Und wenn du jetzt nur unseretwegen hier bist, fühle ich mich natürlich schuldig. Wir sind überglücklich, dich zu sehen, aber so ein großes Opfer … sind wir das wert, George?« Claire sah besorgt aus.

»Mach dir keine Gedanken, Schatz. Butler Hall ist schuld. Das ist der Grund, warum sie hier ist. Stimmt’s, Freya? Diesem Ort kann niemand widerstehen …«

Freya lächelte nachsichtig.

»Das ist sehr aufmerksam von dir, Claire. Aber keine Sorge. Es wurde Zeit. Wie Daddy schon sagte: Es fällt schwer, Butler Hall zu widerstehen.«

»Siehst du? Mach dir keinen Kopf«, sagte George. »Komm, Freya, ich stelle dich den anderen vor.«

Er kam mit Freya auf Lizzie zu.

»Das ist Elizabeth.«

»Elizabeth, schön, dich kennenzulernen«, sagte Freya und setzte Luftküsse neben Lizzies rechte und linke Wange.

»Alle nennen mich Lizzie«, erwiderte Lizzie. Sie hätte George schon vorher korrigieren sollen. Er sagte bereits die ganze Zeit Elizabeth zu ihr. Dabei gab es nur einen Menschen, der sie so genannt hatte, und der war tot.

»Ah, okay, Lizzie«, sagte Freya mit einem liebenswürdigen Lächeln.

»Und ich freue mich natürlich auch, dich kennenzulernen.« Lizzie gab sich alle Mühe, überzeugend zu klingen, bemerkte jedoch, dass Claire gequält das Gesicht verzog. Sie zuckte mit den Schultern und formte mit den Lippen ein stummes »Ich bemüh mich ja«.

Und Claire antwortete stumm: »Dann bemüh dich halt mehr.«

»Und das ist Liam.« George ging weiter.

Für Lizzies Geschmack hielt ihr Bruder die Hand seiner neuen Stiefschwester ein bisschen zu lange fest. O Gott, Jungs im Teeniealter waren echt peinlich. Glücklicherweise war Freya offenbar zu abgelenkt, um es zu bemerken.

Als Liam sie wieder losließ, ging Freya zurück zu der Tür, aus der sie gekommen war.

»Komm in den Salon, Daddy. Ich hab dir was aus Amerika mitgebracht.«

»O, ich Glückspilz!«, rief George, rieb sich die Hände und grinste in die Runde. »Was ist es denn?«

»Es ist hier drinnen. Kommt alle rein, und ich zeig es euch.«

Sie öffnete die Tür zum Salon, und alle marschierten hinein. Lizzie schaute sich um. Der Raum hatte eine hohe Decke, Eichendielen und große Fenster mit schweren bordeauxroten Vorhängen. Auf dem gemusterten roten Teppich standen zwei cremefarbene Brokatsofas mit Holzfüßen und seidenen Überwürfen.

Und auf einem dieser Sofas saß ein sehr gutaussehender, blonder junger Mann.

Er erhob sich.

George sah den Fremden an, sein Lächeln gefror. Er blickte wieder zu seiner Tochter.

»Freya?«, sagte er.

Sie ging durch den Raum und hakte sich bei dem jungen Mann unter.

»Daddy, Claire … Ich habe eine kleine Überraschung für euch. Ihr seid nicht das einzige Paar, das sich diese Woche das Jawort gegeben hat.«

Kapitel 4

»Daddy, ihr alle, das ist Hudson Gore. Hudson, das ist mein Vater, George Butler. Und seine neue Frau, Claire.«

Georges Mund klappte auf und wieder zu, wortlos.

»Was?«, fragte er schließlich verdutzt.

»Wir wollten euch überraschen«, sagte Freya.

»Das ist euch gelungen«, stotterte George.

Claires Blick wanderte von George zu dem jungen Paar, dann machte sie einen Schritt vor und breitete die Arme aus.

»Herzlichen Glückwunsch! Ich würde dich ja zu gern in der Familie willkommen heißen, Hudson, aber ich vermute mal, du bist mir zuvorgekommen und solltest stattdessen mich willkommen heißen!« Hudsons Schultern entspannten sich, und er umarmte Claire lachend. George trat widerstrebend einen Schritt vor.

Hudson reichte ihm die Hand.

»Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, George. Und, ähm, ich hoffe, du verzeihst mir, dass ich nicht zuerst um deine Einwilligung gebeten habe und dich so überfalle. Freya hat mir hoch und heilig versichert, dass du nichts dagegen haben würdest. Am Ende musste alles so schnell gehen, damit wir herreisen konnten … damit Freya nach Hause kommen konnte …« Seine Worte überschlugen sich fast, dennoch klang sein amerikanischer Akzent weich und leicht gedehnt – und beschwor Bilder von Zweitwohnsitzen, Privatschulen und Elite-Unis herauf.

»Ah, das erklärt, warum sie die Reise machen konnte«, flüsterte Lizzie Liam zu. »Wenn sie ihn geheiratet hat, bekommt sie eine Green Card.«

»Cool«, erwiderte Liam ohne größeres Interesse. Er setzte seine Kopfhörer wieder auf und ließ sich auf einem der Sofas nieder. Lizzie ging zu den Fenstern hinüber. George schien sich wieder gefangen zu haben.

»Ach, du liebe Güte, also dann: herzlich willkommen in der Familie!«, hörte sie ihn sagen. Als sie sich umdrehte, schloss George Hudson gerade in die Arme. Sein Schwiegersohn und er waren gleich groß und beide blond, und man hätte fast meinen können, statt zweier Männer ein und denselben Mann in einer Art Zeitrafferaufnahme zu sehen, erst jung und dann alt. Lizzie grinste in sich hinein – Freya hatte offensichtlich ganz klassisch einen Mann geheiratet, der ihrem geliebten Daddy ähnelte.

Ihr Blick wanderte wieder hinaus zum Wald. Auch wenn die Bäume nicht ganz so dicht am Haus standen, wie sie im ersten Moment befürchtet hatte, kamen sie ihm doch näher, als ihr gut erschien. Oder vielmehr: als ihr lieb war. Ohne die großen Fenster wäre es ziemlich dunkel in dem Raum gewesen. Gerade hoppelte ein Kaninchen in Richtung Haus, verharrte nervös auf dem Rasen und reckte das zuckende Näschen in die Luft. Bei seinem Anblick musste Lizzie an Hudson denken, der unsicher die Lage sondierte. Sie betrachtete die beiden Männer erneut. George taute langsam auf und befragte Hudson nun zu seiner Familie und seinem Werdegang. Lizzie blendete sie wieder aus und schaute aus dem Fenster.

Plötzlich ließ eine Stimme ganz dicht an ihrem Ohr sie zusammenzucken. »Und? Wie findest du Butler Hall?«

Als sie sich umdrehte, schaute sie in Freyas meerblaue Augen. Lizzie rückte instinktiv ein Stückchen von ihr ab.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Freya lächelnd.

»Kein Problem. Ich war nur gerade auf das Kaninchen da draußen konzentriert.« Lizzie wollte es ihr zeigen, aber das Tier war bereits zurück in den Wald gehüpft.

»Es ist weg«, sagte Lizzie und kam sich dumm vor, weil dies ja offensichtlich war. Sie blickte Freya an. »Wie ich Butler Hall finde? Es ist anders als alle Häuser, die ich kenne.«

Freya strahlte.

»Ja, es ist wirklich was ganz Besonderes, finde ich auch. Aber erst, als ich weggegangen bin, ist mir klargeworden, wie einzigartig es wirklich ist.«

»Bist du hier aufgewachsen?«

»O ja. Daddy hat zwar das kleine Apartment in Dublin, aber wir waren eigentlich dauernd hier. Es war einfach toll. Na ja, das Haus war eine Ruine, aber der Wald und die Nähe zur Natur hier waren großartig. Wahrscheinlich klingt es ein bisschen übertrieben, wenn ich das sage, aber nach Mums Tod war die Natur wie eine Mutter für mich.« Freya trat näher ans Fenster und öffnete es. Sofort hielt der Soundtrack des Waldes Einzug ins Zimmer: das Rauschen der Bäume im Wind und Vogelgesang. Weil das Haus mitten im Wald lag, hörte man sonst nichts. Den Autoverkehr und die hektische Betriebsamkeit des modernen Lebens hatten sie weit hinter sich gelassen.

Freya senkte die Stimme und wies auf die Bäume vor dem Fenster.

»Ich glaube … wir sind alle mit der Erde verbunden. Ich weiß, es klingt total hippiemäßig, wenn ich das sage, aber Hudson findet das auch.« Sie schaute verträumt lächelnd zu ihrem Mann hinüber. »Daddy spürt es ebenfalls. Butler Hall hat mich echt gerettet, als ich klein war. Wenn ich früher hier im Wald herumgelaufen bin, hatte ich immer das Gefühl, in der Obhut von Mutter Natur zu sein, verstehst du? Die Renovierung hat Daddy manchmal so in Anspruch genommen, dass er mich vollkommen vergessen hat. Ich war den ganzen Tag draußen unterwegs, und wenn ich müde wurde, hab ich mich einfach auf den Waldboden gelegt und geschlafen. Wenn ich Hunger bekam, wusste ich, welche Beeren und Pilze ich gefahrlos essen konnte. Die Rehe, die Vögel, die Dachse und die Füchse hatten ein Auge auf mich und sorgten dafür, dass mir nichts passierte. Ich hab mich nie gefürchtet, wenn ich allein im Wald war. Da wartete kein großer böser Wolf auf mich, der mich fressen wollte.«

Lizzie lachte peinlich berührt auf. »Du klingst wie eine Figur aus einem Disneyfilm«, sagte sie. Freyas gefühlige Art erfüllte sie mit Unbehagen. »Hast du den Waldtieren auch was vorgesungen, und sie haben dir dann bei deinen häuslichen Pflichten geholfen?«

Freya drehte sich um, lehnte sich ans Fensterbrett und zog die Augenbrauen zusammen.

»Tut mir leid. Ich hab nur Spaß gemacht«, murmelte Lizzie. Freya mochte eine übertriebene Art haben, aber es war offensichtlich, von wem sie das hatte. George hatte vorhin genauso begeistert gewirkt, mit einem fast schon missionarischen Eifer. Die beiden liebten dieses Haus, so viel stand fest. »Unser Spaziergang durch den Wald hierher war der Wahnsinn. Ich kann schon verstehen, warum es für dich was Magisches hatte, hier aufzuwachsen.«

Plötzlich rief Freya Hudson, der noch immer von George durchleuchtet wurde, quer durch den Raum zu: »Schatz, siehst du nicht auch schon praktisch vor dir, wie unsere Kinder hier eines Tages rumrennen und Verstecken spielen? Und sich dabei fröhlich verlaufen?«

Hudson nutzte den Zwischenruf, um George zu entfliehen, und kam zu ihnen. »Absolut, Liebling.« Er legte den Arm um Freyas Taille und schaute mit seinem Hundeblick auf sie hinab.

»Und bitte lass uns mehr als eines bekommen«, sagte sie. »So großartig es auch war, hier aufzuwachsen, manchmal war ich einsam. Ich hätte so gern einen Bruder gehabt. Oder eine Schwester.« Sie blickte Lizzie mit einem schüchternen Lächeln an. »Schade, dass unsere Eltern sich nicht zehn Jahre früher kennengelernt haben.«

»Na ja, damals lebte mein Vater noch. Das wäre wohl ein bisschen kompliziert geworden.«

»Oh, tut mir leid. Wie dumm von mir.« Die Verlegenheit ließ kleine rote Flecken auf Freyas Wangen erscheinen.

»Lizzie!«, zischte Claire, die sich in Hörweite aufgehalten hatte und nun zu ihnen kam. »Tut mir leid, Freya, Lizzie fehlt es manchmal einfach an Feingefühl.«

»Danke, Mum. Gibt es sonst noch Schwächen von mir, für die du dich entschuldigen möchtest?«

»Fang jetzt bitte nicht so an, Lizzie …« Claires Stimme bebte.

Lizzie holte tief Luft. Plötzlich spürte sie Freyas zarte Finger auf ihrem Unterarm.

»Ich kenne die näheren Umstände nicht. Aber ich weiß, wie hart es ist, einen Elternteil zu verlieren. Man hört nie auf zu trauern.«

Lizzie nickte, sagte aber nichts. Freya irrte sich. Für Lizzie hatte die Trauer um Declan durchaus ein Ende gefunden. Ziemlich schnell sogar. Nämlich als die Wahrheit ans Licht kam. Sie dachte im Stillen, dass Freya bestimmt schockiert wäre, wenn sie ihr erzählen würde, wie es ihr wirklich damit ging. Denn sie war nicht traurig, sie war wütend. Claire, Liam und sie waren damals gerade erst von einem Treffen mit den Gardaí, der Polizei, zurückgekehrt – die ihnen versichert hatten, dass sie weiter nach Declans Leiche suchen würden –, als der Buchhalter der Firma bei ihnen zu Hause anrief, um Claire von seiner Entdeckung zu berichten. Nach und nach war herausgekommen, was ihr Vater alles angerichtet hatte. Er hatte Schulden gemacht, um andere Schulden zu begleichen, und so immer ein Loch mit dem nächsten gestopft. Er hatte sich auf riskante Deals eingelassen und gelogen. Und sie hinter ihrem Rücken alle ruiniert.

Nach diesen Enthüllungen war Zorn an die Stelle von Lizzies Trauer getreten. Zorn über Declans Verrat. Mit dieser von Wut zerfressenen Lizzie hatten Liam und Claire nicht umgehen können. Und weil Lizzie auch selbst nicht mehr mit sich klargekommen war, hatte sie angefangen zu trinken und Drogen zu nehmen – und mit unmöglichen Typen zu schlafen. Sie war komplett aus der Spur geraten und hatte alles zerstört, was ihr in den Weg kam. Auch jetzt, fünf Jahre später, hätte sie am liebsten zu Freya gesagt: Ich trauere gar nicht. Ich schäume vor Wut. Er hat sich umgebracht, musst du wissen. Er hat sich umgebracht, anstatt sich dem Unheil zu stellen, das er angerichtet hatte. Er hat uns verraten. Und alles kaputt gemacht. Er hat uns nicht nur finanziell ruiniert, sondern auch unsere Erinnerungen an ihn zertrümmert. Unser Bild von ihm. Was der Auslöser dafür war, dass ich auf einen endlosen Selbstzerstörungstrip geraten bin.

Aber stattdessen schaute sie Claire an, die einfach dastand, den Atem anhielt und abwartete, welche Lizzie nun triumphieren würde, die alte Lizzie oder die neue. Lizzie sah ihr hauchzartes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Welche Lizzie war welche? Welche die gute und welche die böse?

Sie blickte wieder Freya an.

»Danke, Freya.« Sie holte tief Luft. »Entschuldige, dieses ganze Thema ist nicht gerade meine Stärke. Tut mir leid, Mum.« Demut. Akzeptanz. Versöhnlichkeit. In St. Brigid’s hatte man ihr den neuen Weg eingebläut, dem sie folgen musste.

»Hört mir bitte alle mal kurz zu!« George stand in der Mitte des Raums und winkte sie zu sich. »Ich vermute, dass sich nach unserer kleinen Wanderung jetzt alle gern zurückziehen und frisch machen möchten. Den köstlichen Düften aus der Küche nach zu urteilen, dauert es nicht mehr lange bis zum Abendessen. Vermutlich haben wir das dir zu verdanken, Freya-Schatz; du warst fleißig, während du hier auf uns gewartet hast. Was für eine tolle junge Frau du doch bist!«

Freya schaute Claire an, und die beiden Frauen tauschten grinsend einen verschwörerischen Blick.

»Wie soll ich das denn jetzt deuten?«, fragte George und blickte gleichermaßen verwirrt wie amüsiert zwischen seiner Frischangetrauten und seiner Tochter hin und her.

»Nun, Liebling«, sagte Claire und machte ein paar Schritte auf die Tür zu, »wie es aussieht, hält der heutige Tag noch eine weitere Überraschung für dich bereit … Gib mir einen kurzen Moment Zeit …« Sie zwinkerte ihrem Mann lächelnd zu und schlüpfte aus dem Raum.

George schaute Freya an.

»Weißt du, was hier gespielt wird?«

»Meine Lippen sind versiegelt, Daddy!« Sie strahlte.

George blickte mit einem zufriedenen Stirnrunzeln auf die eichengetäfelte Tür.

»Ich frage mich ja, was das zu bedeuten hat …«

Einen kurzen Moment später kam Claire zurück und ließ die Tür einen Spaltbreit offen.

»Mein Schatz«, begann sie, »du bist toll, ich liebe dich sehr. Dass du uns alle hierhergeführt hast, nach Butler Hall, ist der beste Start für unsere Hochzeitsreise, den ich mir vorstellen kann. Das war einfach eine großartige Idee. Und jetzt, wo ich das Haus kenne, finde ich sie natürlich noch großartiger.« Alle lachten. Sogar Lizzie rang sich ein Lächeln ab. »Ich weiß einfach, dass wir uns hier alle entspannen und zusammen eine schöne Zeit haben werden. Und da dachte ich, dass es doch noch schöner wäre, wenn ich jemanden engagiere, der sich um unser leibliches Wohl kümmert. Also hab ich Freya eine E-Mail geschickt, um mich zu vergewissern, dass es für dich okay ist, wenn sich noch jemand im Haus aufhält. Jetzt lache ich natürlich darüber, aber ich hab bei Freya angefragt, ob hier überhaupt noch Platz für einen weiteren Gast ist.« Claire kicherte und schaute Freya an. »Ich fasse es nicht, dass du kein Wort über dieses Haus verloren hast!«

Freya hielt die Hände hoch.

»Ich bekenne mich schuldig!«

»Also …« Claire machte eine Pause und drehte sich zur Tür. Sie winkte jemanden herein. Eine dunkelhaarige Frau mit Schürze betrat den Salon.

»Liebling, das ist Mia Casey. Sie stammt auch aus Mayo, aus einem Ort nicht weit von hier, und ist ausgebildete Köchin. Sie wird uns während unseres gesamten Aufenthalts hier bekochen und nach Strich und Faden verwöhnen. Wir brauchen keinen Finger zu rühren. Das ist mein Hochzeitsgeschenk an dich.« Claire stand in der Mitte des Raums und klatschte in die Hände wie ein aufgeregtes Kind. Lizzie schaute an ihr vorbei zu der offenen Tür zur Eingangshalle. Sie wollte wirklich zu gern nach oben in ihr Zimmer gehen, sich von allen zurückziehen, auch wenn es nur für die kurze Zeit vor dem Dinner war. Das normale Leben strengte sie mehr an, als sie erwartet hatte. Offenbar hatte sie sich stärker an die ruhigen Tagesabläufe in St. Brigid’s gewöhnt, als ihr bewusst gewesen war.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie jedoch plötzlich, dass etwas mit George passierte: Er war leichenblass geworden. Das lenkte ihre Aufmerksamkeit zurück in den Raum. Aus seinem Gesicht war so schnell alle Farbe gewichen, wie ein Zauberer ein Tischtuch von einer gedeckten Tafel zieht. Er trat einen Schritt nach vorn, und da er nun vor Claire stand, konnte diese seine Miene nicht sehen. Auch Liam und Hudson standen nicht im richtigen Winkel, um seine Reaktion zu bemerken. Nur Freya und sie selbst konnten den Riesenschreck erkennen, der George ins Gesicht geschrieben stand. Er starrte die Köchin an und streckte ihr die Hand entgegen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen … Wie, sagten Sie, war Ihr Name?«

Kapitel 5

»Mia Casey«, sagte sie.

»Okay, verstehe.« Er schüttelte ihr die Hand, ließ sie aber schnell wieder los. Dann drehte er sich zu Claire um und drückte sie an sich. »Danke, Schatz, das war sehr aufmerksam von dir.« Lizzie hörte, wie er ihr etwas ins Ohr flüsterte. Ohne seine Frau loszulassen, ließ er den Blick über alle Anwesenden gleiten.

»Kommt, ich zeige euch oben eure Zimmer.«

Sie zogen alle hinter George her, aus dem Salon in die Eingangshalle und über die gebohnerte Holztreppe ins obere Stockwerk. Lizzie bekam mit, wie er durch das Geländer hindurch der Köchin nachschaute, die in die Küche entschwand. Doch als er oben ankam, schien er wieder ganz er selbst zu sein.